Language of document : ECLI:EU:C:2011:523

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

28. Juli 2011(*)

„Straßenverkehr – Pflicht, einen Fahrtschreiber zu verwenden – Ausnahmen für Fahrzeuge, die Material befördern – Begriff ‚Material‘ – Beförderung von leeren Flaschen im Fahrzeug eines Wein- und Getränkehändlers“

In der Rechtssache C‑554/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Dezember 2009, in der Bußgeldsache gegen

Andreas Michael Seeger

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter J.‑J. Kasel, A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Seeger, vertreten durch Rechtsanwalt H.‑J. Rieder,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und F. W. Bulst als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. L 102, S. 1).

2        Es ergeht in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Herrn Seeger wegen Zuwiderhandlungen gegen die Art. 3 Abs. 1 Satz 1 und 15 Abs. 7 der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über das Kontrollgerät im Straßenverkehr (ABl. L 370, S. 8) in der durch die Verordnung Nr. 561/2006 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 3821/85).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 der Verordnung Nr. 3821/85 sieht vor:

„(1)      Das Kontrollgerät muss bei Fahrzeugen eingebaut und benutzt werden, die der Personen- oder Güterbeförderung im Straßenverkehr dienen und in einem Mitgliedstaat zugelassen sind; ausgenommen sind die in Artikel 3 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 genannten Fahrzeuge. …

(2)      Die Mitgliedstaaten können die in Artikel 13 Absätze 1 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 genannten Fahrzeuge von der Anwendung der vorliegenden Verordnung freistellen.

…“

4        Art. 15 Abs. 7 der Verordnung Nr. 3821/85 bestimmt:

„(7)      a)     Lenkt der Fahrer ein Fahrzeug, das mit einem Kontrollgerät gemäß Anhang I ausgerüstet ist, so muss er den Kontrollbeamten auf Verlangen jederzeit Folgendes vorlegen können:

i)      die Schaublätter für die laufende Woche und die vom Fahrer in den vorausgehenden 15 Tagen verwendeten Schaublätter,

Nach dem 1. Januar 2008 umfassen die in den Ziffern i und iii genannten Zeiträume jedoch den laufenden Tag und die vorausgehenden 28 Tage.

…“

5        Art. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 lautet:

„Durch diese Verordnung werden Vorschriften zu den Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten für Kraftfahrer im Straßengüter- und ‑personenverkehr festgelegt, um die Bedingungen für den Wettbewerb zwischen Landverkehrsträgern, insbesondere im Straßenverkehrsgewerbe, anzugleichen und die Arbeitsbedingungen sowie die Straßenverkehrssicherheit zu verbessern. Ziel dieser Verordnung ist es ferner, zu einer besseren Kontrolle und Durchsetzung durch die Mitgliedstaaten sowie zu einer besseren Arbeitspraxis innerhalb des Straßenverkehrsgewerbes beizutragen.“

6        Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für folgende Beförderungen im Straßenverkehr:

a)      Güterbeförderung mit Fahrzeugen, deren zulässige Höchstmasse einschließlich Anhänger oder Sattelanhänger 3,5 t übersteigt, oder

b)      Personenbeförderung …“

7        In Art. 3 dieser Verordnung heißt es:

„Diese Verordnung gilt nicht für Beförderungen im Straßenverkehr mit folgenden Fahrzeugen:

h)      Fahrzeuge oder Fahrzeugkombinationen mit einer zulässigen Höchstmasse von nicht mehr als 7,5 t, die zur nichtgewerblichen Güterbeförderung verwendet werden;

…“

8        Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 sieht vor:

„Sofern die Verwirklichung der in Artikel 1 genannten Ziele nicht beeinträchtigt wird, kann jeder Mitgliedstaat für sein Hoheitsgebiet oder mit Zustimmung der betreffenden Mitgliedstaaten für das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats Abweichungen von den Artikeln 5 bis 9 zulassen und solche Abweichungen für die Beförderung mit folgenden Fahrzeugen an individuelle Bedingungen knüpfen:

d)       Fahrzeuge oder Fahrzeugkombinationen mit einer zulässigen Höchstmasse von nicht mehr als 7,5 t,

         …

–        die zur Beförderung von Material, Ausrüstungen oder Maschinen benutzt werden, die der Fahrer zur Ausübung seines Berufes benötigt.

