SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 11. Februar 2021(1)
Rechtssache C‑39/20
Staatssecretaris van Financiën
gegen
Jumbocarry Trading GmbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Oberster Gerichtshof der Niederlande])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Frist zur Mitteilung von Zollschulden – Aussetzung der Mitteilungsfrist – Verjährung der Zollschuld – Zeitlicher Anwendungsbereich der Bestimmung über die Aussetzungsgründe – Grundsatz der Rechtssicherheit – Grundsatz des Vertrauensschutzes“
1. Im Jahr 1992 beschloss der Gemeinschaftsgesetzgeber, die bis dahin in verschiedenen Rechtsakten enthaltenen Bestimmungen des Zollrechts in einem einzigen Text zusammenzufassen. Das Ergebnis fand seinen Niederschlag in der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 zur Festlegung des „Zollkodex der Gemeinschaften“(2).
2. Der Zollkodex der Gemeinschaften erfuhr danach mehrere Änderungen, bis er durch die Verordnung (EU) Nr. 952/2013(3) zur Festlegung des „Zollkodex der Union“ aufgehoben wurde.
3. Nach Art. 288 des Zollkodex der Union sind manche seiner Bestimmungen seit dem 30. Oktober 2013 anwendbar, während andere erst seit dem 1. Mai 2016 Anwendung finden(4). Zu diesen gehören die Art. 103 und 124 des Zollkodex der Union, die die Aussetzung der Frist zur Mitteilung der Zollschuld bzw. das Erlöschen dieser Schuld betreffen.
4. Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) hat dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union vorgelegt.
5. Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht, zusammengefasst, wissen, ob durch eine Bestimmung des Zollkodex der Union die noch nicht abgelaufene Verjährungsfrist einer Zollschuld ausgesetzt worden sein kann mit der Folge, dass der Tag, an dem die Zollbehörden sie mitteilen (und den Zoll erheben) konnten, über den Zeitpunkt der Verjährung dieser Zollschuld nach dem Zollkodex der Gemeinschaften hinausgezögert wurde.
I. Unionsrecht
A. Zollkodex der Gemeinschaften
6. Art. 221 Abs. 1, 3 und 4 sieht vor:
„(1) Der Abgabenbetrag ist dem Zollschuldner in geeigneter Form mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist.
…
(3) Die Mitteilung an den Zollschuldner darf nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld nicht mehr erfolgen. Diese Frist wird ab dem Zeitpunkt ausgesetzt, in dem ein Rechtsbehelf gemäß Artikel 243 eingelegt wird, und zwar für die Dauer des Rechtsbehelfs.
(4) Ist die Zollschuld aufgrund einer Handlung entstanden, die zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurde, strafbar war, so kann die Mitteilung unter den Voraussetzungen, die im geltenden Recht festgelegt sind, noch nach Ablauf der Dreijahresfrist nach Absatz 3 erfolgen.“
B. Zollkodex der Union
7. Art. 22 Abs. 6 lautet:
„(6) Vor Erlass einer den Antragsteller belastenden Entscheidung teilen die Zollbehörden die Gründe, auf die sie ihre Entscheidung stützen wollen, dem Antragsteller mit, der Gelegenheit erhält, innerhalb einer ab dem Tag, an dem er diese Mitteilung erhält oder an dem sie als diesem zugestellt gilt, laufenden Frist Stellung zu nehmen. Nach Ablauf dieser Frist wird dem Antragsteller die Entscheidung in geeigneter Form mitgeteilt.“
8. In Art. 29 heißt es:
„Außer in dem Fall, in dem eine Zollbehörde als Gericht handelt, gelten Artikel 22 Absätze 4, 5, 6 und 7, Artikel 23 Absatz 3 und die Artikel 26, 27 und 28 auch für die Entscheidungen, die die Zollbehörden ohne vorherigen Antrag des Beteiligten erlassen.“
9. Art. 103 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. b bestimmt:
„(1) Eine Zollschuld darf dem Zollschuldner nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Tag des Entstehens der Zollschuld nicht mehr mitgeteilt werden.
(3) Die Fristen gemäß den Absätzen 1 und 2 werden ausgesetzt, wenn:
…
b) die Zollbehörden dem Zollschuldner gemäß Artikel 22 Absatz 6 die Gründe für ihre Mitteilung der Zollschuld mitteilen; die Aussetzung gilt ab dem Tag dieser Mitteilung bis zum Ablauf der Frist, innerhalb deren der Zollschuldner Gelegenheit hat, Stellung zu nehmen.“
10. Art. 124 Abs. 1 Buchst. a sieht vor:
„(1) Unbeschadet der geltenden Vorschriften über die Nichterhebung des der Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags im Falle einer gerichtlich festgestellten Insolvenz des Zollschuldners erlischt die Einfuhr- oder Ausfuhrzollschuld:
a) wenn die Zollschuld dem Zollschuldner nach Artikel 103 nicht mehr mitgeteilt werden kann“.
11. Art. 288 besagt:
„(1) Die Artikel 2, 7, 8, 10, 11, 17, 20, 21, 24, 25, 31, 32, 36, 37, 40, 41, 50, 52, 54, 58, 62, 63, 65, 66, 68, 75, 76, 88, 99, 100, 106, 107, 115, 122, 123, 126, 131, 132, 138, 142, 143, 151, 152, 156, 157, 160, 161, 164, 165, 168, 169, 175, 176, 178, 180, 181, 183, 184, 186, 187, 193, 196, 200, 206, 207, 209, 212, 213, 216, 217, 221, 222, 224, 225, 231, 232, 235, 236, 239, 253, 265, 266, 268, 273, 276, 279, 280, 281, 283, 284, 285 und 286 gelten ab dem 30. Oktober 2013.
