Language of document : ECLI:EU:T:2008:315

Rechtssache T-212/03

MyTravel Group plc

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Außervertragliche Haftung der Gemeinschaft – Wettbewerb – Entscheidung, mit der ein Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird – Nichtigerklärung der Entscheidung durch ein Urteil des Gerichts – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll“

Leitsätze des Urteils

1.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts – Begriff

(Art. 288 Abs. 2 EG)

2.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Norm, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll – Zusammenschlüsse

(Art. 288 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 4064/89 des Rates, Art. 2 Abs. 1, 2 und 3 und Art. 8 Abs. 2 und 3)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts

(Art. 288 Abs. 2 EG)

4.      Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der betroffenen Unternehmen, die geeignet sind, das angemeldete Vorhaben mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu machen – Berücksichtigung von Zusagen, die nach dem Stichtag gegeben wurden – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 4064/89 des Rates, Art. 2 Abs. 2, 6 Abs. 2, 8 Abs. 2 und 18 Abs. 3; Mitteilung der Kommission über im Rahmen der Verordnung Nr. 4064/89 und der Verordnung Nr. 447/98 zulässige Abhilfemaßnahmen, Ziff. 43)

5.      Verfahren – Kosten – Verurteilung der obsiegenden Partei zur Tragung ihrer eigenen Kosten

(Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz, Art. 87 §§ 2 und 3)

1.      Der Begriff des hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht, der erforderlich ist, um die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft zu begründen, erfasst nicht die Irrtümer und Fehler, die, auch wenn sie ein gewisses Gewicht haben, nicht außerhalb des üblichen Verhaltens eines Organs liegen, das damit betraut ist, die Anwendung der – komplexen, schwierigen und Raum für eine weite Auslegung lassenden – Wettbewerbsvorschriften zu überwachen.

Die Tatsache, dass das Gericht erster Instanz eine Entscheidung der Kommission, mit der ein Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird, für nichtig erklärt hat, kann nicht ohne nähere Analyse der Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gleichgestellt werden und reicht daher als solche nicht aus, um die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft zu begründen. Insbesondere kann die Tatsache, dass im Rahmen einer Nichtigkeitsklage schlichte Beurteilungsfehler und das Fehlen tragfähiger Beweise festgestellt wurden, als solche nicht ausreichen, um eine offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen zu kennzeichnen, denen das Ermessen der Kommission bei der Fusionskontrolle, namentlich bei einer komplexen Oligopolsituation, unterliegt.

Andernfalls bestünde nämlich die Gefahr, dass die Kommission die ihr im EG-Vertrag übertragene Aufgabe als Wettbewerbshüterin nicht voll und ganz wahrnehmen könnte, da sich das Risiko, die von den betreffenden Unternehmen behaupteten Schäden erstatten zu müssen, unter solchen Umständen hemmend auf die Fusionskontrolle auswirken könnte.

Um einer derartigen Wirkung, die dem Allgemeininteresse der Gemeinschaft zuwiderliefe, Rechnung zu tragen, kann die Verletzung einer Rechtspflicht, die, so bedauerlich sie auch sein mag, mit den objektiven Zwängen erklärt werden kann, denen das Organ und seine Bediensteten bei der Fusionskontrolle unterworfen sind, nicht als ein die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft begründender hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht angesehen werden. Dagegen besteht ein Anspruch auf Ersatz von Schäden, die sich aus einem Verhalten des Organs ergeben, wenn dieses Verhalten in einem Rechtsakt Ausdruck findet, der offenkundig der Rechtsvorschrift widerspricht und die Interessen Dritter schwerwiegend beeinträchtigt und der mit den besonderen Zwängen, denen die Dienststelle im normalen Dienstbetrieb objektiv unterliegt, weder gerechtfertigt noch erklärt werden kann.

(vgl. Randnrn. 40-43, 85)

2.      Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, der den Fall einer Genehmigungsentscheidung betrifft, und Art. 2 Abs. 3 dieser Verordnung, der den Fall einer Verbotsentscheidung betrifft, sind anhand von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung auszulegen, der die Umstände darlegt, die die Kommission konkret zu berücksichtigen hat, um zu beurteilen, ob ein Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar oder unvereinbar ist.