Diese Fahrzeuge dürfen nur in einem Umkreis von 50 km vom Standort des Unternehmens und unter der Bedingung benutzt werden, dass das Lenken des Fahrzeugs für den Fahrer nicht die Haupttätigkeit darstellt;

…“

 Nationales Recht

9        § 8 des Gesetzes über das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen und Straßenbahnen (Fahrpersonalgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 640), geändert durch das Gesetz vom 6. Juli 2007 (BGBl. I S. 1270, im Folgenden: FPersG), bestimmt:

„(1)      Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig

1.      als Unternehmer …

2.      als Fahrer …

a)      einer Rechtsverordnung nach …

b)      einer Vorschrift … der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 … zuwiderhandelt …

         …

3.      als Fahrzeughalter …

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 3 mit einer Geldbuße bis zu fünfzehntausend Euro, in den übrigen Fällen mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Euro geahndet werden.“

10      § 18 der Verordnung zur Durchführung des Fahrpersonalgesetzes (Fahrpersonalverordnung) vom 27. Juni 2005 (BGBl. I S. 182) in der durch die Verordnung vom 22. Januar 2008 (BGBl. I S. 54) geänderten Fassung (im Folgenden: FPersV) sieht vor:

„(1) Gemäß Artikel 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 und Artikel 3 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 werden im Geltungsbereich des Fahrpersonalgesetzes folgende Fahrzeugkategorien von der Anwendung der Artikel 5 bis 9 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 und der Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 ausgenommen:

4.      Fahrzeuge oder Fahrzeugkombination mit einer zulässigen Höchstmasse von nicht mehr als 7,5 Tonnen, die in einem Umkreis von 50 Kilometern vom Standort des Unternehmens

b)      zur Beförderung von Material, Ausrüstungen oder Maschinen, die der Fahrer zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit benötigt, z. B. Fahrzeuge mit jeweils für diesen Zweck bestimmter, besonderer Ausstattung, die als Verkaufswagen auf öffentlichen Märkten oder für den ambulanten Verkauf dienen,

verwendet werden, soweit das Lenken des Fahrzeugs nicht die Haupttätigkeit des Fahrers darstellt.

…“

11      § 23 FPersV bestimmt:

„(1)      Ordnungswidrig im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b des Fahrpersonalgesetzes handelt, wer als Unternehmer …

(2)      Ordnungswidrig im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b des Fahrpersonalgesetzes handelt, wer als Fahrer gegen die Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 verstößt, indem er vorsätzlich oder fahrlässig

1.      entgegen Artikel 3 Abs. 1 erster Halbsatz ein Kontrollgerät nicht benutzt,

11.      entgegen Artikel 15 Abs. 7 Buchstabe a oder b ein Schaublatt, die Fahrerkarte, einen Ausdruck oder eine handschriftliche Aufzeichnung nicht oder nicht rechtzeitig vorlegt,

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      Herr Seeger ist Inhaber einer Wein- und Getränkehandlung in Stuttgart (Deutschland), der seinen Kunden einen Heimlieferservice anbietet. Im Schnitt einmal pro Woche beliefert er in einem Umkreis von maximal 10 bis 15 km etwa 30 bis 40 Kunden. Er beschäftigt dafür einen Angestellten.

13      Am 3. März 2008 fuhr Herr Seeger seinen Lieferwagen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 7,49 t im Gebiet der Gemeinde Esslingen-am-Neckar (Deutschland), etwa 15 km von Stuttgart entfernt, ohne das in Durchführung der Verordnung Nr. 3821/85 eingebaute Kontrollgerät zu benutzen. Er hatte kein Schaublatt eingelegt und konnte dem Beamten, der ihn angehalten hatte, auch die Schaublätter der vergangenen 28 Tage nicht vorlegen.

14      Auf dem Fahrzeug von Herrn Seeger befand sich Leergut, d. h. leere Getränkeflaschen, das er zu einem Lieferanten in Esslingen-am-Neckar zurückbringen wollte. Das Leergut selbst stammte nicht aus seinem privaten Verbrauch, sondern aus seiner gewerblichen Tätigkeit.

15      Das Amtsgericht Stuttgart sah darin zwei Verstöße gegen § 8 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FPersG und § 23 Abs. 2 Nr. 11 FPersV und verurteilte Herrn Seeger mit Urteil vom 17. März 2009 zu einer Geldbuße von 200 Euro.