(2) Andere als die in Absatz 1 genannten Artikel gelten ab dem 1. Mai 2016.“
C. Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446(5)
12. Art. 8 Abs. 1 lautet:
„(1) Die Frist, innerhalb deren der Antragsteller zu einer Entscheidung, die sich nachteilig auf ihn auswirken würde, Stellung nehmen kann, beträgt 30 Tage.“
II. Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorabentscheidungsfrage
13. Die Jumbocarry Trading GmbH (im Folgenden: Jumbocarry) ist eine Gesellschaft mit Sitz in Deutschland. Am 4. Juli 2013 meldete sie in den Niederlanden eine Porzellanwarensendung zum zollrechtlich freien Verkehr an. In den Zollerklärungen gab sie Bangladesch als Ursprungsland der Teile an, weshalb ein Vorzugszollsatz von null Prozent angewandt wurde.
14. Am 1. Juni 2016 teilte der Inspecteur van de Belastingdienst (Inspektor der Finanzverwaltung, im Folgenden: Inspektor), der davon ausging, dass das Ursprungszeugnis der Waren unrichtig war, der Jumbocarry schriftlich mit, dass er beabsichtige, Zoll zum normalen Zollsatz von 12 % nachzuerheben. Mit demselben Schreiben gab er ihr Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen.
15. Am 18. Juli 2016 stellte die Verwaltung Jumbocarry eine Aufforderung zu, die Zollschuld zu entrichten.
16. Jumbocarry erhob gegen diesen Bescheid Klage bei der Rechtbank Noord-Holland (Gericht erster Instanz von Nordholland, Niederlande), die zu ihren Gunsten entschied; die Zollschuld sei verjährt, da seit ihrem Entstehen (am 4. Juli 2013) bereits drei Jahre vergangen seien.
17. Gegen dieses erstinstanzliche Urteil legte der Inspektor ein Rechtsmittel beim Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) ein, der sein Rechtsmittel mit Urteil vom 27. Februar 2018 zurückwies.
18. Der Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) legte daraufhin beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) Kassationsbeschwerde ein. Da das Gericht Zweifel an der zeitlichen Wirksamkeit bestimmter Vorschriften des Zollkodex der Union hatte, hat es dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Finden Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union auf eine Zollschuld Anwendung, die vor dem 1. Mai 2016 entstanden ist und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt war?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Stehen die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes einer solchen Anwendung entgegen?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
19. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 27. Januar 2020 beim Gerichtshof eingegangen.
20. Schriftliche Erklärungen wurden von Jumbocarry, der niederländischen Regierung, der Kommission, dem Rat und dem Parlament eingereicht.
21. Der Gerichtshof hat den Parteien und den weiteren Beteiligten verschiedene Fragen zur schriftlichen Beantwortung gestellt(6), und zwar:
– Zu einer möglichen Auswirkung der Erkenntnisse aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., dort insbesondere Rn. 42, auf diesen Rechtsstreit(7).
– Ob die hier in Rede stehende Zollschuld aufgrund einer Handlung entstanden ist, die zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurde, strafbar war, unter Berücksichtigung des Urteils vom 19. Oktober 2017, A(8) (Rn. 54 bis 62).
– Zur möglichen Analogie der Mitteilung gemäß Art. 22 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 29 des Zollkodex der Union zu derjenigen nach Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften, die nach dem Urteil vom 10. Juli 2019, CEVA Freight Holland (Rn. 43, 45, 46 und 48), zur Unterbrechung der dreijährigen Verjährungsfrist führt(9).
IV. Prüfung
A. Vorbemerkungen zur Klarstellung
22. Bevor ich auf die Beantwortung der Fragen des Hoge Raad der Nederlanden eingehe, möchte ich zu den Fragen, die der Gerichtshof den Parteien und den weiteren Beteiligten am Vorabentscheidungsverfahren gestellt hat, einige Punkte klarstellen.
23. Diese Fragen des Gerichtshofs zweifeln nicht an der Richtigkeit des im Vorlagebeschluss beschriebenen Sachverhalts. Vielmehr erlauben sie dem vorlegenden Gericht, wenn dieses sie aufgreift, eine Sicht auf das Unionsrecht, die mit seinem eigenen Ansatz nicht eben übereinstimmt(10).
24. Der Gerichtshof ist durch nichts daran gehindert, dem nationalen Gericht angesichts der Aktenlage und der bei ihm eingereichten schriftlichen Erklärungen Hinweise zu Fragen zu erteilen, die im Vorabentscheidungsersuchen nicht angesprochen worden sind, wenn er dies für zielführend hält, um eine bessere Zusammenarbeit mit dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen.
1. Einstufung der Handlung, die die Zollschuld hat entstehen lassen, und deren Auswirkungen auf die Verjährungsfrist
25. Gemäß Art. 221 Abs. 4 des Zollkodex der Gemeinschaften kann, wenn „die Zollschuld aufgrund einer Handlung entstanden [ist], die zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurde, strafbar war, … die Mitteilung unter den Voraussetzungen, die im geltenden Recht festgelegt sind, noch nach Ablauf der Dreijahresfrist [ab dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld] erfolgen“.
26. Auch wenn in dieser Bestimmung oder in anderen Absätzen von Art. 221 des Zollkodex der Gemeinschaften der Begriff Verjährungsfrist nicht verwendet wurde, hat der Gerichtshof festgestellt, die dort genannte dreijährige Frist sei in Wahrheit eine Verjährungsfrist für die Zollschuld(11).