Im Ganzen betrachtet sollen diese Bestimmungen dem Einzelnen insofern Rechte verleihen, als die Kommission, wenn sie nach der Verordnung Nr. 4064/89 mit einem Zusammenschluss befasst ist, grundsätzlich entweder im Sinne einer Genehmigung des Zusammenschlusses oder im Sinne seiner Untersagung Stellung nehmen muss, und zwar je nachdem, welche wirtschaftliche Entwicklung des Zusammenschlusses sie für die wahrscheinlichste hält. So hat ein Unternehmen, das einen Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung angemeldet hat, bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Anspruch darauf, dass dieser Zusammenschluss für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird. Dieses Unternehmen kann den Zusammenschluss indessen nicht ohne eine Genehmigung durch die Kommission vollziehen, und eine Verbotsentscheidung hat schwerwiegende Folgen. Ein derartiger Eingriff der Gemeinschaft in das Geschäftsleben, der es erforderlich macht, dass ein Unternehmen eine Genehmigung erwirkt, bevor es den geplanten Zusammenschluss vollzieht, und der die Kommission verpflichtet, den Vollzug dieses Zusammenschlusses zu untersagen, wenn er mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, bedingt notwendigerweise, dass Unternehmen, denen eine Genehmigung verweigert wird, eine Entschädigung für die nachteiligen Folgen einer solchen Entscheidung verlangen können, wenn sich herausstellt, dass diese Entscheidung auf einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen die materiellen Vorschriften beruht, die die Kommission anwendet, um die Vereinbarkeit des betreffenden Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt zu beurteilen.

Im Übrigen lässt die Feststellung eines Fehlers, den eine durchschnittlich umsichtige und sorgfältige Verwaltung unter ähnlichen Umständen nicht begangen hätte, den Schluss zu, dass das Verhalten des Organs einen Rechtsverstoß darstellt, der geeignet ist, die Haftung der Gemeinschaft nach Art. 288 EG auszulösen.

Mit Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 4064/89 in Verbindung mit den Abs. 1 und 2 dieser Bestimmung und Art. 8 Abs. 2 und 3 der Verordnung sowie mit der Sorgfaltspflicht werden daher Rechtsnormen aufgestellt, die den Unternehmen, die von einer Entscheidung betroffen sind, mit der der Vollzug eines Zusammenschlusses untersagt wird, Rechte verleihen sollen.

(vgl. Randnrn. 47-50)

3.      Auf dem Gebiet der außervertraglichen Haftung kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass offensichtliche und schwere Fehler der wirtschaftlichen Analyse, die einer auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen ergangenen Entscheidung zugrunde liegt, mit der ein Zusammenschluss gemäß Art. 2 Abs. 1 und 3 dieser Verordnung für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird, Verstöße darstellen können, die hinreichend qualifiziert sind, um die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft auszulösen.

Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die für die Qualifizierung einer Lage oder eines wettbewerbsrechtlichen Zusammenschlusses erforderlichen wirtschaftlichen Analysen im Allgemeinen sowohl in Bezug auf den Sachverhalt als auch in Bezug auf die aus dessen Schilderung entwickelte Argumentation komplexe und schwierige Denkvorgänge sind, in die sich gewisse Unzulänglichkeiten wie Schätzungen, Unstimmigkeiten oder gar gewisse Auslassungen einschleichen können. Dies gilt umso mehr im Rahmen der Fusionskontrolle, vor allem in Anbetracht des Zeitdrucks, dem das Gemeinschaftsorgan unterliegt.

Solche Unzulänglichkeiten bei der wirtschaftlichen Analyse können zumal dann auftreten, wenn, wie im Fall der Fusionskontrolle, die Analyse einen zukunftsorientierten Aspekt umfasst. Die Schwere einer Unzulänglichkeit in der Dokumentation oder der Logik kann unter diesen Umständen nicht stets einen Umstand darstellen, der ausreicht, um die Haftung der Gemeinschaft auszulösen.

Die Kommission verfügt, um die Kontrolle über die Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft zu behalten, über ein Ermessen, was bedeutet, dass eine absolut konstante und unveränderliche Praxis bei der Anwendung der einschlägigen Vorschriften von ihr nicht erwartet werden kann und dass sie dementsprechend einen gewissen Spielraum bei der Wahl der ihr zu Gebote stehenden ökonometrischen Instrumente und bei der Wahl geeigneter Vorgehensweisen für die Untersuchung eines Phänomens hat, sofern die gewählten Mittel nicht offensichtlich gegen die anerkannten wirtschaftswissenschaftlichen Grundsätze verstoßen und folgerichtig durchgeführt werden.