16      Das genannte Gericht stellte fest, dass die Fahrtätigkeit nicht die Haupttätigkeit von Herrn Seeger darstelle. Diese finde in seinem Ladengeschäft statt, wo er im Wesentlichen seine Kunden empfange und bediene. Bei dem Heimservice handele es sich lediglich um eine wöchentlich einmal durchgeführte Zusatzleistung. Die Fahrten zum Erwerb von Getränken und der Rücktransport von Leergut erfolgten nicht täglich und erforderten einen deutlich geringeren zeitlichen Aufwand als das Verkaufsgeschäft im Laden.

17      Das Amtsgericht Stuttgart verneinte die Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 18 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b FPersV mit der Begründung, dass das transportierte Leergut, da es keinem Bearbeitungsvorgang unterliege, kein „Material“ darstelle, sondern als Handelsware anzusehen sei.

18      Herr Seeger legte beim Oberlandesgericht Stuttgart Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom 17. März 2009 ein und macht in diesem Rahmen geltend, dass der Zweck der Verordnung Nr. 561/2006, nämlich die Sicherheit des Straßenverkehrs und die Regelung des Wettbewerbs, im vorliegenden Fall einer weiten Auslegung des Begriffs „Material“ in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung nicht entgegenstehe.

19      Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart beantragte die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof, da die Frage, ob der Begriff des Materials auch Getränkeflaschen und Leergut eines Getränkehändlers erfasse, unionsrechtlich zu entscheiden sei.

20      Das Oberlandesgericht Stuttgart weist insoweit darauf hin, dass sich der Gerichtshof bislang nur in der Rechtssache Raemdonck und Raemdonck-Janssens (C‑128/04, Urteil vom 17. März 2005, Slg. 2005, I‑2445) mit der Auslegung des Begriffs „Material“ im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr (ABl. L 370, S. 1), aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung Nr. 561/2006 mit Wirkung vom 11. April 2007, befasst habe. Unter Berücksichtigung des Wortlauts, des Kontexts und des Zwecks dieser in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 übernommenen Bestimmung sei aus diesem Urteil nicht eindeutig abzuleiten, dass der Begriff „Material“ im Sinne dieser Bestimmung leere Flaschen, d. h. Verpackungsmaterial eines Getränkehändlers, erfasse.

21      Das vorlegende Gericht führt aus, dass eine solche weite Auslegung des Materialbegriffs sowohl in der nationalen Rechtsprechung als auch in der Literatur vertreten werde. Das Verpackungsmaterial sei jedoch nicht Bezugspunkt der Tätigkeit eines Wein- und Getränkehändlers in dem Sinne, dass damit – wie bei den Baustoffen oder Maschinen in der Rechtssache Raemdonck und Raemdonck-Janssens – die dienstleistende Tätigkeit ausgeübt werde. Gleichwohl liefen die im Ausgangsverfahren fraglichen Transportfahrten den mit der Verordnung Nr. 561/2006 verfolgten Zielen aber nicht zuwider.

22      Das Oberlandesgericht Stuttgart hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann der Begriff „Material“ in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 dahin gehend ausgelegt werden, dass darunter auch Verpackungsmaterial wie leere Getränkeflaschen (Leergut) fallen kann, welches von einem Wein- und Getränkehändler befördert wird, der ein La­dengeschäft betreibt, einmal wöchentlich seine Kunden beliefert und dabei das Leergut einsammelt, um es zu seinem Großhändler zu bringen?

 Zur Vorlagefrage

23      Zur Beantwortung dieser Vorlagefrage ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof den Begriff „Material“, damals in Art. 13 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 3820/85 enthalten, bereits im Urteil Raemdonck und Raemdonck-Janssens ausgelegt hat.

24      Da die Anwendungsvoraussetzungen der Ausnahmeregelung des Art. 13 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 3820/85 durch die Verordnung Nr. 561/2006 – abgesehen von der zusätzlichen Voraussetzung, dass die zulässige Höchstmasse des Fahrzeugs 7,5 t nicht überschreitet und der Klarstellung, dass der Fahrer auch „Maschinen“ befördern kann, die er zur Ausübung seines Berufs benötigt – keine wesentlichen Änderungen erfahren haben, gilt die im Urteil Raemdonck und Raemdonck-Janssens gegebene Auslegung des in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffs „Material“ auch für den Begriff „Material“ in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006.