27. In der Tat stellt „Art. 221 Abs. 3 Satz 1 des Zollkodex nach ständiger Rechtsprechung eine Verjährungsregelung [auf], wonach die Mitteilung des Betrags der zu entrichtenden Eingangs- oder Ausfuhrabgaben nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld nicht mehr erfolgen darf“(12).
28. Gemäß Art. 221 Abs. 4 des Zollkodex der Gemeinschaften war die in diesem Kodex festgelegte Verjährungsfrist für die Zollschuld mithin nicht auf drei Jahre begrenzt, wenn die Schuld „aufgrund einer Handlung entstanden [war], die … strafbar war“.
29. Der Gerichtshof hat dies in einem Fall geprüft, in dem Waren nach einer auf unrichtigen Angaben beruhenden Zollanmeldung unrechtmäßig in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden waren(13).
30. Auch wenn nach Art. 201 des Zollkodex die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr zu den Umständen zählt, die nach dieser Bestimmung die Eingangszollschuld auslösen, konnte dies nach Ansicht des Gerichtshofs „nicht heißen, dass eine solche Zollschuld nicht im Sinne von Art. 221 Abs. 4 des Zollkodex aus Handlungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ‚entstanden [war]‘“(14).
31. Daher konnte der in Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften vorgesehene Zeitraum drei Jahre überschreiten, wenn der am Ursprung der Zollschuld stehende Sachverhalt strafbar war(15).
32. Dieselbe Regel findet sich nunmehr mit nur leichten Abänderungen in Art. 103 Abs. 2 des Zollkodex der Union(16). Danach verlängert sich, wenn die Zollschuld aufgrund einer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbaren Handlung entstanden ist, die Frist zur Mitteilung von drei auf mindestens fünf und höchstens zehn Jahre.
33. Das vorlegende Gericht könnte somit, soweit seine Verfahrensvorschriften dies zulassen(17), feststellen, ob die Situation in dieser Rechtssache derjenigen entspricht, die im Urteil A untersucht wurde.
34. Alles deutet darauf hin, dass dies so ist, da nach dem Vorlagebeschluss bei der am 1. Juni 2016 an Jumbocarry gerichteten Mitteilung der Inspektor Zweifel am tatsächlichen Ursprung der angemeldeten Waren geäußert und behauptet hat, das Ursprungszeugnis sei unrichtig(18).
35. Wenn das vorlegende Gericht bestätigt, dass die Handlung, aufgrund deren die Zollschuld von Jumbocarry entstanden ist, strafbar war, wäre diese am 4. Juli 2013 entstandene Schuld weder am 1. Juni 2016 (Datum der Mitteilung des Inspektors) noch am 18. Juli 2016 (Datum der Zahlungsaufforderung) bereits durch Verjährung erloschen gewesen.
36. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht notwendig, die Auswirkungen zu untersuchen, die die Handlungen, durch die die dreijährige Verjährungsfrist für Zollschulden im Jahr 2016 ausgesetzt wurde, nach dem Zollkodex der Gemeinschaften oder der Union hatten. Denn dieser Zeitraum von drei Jahren, daran sei nochmals erinnert, wäre dann auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
2. Mitteilung an den Schuldner nach dem Zollkodex der Gemeinschaften
37. Der Zollbetrag, der von den Zollbehörden zu dem Zeitpunkt berechnet wurde, in dem ihnen die notwendigen Angaben vorlagen(19), war dem Zollschuldner gemäß Art. 221 Abs. 1 und 3 des Zollkodex der Gemeinschaften „in geeigneter Form“ und innerhalb einer Frist von höchstens drei Jahren nach dem Entstehen dieser Zollschuld mitzuteilen.
38. Der Gerichtshof hat sich bereits zu dieser Mitteilung geäußert und hinsichtlich ihrer Form und ihres Inhalts festgestellt, dass „es Sache der zuständigen staatlichen Stellen [ist], dafür zu sorgen, dass der Zollschuldner aus ihren Mitteilungen genaue Kenntnis von seinen Rechten erlangen kann“(20). Dagegen war es nicht unerlässlich, spezifische Verfahrensregeln zu beachten(21).
39. Zu den Wirkungen der Mitteilung hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die Mitteilung an den Zollschuldner gemäß Art. 221 Abs. 3 [des Zollkodex der Gemeinschaften] zur Unterbrechung der Verjährungsfrist führt“, nach deren Ablauf die Zollschuld erlischt(22).
40. Die in Art. 221 Abs. 1 und 3 des Zollkodex der Gemeinschaften auf der einen und Art. 22 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union auf der anderen Seite genannten „Mitteilungen“ weisen erhebliche Gemeinsamkeiten auf. Zwar stimmen sie nicht in allen ihren Elementen überein(23), sie können aber unter bestimmten Umständen als Verwaltungsakte mit gleichem Inhalt angesehen werden, wenn der Fokus, den der Gerichtshof bei der Auslegung der ersten dieser Vorschriften gewählt hat, beibehalten wird.
41. Der Zollkodex der Gemeinschaften sah nicht ausdrücklich vor, dass dem Schuldner Verwaltungsentscheidungen, die für ihn nachteilig waren, vor ihrem Erlass zur Kenntnis zu bringen waren. Wie bereits ausgeführt, beschränkte er sich darauf, dass die Verwaltung den Zollschuldner in geeigneter Form vor Ablauf der dreijährigen Frist ab Entstehen der Zollschuld über deren Betrag informieren musste.