Der Beurteilungsspielraum, der der Kommission im Rahmen der Fragen außervertraglicher Haftung bei der Fusionskontrolle zuzuerkennen ist, besteht sowohl auf der Ebene der Einzelprüfung der Fehler, die bei der Untersuchung der Wettbewerbsfolgen des Zusammenschlusses unterlaufen können, als auch im Stadium der Gesamtprüfung solcher Fehler.

(vgl. Randnrn. 80-83, 95)

4.      Im Rahmen der Fusionskontrolle können die betroffenen Unternehmen der Kommission Verpflichtungen vorschlagen, um eine Entscheidung zu erwirken, mit der die Vereinbarkeit ihres Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird. Die vorgeschlagenen Verpflichtungen sollen es der Kommission je nach dem Stand des Verwaltungsverfahrens ermöglichen, festzustellen, dass der angemeldete Zusammenschluss im Stadium der Voruntersuchung keinen Anlass mehr zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt gibt, oder zu dem Schluss zu gelangen, dass diese Verpflichtungen den Einwänden gerecht werden, die bei der eingehenden Prüfung erhoben wurden. Die genannten Verpflichtungszusagen ermöglichen es also, zunächst die Einleitung einer Phase der eingehenden Prüfung zu vermeiden oder später den Erlass einer Entscheidung zu vermeiden, mit der der Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird. Nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen kann die Kommission nämlich eine Entscheidung, mit der ein Zusammenschluss nach dem Kriterium des Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird, mit Bedingungen und Auflagen verbinden, um sicherzustellen, dass die beteiligten Unternehmen den Verpflichtungen nachkommen, die sie gegenüber der Kommission hinsichtlich einer mit dem Gemeinsamen Markt zu vereinbarenden Gestaltung des Zusammenschlusses eingegangen sind.

In Anbetracht der erheblichen finanziellen Interessen und der großen Bedeutung eines solchen Zusammenschlusses für Gewerbe und Handel wie auch der Entscheidungsbefugnisse, über die die Kommission in diesem Bereich verfügt, kann erwartet werden, dass die beteiligten Unternehmen alles tun, um die Arbeit der Verwaltung zu erleichtern. Aus denselben Gründen ist auch die Kommission verpflichtet, größte Sorgfalt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe der Fusionskontrolle walten zu lassen.

Verspätet unterbreitete Verpflichtungszusagen der an einem angemeldeten Zusammenschluss Beteiligten können nach der Mitteilung über im Rahmen der Verordnung Nr. 4064/89 und der Verordnung Nr. 447/98 zulässige Abhilfemaßnahmen unter zwei kumulativen Voraussetzungen berücksichtigt werden können, nämlich erstens, dass diese Zusagen die zuvor festgestellten Wettbewerbsprobleme eindeutig lösen, ohne dass es weiterer Ermittlungen bedarf, und zweitens, dass genügend Zeit bleibt, die Mitgliedstaaten zu diesen Zusagen zu konsultieren.

(vgl. Randnrn. 116-119, 127)

5.      In Anwendung von Art. 87 §§ 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz kann das Gericht beschließen, dass eine Partei, die mit keinem Teil ihres Vorbringens unterliegt, ihre eigenen Kosten trägt, wenn sie erst in der mündlichen Verhandlung aufgrund einer gemäß Art. 65 Buchst. b und Art. 67 § 3 Abs. 3 der Verfahrensordnung ergangenen Anordnung des Gerichts von der Klägerin angeforderte Schriftstücke vorlegt, die von Bedeutung sind, um der Klägerin die Geltendmachung ihrer Argumente und dem Gericht die Würdigung der Klage zu ermöglichen, und die bereits mit ihrem ersten Schriftsatz hätten übermittelt werden müssen; dies gilt auch dann, wenn auf den ersten Blick anzunehmen ist, dass die fraglichen Schriftstücke nicht nach der Verordnung Nr. 4064/89 oder der Verordnung Nr. 1049/2001 zugänglich waren, und wenn es keine Auswirkungen auf die fragliche Rechtssache gab, da die Unterlagen letztlich im streitigen Verfahren vorgelegt worden sind.

(vgl. Randnrn. 135-139)