25      Aus dem genannten Urteil ergibt sich, dass der Begriff des Materials in einem weiteren Sinne als der Begriff der Ausrüstungen zu verstehen ist und Gegenstände umfasst, die der Fahrer des betreffenden Fahrzeugs zur Ausübung seines Berufs benötigt oder verwendet und zu denen somit auch Bestandteile des von ihm herzustellenden Endprodukts oder der von ihm durchzuführenden Arbeiten gehören können. Daraus folgt, dass das Material zur Schaffung, Änderung oder Verarbeitung einer anderen Sache verwendet werden soll oder dafür erforderlich ist und nicht nur einfach befördert werden soll, um selbst geliefert, verkauft oder beseitigt zu werden. Da das Material also einem Verarbeitungsprozess unterliegt, ist es keine Ware, die von ihrem Verwender zum Verkauf bestimmt ist.

26      In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass ein Wein- und Getränkehändler wie Herr Seeger die leeren Flaschen nur befördert. Diese sind nämlich, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission in ihren Erklärungen zutreffend ausgeführt haben, keine Gegenstände, die zur Ausübung seiner Haupttätigkeit erforderlich sind. Die von Herrn Seeger beförderten leeren Flaschen werden weder be- noch verarbeitet und auch nicht einem anderen Erzeugnis hinzugefügt oder zur Ausübung einer Tätigkeit verwendet. Sie sind nicht als Bestandteile, Rohstoffe oder Zutaten für ein von einem solchen Händler hergestelltes Erzeugnis oder für von ihm ausgeführte Tätigkeiten erforderlich. Schließlich stellen sie weder Geräte noch Werkzeuge dar, die zur Herstellung eines Erzeugnisses erforderlich sind.

27      Darüber hinaus werden die im Ausgangsverfahren fraglichen leeren Flaschen zwar zu gewerblichen Zwecken genutzt, und Herr Seeger hat aus Rentabilitätsgründen und damit aus rein subjektiven Erwägungen höchstwahrscheinlich keine andere Wahl, als sie selbst bei seinen Kunden abzuholen, doch fallen sie nicht allein deshalb schon unter den objektiven Begriff „Material“ im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006.

28      Eine solche Auslegung des Begriffs „Material“ wird durch eine systematische Auslegung aller in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 enthaltenen Ausnahmen bestätigt.

29      Diese Vorschrift sieht Ausnahmen von den Art. 5 bis 9 dieser Verordnung vor, insbesondere für Fahrzeuge, die zum Abholen von Milch bei landwirtschaftlichen Betrieben und zur Rückgabe von Milchbehältern an diese Betriebe verwendet werden, oder für Fahrzeuge der Hausmüllabfuhr.

30      Die von Herrn Seeger vertretene Auslegung des Materialbegriffs erstreckt sich auf Verpackungen und leere Behälter, so dass sie auch die genannten spezifischen Ausnahmen erfassen und damit weitgehend oder sogar völlig gegenstandslos machen würde. Hätte der Unionsgesetzgeber eine allgemeine Ausnahme für alle Fahrzeuge, die gewerbliche Gegenstände befördern, schaffen wollen, hätte er die Ausnahme in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 nicht auf spezifische Kategorien von beförderten Gegenständen beschränkt, sondern einfach auf gewerbliche Gegenstände Bezug genommen.

31      Darüber hinaus würde die von Herrn Seeger vertretene Auslegung des Materialbegriffs es erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen, diesen Begriff von dem der Güter abzugrenzen, wie er in der Verordnung Nr. 561/2006, insbesondere in den Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, 4 Buchst. a und 10 Abs. 1, mehrfach verwendet wird.

32      Die Anwendung des Ausnahmetatbestands des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 hängt nämlich insbesondere von der Art der beförderten Güter ab und betrifft nicht alle Arten von Gütern, selbst wenn die übrigen in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen gegeben sind. Die Wörter „Material“, „Ausrüstungen“ und „Maschinen“ bezeichnen somit zwangsläufig nur einen Teil der Güter, deren Beförderung in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt. Daraus folgt, dass durch diese Beschränkung die handelbaren Güter im eigentlichen Sinne sowie die Güter, die lediglich von einem Ort zum anderen befördert werden, ohne be- oder verarbeitet oder zur Ausübung einer Tätigkeit verwendet zu werden, ausgeschlossen werden. Andernfalls würde der Begriff des Materials keine Abgrenzung der in Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahmetatbestände je nach den beförderten Waren erlauben, was darauf hinausliefe, den Unterschied zwischen dem Materialbegriff und dem Güterbegriff aufzuheben.