42. Der Gerichtshof war dennoch der Auffassung, dass eine vorherige Mitteilung nach dem Zollkodex der Gemeinschaften verpflichtend sei(24), da sie den Schuldner in die Lage versetze, seinen Standpunkt vorzutragen, und gleichzeitig „der zuständigen Behörde erlaub[e], alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen“(25). Durch diese Mitteilung, darauf sei noch einmal hingewiesen, wurde die Verjährungsfrist der Zollschuld „unterbrochen“(26).
43. Da der Zollkodex der Gemeinschaften nicht ausdrücklich eine Verpflichtung zur vorherigen Mitteilung an den Schuldner festgelegt hatte, waren auch keine anderen Aspekte im Zusammenhang mit dieser Verpflichtung vorgesehen, wie beispielsweise, in welcher Form und welcher Frist die Stellungnahme einzureichen war. Diese Punkte zu konkretisieren, oblag dem nationalen Recht unter Berücksichtigung der Grundsätze der Wirksamkeit und der Äquivalenz.
44. Der Zollkodex der Union regelt die Mitteilung an den Schuldner nunmehr ausdrücklich, um diesem Gelegenheit zu geben, eine Stellungnahme einzureichen und seine Interessen zu vertreten(27). Im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Zollkodex der Gemeinschaften (und in gewisser Weise als Gegengewicht zur Anerkennung des Rechts auf eine Stellungnahme)(28) verleiht Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union dieser Handlung der Verwaltung die Wirkung, dass die dreijährige Frist, die mit der Entstehung der Steuerschuld zu laufen begonnen hat, ausgesetzt wird. Die Aussetzung dauert bis zum Ende des Zeitraums an, in dem der Schuldner seine Stellungnahme einreichen kann(29); anschließend läuft die Frist weiter.
45. Mit anderen Worten: Durch die Aussetzung nach Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union wird die Frist von drei Jahren ab Entstehen der Zollschuld, die für ihre Mitteilung zur Verfügung stehen, um 30 Tage verlängert. Es handelt sich in Wirklichkeit also um eine (zeitlich sehr begrenzte) Verlängerung der Verjährungsfrist, mit deren Ablauf das Recht der Verwaltung auf Erhebung der Zollschuld erlischt(30).
46. In dieser Rechtssache hat der Inspektor nach Angaben des vorlegenden Gerichts am 1. Juni 2016 die Mitteilung an Jumbocarry gesandt, um dieser seine Absicht bekanntzugeben, die Zollschuld mit einem Zollsatz von 12 % nachzuerheben, und ihr 30 Tage eingeräumt, um ihren Standpunkt darzulegen.
47. Wenn dies die Abfolge der Ereignisse war, so würde die Anwendung der oben zitierten Rechtsprechung dazu führen, dass das vorlegende Gericht zwei Faktoren abzuwägen hätte, die für den Rechtsstreit relevant sind:
– Erstens, dass die Mitteilung mit diesem Inhalt geeignet war, den Schuldner angemessen zu informieren und ihn in die Lage zu versetzen, seine Rechte in voller Kenntnis der Sachlage zu vertreten, wie das Urteil Molenbergnatie Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften ausgelegt hat(31).
– Zweitens, dass diese Mitteilung, ebenfalls nach Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften in seiner Auslegung durch den Gerichtshof, die Unterbrechung (oder Aussetzung) der dreijährigen Verjährungsfrist ab dem Entstehen der Zollschuld ausgelöst hat(32).
48. Die dreijährige Verjährungsfrist wäre somit unabhängig vom anwendbaren Zollkodex (der Gemeinschaften oder der Union) durch die Mitteilung des Inspektors an Jumbocarry am 1. Juni 2016, d. h. vor Ablauf von drei Jahren ab dem 4. Juli 2013, dem Tag des Entstehens der Zollschuld, ausgesetzt (oder möglicherweise unterbrochen) worden.
49. Ebenso ist, da die Aussetzung der Verjährungsfrist bis zum Ende des dem Zollschuldner eingeräumten Zeitraums zur Abgabe einer Stellungnahme andauerte, wahrscheinlich(33), dass an dem Tag (18. Juli 2016), an dem Jumbocarry die Zahlungsaufforderung zuging, auch in Anwendung des Zollkodex der Gemeinschaften die dreijährige Verjährungsfrist (verlängert um die Dauer der Aussetzung), nach deren Ablauf die Zollschuld erlöscht, noch nicht abgelaufen war.
B. Hilfsweise Ausführungen zu den zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen
50. Ich werde auf jeden Fall eine Antwort auf die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen für den Fall vorschlagen, dass das vorlegende Gericht nach Prüfung der beiden obigen Punkte(34) zum Ergebnis kommt, dass es nach wie vor der Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts bedarf, auf denen diese Fragen beruhen.
1. Erste Frage
51. Das vorlegende Gericht äußert Zweifel hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit von zwei Vorschriften des Zollkodex der Union, die nach seinem Art. 288 Abs. 2 seit dem 1. Mai 2016 anzuwenden sind:
– Die erste betrifft die Verjährung der Zollschuld (Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union).
– Die zweite betrifft das Erlöschen dieser Zollschuld (Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union), wenn sie dem Schuldner nicht mehr gemäß Art. 103 dieses Zollkodex mitgeteilt werden konnte.