33      Außerdem sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 eng auszulegen, da diese Bestimmung eine Ausnahme von den Art. 5 bis 9 dieser Verordnung regelt.

34      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 bei der von Herrn Seeger vertretenen Auslegung grundsätzlich sämtliche gewerblichen Gegenstände erfassen würde, was die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Kraftverkehrssektor und die Straßenverkehrssicherheit, beeinträchtigen würde.

35      Eine solche Auslegung liefe ferner insoweit dem Erfordernis in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung zuwider, als sie zum einen zur Folge hätte, dass einer großen Zahl von Fahrern nicht mehr der Schutz ihrer Arbeitsbedingungen zugutekäme, wie er in der Verordnung Nr. 561/2006 vorgesehen ist.

36      Zum anderen würde eine solche Ausdehnung des Ausnahmetatbestands des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 dazu führen, dass eine große Zahl von Fahrzeugen von solchen Fahrern geführt werden könnte, die damit rechtmäßig lange Fahrzeiten ohne Pausen zurücklegen könnten, was das Ziel der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit erheblich beeinträchtigen könnte.

37      Insoweit ist auch festzustellen, dass die Verordnung Nr. 561/2006 nach ihrem Art. 1 Satz 2 insbesondere zu einer besseren Kontrolle und Durchsetzung durch die Mitgliedstaaten innerhalb des Straßenverkehrsgewerbes beitragen soll und dass nach ihrem vierten Erwägungsgrund „klarere und einfachere Vorschriften nötig [sind], die sowohl vom Straßenverkehrsgewerbe als auch den Vollzugsbehörden leichter zu verstehen, auszulegen und anzuwenden sind“.

38      Daher könnte eine Ausdehnung des Ausnahmetatbestands des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 zu Unsicherheit im Straßenverkehrsgewerbe und bei den Vollzugsbehörden sowie zu Schwierigkeiten bei der Auslegung, Anwendung, Durchsetzung und Kontrolle dieser Vorschriften führen. Dies widerspräche aber nicht nur den in der vorstehenden Randnummer angeführten Zielen, sondern könnte auch die Erreichung des im 13. Erwägungsgrund genannten Ziels einer wirksamen und einheitlichen Anwendung der Vorschriften über die Lenk- und Ruhezeiten gefährden.

39      Schließlich kann auch dem Vorbringen von Herrn Seeger nicht gefolgt werden, er sei aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften über Verpackungen, deren Ziel der Umweltschutz durch die Verwendung von wiederverwendbaren Flaschen sei und mit denen daher ein Pfand für bestimmte in Flaschen abgefüllte Getränke eingeführt worden sei, verpflichtet, sich am Rücknahmesystem zu beteiligen, so dass die Beförderung der leeren Flaschen für seine gewerblichen Tätigkeiten erforderlich sei.

40      Hierzu ist festzustellen, dass die sich aus einer nationalen Umweltschutzregelung ergebende Verpflichtung, selbst wenn mit dieser Regelung eine in einer Richtlinie vorgesehene Verpflichtung umgesetzt werden sollte, allein nicht dazu führen kann, dass von einem Wein- und Getränkehändler beförderte leere Flaschen unter den Begriff „Material“ im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 fallen. Außerdem könnte dieses Vorbringen nur dann durchgreifen, wenn Herr Seeger ausschließlich leere Pfandflaschen befördern würde, was sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht ergibt.

41      Nach alledem ist die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass der Begriff „Material“ in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 561/2006 dahin auszulegen ist, dass darunter nicht Verpackungsmaterial wie leere Flaschen (Leergut) fallen kann, das von einem Wein- und Getränkehändler befördert wird, der ein Ladengeschäft betreibt, einmal wöchentlich seine Kunden beliefert und dabei das Leergut einsammelt, um es zu seinem Großhändler zu bringen.

 Kosten

42      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Der Begriff „Material“ in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates ist dahin auszulegen, dass darunter nicht Verpackungsmaterial wie leere Flaschen (Leergut) fallen kann, das von einem Wein- und Getränkehändler befördert wird, der ein Ladengeschäft betreibt, einmal wöchentlich seine Kunden beliefert und dabei das Leergut einsammelt, um es zu seinem Großhändler zu bringen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.