52. Die Argumentation des vorlegenden Gerichts und die Ausführungen der Parteien und weiteren Beteiligten im Vorabentscheidungsverfahren haben sich mit der Einordnung der fraglichen Bestimmungen als Verfahrens- oder materielle Vorschriften befasst. Ich will meine Prüfung daher aus dieser Perspektive beginnen.
a) Verfahrens- oder materiell-rechtliche Natur der anwendbaren Vorschriften und deren Auswirkungen auf diesen Rechtsstreit
53. Die Parteien und die weiteren am Rechtsstreit Beteiligten führen die klassische Rechtsprechung des Gerichtshofs an, die bei der Entscheidung über die zeitliche Wirkung neuer Vorschriften, insbesondere deren Auswirkung auf noch laufende Sachverhalte oder bereits endgültig erworbene Rechtspositionen, zwischen Verfahrensvorschriften und materiellen (oder materiell-rechtlichen) Vorschriften unterscheidet.
54. Nach dieser Rechtsprechung „sind Verfahrensvorschriften im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, während materiell-rechtliche Vorschriften gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie grundsätzlich nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten“(35).
55. Der Gerichtshof hat seine Lehre über die Anwendung materiell-rechtlicher Vorschriften im Lauf der Zeit wie folgt differenziert: „eine neue Rechtsnorm [ist] ab dem Inkrafttreten des Rechtsakts anwendbar …, mit dem sie eingeführt wird, und … [sie ist] zwar nicht auf vor dessen Inkrafttreten entstandene und endgültig erworbene Rechtspositionen anwendbar …, doch [findet sie] unmittelbar auf die künftigen Wirkungen unter dem alten Recht entstandener Rechtspositionen sowie auf neue Rechtspositionen Anwendung. Etwas anderes gilt – vorbehaltlich des Verbots der Rückwirkung von Rechtsakten – nur, wenn zusammen mit der neuen Rechtsnorm besondere Vorschriften erlassen werden, die speziell die Voraussetzungen für ihre zeitliche Geltung regeln“(36).
56. Diese Rechtsprechung(37) lässt je nach den konkreten Umständen bestimmte Nuancierungen zu. Dies bedeutet:
– Verfahrensregeln sind im Allgemeinen ab dem Tag ihres Inkrafttretens anwendbar.
– Materiell-rechtliche Vorschriften dagegen berühren Rechtspositionen, die vor ihrem Inkrafttreten endgültig erworben worden sind, nicht, es sei denn, aus ihrem Wortlaut, ihrem Zweck oder ihrem System ergäbe sich eindeutig, dass ihnen diese Wirkung zukommen soll(38).
– Als Ausnahme von dieser Regel kann der Fall gelten, dass „eine unionsrechtliche Regelung, mit der eine Gesamtregelung für die Nacherhebung von Abgaben geschaffen werden sollte, sowohl Verfahrens- als auch materielle Bestimmungen enthielt, die ein einheitliches Ganzes bildeten, dessen Einzelbestimmungen hinsichtlich ihrer zeitlichen Geltung nicht isoliert betrachtet werden durften“(39).
57. Wird der im Verweisungsbeschluss und in den Erklärungen der Parteien und Beteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens gewählte Ansatz vom Gerichtshof übernommen, ist mithin zu prüfen, ob die Natur der in der ersten Frage genannten Vorschriften des Zollkodex der Union verfahrens- oder materiell-rechtlich ist.
58. Diese Prüfung würde zur Annahme eines materiellen Charakters dieser Bestimmungen führen, würden wir den Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil in der Rechtssache Molenbergnatie folgen. Denn nach diesem Urteil war schon Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften „als materielle Bestimmung anzusehen“(40).
59. Zur Einordnung dieser Vorschrift als materiell-rechtlich und nicht als Verfahrensvorschrift hat der Gerichtshof auf die Wirkungen einer (seitens der Behörden) drei Jahre versäumten Mitteilung der Höhe der Zollschuld in Verbindung mit der Aufzählung der Gründe für das Erlöschen der Zollschuld in Art. 233 des Zollkodex der Gemeinschaften verwiesen: Er hat daraus geschlossen, dass dann, wenn die in beiden Vorschriften vorgesehenen Umstände vorliegen, die Schuld „verjährt und damit erloschen ist“(41).
60. Unabhängig von der (Lehr‑)Meinung, die über diese Feststellungen möglicherweise ausgedrückt wird(42), hat der Gerichtshof jedenfalls Art. 221 Abs. 3 in der Zusammenschau mit Art. 233 des Zollkodex der Gemeinschaften als materiell-rechtliche Vorschrift eingeordnet.
61. Diese Einordnung lässt sich ohne größere Probleme auf die Parallelvorschrift im Zollkodex der Union übertragen: Die Zusammenschau von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union entspricht inhaltlich Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften.
62. Die Anwendung der Rechtsprechung aus dem Urteil Molenbergnatie würde folglich dazu führen, dass die Bestimmungen des Zollkodex der Union, um deren Auslegung ersucht wird, wegen ihres materiell-rechtlichen Charakters nicht auf Zollschulden angewandt werden dürften, die vor ihrem Inkrafttreten entstanden sind.
63. Das Verbot der Anwendung neuer materiell-rechtlicher Vorschriften auf Sachverhalte, die vor ihrem Inkrafttreten eingetreten sind, gilt dann, wenn es um „Rechtspositionen“ geht, „die vor ihrem Inkrafttreten endgültig erworben worden sind“(43). Dies ist im vorliegenden Fall, in dem die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war, jedoch nicht so.
64. Wie das vorlegende Gericht zu Recht betont, war in dem durch das Molenbergnatie-Urteil entschiedenen Fall die Rechtsposition des Schuldners bereits endgültig erworben. Dagegen war die Zollschuld von Jumbocarry „am 1. Mai 2016 noch nicht verjährt“(44). Deshalb, fügt das vorlegende Gericht hinzu, „unterscheidet sich die Situation von Jumbocarry Trading von der, auf die Rn. 41 des Urteils Molenbergnatie Bezug nimmt“(45).
65. Aus den Angaben in der Akte kann in der Tat Folgendes geschlussfolgert werden:
– Die Zollschuld von Jumbocarry entstand am 4. Juli 2013.
– An dem – vom Tag ihres Inkrafttretens verschiedenen – Datum, an dem die Anwendung der Art. 103 und 124 des Zollkodex der Union begann (d. h. am 1. Mai 2016)(46), war die dreijährige Verjährungsfrist für diese Zollschuld noch nicht abgelaufen. Sie wäre am 4. Juli 2016 abgelaufen, wäre diese Frist nicht, wie es der Fall war, durch die Mitteilung des Inspektors (am 1. Juni 2016) ausgesetzt worden.
66. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rechtsposition von Jumbocarry in Bezug auf die Verjährung ihrer Zollschuld noch nicht endgültig erworben war, als die niederländische Verwaltung dadurch, dass sie am 1. Juni 2016 (gemäß Art. 22 Abs. 6 und Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union) die Gründe mitteilte, aus denen sie den Zoll erheben wollte, eine Aussetzung der dreijährigen Verjährungsfrist auslöste.
67. Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass gegen die Anwendung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union keine Einwände bestehen. Die erste Frage ist daher zu bejahen.
68. Diese Lösung wird auch durch die übereinstimmenden Kriterien bestätigt, die sich aus den Urteilen Taricco I und Taricco II ergeben. Das erste dieser Urteile wurde vom Parlament in seinen schriftlichen Erklärungen angesprochen, und die Parteien und weiteren Beteiligten an diesem Vorabentscheidungsverfahren haben auf Ersuchen des Gerichtshofs zu den Auswirkungen beider Urteile Stellung nehmen können.
b) Auswirkungen der Urteile in den Rechtssachen Taricco I und Taricco II auf diese Rechtssache
69. Ein klassisches Problem der Strafrechtsdogmatik ist die Verlängerung der Verjährungsfristen von Straftaten durch den Erlass eines neuen Gesetzes vor Ablauf der zum Zeitpunkt ihrer Begehung geltenden Verjährungsfrist(47).
70. Diese Verlängerung hat, vom Standpunkt des allgemeinen Grundsatzes des Verbots der reformatio in peius der Strafgesetze betrachtet, Probleme bereitet. Das Verbot ist in Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert.
71. Die einander gegenüberstehenden, von gegensätzlichen Standpunkten aus erarbeiteten Thesen vertreten dazu, (a) dass die Verjährungsfrist, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes zu laufen begonnen hat, dem früheren Recht unterliegt (tempus regit actum) und (b) dass der Gesetzgeber nicht gehindert ist, die Verjährungsfrist zu verlängern, aber dass die neue (gegenüber der früheren Frist verlängerte) Frist nur auf Straftaten angewandt werden kann, die nach dem früheren Recht noch nicht verjährt waren(48).
72. Zur Beantwortung einer der in der Rechtssache Taricco I zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen verwies der Gerichtshof auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in dem Rechte verankert sind, die den durch Art. 49 der Charta gewährleisteten Rechten entsprechen.
73. Im Einklang mit dieser Rechtsprechung stellte der Gerichtshof fest, dass „die Verlängerung der Verjährungsfrist und ihre unmittelbare Anwendung zu keiner Beeinträchtigung der von Art. 7 dieser Konvention gewährleisteten Rechte [führen], da diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden kann, dass sie eine Verlängerung der Verjährungsfristen verhindert, wenn die vorgeworfenen Taten nicht verjährt sind“(49).
74. Generalanwältin Kokott hatte in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Taricco I die gleiche Auffassung vertreten: „Vielmehr kann sich der Zeitrahmen, innerhalb dessen eine Straftat verfolgt werden darf, auch nach Tatbegehung noch ändern, solange keine Verjährung eingetreten ist.“(50)
75. Im Urteil Taricco II wurde diese Aussage mit der Feststellung bestätigt, dass „eine sofort anwendbare und auch für noch nicht verjährte Straftaten geltende Verlängerung einer Verjährungsfrist“ durch den nationalen Gesetzgeber zulässig sei. Eine solche Verlängerung, so die weiteren Ausführungen des Gerichtshofs, stellt „in der Regel keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen [dar] (vgl. in diesem Sinne das Urteil Taricco [I], Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte)“(51).
76. Zwar trifft es zu, dass die nationalen Vorschriften, auf denen die Urteile Taricco I und Taricco II beruhten, inhaltlich andere sind als die hier in Rede stehenden. Dort lag keine Verlängerung der Verjährungsfrist für Straftaten im eigentlichen Sinn vor, sondern vielmehr eine plötzliche Verkürzung des Maximalzeitraums, für den die Frist unterbrochen werden konnte(52), was zur Folge hatte, dass „die zeitliche Wirkung eines Grundes für die Unterbrechung der Verjährung neutralisiert“ wurde(53).
77. Richtig ist auch, dass der Gerichtshof im Anschluss an das Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) die in der Rechtssache Taricco II in Rede stehende gesetzliche Regelung aus einer anderen Perspektive als im Urteil Taricco I betrachtet hat:
– Im Urteil Taricco I prüfte er die Verpflichtung des italienischen Gerichts, in einem Strafverfahren wegen strafbaren Verhaltens im Zusammenhang mit der Erhebung der Mehrwertsteuer verschiedene nationale Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährungsfrist für Straftaten unangewendet zu lassen, die in Verbindung mit der in diesem Mitgliedstaat üblichen Verfahrensdauer in der Praxis die Straffreiheit der Täter zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zur Folge gehabt hätten.
– Im Urteil Taricco II nuancierte er die Feststellungen im Urteil Taricco I(54), indem er sich mit der Möglichkeit einer Verpflichtung befasste, nationale Verjährungsvorschriften (die in Italien nach Ansicht der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof] materiell-rechtlichen Charakter haben(55)) im Zusammenhang mit dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von Straftaten und Strafen unangewendet zu lassen(56). Er klärte außerdem die Rolle von Gesetzgeber und Strafgericht bei der Aufgabe, Abhilfe für eine Situation zu schaffen, in der das innerstaatliche Recht für die Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen nicht den Anforderungen entsprach, die der Schutz der finanziellen Interessen der Union erforderte.
78. Die erkennbaren Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen Urteil bestehen jedoch nicht im Hinblick auf das, was hier Gegenstand der Debatte ist, nämlich die Zulässigkeit der sofortigen Anwendung einer neuen, längeren Verjährungsfrist auf Sachverhalte, die noch nicht verjährt sind.
79. Denn was diesen speziellen Punkt betrifft, stimmen beide Urteile überein: Rn. 42 des Urteils Taricco II übernimmt ohne Einschränkung die Feststellung in Rn. 57 des Urteils Taricco I und gleichzeitig die im Urteil Taricco I angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
80. Wenn es möglich ist, dass eine neue Vorschrift mit sofortiger Wirkung die Verjährungsfrist für Straftaten, die noch nicht verjährt sind, verlängert, ist die Anwendung dieses Kriteriums umso einleuchtender, wenn es darum geht, die Verjährungsfrist für eine Zollschuld (die keinen Strafcharakter hat) vor dem Ablauf der drei Jahre, die nach den vorigen Rechtsvorschriften zur Verjährung erforderlich sind, für einen begrenzten Zeitraum auszusetzen(57).
2. Zweite Vorlagefrage
81. Die zweite zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage ist sehr knapp formuliert. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob, „wenn die erste Frage zu bejahen ist …“, die Anwendung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist.
82. Das Parlament hat sich an diesem Verfahren beteiligt, weil es der Auffassung war, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage die Gültigkeit der beiden Artikel des Zollkodex der Union, um die es in der ersten Frage geht, „anscheinend“ in Frage gestellt hat, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt worden ist(58).
83. Ich glaube allerdings nicht, dass nach der Formulierung des Vorlagebeschlusses die zweite Frage als Ausdruck von Zweifeln an der Gültigkeit dieser Vorschriften des Unionsrechts auszulegen ist. Das vorlegende Gericht stellt nicht die abstrakte Gültigkeit dieser Vorschriften, sondern ihre zeitliche Anwendbarkeit auf einen bestimmten Fall in Frage. Es ist richtig, dass es am Ende seines Beschlusses die Nichtanwendung von Art. 103 Abs. 3 des Zollkodex der Union in Erwägung zieht, aber dies geschieht eher im Zusammenhang mit den konkreten Umständen des Rechtsstreits.
84. Der Vorlagebeschluss begründet den Hinweis auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes damit, dass „argumentiert werden könnte“, dass zum Zeitpunkt der Entstehung der Zollschuld (4. Juli 2013) „nicht klar und vorhersehbar war, dass die zollrechtlichen Vorschriften über die Nacherhebung und die Verjährung … geändert werden würden“(59).
85. Das vorlegende Gericht erkennt jedoch an, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass von Art. 22 Abs. 6 und Art. 29 des Zollkodex der Union die Rechtsstellung des Schuldners gestärkt hat, indem er ihm das Recht auf eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt hat(60). Die Verbindung dieser Vorschriften mit der Aussetzung der Verjährungsfrist während des Zeitraums, der dem Schuldner für seine Stellungnahme zur Verfügung steht, hat jedoch keine solche Verschlechterung seiner Rechtsposition zur Folge, dass Art. 103 Abs. 3 des Zollkodex der Union nicht angewandt werden dürfte(61).
86. Nach ständiger Rechtsprechung „[gebietet] der Grundsatz der Rechtssicherheit …, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können“(62).
87. Zum Recht auf Vertrauensschutz hat der Gerichtshof festgestellt, dass es „als Ausfluss des … Grundsatzes der Rechtssicherheit jedem Einzelnen zusteht, wenn … die Unionsverwaltung bei ihm begründete Erwartungen geweckt hat. Konkrete, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen … Zusicherungen dar, die solche Erwartungen wecken können. Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine konkreten Zusicherungen gegeben hat“(63).
88. Erstens birgt keiner dieser Grundsätze die Verpflichtung, die Rechtsordnung im Laufe der Zeit unverändert aufrechtzuerhalten. Die Erwartung, dass die Rechtsvorschriften unverändert bleiben, wäre außerdem in einer Materie wie dem Zollrecht, die eine ständige Anpassung verlangt, besonders abwegig(64). Die aufeinanderfolgenden Änderungen des Zollkodex der Gemeinschaften seit seinem Erlass im Jahr 1992 bis zu seiner Aufhebung durch die Verordnung Nr. 952/2013 sind hierfür gute Beispiele. Auch die Annahme des Zollkodex der Union wurde mit der Notwendigkeit begründet, „den Entwicklungen im Unionsrecht Rechnung zu tragen“(65).
89. Was zweitens den Vertrauensschutz im obigen Sinne anbelangt, so enthält die Akte nichts, was darauf schließen ließe, dass die niederländische Verwaltung Jumbocarry jemals „konkrete Zusicherungen“ betreffend die Erhebung der Zollschuld gewährt hätte.
90. Drittens schließt es der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht aus, dass Vorschriften ausgelegt werden müssen, wenn die Deutung ihres Inhalts zu Schwierigkeiten führt, die bei den Personen, die von ihnen betroffen sind oder die sie anzuwenden haben, Zweifel hervorrufen: Um eben diese Zweifel aufzulösen, ist der Mechanismus der justiziellen Zusammenarbeit eingeführt worden, der in Art. 267 AEUV geregelt ist.
91. Viertens bedeutet die Einführung des neuen Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union in Wirklichkeit keine Änderung der vorherigen Regelung. Es wurde damit eher dem Bedürfnis entsprochen, eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörden gesetzlich zu verankern, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(66) bereits nach dem Zollkodex der Gemeinschaften bestand und für deren Durchführungsvorschriften der nationale Gesetzgeber zuständig war, weil der Unionsgesetzgeber diesem Punkt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
92. In dieser Rechtssache kann man nicht von einem Recht des Zollschuldners sprechen, dass die Zollschuld drei Jahre nach ihrem Entstehen automatisch und zwangsläufig erlischt, sondern nur von einer Erwartung, dass dies eintritt, und zwar bereits nach den zum Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld geltenden Regeln des Zollkodex der Gemeinschaften.
93. Es ist daran zu erinnern, dass ein solches Recht nicht bestand, sondern lediglich die Erwartung, dass nach Ablauf der Dreijahresfrist Verjährung eintreten werde – vorausgesetzt, dass diese Frist nicht ausgesetzt wird, sei es aufgrund eines Rechtsbehelfs, sei es aufgrund eines Handelns der Verwaltung, indem diese vor der Entscheidung, den Zoll zu erheben, ihre Absicht mitteilt, dies tun zu wollen.
94. Wie die niederländische Regierung(67) argumentiert hat, konnte der Zeitpunkt des Erlöschens der Zollschuld unter der Geltung des Zollkodex der Gemeinschaften nicht mit völliger Sicherheit im Voraus bestimmt werden, da die Dreijahresfrist nach Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften ausgesetzt werden konnte, wenn ein Rechtsbehelf nach Art. 243 eingelegt wurde(68).
95. Die Auslegung von Art. 221 Abs. 3 durch den Gerichtshof ermöglichte die Schlussfolgerung, dass die Mitteilung der Verwaltung die dreijährige Frist zur Festsetzung der Zollschuld (mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Verjährungsfrist) bereits unter der Geltung des Zollkodex der Gemeinschaften unterbrach(69).
96. Fünftens steht, wie das vorlegende Gericht zu Recht hervorhebt, die mit der gemäß Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union erfolgten Mitteilung verbundene Aussetzung und die durch sie bewirkte Verlängerung der Verjährungsfrist in unmittelbarem Zusammenhang mit der Möglichkeit, dass dem Zollschuldner Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern, bevor die Zollbehörde eine für ihn nachteilige Entscheidung trifft.
97. Diese Regel sorgt für das Gleichgewicht zwischen dem Recht des Schuldners auf rechtliches Gehör und den finanziellen Interessen der Union. Dass ein solches Gleichgewicht notwendig ist, ist kein mit dem Zollkodex der Union eingeführter neuer Rechtsgedanke, und auch der Mechanismus, dass die Mitteilung der Verwaltung zur Aussetzung der Verjährungsfrist führt, war bereits früher vorhanden.
98. Sechstens: Selbst wenn die Verlängerung der Verjährungsfrist aufgrund der aufschiebenden Wirkung der dem Schuldner zugestellten Mitteilung im Vergleich zu der am 4. Juli 2013 – also dem Tag des Entstehens der Zollschuld von Jumbocarry – geltenden Regelung des Zollkodex der Gemeinschaften als „neu“ einzuordnen wäre, würde auch die sofortige Anwendung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union ab dem 1. Mai 2016 die Rechtssicherheit betreffend die anwendbaren Vorschriften nicht beeinträchtigen.
99. Jeder sorgfältige an der Zollabfertigung Beteiligte konnte sich über die Auslegung des Gerichtshofs zur zeitlichen Anwendbarkeit der Verfahrens- wie der materiellen Vorschriften, was die künftigen Auswirkungen von noch nicht endgültig erworbenen Rechtspositionen betrifft, informieren. Es handelt sich um eine ständige Rechtsprechung, die im Bereich des Zollrechts bis ins Jahr 1981 zurückreicht(70).
100. Die sofortige Anwendung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union ermöglicht letztlich die Gleichbehandlung aller Einführenden, deren Zollschuld am Tag der vollständigen Anwendung des Zollkodex der Union noch nicht durch Verjährung erloschen war, unabhängig davon, ob sie vor oder nach diesem Zeitpunkt entstanden ist. Seit dem 1. Mai 2016 hat jeder, der sich in der von Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union umschriebenen Lage befindet, Anspruch auf rechtliches Gehör, und zwar während eines gleich langen, auf gleiche Weise berechneten Zeitraums.
V. Ergebnis
101. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) wie folgt zu beantworten:
Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union finden auf eine Zollschuld Anwendung, die vor dem 1. Mai 2016 entstanden und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, ohne dass diese Anwendung gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstieße.