Language of document : ECLI:EU:T:2014:160

URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)

vom 27. März 2014(1)

„Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Automobilglas – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Absprachen über die Marktaufteilung und Austausch geschäftlich sensibler Informationen – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Einrede der Rechtswidrigkeit – Geldbußen – Rückwirkende Anwendung der Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Umsatz – Wiederholungsfall – Zusatzbetrag – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Obergrenze der Geldbuße – Konsolidierter Umsatz des Konzerns“

In den Rechtssachen T‑56/09 und T‑73/09

Saint-Gobain Glass France SA mit Sitz in Courbevoie (Frankreich),

Saint-Gobain Sekurit Deutschland GmbH & Co. KG mit Sitz in Aachen (Deutschland),

Saint-Gobain Sekurit France SAS mit Sitz in Thourotte (Frankreich),

Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte B. van de Walle de Ghelcke, B. Meyring, E. Venot und M. Guillaumond, dann Rechtsanwälte van de Walle de Ghelcke, Meyring und Venot,

Klägerinnen in der Rechtssache T‑56/09,

Compagnie de Saint-Gobain SA mit Sitz in Courbevoie, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte P. Hubert und E. Durand,

Klägerin in der Rechtssache T‑73/09,

gegen

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch A. Bouquet, F. Castillo de la Torre, M. Kellerbauer und N. von Lingen, dann durch Bouquet, Castillo de la Torre, Kellerbauer und F. Ronkes Agerbeek, als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Karlsson und F. Florindo Gijón als Bevollmächtigte,

Streithelfer in der Rechtssache T‑56/09,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K(2008) 6815 endg. der Kommission vom 12. November 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Art. 53 EWR-Abkommen (COMP/39.125 – Automobilglas) in der durch die Entscheidung K(2009) 863 endg. der Kommission vom 11. Februar 2009 und die Entscheidung K(2013) 1118 endg. vom 28. Februar 2013 geänderten Fassung, soweit sie die Klägerinnen betrifft, hilfsweise, Nichtigerklärung von Art. 2 dieser Entscheidung, soweit darin eine Geldbuße gegen die Klägerinnen verhängt wird, weiter hilfsweise, Herabsetzung dieser Geldbuße,

erlässt

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten N. J. Forwood (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und J. Schwarcz,

Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2012

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Mit den vorliegenden Klagen wird die Nichtigerklärung der Entscheidung K(2008) 6815 endg. der Kommission vom 12. November 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/39.125 – Automobilglas) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) beantragt, die in zusammengefasster Form im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. C 173, S. 13) veröffentlicht wurde. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften u. a. fest, dass einige Unternehmen, darunter die Klägerinnen, gegen diese Vorschriften verstoßen hätten, indem sie zwischen 1998 und 2003 in verschiedenen Zeiträumen an einer Reihe wettbewerbswidriger Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen im Automobilglassektor im EWR beteiligt gewesen seien (Art. 1 der angefochtenen Entscheidung).

2        Die Saint-Gobain Glass France SA, die Saint-Gobain Sekurit Deutschland GmbH & Co. KG und die Saint-Gobain Sekurit France SAS (im Folgenden zusammen: Saint-Gobain), Klägerinnen in der Rechtssache T‑56/09, sind Gesellschaften, die im Bereich Herstellung, Verarbeitung und Vertrieb von Werk- und Baustoffen, u. a. Automobilglas, tätig sind. Sie sind 100%ige Tochtergesellschaften der Compagnie de Saint-Gobain SA (im Folgenden: Compagnie), Klägerin in der Rechtssache T‑73/09. Die Pilkington Group Ltd umfasst u. a. die Gesellschaften Pilkington Automotive Ltd, Pilkington Automotive Deutschland GmbH, Pilkington Holding GmbH und Pilkington Italia SpA (im Folgenden zusammen: Pilkington). Pilkington, die ebenfalls eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung eingereicht hat (Rechtssache T‑72/09), gehört zu den weltweit größten Herstellern von Glas und Verglasungsprodukten, insbesondere im Automobilsektor. Die Soliver NV, die auch eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung erhoben hat (T‑68/09), ist ein kleineres, insbesondere im Automobilsektor tätiges Glasunternehmen.

3        Die Asahi Glass Co. Ltd (im Folgenden: Asahi) ist ein in Japan ansässiger Hersteller von Glas, chemischen Erzeugnissen und elektronischen Bauteilen. Asahi besitzt sämtliche Anteile des belgischen Glasunternehmens Glaverbel SA/NV, das selbst wiederum 100 % der Anteile der AGC Automotive France (im Folgenden: AGC) besitzt. AGC führte vor dem 1. Januar 2004 die Firmenbezeichnung Splintex Europe SA (im Folgenden: Splintex). Asahi, die zu den Adressaten der angefochtenen Entscheidung gehört, hat gegen diese keine Klage erhoben.

4        Die Untersuchung, die zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hatte, war eingeleitet worden, nachdem ein deutscher Rechtsanwalt im Auftrag eines anonymen Mandanten der Kommission Schreiben übermittelt hatte, die Informationen über Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen von Seiten mehrerer, im Bereich der Herstellung und des Vertriebs von Automobilglas tätiger Unternehmen enthielten.

5        Im Februar und März 2005 führte die Kommission in den Geschäftsräumen der Klägerinnen sowie von Pilkington, Soliver und AGC Nachprüfungen durch. Dabei beschlagnahmte die Kommission verschiedene Dokumente und Dateien.

6        Nach diesen Prüfungen stellten Asahi und Glaverbel sowie ihre von der Untersuchung betroffenen Tochtergesellschaften (im Folgenden zusammen: Kronzeugin) einen Antrag auf Erlass oder Ermäßigung der Geldbuße nach der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002). Am 19. Juli 2006 lehnte die Kommission den bedingten Erlass der Geldbuße ab, informierte die Kronzeugin jedoch gemäß Rn. 26 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002, dass sie beabsichtige, ihr eine Ermäßigung von 30 bis 50 % de Geldbuße zu gewähren, die normalerweise gegen sie festgesetzt worden wäre.

7        Zwischen dem 26. Januar 2006 und dem 2. Februar 2007 richtete die Kommission mehrere Auskunftsverlangen nach Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) an die Klägerinnen sowie an Pilkington, Soliver, Asahi, Glaverbel und AGC. Die betroffenen Unternehmen antworteten auf diese Auskunftsverlangen.

8        Darüber hinaus richtete die Kommission auf derselben Grundlage Auskunftsverlangen an mehrere Automobilhersteller, an einen italienischen Bushersteller sowie an zwei Berufsverbände der Glasindustrie, die ebenfalls antworteten.

9        Am 18. April 2007 verabschiedete die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffend eine einzige und fortdauernde Zuwiderhandlung, die in Absprachen und abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Automobilglasherstellern über die Auftragsvergabe für Lieferungen an Automobilhersteller bestand. Diese Mitteilung der Beschwerdepunkte wurde den Klägerinnen sowie Pilkington, Soliver, Asahi, Glaverbel und AGC zugestellt. Alle Unternehmen, die Adressaten dieser Mitteilung der Beschwerdepunkte waren, hatten Akteneinsicht und wurden von der Kommission aufgefordert, insoweit Stellung zu nehmen. Eine Anhörung, an der alle diese Adressaten teilnahmen, fand am 24. September 2007 bei der Kommission statt.

 Angefochtene Entscheidung

10      Die Kommission erließ die angefochtene Entscheidung am 12. November 2008. Sie stellte darin u. a. fest, dass Saint-Gobain und die Compagnie vom 10. März 1998 bis 11. März 2003 an den oben in Rn. 1 genannten Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen beteiligt gewesen seien (Art. 1 Buchst. b der angefochtenen Entscheidung) und verhängte gegen sie zunächst „gesamtschuldnerisch“ eine Geldbuße in Höhe von 896 Mio. Euro (Art. 2 Buchst. b der angefochtenen Entscheidung).

11      Für die Kronzeugin wurde eine Beteiligung an der Zuwiderhandlung in der Zeit vom 18. Mai 1998 bis 11. März 2003 zugrunde gelegt und eine Geldbuße in Höhe von 113,5 Mio. Euro verhängt (Art. 1 Buchst. a und Art. 2 Buchst. a der angefochtenen Entscheidung).

12      Hinsichtlich Pilkington entschied die Kommission, dass dieses Unternehmen vom 10. März 1998 bis 3. September 2002 an Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen beteiligt gewesen sei (Art. 1 Buchst. c der angefochtenen Entscheidung). Sie setzte zunächst eine Geldbuße in Höhe von 370 Mio. Euro gegen sie fest (Art. 2 Buchst. c der angefochtenen Entscheidung).

13      Was schließlich Soliver betrifft, ging die Kommission davon aus, dass dieses Unternehmen vom 19. November 2001 bis zum 11. März 2003 an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei (Art. 1 Buchst. d der angefochtenen Entscheidung). Sie setzte gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 4 396 000 Euro fest (Art. 2 Buchst. d der angefochtenen Entscheidung).

14      In der angefochtenen Entscheidung geht die Kommission von der Feststellung aus, dass insbesondere hohe technische Anforderungen ebenso wie ein hohes Maß an Innovation charakteristisch für den Automobilglasmarkt seien und integrierte Anbieter mit globaler Präsenz begünstigten. AGC, Pilkington und Saint-Gobain gehörten zu den weltweit wichtigsten Automobilglasherstellern und deckten zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung zusammen ungefähr 76 % der weltweiten Nachfrage nach Glas, das für die Erstausrüstung (Ausrüstung des Fahrzeugs mit Automobilglas bei der Fertigung im Werk) bestimmt ist. Die Kommission weist auch auf einen umfangreichen Handel zwischen den Mitgliedstaaten und den EFTA-Mitgliedstaaten hin, die im Automobilglassektor zum EWR gehörten. Im Übrigen verhandelten die Automobilhersteller die Aufträge über die Lieferung von Automobilglas auf der Ebene des EWR.

15      Der angefochtenen Entscheidung ist zu entnehmen, dass die von der Untersuchung der Kommission betroffenen Automobilglashersteller im Zuwiderhandlungszeitraum fortlaufend ihre jeweiligen Marktanteile überwachten, und zwar nicht nur für die „einzelnen Fahrzeughersteller“, d. h. im Hinblick auf den Umsatz nach Fahrzeugmodell, sondern auch weltweit, d. h. alle Fahrzeughersteller zusammengenommen.

16      Pilkington, Saint-Gobain und AGC hätten insoweit an trilateralen Treffen teilgenommen, die manchmal als „Clubtreffen“ bezeichnet worden seien. Diese Treffen, die abwechselnd von jedem dieser Unternehmen organisiert worden seien, hätten in Hotels verschiedener Städte in Europa, in den Privathäusern, die Mitarbeitern dieser Unternehmen gehörten, sowie in den Geschäftsräumen des Berufsverbands Groupement européen de producteurs de verre plat (GEPVP) (Europäischer Verband der Flachglashersteller) und in denjenigen der Associazione Nazionale degli Industriali del Vetro (Assovetro) (Nationale Vereinigung der Glasunternehmer) stattgefunden.

17      Zwischen diesen Wettbewerbern hätten auch bilaterale Treffen oder Kontakte stattgefunden, um die Lieferung von Automobilglas für laufende oder zukünftige Modelle zu erörtern. Gegenstand dieser verschiedenen Kontakte und Treffen seien die Auswertung und Überwachung von Marktanteilen, die Verteilung der Automobilglaslieferungen auf die Hersteller und der Austausch von Preisinformationen und sonstiger sensibler Marktinformationen und die Koordinierung der Preis- und Lieferstrategien dieser verschiedenen Wettbewerber gewesen.

18      Das erste dieser bilateralen Treffen, an dem Saint-Gobain und Pilkington teilgenommen hätten, habe am 10. März 1998 im Hotel Hyatt Regency am Flughafen Charles-de-Gaulle in Paris (Frankreich) stattgefunden. Das erste trilaterale Treffen habe im Frühjahr 1998 in Königswinter (Deutschland) im Privathaus des Key Account Managers von Splintex (AGC) stattgefunden. Diesen Treffen seien ab 1997 Erkundungskontakte zwischen Saint-Gobain und Pilkington vorausgegangen, die die technische Harmonisierung der von diesen Unternehmen hergestellten Privacy-Verglasung hinsichtlich Farbe, Dicke und Lichtdurchlässigkeit zum Gegenstand gehabt hätten. Die Kommission habe jedoch diese Kontakte nicht in das streitige Kartell miteinbezogen, da sie nach ihrer Ansicht im Wesentlichen einen vorgerückten Abschnitt der Produktionskette von Flachglas vor seiner Verarbeitung zu Automobilglas beträfen.

19      Die Kommission stellt in der angefochtenen Entscheidung nahezu 90 Treffen und Kontakte zwischen Frühjahr 1998 und März 2003 fest. Der letzte trilaterale Kontakt habe am 21. Januar 2003 stattgefunden, während das letzte bilaterale Treffen in der zweiten Märzhälfte 2003 zwischen Saint-Gobain und AGC abgehalten worden sei. Die Teilnehmer hätten für ihre Identifikation bei den Treffen und Kontakten Abkürzungen und Codenamen verwendet.

20      Die Teilnahme von Soliver an dem Kartell habe erst am 19. November 2001 begonnen und habe bis zum 11. März 2003 gedauert. Saint-Gobain habe bereits im Jahr 2000 Kontakt zu Soliver im Hinblick auf eine Teilnahme an dem streitigen Kartell aufgenommen. Die ursprünglichen Kartellteilnehmer, in diesem Fall Saint-Gobain, Pilkington und AGC, hätten dazu die Abhängigkeit von Soliver von den Herstellern des Ausgangsmaterials ausgenutzt, da Soliver nicht das zur Herstellung von Automobilglas erforderliche Flachglas herstelle.

21      Laut der angefochtenen Entscheidung bestand das Ziel des Kartells generell darin, die Lieferungen von Automobilglas sowohl hinsichtlich der bestehenden Lieferverträge als auch hinsichtlich der neuen Verträge auf die Teilnehmer des Kartells aufzuteilen. Mit diesem Ziel habe die Stabilität der Marktanteile dieser Teilnehmer gewährleistet werden sollen. Zu diesem Zweck hätten die Teilnehmer während der oben in den Rn. 16 bis 20 erwähnten Treffen und Kontakte Informationen über Preise und andere sensible Daten ausgetauscht. Sie hätten ferner ihre Preis- und Lieferstrategien koordiniert. Insbesondere seien ihre Angebote an die Automobilhersteller abgestimmt und die Wahl des Zulieferers oder im Falle einer Auftragsstreuung der Zulieferer beeinflusst worden. Es habe für die Teilnehmer insoweit zwei Möglichkeiten gegeben, um zu erreichen, dass ein Liefervertrag dem vereinbarten Hersteller zugeteilt werde, nämlich entweder kein Angebot oder ein Deckungsangebot, d. h. ein Angebot mit höheren Preisen als diejenigen des genannten Herstellers zu machen. Ausgleichsmaßnahmen in Form von Entschädigungen für einen oder mehrere Teilnehmer seien beschlossen worden, wenn sich dies als notwendig herausgestellt habe, um zu gewährleisten, dass die generelle Situation des Angebots auf EWR-Ebene der vereinbarten Aufteilung weiterhin entsprochen habe. Wenn Korrekturen an laufenden Lieferverträgen vorgenommen werden mussten, hätten die Wettbewerber, um die Marktanteile anzupassen, den Automobilherstellern technische Probleme oder einen Engpass beim Rohmaterial gemeldet und diesen vorgeschlagen, sich an einen Ersatzlieferanten zu wenden.

22      Zur Aufrechterhaltung der vereinbarten Aufteilung der Verträge hätten die Kartellteilnehmer außerdem wiederholt die Preissenkungen abgesprochen, die Automobilherstellern entsprechend den erzielten Produktivitätsgewinnen zu gewähren seien, und auch eventuelle Preiserhöhungen für Automobilmodelle, die nicht in dem vorhergesehenen Umfang hergestellt worden seien. Sie hätten sich auch darauf verständigt, gegebenenfalls die Preisgabe von Informationen über ihre tatsächlichen Produktionskosten gegenüber den Automobilherstellern zu begrenzen, um häufige Anfragen wegen Preissenkungen durch Letztere zu vermeiden.

23      Die Absprachen, die die Stabilität der Marktanteile bezweckten, seien insbesondere durch die Transparenz des Marktes der Lieferung von Automobilglas ermöglicht worden. Die Entwicklung der Marktanteile sei auf der Grundlage der Produktionskosten und der Verkaufsvorhersagen unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Lieferverträge berechnet worden.

24      Die Kommission weist in der angefochtenen Entscheidung darauf hin, dass die Kronzeugin bestätigt habe, dass mindestens seit 1998 Vertreter von Splintex mit einigen Wettbewerbern an aus wettbewerbsrechtlicher Sicht rechtswidrigen Aktivitäten beteiligt gewesen seien. Dass Saint-Gobain die Richtigkeit des in der Mitteilung der Beschwerdepunkte dargestellten Sachverhalts nicht bestritten habe, sei im Übrigen so zu verstehen, dass dieses Unternehmen die Beschreibung, die die Kommission hinsichtlich des Inhalts der streitigen Treffen und Kontakte vorgenommen habe, billige.

25      Schließlich hätten sich Pilkington, Saint-Gobain und AGC bei einem Treffen am 6. Dezember 2001 auf eine neue Berechnungsmethode zur Aufteilung und Neuzuteilung der Lieferverträge verständigt.

26      Auf der Grundlage dieses Bündels von Indizien machte die Kommission Saint-Gobain, die Compagnie, Pilkington, Soliver und die Kronzeugin für eine einzige und fortdauernde Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen verantwortlich.

27      Die zwischen diesen Parteien geschlossenen Vereinbarungen sind nach Ansicht der Kommission Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne dieser Vorschriften, die den Wettbewerb auf dem Automobilglasmarkt verfälscht hätten. Bei dieser Zuwiderhandlung handele es sich um eine einzige und fortdauernde Zuwiderhandlung, da die Kartellteilnehmer ihren gemeinsamen Willen ausgedrückt hätten, sich auf dem Markt auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten, und einen gemeinsamen Plan geschaffen hätten, der dazu bestimmt gewesen sei, ihre individuelle geschäftliche Autonomie zu begrenzen, indem sie die Lieferungen von Automobilglas für Personenkraftwagen und leichte Nutzfahrzeuge unter sich aufgeteilt hätten und indem sie die Preise dieser Verglasungen verfälscht hätten, mit dem Ziel, eine Gesamtstabilität auf dem Markt sicherzustellen und dort künstlich erhöhte Preise beizubehalten. Nach der angefochtenen Entscheidung führten die Häufigkeit dieser Treffen und Kontakte in einem Zeitraum von fünf Jahren ohne Unterbrechung dazu, dass alle großen Hersteller von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen im EWR vom Kartell betroffen waren.

28      Die Kommission war im Übrigen der Ansicht, dass nichts darauf hingewiesen habe, dass die Vereinbarungen oder die abgestimmten Verhaltensweisen zwischen den Automobilglaslieferanten zur Verbesserung der Warenerzeugung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts geführt hätten. Infolgedessen hat die Kommission im vorliegenden Fall eine Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG abgelehnt.

29      Hinsichtlich der Bestimmung der Adressaten der angefochtenen Entscheidung war die Kommission u. a. der Ansicht, dass die Compagnie mittelbar 100 % der Anteile von Saint-Gobain halte. Unter diesen Umständen, war sie der Ansicht, dass zu vermuten sei, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain ausgeübt habe. Dieser bestimmende Einfluss werde durch andere Elemente, wie die Geschäftsstruktur der von der Compagnie unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gruppe (im Folgenden: Saint-Gobain-Gruppe) und die Zusammensetzung des Vorstands von Saint-Gobain, bestätigt. Da die Compagnie diese Vermutung nicht widerlegen konnte, kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass sie mit Saint-Gobain ein einziges Unternehmen gebildet habe, das an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei, und verhängte deshalb gegen die Compagnie und Saint-Gobain eine Geldbuße, für deren Zahlung sie als Gesamtschuldner haften.

30      Hinsichtlich der Dauer der Zuwiderhandlung war die Kommission der Ansicht, dass Saint-Gobain und die Compagnie vom 10. März 1998 bis zum 11. März 2003 daran teilgenommen hätten. Für Pilkington wurde eine Teilnahme vom 10. März 1998 bis zum 3. September 2002 festgestellt. Soliver habe vom 19. November 2001 bis zum 11. März 2003 daran teilgenommen.

31      Für die Berechnung der Geldbuße ermittelte die Kommission zunächst den Umsatz für Automobilglas, den jedes teilnehmende Unternehmen im EWR unmittelbar oder mittelbar im Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung erzielt hat. Sie unterschied dafür verschiedene Zeiträume. Für den Zeitraum, der im März 1998 begann und am 30. Juni 2000 endete und als „Einführungsphase“ eingestuft wurde, war sie der Meinung, dass sie nur für einen Teil der europäischen Automobilhersteller über Beweise für die Zuwiderhandlung verfüge. Die Kommission zählte deshalb für diesen Zeitraum nur die Verkäufe von Automobilglas an Automobilhersteller, für die sie unmittelbare Beweise besaß, dass sie vom Kartell betroffen waren. Was den Zeitraum vom 1. Juli 2000 bis zum 3. September 2002 betrifft, bemerkte die Kommission, dass die Automobilhersteller, gegen die das Kartell gerichtet gewesen sei, mindestens 90 % der Lieferungen von Automobilglas im EWR betrafen. Sie zog daraus den Schluss, dass für diesen Zeitraum sämtliche Verkäufe von Automobilglas im EWR durch die Adressaten der angefochtenen Entscheidung zu berücksichtigen seien. Schließlich hätten sich die Kartellaktivitäten am Ende des Zuwiderhandlungszeitraums, nämlich vom 3. September 2002 bis März 2003, nach dem Ausscheiden von Pilkington, verlangsamt. Infolgedessen entschied die Kommission, für diesen Zeitraum nur die Verkäufe an die Automobilhersteller zu zählen, für die sie direkte Beweise für das Kartell hatte. Für jeden betroffenen Automobilglaslieferanten wurde ein gewichteter Jahresdurchschnitt dieser Umsätze ermittelt, indem die Höhe der oben genannten Umsätze durch die Zahl der Monate, in denen jeder dieser Lieferanten an der Zuwiderhandlung beteiligt war, dividiert und das Ergebnis dieser Division mit zwölf multipliziert wurde.

32      Die Kommission führte weiter aus, dass die in Rede stehende Zuwiderhandlung, die darin bestanden habe, Kunden zuzuteilen, zu den schädlichsten Wettbewerbsbeschränkungen gehöre. Im Hinblick auf die Art der Zuwiderhandlung, auf ihren räumlichen Umfang und den kumulierten Marktanteil der teilnehmenden Unternehmen legte die Kommission für die Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße einen Anteil von 16 % der Umsätze jedes involvierten Unternehmens, multipliziert mit der Anzahl der Jahre der Teilnahme an der Zuwiderhandlung zugrunde. Der Grundbetrag der Geldbußen wurde darüber hinaus zum Zweck der Abschreckung um einen auf 16 % der Umsätze festgesetzten Zusatzbetrag (oder Eintrittsgebühr) erhöht.

33      Der Grundbetrag, der gegen Saint-Gobain und die Compagnie als Gesamtschuldner festgesetzt wurde, wurde wegen Wiederholungstäterschaft um 60 % erhöht. Was die Höhe der gegen Soliver verhängten Geldbuße betrifft, so wurde sie gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 auf 10 % des Umsatzes von Soliver reduziert. Eine Ermäßigung von 50 % der Geldbuße wurde der Kronzeugin im Rahmen der Kronzeugenregelung gewährt unter Berücksichtigung der Beweise, die sie der Kommission übermittelt hatte und die dieser ein besseres Verständnis der bei den Nachprüfungen gefundenen Dokumente ermöglichte.

34      Am 11. Februar 2009 erließ die Kommission die Entscheidung K(2009) 863 endg. mit Berichtigungen der angefochtenen Entscheidung in bestimmten Punkten.

35      Am 28. Februar 2013 erließ die Kommission die Entscheidung K(2013) 1118 endg., mit der die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Verkäufe von Saint-Gobain an [vertraulich] vor dem 31. Mai 1999 berichtigt wurde (im Folgenden: Berichtigung vom 28. Februar 2013). Mit dieser Entscheidung korrigierte die Kommission die Höhe der gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße und setzte diese auf 880 Mio. Euro fest.

 Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten

36      Mit Klageschrift, die am 13. Februar 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Saint-Gobain Klage in der Rechtssache T‑56/09 erhoben. Mit Klageschrift, die am 18. Februar 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Compagnie Klage in der Rechtssache T‑73/09 erhoben.

37      Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens und auf den Antrag auf Wiedereröffnung dieses Verfahrens durch die Compagnie in der Rechtssache T‑73/09 hat diese einen ergänzenden Schriftsatz vorgelegt, der am 6. September 2010 bei der Kanzlei eingegangen ist. Die Kommission hat eine schriftliche Stellungnahme zu diesem ergänzenden Schriftsatz abgegeben, die am 22. Oktober 2010 bei der Kanzlei eingegangen ist.

38      Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Zweiten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegenden Rechtssachen zugewiesen worden sind.

39      Mit Beschluss vom 23. April 2012 hat der Präsident der Zweiten Kammer des Gerichts nach Anhörung der Parteien die Rechtssachen T‑56/09 und T‑73/09 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden.

40      Die Parteien haben in der Sitzung vom 11. Dezember 2012 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Die Parteien wurden bei dieser Gelegenheit aufgefordert, zu einer eventuellen Verbindung der Rechtssachen T‑56/09 und T‑73/09 zu gemeinsamer Entscheidung Stellung zu nehmen, und sie haben angegeben, insoweit keine Bemerkungen zu haben.

41      In der Rechtssache T‑56/09 beantragt Saint-Gobain,

–        die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betrifft;

–        hilfsweise, Art. 2 der angefochtenen Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit er sie betrifft;

–        weiter hilfsweise, die gegen sie in der angefochtenen Entscheidung verhängte Geldbuße auf eine angemessene Höhe herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

42      Die Kommission beantragt,

–        die Klage in der Rechtssache T‑56/09 als unbegründet abzuweisen;

–        Saint-Gobain die Kosten aufzuerlegen.

43      Mit Schreiben, das am 19. Februar 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Saint-Gobain ihre Anträge auf Nichtigerklärung angepasst und zum einen die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung in der mit der Entscheidung K(2009) 863 endg. vom 11. Februar 2009 geänderten Fassung und zum anderen, hilfsweise, eine Herabsetzung der in Art. 2 der geänderten Entscheidung festgesetzten Geldbuße beantragt.

44      Mit Schriftsatz, der am 7. Mai 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat der Europäischen Union beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission in der Rechtssache T‑56/09 zugelassen zu werden. Der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts hat diesem Antrag durch Beschluss vom 7. Juli 2009 stattgegeben.

45      Der Rat beantragt,

–        die Klage in der Rechtssache T‑56/09 als unbegründet abzuweisen;

–        eine angemessene Kostenentscheidung zu treffen.

46      In der Rechtssache T‑73/09 beantragt die Compagnie,

–        die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betrifft, und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen hinsichtlich der Höhe der Geldbuße zu ziehen;

–        hilfsweise, die Geldbuße, die in der angefochtenen Entscheidung gegen sie gesamtschuldnerisch mit Saint-Gobain verhängt wurde, herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

47      Die Kommission beantragt,

–        die Klage in der Rechtssache T‑73/09 als unbegründet zurückzuweisen;

–        der Compagnie die Kosten aufzuerlegen.

48      Nach dem Erlass der Berichtigungsentscheidung vom 28. Februar 2013 hat die Kommission mit Schreiben vom 7. März 2013 das Gericht ersucht, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen.

49      Nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten zu dieser Frage hat die Zweite Kammer des Gerichts mit Beschluss vom 23. April 2013 die mündliche Verhandlung wiedereröffnet.

50      Mit Schreiben vom 30. Juli 2013 informierte Saint-Gobain das Gericht u. a. über eine Anpassung ihrer Anträge, um die Berichtigungsentscheidung vom 28. Februar 2013 zu berücksichtigen. Saint-Gobain, die geltend machte, dass ihre Nichtigkeitsklage weiterhin begründet sei, und erklärte, dass sie ihren Antrag auf Verurteilung der Kommission zur Tragung der Kosten aufrechterhalte, beantragte jedoch hilfsweise, die Kommission zur teilweisen Tragung der Kosten zu verurteilen. Die Kommission hat ihrerseits zu der genannten Berichtigungsentscheidung und zum Verzicht von Saint-Gobain auf einen Teil eines ihrer Klagegründe in einem Schreiben vom 30. Juli 2013 Stellung genommen. Mit Schreiben vom 22. Juli und vom 1. August 2013 teilten der Rat und die Compagnie mit, dass sie in dieser Hinsicht keine Erklärungen abzugeben hätten.

51      Die mündliche Verhandlung ist dann am 11. September 2013 geschlossen worden.

 Rechtliche Würdigung

52      Nach Anhörung der Parteien sind die vorliegenden Rechtssachen gemäß Art. 50 der Verfahrensordnung des Gerichts zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.

I –  Zum Gegenstand der Klage

53      Gemäß den Stellungnahmen der Klägerinnen sowohl in der mündlichen Verhandlung als auch nach der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und in den Erklärungen von Saint-Gobain in ihrem Schreiben vom 11. März 2013 an das Gericht ist davon auszugehen, dass die vorliegenden Klagen gegen die angefochtene Entscheidung in ihrer zuletzt durch die Berichtigungsentscheidung vom 28. Februar 2013 geänderten Fassung gerichtet sind, und zwar sowohl soweit diese Klagen auf die Nichtigerklärung der genannten Entscheidung gerichtet sind, als auch soweit sie auf Herabsetzung der gesamtschuldnerisch gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße durch das Gericht abzielen.

II –  Zu den Anträgen auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung

54      Zunächst sind die in der Rechtssache T‑56/09 geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zu prüfen. Da einige der von Saint-Gobain vorgetragenen Nichtigkeitsgründe und Argumente mit denjenigen übereinstimmen, die von der Compagnie in der Rechtssache T‑73/09 geltend gemacht werden, sind diese zusammen zu prüfen. Zweitens sind die spezifischen Argumente der Nichtigkeitsklage der Compagnie, die mit keinem der von Saint-Gobain vorgetragenen Nichtigkeitsgründe im Zusammenhang stehen, zu prüfen.

A –  Rechtssache T‑56/09

55      Saint-Gobain macht im Wesentlichen sechs Klagegründe geltend. Der Erste betrifft die Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1/2003, der Zweite eine Verletzung der Verteidigungsrechte, der Dritte eine unzureichende Begründung der angefochtenen Entscheidung und eine fehlerhafte Berechnung der Geldbußen, der Vierte einen Rechtsirrtum bei der Zuweisung der Verantwortung für das wettbewerbswidrige Verhalten von Saint-Gobain an die Compagnie, einen Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen Bestrafung und der Unschuldsvermutung sowie einen Ermessensmissbrauch, der Fünfte einen Verstoß gegen das Verbot der Rückwirkung von Strafen und den Vertrauensschutz und der Sechste schließlich die Unverhältnismäßigkeit der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße.

1.     Zum ersten Klagegrund: Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1/2003

56      Mit ihrem ersten Klagegrund erhebt Saint-Gobain die Einrede der Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1/2003, soweit diese der Kommission sowohl Untersuchungs- als auch Sanktionsbefugnisse im Bereich der Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 EG verleiht. Da diese Einrede im Wesentlichen identisch ist mit derjenigen, die die Compagnie in der Rechtssache T‑73/09 erhoben hat, sind sie zusammen zu prüfen.

57      Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen. Erstens missachte eine solche Kumulierung von Befugnissen das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Zweitens stehe die der Kommission zuerkannte Befugnis, Sanktionsentscheidungen nach Art. 81 EG zu treffen, nicht im Einklang mit der Unschuldsvermutung.

a)     Zum ersten Teil: Verstoß gegen das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

58      Saint-Gobain und die Compagnie tragen im Wesentlichen vor, die Kumulierung der Untersuchungs- und Sanktionsfunktion der Kommission bei der Durchführung von Art. 81 EG, wie es die Verordnung Nr. 1/2003 vorsehe, missachte das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht, obwohl es sich um eine wesentliche Garantie des Rechts auf ein faires Verfahren handele, das in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta) festgelegt sei.

59      Saint-Gobain macht zuerst geltend, die von der Kommission in diesem Rahmen verhängten Sanktionen hätten Strafcharakter, nicht nur weil das in Art. 81 EG vorgesehene Verbot an jedes Unternehmen und nicht nur an eine bestimmte Kategorie von Unternehmen gerichtet sei, sondern auch deswegen, weil diese Sanktionen den Zweck hätten, abzuschrecken und zu bestrafen. Der Hinweis des Gesetzgebers in Art. 23 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003, dass diese Sanktionen keinen Strafcharakter hätten, sei insoweit unerheblich. Das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht gelte somit im vorliegenden Fall uneingeschränkt.

60      Nach der Rechtsprechung könne die Kommission nicht als unabhängiges und unparteiisches Gericht angesehen werden.

61      Die sich daraus ergebende Ungültigkeit der Verordnung Nr. 1/2003 werde nicht dadurch widerlegt, dass ein Adressat einer Sanktionsentscheidung der Kommission die Möglichkeit habe, auf der Grundlage dieser Verordnung eine Nichtigkeitsklage gegen diese Entscheidung beim Gericht einzureichen. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebe sich nämlich, dass die Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit genau in dem Stadium beachtet werden müssten, in dem die Sanktion ausgesprochen worden sei.

62      Hinsichtlich des letzten Punkts erinnert Saint-Gobain daran, dass die Befugnis, über die Begründetheit einer Anschuldigung zu entscheiden, die in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK falle, nur unter außergewöhnlichen Umständen, für die ein besonderes Effizienzerfordernis und leichte Zuwiderhandlungen kennzeichnend seien, an eine Verwaltungsinstanz delegiert werden könne, deren Entscheidungen Gegenstand einer Klage vor einem Gericht mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung sein könnten. Diese Umstände seien hier nicht gegeben.

63      Selbst wenn die in Rede stehenden Sanktionen nicht zum Kerngehalt des Strafrechts gehören sollten, würde die Begrenzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht durch das Ahndungs- und Sanktionssystem bei Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union die Grundsätze der Legitimität und der Verhältnismäßigkeit verletzen. Somit würde eine Gefahr der Überlastung der Gerichte in keinem Fall die in diesem System vorgesehene Kumulierung der Funktionen rechtfertigen. Überdies wäre die Begrenzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht nicht nur im Hinblick auf die Schwere der nach Art. 81 EG und der Verordnung Nr. 1/2003 verhängten Sanktionen, sondern auch im Hinblick auf die Merkmale der Kontrolle, die das Gericht im Fall einer Klage durchführe, unverhältnismäßig.

64      Insoweit tragen Saint-Gobain und die Compagnie vor, dass das Gericht, wenn es über Klagen auf Nichtigerklärung von Sanktionsentscheidungen befinde, die die Kommission nach Art. 81 EG erlassen habe, keine unbeschränkte Nachprüfung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK durchführe. Das Gericht beschränke sich im Prinzip bei einer solchen Kontrolle darauf, zu prüfen, ob offensichtliche Beurteilungsfehler oder ein eventueller Ermessensmissbrauch vorlägen. Es sei auch zu berücksichtigen, dass eine Klage vor dem Gericht keine aufschiebende Wirkung betreffend die angefochtene Entscheidung habe.

65      Saint-Gobain widerspricht auch dem Argument des Rates, wonach die gegenüber der Verordnung Nr. 1/2003 erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit bedeuten würde, die Gültigkeit von Art. 83 Abs. 2 EG in Frage zu stellen. Diese Bestimmung des Vertrags sehe nämlich nicht vor, dass die Kommission die Zuständigkeit für die Ermittlung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln kumuliere, wobei diese Wahl vom Gesetzgeber vorgenommen worden sei.

66      Schließlich trägt die Compagnie vor, das Problem, das sich durch die Kumulierung der Zuständigkeiten für die Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht ergebe, werde durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 11. Juni 2009, Dubus SA gegen Frankreich (Nr. 5242/04) bestätigt.

67      Die Kommission und der Rat treten diesem Vorbringen entgegen.

68      Während die Kommission nicht in Abrede stellt, dass die Unternehmen, gegen die im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens eine wettbewerbsrechtliche Nachprüfung durchgeführt wird, ein Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht haben, widerspricht sie dem Standpunkt, nach dem Art. 6 Abs. 1 EMRK im Bereich des Strafrechts im engeren Sinne und im Bereich der Verwaltungssanktionen gleichermaßen anwendbar sei.

69      Die Kommission weist in dieser Hinsicht darauf hin, dass die Sanktionen, die auf der Grundlage von Art. 81 EG erlassen würden, nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 keinen strafrechtlichen Charakter hätten. Sie macht auch geltend, dass sie, wie der Rechtsprechung der Unionsgerichte zu entnehmen sei, nicht als Gericht angesehen werden könne, das strafrechtliche Sanktionen verhänge. Deshalb sei Art. 6 EMRK nicht uneingeschränkt auf sie anwendbar, wenn sie Entscheidungen nach Art. 81 Abs. 1 EG treffe. Wie das Gericht in seinem Urteil vom 8. Juli 2008, Lafarge/Kommission (T‑54/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), entschieden habe, stehe der Umstand, dass die Kommission im Wettbewerbsbereich sowohl die Ermittlungen durchführe als auch die Sanktionen verhänge, dem Grundrechtsschutz nicht entgegen.

70      Im Übrigen habe Saint-Gobain fälschlicherweise angenommen, aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte drei kumulative Bedingungen für eine Delegation der Sanktionsbefugnis auf eine Verwaltungsinstanz in Bereichen, die nicht zum harten Kern des Strafrechts gehörten, ableiten zu können. Zum einen könnten selbst hohe Geldbußen aus dem Bereich des harten Kerns des Strafrechts herausfallen. Zum anderen widerspreche es nicht den Garantien aus Art. 6 EMRK, wenn eine Verwaltungsbehörde eine Sanktionsbefugnis in Bereichen ausübe, in denen es üblicherweise nicht zu zahlreichen Zuwiderhandlungen komme, wenn nur das verfolgte Ziel legitim sei. Es sei aber offensichtlich, dass die Effizienz der Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen im Wettbewerbsrecht ein legitimes Ziel darstelle.

71      Überdies weist nach Ansicht der Kommission die vom Gericht durchgeführte gerichtliche Kontrolle alle Merkmale einer unbeschränkten Nachprüfung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf. Dies sei umso mehr bei in Kartellsachen verhängten Geldbußen der Fall, deren Angemessenheit vom Gericht nach Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 nachgeprüft werden könne. Insoweit sei es ohne Bedeutung, dass das Gericht bis jetzt nur in begrenztem Umfang von seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung Gebrauch gemacht habe, um den Betrag der von der Kommission verhängten Geldbußen herabzusetzen.

72      Schließlich sei dieser Klagegrund, da mit ihm implizit eingeräumt werde, dass Entscheidungen der Kommission, in denen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt und geahndet würden, weder verbindlich noch vollstreckbar seien, weder mit dem Grundsatz, dass die Gültigkeit der Entscheidungen der Kommission vermutet werde, so lange sie nicht für nichtig erklärt oder zurückgenommen worden seien, noch mit dem in Art. 242 EG festgelegten Grundsatz, wonach eine Nichtigkeitsklage grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung für die angefochtene Handlung habe, vereinbar.

73      Der Rat argumentiert im Wesentlichen ähnlich wie die Kommission. Er macht u. a. geltend, dass das durch die Verordnung Nr. 1/2003 eingeführte Sanktionssystem keinen strafrechtlichen Charakter habe und dass folglich Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Außerdem ziele Saint-Gobain mit der von ihr erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit in Wirklichkeit darauf ab, die Gültigkeit von Art. 83 Abs. 2 EG in Frage zu stellen, soweit diese Vorschrift vorsehe, dass es Sache des Gesetzgebers sei, die Aufgaben der Kommission und des Gerichtshofs der Europäischen Union im Bereich der Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln gegeneinander abzugrenzen. Der Unionsrichter sei aber nicht befugt, über die Gültigkeit einer Bestimmung des Primärrechts zu entscheiden.

74      Was schließlich das auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Dubus SA gegen Frankreich (oben in Rn. 66 angeführt) gestützte Vorbringen der Compagnie betreffe, so unterschieden sich die Umstände, die zu diesem Urteil geführt hätten, von denjenigen der vorliegenden Rechtssache. Dieses Urteil habe nämlich eine Kumulierung von Verfolgungs- und Sanktionsbefugnissen der Bankenkommission (Commission bancaire) in Frankreich betroffen, deren Entscheidungen den Charakter gerichtlicher Entscheidungen hätten. Aber die Kommission könne als solche nicht als Gericht im Sinne des Art. 6 EMRK angesehen werden.

 Würdigung durch das Gericht

75      Nach Ansicht des Gerichts ist, ohne dass über die von der Kommission in der Rechtssache T‑73/09 erhobene Einrede der Unzulässigkeit des vorliegenden Klagegrundes entschieden werden muss, der erste Teil des ersten Klagegrundes nicht begründet, wie sich der Rechtsprechung in den Rechtssachen, in denen im Wesentlichen die Gültigkeit der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, 13, S. 204) in Frage gestellt wurde, im Wege der Analogie entnehmen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 14. Mai 1998, Enso Española/Kommission, T‑348/94, Slg. 1998, II‑1875, Rn. 55 bis 65, vom 11. März 1999, Aristrain/Kommission, T‑156/94, Slg. 1999, II‑645, Rn. 23 bis 40, und Lafarge/Kommission, oben in Rn. 69 angeführt, Rn. 36 bis 47).

76      Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Recht auf einen fairen Prozess, das in Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet wird, einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Union bildet, der nunmehr in Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta festgelegt ist.

77      Außerdem ist die Kommission nach ständiger Rechtsprechung weder ein „Gericht“ im Sinne von Art. 6 EMRK (Urteile des Gerichtshofs vom 29. Oktober 1980, Van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 81, und vom 7. Juni 1983, Musique diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 7) noch im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta. Außerdem bestimmt Art. 23 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 ausdrücklich, dass die Entscheidungen der Kommission, mit denen Geldbußen wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht verhängt werden, keinen strafrechtlichen Charakter haben.

78      Jedoch ist im Hinblick auf die Natur der in Rede stehenden Zuwiderhandlungen sowie auf die Natur und den Schweregrad der daran geknüpften Sanktionen das Recht auf einen fairen Prozess u. a. auf Verfahren über Verstöße gegen die für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln, die zu Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, anwendbar (Urteile des Gerichtshofs vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C‑185/95 P, Slg. 1998, I‑8417, Rn. 20 und 21, und vom 3. September 2009, Papierfabrik August Koehler u. a./Kommission, C‑322/07 P, C‑327/07 P und C‑338/07 P, Slg. 2009, I‑7191, Rn. 143).

79      So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil A. Menarini Diagnostics srl gegen Italien vom 27. September 2011 (Nr. 43509/08) die Bedingungen präzisiert, unter denen eine Geldbuße, die in Anbetracht ihrer Höhe und des von ihr verfolgten präventiven und repressiven Zwecks unter das Strafrecht fällt, von einer Verwaltungsbehörde verhängt werden kann, die nicht alle Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt. In diesem Urteil stand das italienische System der strafrechtlichen Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht in Frage. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass die Beachtung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht dadurch ausgeschlossen werde, dass eine „Strafe“ von einer Verwaltungsbehörde verhängt werden könne, der eine Sanktionsbefugnis im Bereich des Wettbewerbsrechts verliehen sei, sofern die von ihr erlassene Entscheidung der nachträglichen Kontrolle durch ein Rechtsprechungsorgan mit der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung unterliege. Zu den Merkmalen eines solchen Rechtsprechungsorgans gehört die Befugnis, die Entscheidung des untergeordneten Organs in allen Punkten, tatsächlichen wie rechtlichen, abzuändern. Somit darf sich die Kontrolle des Richters in solchen Fällen nicht auf eine Überprüfung der „äußeren“ Rechtmäßigkeit der seiner Kontrolle unterliegenden Entscheidung beschränken, sondern der Richter muss in der Lage sein, die Verhältnismäßigkeit der Entscheidungen der Wettbewerbsbehörde zu beurteilen und ihre fachliche Beurteilung zu überprüfen.

80      Es ist aber festzustellen, dass die gerichtliche Nachprüfung, die das Gericht bei Entscheidungen durchführt, mit denen die Kommission im Fall von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht der Union Sanktionen verhängt, diese Anforderungen erfüllt.

81      Zunächst ist insoweit zu betonen, dass das Unionsrecht der Kommission einen Überwachungsauftrag erteilt, der die Aufgabe umfasst, Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 Abs. 1 EG und Art. 82 EG zu verfolgen, wobei die Kommission im Rahmen dieses Verwaltungsverfahrens die im Unionsrecht vorgesehenen Verfahrensgarantien zu beachten hat. Nach der Verordnung Nr. 1/2003 ist sie außerdem befugt, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, die vorsätzlich oder fahrlässig gegen diese Bestimmungen verstoßen haben, durch Entscheidung Geldbußen festzusetzen.

82      Im Übrigen stellt das Erfordernis einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung jeder Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt und geahndet wird, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergibt (Urteil Enso Española/Kommission, oben in Rn. 75 angeführt, Rn. 60). Dieser Grundsatz ist nunmehr in Art. 47 der Charta der Grundrechte enthalten (Urteile des Gerichtshofs vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Rn. 30 und 31, und vom 28. Juli 2011, Samba Diouf, C‑69/10, Slg. 2011, I‑7151, Rn. 49).

83      Der Rechtsprechung ist aber zu entnehmen, dass die in den Verträgen geregelte und durch die Verordnung Nr. 1/2003 ergänzte gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen, die die Kommission im Hinblick auf die Ahndung von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht erlässt, mit diesem Grundsatz in Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2011, KME Germany u. a./Kommission, C‑272/09 P, Slg. 2011, I‑12789, Rn. 106, und Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, Slg. 2011, I‑13085, Rn. 67).

84      Erstens ist das Gericht ein durch den Beschluss 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 319, S. 1, berichtigt im ABl. 1989, L 241, S. 4) geschaffenes unabhängiges und unparteiisches Organ der Rechtspflege. Nach der dritten Begründungserwägung dieses Beschlusses wurde es u. a. zur Verbesserung des Rechtsschutzes des Einzelnen bei Klagen errichtet, deren Entscheidung eine eingehende Prüfung komplexer Sachverhalte erfordert.

85      Zweitens übt das Gericht nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 88/591 die Zuständigkeiten aus, die dem Gerichtshof durch die Verträge und die zur Durchführung dieser Verträge erlassenen Rechtsakte übertragen worden sind, u. a. „bei Klagen, die von natürlichen oder juristischen Personen gemäß Art. [230] Absatz 2 [EG] gegen ein Organ … erhoben werden und die Anwendung der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsvorschriften zum Gegenstand haben“. Bei den auf Art. 230 EG gestützten Klagen ist eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt und gegen die betroffene natürliche oder juristische Person eine Geldbuße verhängt wird, als effektive gerichtliche Kontrolle der in Rede stehenden Entscheidung anzusehen. Die Klagegründe, die von der betroffenen natürlichen oder juristischen Person geltend gemacht werden können, sind nämlich geeignet, dem Gericht zu ermöglichen, sowohl die rechtliche als auch die sachliche Begründetheit jeder Anschuldigung, die von der Kommission im Bereich des Wettbewerbs erhoben wird, zu beurteilen.

86      Drittens wird gemäß Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 die in Art. 230 EG vorgesehene Überwachung der Rechtmäßigkeit durch eine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung ergänzt, die den Richter ermächtigt, über die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Sanktion hinaus das Ermessen der Kommission durch sein Ermessen zu ersetzen und infolgedessen die verhängte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg. 2002, I‑8375, Rn. 692).

87      Daraus folgt, dass das Vorbringen von Saint-Gobain und der Compagnie, die angefochtene Entscheidung sei allein deshalb rechtswidrig, weil sie im Rahmen eines Systems ergangen sei, das eine Kumulierung der Ermittlungs- und Ahndungsfunktion der Kommission bei Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 EG vornehme, unbegründet ist und dass somit der erste Teil des Klagegrundes zurückzuweisen ist.

b)     Zum zweiten Teil, mit dem die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gerügt wird

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

88      In einem zweiten Teil tragen Saint-Gobain und die Compagnie vor, dass die angefochtene Entscheidung den in Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 der Grundrechtecharta festgelegten Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht beachte, da sie von einer Verwaltungsbehörde, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht sei, erlassen worden sei, und weil im Übrigen eine eventuelle Klage gegen diese Entscheidung vor dem Gericht keine aufschiebende Wirkung habe.

89      Nach Ansicht von Saint-Gobain kann dieser Verstoß, der seine Ursache in einer Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1/2003 habe, nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, weil das Gericht zu Unrecht den Schluss ziehe, dass diese Verordnung das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht nicht missachte, da die Adressaten einer Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt werde, die Möglichkeit hätten, diese vor dem Gericht anzufechten. Selbst in diesem Fall wäre nämlich die Schuld der Adressaten einer solchen Entscheidung gegebenenfalls erst ab der Bestätigung dieser Entscheidung durch das Gericht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage rechtmäßig festgestellt.

90      Schließlich berufe sich die Kommission zu Unrecht auf das Recht der Adressaten einer einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht feststellenden Entscheidung, die deren Nichtigerklärung anstrebten, anstelle der sofortigen Bezahlung der Geldbuße der Kommission eine Bankbürgschaft vorzulegen. Abgesehen davon, dass eine solche Möglichkeit im vollen Ermessen der Kommission stehe, würde sie nichts daran ändern, dass die Entscheidung Rechtswirkungen erzeuge, bevor die Entscheidung des Gerichts ergehe.

91      Unter diesen Umständen habe die Kommission nicht rechtmäßig festgestellt, dass Saint-Gobain und die Compagnie gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hätten, und deshalb sei die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betreffe.

92      Die Kommission und der Rat treten diesem Vorbringen entgegen.

93      Die Kommission weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Unternehmen, gegen das eine Untersuchung wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Union durchgeführt werde, als unschuldig gelte, bis die Kommission beweise, dass es in eine solche Zuwiderhandlung involviert sei. Der Rat fügt hinzu, die Unschuldsvermutung könne im vorliegenden Fall nicht verletzt sein, da keine endgültige Entscheidung über die Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung an Saint-Gobain vorliege, solange das Gericht nicht entschieden habe.

94      Überdies sei das Vorbringen von Saint-Gobain gleichbedeutend mit der Erhebung einer Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 242 EG, der vorsehe, dass Klagen beim Gerichtshof keine aufschiebende Wirkung hätten. Der Unionsrichter sei jedoch nicht befugt, über die Gültigkeit einer Vorschrift des Primärrechts zu entscheiden.

95      Die Kommission beruft sich schließlich auf den Umstand, dass die Klägerin ungeachtet des Fehlens der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage auf die angefochtene Entscheidung in der Lage gewesen sei, anstatt einer vorläufigen Zahlung der Geldbuße eine Bankbürgschaft vorzulegen. Diese Möglichkeit ergebe sich unter anderem daraus, dass vor der das Verfahren abschließenden Entscheidung des Gerichts ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln noch nicht durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht festgestellt worden sei und die Höhe der Geldbuße vor dem Abschluss des gerichtlichen Verfahrens nicht als endgültig festgesetzt angesehen werden könne.

 Würdigung durch das Gericht

96      Mit diesem zweiten Teil tragen Saint-Gobain und die Compagnie im Wesentlichen vor, die Kommission sei, da sie kein unabhängiges und unparteiisches Gericht sei, nicht in der Lage, die Schuld von Unternehmen, von deren Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG sie ausgehe, rechtmäßig festzustellen. Die Sanktionen, die sie auf der Grundlage von Art. 81 Abs. 1 EG verhänge, würden daher unter Missachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung erlassen.

97      Nach ständiger Rechtsprechung ist angesichts der Art der betreffenden Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen die Unschuldsvermutung, die nunmehr in Art. 48 Abs. 1 der Grundrechtecharta festgelegt ist, insbesondere in Verfahren wegen Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln anwendbar, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 8. Juli 1999, Hüls/Kommission, C‑199/92 P, Slg. 1999, I‑4287, Rn. 149 und 150, sowie Montecatini/Kommission, C‑235/92 P, Slg. 1999, I‑4539, Rn. 175 und 176; Urteil des Gerichts vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, T‑38/02, Slg. 2005, II‑4407, Rn. 216).

98      Eine nunmehr gefestigte Rechtsprechung hat die Tragweite dieses Grundsatzes klargestellt.

99      Die Unschuldsvermutung will, dass jede angeklagte Person bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt. Sie verbietet damit jede förmliche Feststellung und selbst jede Anspielung auf die Verantwortlichkeit einer eines bestimmten Verstoßes beschuldigten Person in einer Entscheidung, die das Verfahren beendet, wenn diese Person nicht alle Garantien für die Ausübung der Verteidigungsrechte im Rahmen eines normalen Verfahrensablaufs, der auf eine Entscheidung über die Begründetheit der Beanstandung zielt, ausnutzen konnte (Urteil des Gerichts vom 6. Oktober 2005, Sumitomo Chemical und Sumika Fine Chemicals/Kommission, T‑22/02 und T‑23/02, Slg. 2005, II‑4065, Rn. 106).

100    Folglich obliegt es der Kommission, die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen nachzuweisen und Beweise beizubringen, die geeignet sind, das Vorliegen der Tatsachen, die eine Zuwiderhandlung darstellen, rechtlich hinreichend zu belegen (vgl. Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Dresdner Bank u. a./Kommission, T‑44/02 OP, T‑54/02 OP, T‑56/02 OP, T‑60/02 OP und T‑61/02 OP, Slg. 2006, II‑3567, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hierzu muss sie hinreichend aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringen, um die feste Überzeugung zu begründen, dass die Zuwiderhandlung begangen wurde (vgl. Urteile des Gerichts vom 6. Juli 2000, Volkswagen/Kommission, T‑62/98, Slg. 2000, II‑2707, Rn. 43 und 72 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. Oktober 2011, Romana Tabacchi/Kommission, T‑11/06, Slg. 2011, II‑6681, Rn. 129).

101    Die Anforderungen, die auf die Beachtung der Unschuldsvermutung gerichtet sind, müssen auch für das Handeln des Unionsrichters leitend sein, wenn er aufgerufen ist, die Entscheidungen zu überprüfen, mit denen die Kommission einen Verstoß gegen Art. 81 EG feststellt. Somit müssen dem Richter verbleibende Zweifel dem Unternehmen zugutekommen, an das die eine Zuwiderhandlung feststellende Entscheidung gerichtet ist. Der Richter kann also, besonders im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer eine Geldbuße verhängenden Entscheidung, nicht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Kommission die betreffende Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn ihm in dieser Frage ein Zweifel verbleibt (Urteil Dresdner Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, Rn. 60).

102    Aus den obigen Rn. 99 bis 101 folgt somit, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung kein Hindernis dafür ist, dass die Verantwortung einer Person, die einer bestimmten Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union beschuldigt wird, am Ende eines Verfahrens festgestellt wird, das vollständig nach den Modalitäten abgelaufen ist, die in den sich aus Art. 81 EG, der Verordnung Nr. 1/2003 und der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Art. 81 [EG] und 82 [EG] durch die Kommission (ABl. L 123, S. 18) ergebenden Vorschriften vorgesehen sind und in deren Rahmen die Verteidigungsrechte somit in vollem Umfang ausgeübt werden konnten.

103    Da die der Kommission im Fall eines Verstoßes gegen Art. 81 EG eingeräumte Sanktionsbefugnis in ihrem Grundsatz die Unschuldsvermutung nicht missachtet, geht die Rüge des Fehlens der aufschiebenden Wirkung einer Klage vor dem Gericht gegen eine Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union geahndet wird, ins Leere. Unter diesen Umständen ist es nicht mehr notwendig, über die Frage zu befinden, ob, wie der Rat vorträgt, eine solche Rüge einer Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 242 EG gleichkommt.

104    Jedenfalls ist zu betonen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 23. Juli 2002, Janosevic gegen Schweden (Recueil des arrêts et décisions 2002‑VII, S. 1, § 106 bis 110) entschieden hat, dass es die Unschuldsvermutung nicht verbietet, dass von einem Verwaltungsorgan verhängte Sanktionen strafrechtlicher Natur nach einem Klageverfahren vor einem Gericht vollstreckt werden können, bevor sie Rechtskraft erlangen, sofern eine solche Vollstreckung in angemessenen Grenzen bleibt und einen gerechten Ausgleich der in Rede stehenden Interessen schafft, und sofern die ursprüngliche Rechtsstellung der Person, gegen die die Sanktion verhängt wurde, wiederhergestellt werden kann, falls ihre Klage erfolgreich ist. Die Klägerinnen haben aber nichts vorgetragen, das den Schluss zuließe, dass das System der Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht der Union, wie es in der Verordnung Nr. 1/2003 geregelt ist und in erster Linie von der Kommission durchgeführt wird, diesen Anforderungen nicht entspricht.

105    Unter Berücksichtigung der vorstehenden Würdigung und unbeschadet der Überprüfung der Einhaltung der oben in den Rn. 97 bis 101 genannten Erfordernisse im Einzelfall im Rahmen weiterer Klagegründe ist der zweite Teil und folglich der erste Klagegrund, mit dem eine Einrede der Rechtswidrigkeit geltend gemacht wird, insgesamt zurückzuweisen, ohne dass über deren Zulässigkeit zu entscheiden ist.

2.     Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte

a)     Vorbringen der Parteien

106    Mit ihrem zweiten Klagegrund macht Saint-Gobain geltend, die Kommission habe ihre Verteidigungsrechte verletzt, da sie die angefochtene Entscheidung erlassen habe, ohne dass Saint-Gobain die Möglichkeit gehabt habe, zur Art der Berechnung der letztlich festgesetzten Geldbuße Stellung zu nehmen. Die Kommission habe bei der Berechnung der Geldbuße eine Reihe von Faktoren berücksichtigt, von denen Saint-Gobain keine Kenntnis erhalten habe, insbesondere den Umsatz im Verhältnis zur Zuwiderhandlung. Saint-Gobain sei es nicht möglich gewesen, aufgrund der Angaben in der Mitteilung der Beschwerdepunkte insoweit sachdienlich Stellung zu nehmen, obwohl der Umsatz ein entscheidendes Tatsachenelement bei der Berechnung der Geldbuße darstelle und gemäß Art 6 Abs. 1 EMRK kontradiktorisch zu erörtern sei. In dieser Mitteilung seien keine Informationen zu den Umsätzen enthalten gewesen, die für die Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße herangezogen worden seien, und auch nicht zu der Methode, anhand deren die Kommission die maßgeblichen Umsätze festzustellen beabsichtigt habe. Dieses Dokument habe im Übrigen weder einen Hinweis auf die Schwere des Verstoßes enthalten, die die Kommission zugrunde legen würde, noch auf die Art und Weise, in der die Wiederholungstäterschaft berücksichtigt werden könnte.

107    Keines der später zur Ermittlung der Umsätze an Saint-Gobain gesandten ergänzenden Auskunftsverlangen habe diese Lücken geschlossen. Der Hinweis in der Mitteilung der Beschwerdepunkte, dass die betroffenen Umsätze nach Ziff. 13 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2) (im Folgenden: Leitlinien von 2006) ermittelt würden, sei im vorliegenden Fall irrelevant, da diese Berechnungsmethode zur Zeit, als die angefochtene Entscheidung vorbereitet worden sei, noch unsicher gewesen sei. Diese Unsicherheiten spiegelten sich insbesondere in der fehlenden Kohärenz der verschiedenen von der Kommission zu dieser Frage an Saint-Gobain geschickten Auskunftsverlangen wider.

108    Unter diesen Umständen ist Saint-Gobain der Meinung, sie sei nicht in der Lage gewesen, vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung ihren Standpunkt zur Methode der Berechnung der Geldbuße in sachdienlicher Weise vorzutragen.

109    Saint-Gobain kritisiert auch die Rechtsprechung, nach der die Kommission in Verfahren zur Untersuchung und Ahndung von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht den Adressaten ihrer Entscheidungen nur die für die etwaige Festsetzung einer Geldbuße wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mitteilen müsse, ohne dass diese Adressaten einen Anspruch auf Vorwegnahme solcher Entscheidungen geltend machen könnten. Nach ihrer Ansicht kann eine solche Rechtsprechung die Beachtung der Grundrechte nicht gewährleisten. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Mitteilung genauerer Informationen im Verlauf des Untersuchungsverfahrens den betroffenen Unternehmen nicht zwangsläufig erlaube, die Entscheidung der Kommission vorwegzunehmen, da Letztere beim Erlass der Entscheidung an solche Hinweise nicht gebunden sei.

110    Saint-Gobain macht weiter geltend, dass die Kommission mit dem Erlass der Leitlinien von 2006 ihr Ermessen in Bezug auf die Berechnungsgrundlage der Geldbuße beschränkt habe, da das Konzept der „betroffenen Umsätze“ ein objektives und nachprüfbares Element darstelle. Daraus folge, dass sich die Kommission jedenfalls im vorliegenden Fall nicht auf die Rechtsprechung berufen könne, die darauf gerichtet sei, die Gefahr einer unsachgemäßen Vorwegnahme der künftigen Entscheidungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder zu verhindern.

111    Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass nach gefestigter Rechtsprechung Hinweise auf die Höhe der in Betracht gezogenen Geldbußen im Verfahrensstadium der Mitteilung der Beschwerdepunkte ihren Entscheidungen auf unangemessene Art und Weise vorgreifen würden. Die Unternehmen müssten nicht in der Lage sein, die Höhe der Geldbuße im Voraus genau abzuschätzen, um ihre Verteidigungsrechte ausüben zu können. Folglich genüge es für die Beachtung des Rechts auf rechtliches Gehör, dass die Kommission in einer solchen Mitteilung, angebe, dass sie untersuchen werde, ob gegen die betreffenden Unternehmen Geldbußen zu verhängen seien, und dass sie über die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte informiere, die zum Erlass einer Entscheidung führen könnten, mit der solche Geldbußen festgesetzt werden.

112    Die Kommission betont weiter, dass in der an Saint-Gobain gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte klar darauf hingewiesen worden sei, dass im vorliegenden Fall die in den Leitlinien von 2006 vorgesehene Berechnungsmethode angewandt werde. Sie habe auch mehrere Auskunftsverlangen zur Höhe der für die Berechnung der Geldbuße maßgeblichen Umsätze an die betreffenden Unternehmen gesandt. Unter Berücksichtigung des Wertungsspielraums, über den sie bei der Festsetzung der Geldbuße im Fall von Verstößen gegen Art. 81 EG verfüge, seien die Verteidigungsrechte von Saint-Gobain in der angefochtenen Entscheidung in vollem Umfang gewahrt worden.

113    Die Kommission tritt auch dem Vorbringen von Saint-Gobain entgegen, wonach es dieser nicht möglich gewesen sei, ihren Standpunkt zur Berücksichtigung der Wiederholungstäterschaft als erschwerendem Umstand sachdienlich vorzutragen. Sie beruft sich darauf, dass sie in der Mitteilung der Beschwerdepunkte Saint-Gobain besonders auf den erschwerenden Umstand der Wiederholungstäterschaft hingewiesen habe, und auch auf verschiedene frühere Feststellungen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG. Die Kommission sei damit sogar über die Pflichten, die ihr nach dem Urteil Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt (Rn. 50), oblägen, hinausgegangen. Der Umstand, dass Saint-Gobain in der Mitteilung der Beschwerdepunkte ausreichend Informationen zur Wiederholungstäterschaft erhalten habe, werde durch die Argumente belegt, die dieses Unternehmen in seiner Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgetragen habe, um diesen erschwerenden Umstand in Abrede zu stellen.

b)     Würdigung durch das Gericht

114    Das Vorbringen von Saint-Gobain umfasst zwei verschiedene Rügen, die die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte betreffen.

115    In ihrer ersten Rüge wirft Saint-Gobain der Kommission vor, diese habe ihr vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung die Höhe der Umsätze, die die Kommission der Berechnung der gegen sie verhängten Geldbuße zugrunde legen werde, die dafür angewandte Berechnungsmethode und den anzuwendenden Schweregrad nicht mitgeteilt.

116    Insoweit ist festzustellen, dass nach gefestigter Rechtsprechung Angaben zur Höhe der beabsichtigten Geldbußen im Stadium der Mitteilung der Beschwerdepunkte eine nicht sachgerechte Vorwegnahme der Entscheidung der Kommission wären, solange den Unternehmen keine Gelegenheit gegeben wurde, zu den gegen sie in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten Stellung zu nehmen (vgl. Urteile des Gerichtshofs Musique Diffusion française u. a./Kommission, oben in Rn. 77 angeführt, Rn. 21, und vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117    Dass ein Wirtschaftsteilnehmer die Höhe der Geldbußen, die die Kommission im Einzelfall verhängen wird, nicht im Voraus genau erkennen kann, erscheint nämlich im Hinblick auf die Zwecke der Verfolgung und Abschreckung, die die Sanktionspolitik im Bereich des Wettbewerbs verfolgt, gerechtfertigt. Diese Zwecke wären gefährdet, wenn es den betroffenen Unternehmen möglich wäre, den Nutzen einzuschätzen, den sie aus ihrer Beteiligung an einer Zuwiderhandlung ziehen würden, indem sie im Voraus die Höhe der Geldbuße berücksichtigen, die ihnen aufgrund dieses rechtswidrigen Verhaltens auferlegt würde (Urteil des Gerichts vom 5. April 2006, Degussa/Kommission, T‑279/02, Slg. 2006, II‑897, Rn. 83).

118    Somit erfüllt die Kommission ihre Verpflichtung zur Wahrung des Anhörungsrechts der Unternehmen, wenn sie in ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte ausdrücklich darauf hinweist, dass sie prüfen werde, ob gegen die betreffenden Unternehmen Geldbußen festzusetzen seien, und die für die etwaige Festsetzung einer Geldbuße wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, wie die Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung sowie den Umstand anführt, dass diese vorsätzlich oder fahrlässig begangen worden sei. Damit macht die Kommission gegenüber den Unternehmen die Angaben, die diese für ihre Verteidigung nicht nur gegen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, sondern auch gegen die Festsetzung einer Geldbuße benötigen (vgl. Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 428 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteil des Gerichtshofs vom 24. September 2009, Erste Group Bank u. a./Kommission, C‑125/07 P, C‑133/07 P, C‑135/07 P und C‑137/07 P, Slg. 2009, I‑8681, Rn. 181).

119    Im Übrigen ist die Kommission nicht verpflichtet, den Unternehmen, gegen die Ermittlungen wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 EG durchgeführt werden, in der Mitteilung der Beschwerdepunkte den Umfang einer etwaigen Anhebung der Geldbuße zur Gewährleistung ihrer Abschreckungswirkung anzukündigen (Urteil des Gerichts vom 15. März 2006, BASF/Kommission, T‑15/02, Slg. 2006, II‑497, Rn. 62).

120    Folglich sind im Zusammenhang mit der Bemessung der Geldbußen die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen vor der Kommission dadurch gewahrt, dass sie sich zu Dauer, Schwere und Wettbewerbswidrigkeit des ihnen zur Last gelegten Sachverhalts äußern können, erfordern aber nicht, dass diese Möglichkeit die Art und Weise, in der die Kommission beabsichtigt, die zwingenden Kriterien der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung im Rahmen der Bemessung anzuwenden, umfasst (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 439). Die Unternehmen verfügen in dieser Hinsicht bezüglich der Bemessung der Geldbußen über eine zusätzliche Garantie, weil das Gericht mit der Befugnis zu uneingeschränkter Nachprüfung entscheidet und u. a. die Geldbuße aufheben oder herabsetzen kann (vgl. Urteil des Gerichts vom 20. März 2002, LR AF 1998/Kommission, T‑23/99, Slg. 2002, II‑1705, Rn. 200 und die dort angeführte Rechtsprechung).

121    Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Kommission in der an Saint-Gobain gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte die Tatsachen, auf die sie die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 Abs. 1 EG zu stützen beabsichtigte, im Einzelnen genau dargelegt hat. Außerdem hat sie auf den Seiten 129 bis 131 und 132 bis 135 der Mitteilung der Beschwerdepunkte die Gründe für ihre Ansicht aufgeführt, dass die Kontakte, an denen Saint-Gobain teilgenommen habe, Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne dieser Vorschrift darstellten.

122    Weiter hat die Kommission auf den Seiten 132 bis 135 und 152 bis 155 der Mitteilung der Beschwerdepunkte die Punkte dargelegt, auf die sie sich zur Beurteilung u. a. der Dauer der Beteiligung von Saint-Gobain an der Zuwiderhandlung gestützt habe. Sie hat auch auf den Seiten 156 und 157 dieser Mitteilung die wesentlichen Faktoren genannt, die sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt habe, nämlich insbesondere die Tatsache, dass die wettbewerbswidrigen Abmachungen, die den Kern der vorliegenden Rechtssache bildeten, zu den schwersten Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 Abs. 1 EG gehörten, dass sich diese Abmachungen auf den ganzen Automobilsektor niedergeschlagen hätten, nicht nur zum Nachteil der Automobilhersteller, sondern auch zum Nachteil der breiten Öffentlichkeit, dass die Kartellteilnehmer sich der Rechtswidrigkeit ihres Handelns bewusst gewesen seien und dass die Kartelltätigkeiten den gesamten EWR beträfen.

123    In Rn. 489 der Mitteilung der Beschwerdepunkte hat die Kommission im Übrigen ausgeführt, dass sie beabsichtige, die potenzielle Rolle von Saint-Gobain als Anführer des Kartells zu berücksichtigen, da diese bei den Clubtreffen mehrmals die Interessen anderer Unternehmen vertreten habe und da sie überdies die meisten Treffen dieses Clubs einberufen habe. Die Kommission führte weiter aus, dass sie auch die Höhe der Geldbuße entsprechend der Dauer der Beteiligung jedes von dem Kartell betroffenen Unternehmens und eventueller erschwerender oder mildernder Umstände berechnen werde.

124    Da die Kommission somit die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte genannt hat, auf die sie ihre Berechnung der Geldbußen stützen würde, musste sie nach der in Rn. 120 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht näher erläutern, auf welche Art und Weise sie jeden dieser Punkte bei der Bestimmung der Höhe der Geldbuße jeweils heranziehen würde. Insoweit ist es ohne Bedeutung, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung schließlich das in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 vorgeschriebene Berechnungsverfahren für den maßgeblichen Umsatz teilweise nicht angewandt hat.

125    Jedenfalls hat die Kommission auf Seite 156 der Mitteilung der Beschwerdepunkte darauf hingewiesen, dass die Geldbuße, die sie im vorliegenden Fall verhängen würde, nach den Grundsätzen der Leitlinien von 2006 berechnet werde. Die Kommission hat zwar, wie sich aus den Rn. 664 bis 667 der angefochtenen Entscheidung ergibt, in diesem Fall beschlossen, bei den berücksichtigten Glasverkäufen von dieser Berechnungsmethode teilweise abzuweichen, doch dies geschah gerade deshalb, um auf einige der Einwände der Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte hinsichtlich der in Ziff. 13 dieser Leitlinien vorgeschriebenen Berechnungsmethode für die relevanten Umsätze in ihrer Stellungnahme zu dieser Mitteilung sowie in ihren Antworten auf mehrere Auskunftsverlangen, die die Kommission an sie gerichtet hatte, einzugehen.

126    Folglich hat die Kommission Saint-Gobain vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung ausreichend über die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, auf die sie sich stützen wollte, um deren Teilnahme an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festzustellen, informiert, und die Verteidigungsrechte von Saint-Gobain wurden insoweit gewahrt. Somit greift die erste Rüge nicht durch.

127    Mit ihrer zweiten Rüge macht Saint-Gobain geltend, die Kommission habe ihr im Verwaltungsverfahren nicht die Möglichkeit gegeben, zur Berücksichtigung der Wiederholungstäterschaft als erschwerendem Umstand sachgerecht Stellung zu nehmen.

128    Insoweit genügt unbeschadet der nachstehenden Prüfung des ersten Teils des sechsten Klagegrundes der Hinweis, dass die Kommission auf den S. 157 und 158 der Mitteilung der Beschwerdepunkte die betroffenen Unternehmen nicht nur darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie die Bestimmungen über die Wiederholungstäterschaft als erschwerenden Umstand anwenden könne, sondern im Fall von Saint-Gobain und der Compagnie auch die drei früheren Entscheidungen angeführt hat, in denen Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 Abs. 1 EG geahndet wurden und auf die sie sich zu stützen beabsichtigte, um den erschwerenden Umstand einer Wiederholungstäterschaft ihnen gegenüber festzustellen. Im Übrigen ergibt sich aus der Antwort von Saint-Gobain auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, dass sie mehrere Argumente vorgetragen hat, um einer eventuellen, auf die eine oder andere dieser Entscheidungen gestützte Erhöhung der Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft entgegenzutreten.

129    Die zweite Rüge kann somit nicht durchgreifen. Folglich ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

3.     Zum dritten Klagegrund: unzureichende Begründung und fehlerhafte Berechnung der Geldbuße

130    Der dritte und der vierte Klagegrund in der Klageschrift von Saint-Gobain sind als ein einziger Klagegrund zu prüfen, da sie zwei Teile desselben Klagegrundes darstellen, der die Umsätze betrifft, die von der Kommission bei der Berechnung des Grundbetrags der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße herangezogen wurden.

a)     Zum ersten Teil: unzureichende Begründung

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

131    In einem ersten Teil trägt Saint-Gobain vor, die angefochtene Entscheidung weise einen Begründungsmangel im Sinne von Art. 253 EG und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Grundrechtecharta auf, da die Entscheidung die verschiedenen Verkaufszahlen, auf deren Grundlage die Geldbuße gemäß Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 berechnet worden sei, nicht genau benenne. Die Pflicht, die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt zu begründen, sei umso zwingender, als es sich um einen Bereich handele, in dem die Kommission über ein Ermessen verfüge, schwere Geldbußen zu verhängen.

132    Konkret wirft Saint-Gobain der Kommission vor, keine Unterlagen vorgelegt zu haben, die geeignet seien, festzustellen, ob der in ihrem Fall berücksichtigte Umsatz richtig und zusammenhängend berechnet worden sei oder ob die Berechnung vielmehr einen Fehler aufweise. Aus der angefochtenen Entscheidung würden nicht die während der Einführungsphasen und am Ende der Zuwiderhandlung berücksichtigten Hersteller ersichtlich, hinsichtlich deren die Kommission angibt, direkte Beweise dafür zu haben, dass sie von dem streitigen Kartell betroffen gewesen seien. Folglich könne Saint-Gobain nicht überprüfen, ob solche Beweise existierten. Die Entscheidung nenne auch nicht die Verkaufszahlen pro Hersteller während der drei Phasen der Zuwiderhandlung. Schließlich ergebe sich aus der Entscheidung nicht die genaue Anzahl der Monate der Beteiligung, die die Kommission für die Berechnung des Jahresdurchschnitts der betroffenen Umsätze berücksichtigt habe. Unter diesen Umständen sei das Gericht nicht in der Lage, seine gerichtliche Überprüfung angemessen durchzuführen, und die angefochtene Entscheidung sei mit einer fehlenden oder unzureichenden Begründung behaftet.

133    Die Begründungspflicht, die bei der Kommission liege, werde durch den Umstand verstärkt, dass diese in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Umsätze, die als Grundlage für die Berechnung der Geldbuße dienen sollten, von den Regeln in den Leitlinien von 2006 abgewichen sei. Während diese Leitlinien die Berücksichtigung des Werts der betreffenden verkauften Waren im letzten vollständigen Geschäftsjahr, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei, vorschrieben, habe die Kommission im vorliegenden Fall eine Zahl zugrunde gelegt, die den gewichteten Jahresdurchschnitt der Umsätze im gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung darstelle.

134    Saint-Gobain ist weiter der Ansicht, dass die unzureichende Begründung der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der zugrunde gelegten Umsätze nicht durch Informationen ausgeglichen werden könne, die im Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht übermittelt würden. Jedenfalls seien die ergänzenden Informationen, die die Kommission in ihren Verteidigungsschriftsätzen vorgetragen habe, nicht geeignet, eine ausreichende Begründung darzustellen, da wichtige Fragen unbeantwortet blieben.

135    Die Kommission widerspricht diesem Vorbringen. Sie betont, dass in der angefochtenen Entscheidung die Methode erklärt werde, nach der sie den Grundbetrag der Geldbuße bestimmt habe. Es ergebe sich aber u. a. aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 2. Oktober 2003, Aristrain/Kommission (C‑196/99 P, Slg. 2003, I‑11005, Rn. 56), dass Zahlenangaben nicht unabdingbar dafür seien, die Begründung einer Entscheidung, mit der eine Geldbuße verhängt werde, als ausreichend erscheinen zu lassen.

136    Nach Ansicht der Kommission konnten die ergänzenden Erklärungen, die sie im Rahmen ihrer Verteidigungsschriftsätze abgegeben habe, bei einer aufmerksamen Prüfung der angefochtenen Entscheidung bereits entnommen werden oder seien zumindest vorhersehbar gewesen.

137    So seien entgegen den Behauptungen von Saint-Gobain die Automobilhersteller, die in den Einführungshasen und in der Endphase des Kartells berücksichtigt worden seien, in der angefochtenen Entscheidung bei der Darstellung des Sachverhalts genannt. Dies gelte auch dann, wenn ein Hersteller, der in einem bestimmten Jahr von einer geheimen Absprache betroffen gewesen sei, auch in den folgenden Jahren berücksichtigt worden sei. Die Zahl der betroffenen Monate könne auch für jeden Teilnehmer an der Zuwiderhandlung und für jeden Zeitraum der Begründung der angefochtenen Entscheidung entnommen werden.

138    Was den für 1998 zugrunde gelegten Umsatz betrifft, weist die Kommission darauf hin, dass sie wegen fehlender ausreichender Erklärungen der betroffenen Unternehmen zu diesem Thema tatsächlich gezwungen gewesen sei, eine Schätzung auf der Grundlage der Zahlenangaben für das Jahr 1999 durchzuführen, dass sie dabei aber nur die Hersteller berücksichtigt habe, die im Jahr 1998 von einer geheimen Absprache betroffen gewesen seien.

139     Außerdem habe die Kommission in der angefochtenen Entscheidung gebührend die Gründe erläutert, die sie veranlasst hätten, im vorliegenden Fall von dem Grundsatz abzuweichen, nach dem der Umsatz des letzten vollständigen Geschäftsjahrs der Beteiligung an der Zuwiderhandlung berücksichtigt werde, wie es in den Leitlinien von 2006 vorgesehen sei. Diese Abweichung sei durch die Merkmale des Kartells, das Gegenstand der angefochtenen Entscheidung sei, in Bezug auf Aufträge über die Lieferung von Automobilglas, die nach einer Ausschreibung vergeben worden seien und die für lange Zeit gelten sollten, gerechtfertigt. Dieser Kontext habe die Berücksichtigung verschiedener Phasen notwendig gemacht, die u. a. die Einführungsphase des Kartells und dessen Endphase bis zu seiner Beendigung widerspiegelten. Diese Abweichung sei im Übrigen vorteilhaft für die Unternehmen gewesen, die Adressaten der genannten Entscheidung gewesen seien, denn nach Ansicht der Kommission wäre die Geldbuße wesentlich höher gewesen, wenn der Gesamtumsatz, der im letzten Jahr der Zuwiderhandlung erzielt worden sei, zugrunde gelegt worden wäre.

140    Die Kommission fügt hinzu, sie habe in der angefochtenen Entscheidung keine genaueren Umsatzzahlen bekannt geben können, da es sich bei diesen um Geschäftsgeheimnisse handele.

 Würdigung durch das Gericht

141    Mit dem ersten Teil des dritten Klagegrundes wirft Saint-Gobain der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe zum einen in der angefochtenen Entscheidung keine detaillierten Angaben zu der Berechnung gemacht, nach der sie ihr gegenüber einen relevanten Umsatz in Höhe von [vertraulich] Mio. Euro zugrunde gelegt habe, und sie habe zum anderen nicht explizit die Gründe genannt, die sie dazu veranlasst hätten, im vorliegenden Fall von der in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 festgelegten Berechnungsmethode abzuweichen.

142    Beide Rügen greifen jedoch nicht durch.

143    Insoweit ist festzustellen, dass gemäß Art. 253 EG, der nunmehr durch Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Grundrechtecharta ergänzt wird, die Kommission die von ihr erlassenen Entscheidungen zu begründen hat.

144    Die Pflicht zur Begründung einer Einzelentscheidung hat den Zweck, dem Unionsrichter die Überprüfung der Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu ermöglichen und den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung richtig ist oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Oktober 2003, Aristrain/Kommission, oben in Rn. 135 angeführt, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

145    Die Begründung ist dem Betroffenen daher grundsätzlich gleichzeitig mit dem ihn beschwerenden Rechtsakt mitzuteilen. Das Fehlen der Begründung kann nicht dadurch geheilt werden, dass der Betroffene die Gründe für die Entscheidung während des Verfahrens vor dem Gericht erfährt (Urteil des Gerichtshofs vom 26. November 1981, Michel/Parlament, 195/80, Slg. 1981, 2861, Rn. 22).

146    Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob sie den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand des Wortlauts des fraglichen Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand des Kontexts, in dem er erlassen wurde (Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg. 1998, I‑1719, Rn. 63).

147    Was die Angabe des Zahlenmaterials für die Berechnung der Geldbuße betrifft, ist zu betonen, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung tatsächlich die spezifischen Verkaufszahlen für Saint-Gobain, die sie der Berechnung der gegen diese verhängten Geldbuße zugrunde gelegt hat, nicht detailliert aufgeführt hat.

148    Was jedoch die Festsetzung von Geldbußen wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht betrifft, erfüllt die Kommission ihre Begründungspflicht, wenn sie in ihrer Entscheidung die Beurteilungskriterien angibt, die es ihr ermöglicht haben, Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung zu ermessen, wobei sie nicht verpflichtet ist, darin eingehendere Ausführungen oder Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbuße zu machen (Urteil des Gerichtshofs vom 16. November 2000, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, C‑286/98 P, Slg. 2000, I‑9925, Rn. 66; vgl. Urteile des Gerichts vom 3. März 2011, Siemens/Kommission, T‑110/07, Slg. 2011, II‑477, Rn. 311 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 13. Juli 2011, Schindler Holding u. a./Kommission, T‑138/07, Slg. 2011, II‑4819, Rn. 243 und die dort angeführte Rechtsprechung).

149    Somit sind Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbußen, so nützlich sie auch sein mögen, für die Beachtung der Begründungspflicht nicht unabdingbar (Urteil des Gerichtshofs vom 16. November 2000, Sarrió/Kommission, C‑291/98 P, Slg. 2000, I‑9991, Rn. 75 bis 77, und Urteil des Gerichts vom 14. Dezember 2006, Raiffeisen Zentralbank Österreich u. a./Kommission, T‑259/02 bis T‑264/02 und T‑271/02, Slg. 2006, II‑5169, Rn. 414).

150    Bezüglich der Begründung der Festsetzung der Geldbußen in absoluten Zahlen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, indem er u. a. vorsieht, dass die Geldbuße, die gegen ein Unternehmen verhängt wird, das eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Union begeht, unter Berücksichtigung der Dauer und der Schwere dieser Zuwiderhandlung festgesetzt wird und dass diese Geldbuße 10 % des Gesamtumsatzes, den dieses Unternehmen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielt hat, nicht übersteigen darf, der Kommission bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße einen Wertungsspielraum verleiht, um das Verhalten der Unternehmen auf die Einhaltung der Wettbewerbsregeln auszurichten (vgl. Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission, T‑53/03, Slg. 2008, II‑1333, Rn. 335 und die dort angeführte Rechtsprechung).

151    Außerdem muss verhindert werden, dass die Geldbußen für die Wirtschaftsteilnehmer leicht vorhersehbar sind. Wenn die Kommission nämlich verpflichtet wäre, in ihrer Entscheidung Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbußen zu machen, würde deren abschreckende Wirkung beeinträchtigt. Wäre die Höhe der Geldbuße das Ergebnis einer Berechnung nach einer bloßen mathematischen Formel, könnten die Unternehmen in der Tat vorhersehen, welche Sanktion in Betracht kommt, und diese mit den Vorteilen vergleichen, die sie aus der Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts ziehen würden (Urteile BPB/Kommission, oben in Rn. 150 angeführt, Rn. 336, und Degussa/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, Rn. 83).

152    Entgegen dem Vorbringen von Saint-Gobain ist der bloße Umstand, dass die Berechnungsweise der Geldbußen im Rahmen der Leitlinien von 2006 angepasst wurde, nicht geeignet, diese Feststellungen in Frage zu stellen.

153    Ziff. 13 dieser Leitlinien ist zu entnehmen, dass die Kommission zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße den Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang stehen, verwendet und dass sie im Regelfall den Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr zugrunde legt, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war. Die Kommission hat dadurch, dass sie derartige Verhaltensnormen erlassen und durch ihre Veröffentlichung angekündigt hat, dass sie sie von nun an auf die von diesen Normen erfassten Fälle anwenden werde, die Ausübung ihres Ermessens beschränkt und kann nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die der Gleichbehandlung oder des Vertrauensschutzes geahndet würde (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 211).

154    Somit ist zu prüfen, ob Saint-Gobain die angefochtene Entscheidung so verstehen konnte, dass die Berechnung der Geldbuße, die gegen sie verhängt wurde, auf eine andere als die in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 vorgesehene Weise durchgeführt wurde, und die Gründe kannte, die die Kommission veranlassten, im vorliegenden Fall von der Verhaltenslinie abzuweichen, die sie in dieser Ziffer für sich festgelegt hat.

155    Zunächst ist in dieser Hinsicht zu betonen, dass die Kommission sowohl in der Mitteilung der Beschwerdepunkte als auch in der angefochtenen Entscheidung darauf hingewiesen hat, dass die Geldbuße nach den Grundsätzen der Leitlinien von 2006 berechnet werde. Sie hat in Ziff. 658 der angefochtenen Entscheidung insbesondere auf die in Ziff. 13 dieser Leitlinien enthaltene Regel für die Berechnung der relevanten Umsätze hingewiesen. Die Kommission hat auch die Gründe dargelegt, aus denen ihres Erachtens die Berechnung der relevanten Umsätze im konkreten Fall nicht durch Bezugnahme allein auf die Aufträge, für die sie über unmittelbare Beweise für eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise verfüge, durchgeführt werden könne. Um diesen Ansatz zu rechtfertigen, hat die Kommission insbesondere in den Ziff. 660 bis 662 der angefochtenen Entscheidung nicht nur geltend gemacht, dass im Zuwiderhandlungszeitraum Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen hinsichtlich sämtlicher großer Automobilhersteller im EWR hätten nachgewiesen werden können, sondern auch, dass Ziel dieses Kartells die globale Stabilität der Marktanteile der Teilnehmer gewesen sei und dass diese Stabilität u. a. mit einem Kompensationsmechanismus im Hinblick auf alle einzelnen Hersteller habe erreicht werden sollen, der alle Glasteile erfasst habe.

156    Die Kommission wies sodann darauf hin, dass sie im vorliegenden Fall nicht die Berechnungsweise anwende, bei der nur die Umsätze des letzten vollständigen Geschäftsjahrs, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei, gezählt würden. In den Ziff. 664 bis 667 der angefochtenen Entscheidung begründete die Kommission diese Abweichung von der Regel in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 im Wesentlichen damit, dass das streitige Kartell von März 1998 bis März 2003 die Besonderheit einer variablen Intensität aufgewiesen habe. In einem ersten, als „Einführungsphase“ bezeichneten Zeitraum von März 1998 bis zur ersten Hälfte des Jahres 2000 habe die Kommission nur für einen Teil der europäischen Automobilhersteller über unmittelbare Beweise für die Zuwiderhandlung verfügt. Im Zeitraum 1. Juli 2000 bis 3. September 2002 hätten die Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen dagegen mindestens 90 % aller Umsätze von Automobilglas für die Erstausrüstung betroffen. Schließlich sei der als Endphase bezeichnete Zeitraum vom 3. September 2002 bis zum Ende des Zuwiderhandlungszeitraums gekennzeichnet durch eine Abnahme der Kartellaktivitäten nach dem Ausscheiden von Pilkington.

157    Unter Berücksichtigung dieser Umstände wies die Kommission darauf hin, einen „In-dubio-pro-reo“-Ansatz gewählt zu haben, indem sie bei der Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße das Gewicht der Einführungsphase und der Endphase verringert und in diesem Rahmen nur die Umsätze gegenüber Automobilherstellern, für die sie über direkte Beweise dafür verfügt habe, dass sie Gegenstand einer geheimen Absprache gewesen seien, zugrunde gelegt habe. Dagegen seien sämtliche Verkäufe im EWR im Zeitraum 1. Juli 2000 bis 3. September 2002 berücksichtigt worden. Wie oben in Rn. 155 festgestellt, hat die Kommission diesen Ansatz in den Ziff. 660 bis 662 der angefochtenen Entscheidung gerechtfertigt, indem sie darauf hinwies, dass im Zuwiderhandlungszeitraum Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen hinsichtlich aller großen Automobilhersteller im EWR hätten nachgewiesen werden können, aber auch, dass Ziel dieses Kartells die globale Stabilität der Marktanteile der Teilnehmer gewesen sei und dass diese Stabilität u. a. mit einem Kompensationsmechanismus im Hinblick auf alle einzelnen Hersteller habe erreicht werden sollen, der alle Glasteile erfasst habe.

158    Gemäß Ziff. 667 der angefochtenen Entscheidung wurden die für die Berechnung der Geldbußen relevanten Umsätze für jeden Kartellteilnehmer auf der Grundlage der wie oben beschrieben gewichteten Gesamtumsätze bestimmt, die durch die Anzahl der Monate, die der jeweilige Glashersteller Mitglied des Kartells war, geteilt und mit 12 multipliziert wurden, um den jährlichen Durchschnitt zu erhalten. Die Kommission stellte noch klar, dass diese Berechnungen auf der Grundlage der Zahlen durchgeführt worden seien, die von den betroffenen Unternehmen in Beantwortung des am 25. Juli 2008 an sie gerichteten Auskunftsverlangens vorgelegt worden seien.

159    Wie die Kommission in ihren Schriftsätzen zutreffend ausführt, müssen diese Erläuterungen vor dem Hintergrund der anderen Teile der angefochtenen Entscheidung gelesen werden, insbesondere hinsichtlich der Funktionsweise des Kartells (Ziff. 120 bis 428 der angefochtenen Entscheidung), in denen die Kommission die Hersteller feststellte, auf die sich die rechtswidrigen Kontakte während der verschiedenen Zeiträume der Zuwiderhandlung bezogen.

160    Überdies hat die Kommission in der angefochtenen Entscheidung einige Erläuterungen zu der von ihr angewandten Berechnungsweise der Geldbußen, die sie gegenüber jedem der betroffenen Unternehmen festgesetzt hat, vorgenommen, und zwar insbesondere hinsichtlich des maßgeblichen Umsatzes, des berücksichtigten Anteils am Umsatz, des Zusatzbetrags sowie der Anpassungen des Grundbetrags der Geldbuße.

161    Schließlich trifft es zwar zu, dass die angefochtene Entscheidung keine Erklärungen zu den Umsätzen enthält, die für 1998 als relevante Umsätze angesehen wurden, doch hat Saint-Gobain im Laufe der Untersuchung für dieses Jahr keine Umsatzzahlen pro Hersteller geliefert. Folglich war es, wie die Kommission zutreffend geltend macht, in diesem Kontext legitim und vorhersehbar, dass sie für die Berechnung der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße die Umsatzzahlen des folgenden Jahres, im konkreten Fall 1999, verwendete.

162    Somit ist der Schluss zu ziehen, dass die Hinweise in der streitigen Entscheidung es Saint-Gobain erlaubten, nicht nur die Gründe zu verstehen, die die Kommission veranlasst haben, im vorliegenden Fall teilweise von der in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 festgelegten Verhaltensnorm abzuweichen, sondern auch die Punkte, auf deren Grundlage die Kommission die Schwere und die Dauer der Zuwiderhandlung geprüft hat, und ebenso die Berechnungsweise der Geldbuße. Folglich ist die angefochtene Entscheidung, obwohl in ihr die Einzelheiten zu dieser Berechnung nicht aufgeführt sind, insoweit nicht mit einer fehlenden oder unzureichenden Begründung behaftet.

163    Der erste Teil des Klagegrundes ist daher nicht begründet.

b)     Zum zweiten Teil: Rechenfehler

 Vorbringen der Parteien

164    Saint-Gobain, die vorträgt, sie habe bei der Lektüre der Klagebeantwortung der Kommission entdeckt, dass diese einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, nämlich einen Fehler bei der Berechnung der Geldbuße, macht insoweit in ihrer Erwiderung einen neuen Klagegrund geltend.

165    Saint-Gobain führt aus, die Zahl der ursprünglich betroffenen Verkäufe, die von der Kommission zugrunde gelegt worden sei, betrage, was sie betreffe, [vertraulich] Euro. Wende man aber die von der Kommission befürwortete Berechnungsmethode gewissenhaft an, komme man auf einen Betrag von [vertraulich] Euro, d. h. einen Betrag, der um [vertraulich] Euro niedriger sei als der von der Kommission festgestellte Betrag. Diese Differenz könnte nach Ansicht von Saint-Gobain so zu erklären sein, dass in die Berechnungsgrundlage der Geldbuße Zahlen einbezogen worden seien, die Umsätze außerhalb des EWR beträfen. Gemäß Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 dürften solche Zahlen bei der Berechnung einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen Art. 81 Abs. 1 EG nicht berücksichtigt werden.

166    Die Kommission zweifelt an der Zulässigkeit dieses Teils des Klagegrundes. Sie ist der Ansicht, Saint-Gobain hätte diese Rüge bereits in ihrer Klageschrift vortragen können, da der angefochtenen Entscheidung zu entnehmen sei, dass als Grundlage für die Berechnung der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße die von dieser übermittelten Umsatzzahlen gedient hätten.

167    Zur Begründetheit macht die Kommission geltend, sie sei von den Verkaufszahlen ausgegangen, die ihr von Saint-Gobain mitgeteilt worden seien. Diese habe zwar im Verlauf der Untersuchung darauf hingewiesen, dass ein Teil der diesen Zahlen entsprechenden Verkäufe nicht vom Kartell betroffen seien und dass einige dieser Verkäufe außerhalb des EWR erfolgt seien. Jedoch habe Saint-Gobain weder die Art der außerhalb des EWR durchgeführten Verkäufe noch die davon betroffenen Kunden und nicht einmal die Höhe des Umsatzes, den sie darstellten, einzeln aufgeführt. Außerdem seien die von Saint-Gobain zu dieser Frage vorgelegten Zahlen nicht beglaubigt.

168    Die Kommission beruft sich auf mehrere weitere Umstände, die ihres Erachtens der von Saint-Gobain geforderten Reduzierung des relevanten Umsatzes hinsichtlich der außerhalb des EWR durchgeführten Verkäufe entgegenstehen. Zunächst habe Saint-Gobain nicht erklärt, ob diese eventuellen Lieferungen außerhalb des EWR Gegenstand der zentralen Gespräche der Hersteller gewesen seien oder aber nicht unter die zentrale Verwaltung gefallen seien. Weiter kann nach Ansicht der Kommission nicht ausgeschlossen werden, dass diese Lieferungen für Lager der Hersteller in der Union zur Verwendung durch zugelassene Wiederverkäufer außerhalb des EWR bestimmt gewesen seien. Im Übrigen wäre für eine eventuelle Reduzierung der Verkaufszahlen in diesem Sinne eine genaue Aufteilung der Verkäufe auf jeden betroffenen Hersteller für bestimmte Zeiträume der Zuwiderhandlung erforderlich gewesen, die Saint-Gobain nicht vorgelegt habe. Schließlich trägt die Kommission vor, Saint-Gobain habe keinen glaubhaften Beweis dafür vorgelegt, dass die Verkäufe außerhalb des EWR durchgeführt worden seien. Im Übrigen sei der Untersuchungsakte zu entnehmen, dass Saint-Gobain in Anbetracht der geringen Zahl der betroffenen Verkäufe selbst darauf verzichtet habe, eine detaillierte Aufschlüsselung dieser Art zu erstellen.

 Würdigung durch das Gericht

169    Das Gericht betont zunächst, dass die Kommission die von Saint-Gobain aufgestellte Hypothese bestätigt hat, dass die gegen Saint-Gobain verhängte Geldbuße ohne Abzug der Beträge berechnet wurde, die den Verkäufen entsprechen, die außerhalb des EWR durchgeführt wurden.

170    Weiter ist festzustellen, dass die Kommission in den Auskunftsverlangen, die sie am 10. Dezember 2007 und am 25. Juli 2008 an Saint-Gobain richtete, diese aufforderte, ihr ihre im EWR in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren erzielten Umsätze mitzuteilen. In jedem dieser Verlangen forderte die Kommission Saint-Gobain auf, wenn möglich beglaubigte Zahlen zu übermitteln und die Umsätze für jeden Hersteller getrennt aufzuführen.

171    In ihren der Kommission am 28. Januar 2008 und am 22. August 2008 mitgeteilten Antworten hat Saint-Gobain für die Jahre 1999 bis 2004 Auskünfte zu ihrem Gesamtumsatz und zu den Umsätzen pro Hersteller vorgelegt, die ihrer internationalen Geschäftsdatenbank entnommen waren. Dagegen hat Saint-Gobain in denselben Antworten darauf hingewiesen, dass die mitgeteilten Zahlen auch Verkäufe von Automobilglas an Kunden außerhalb des EWR enthielten, und zwar in Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei. Saint-Gobain war der Ansicht, dass diese Verkäufe einen geringen Umsatz darstellten und dass es schwierig gewesen wäre, diese aus der internationalen Geschäftsdatenbank herauszunehmen; deshalb hat Saint-Gobain der Kommission mitgeteilt, sie habe diese Daten in dieser Hinsicht nicht angepasst. Sie zog jedoch von den globalen Umsätzen für jedes betroffene Jahr einen Prozentsatz ab, der die außerhalb des EWR durchgeführten Verkäufe widerspiegeln sollte.

172    Somit ist festzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer genannten Antworten keine spezifische Berechnung der Verkäufe an Kunden außerhalb des EWR pro Hersteller und pro Jahr enthielten, obwohl die Kommission Auskunftsverlangen in diesem Sinne an Saint-Gobain gerichtet hatte. Aus Ziff. 667 der angefochtenen Entscheidung folgt, dass die Kommission hinsichtlich der Einführungs- und der Endphase des Kartells nur die Umsätze berücksichtigt hat, für die sie beweisen konnte, dass Verträge über die Lieferung von Automobilglas Gegenstand von wettbewerbswidrigen Vereinbarungen waren. Somit konnte die Kommission auf der Grundlage der Auskünfte, die Saint-Gobain ihr gegeben hatte, nicht bestimmen, ob, und wenn ja, in welchem Umfang die Prozentsätze der Verkäufe, die sie nach ihren Angaben außerhalb des EWR durchgeführt hatte, diese Hersteller betrafen.

173    Allgemeiner ist in Übereinstimmung mit der Kommission festzustellen, dass Saint-Gobain im Laufe der Untersuchung keinen Nachweis dafür vorgelegt hat, dass der Teil der Umsätze, dessen Abzug von der Berechnungsgrundlage der Geldbuße sie beantragt, den außerhalb des EWR erzielten Umsätzen entspricht.

174    Auch wenn man annimmt, dass der vorliegende Teil des Klagegrundes zulässig ist, obwohl er erst im Stadium der Erwiderung vorgetragen wurde, hat die Kommission nach Ansicht des Gerichts keinen Fehler begangen, indem sie der Berechnung der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße die von dieser mitgeteilten Gesamtumsätze und Umsätze pro Hersteller zugrunde legte, ohne von diesen einen pauschalen Prozentsatz abzuziehen, der den außerhalb des EWR erzielten Umsätzen entsprechen soll.

175    Somit ist der zweite Teil des Klagegrundes, soweit er die Anträge auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung betrifft, als unbegründet zurückzuweisen und mit ihm der dritte Klagegrund insgesamt. Es ist jedoch zu ergänzen, dass dieser Teil auch später in den Rn. 463 bis 477 geprüft wird, soweit er die Anträge auf Änderung der angefochtenen Entscheidung unterstützt.

4.     Zum vierten Klagegrund: Fehler bei der Zurechnung der Verantwortlichkeit des wettbewerbswidrigen Verhaltens von Saint-Gobain an die Compagnie, Verletzung der Grundsätze der individuellen Bestrafung und der Unschuldsvermutung sowie Ermessensmissbrauch

176    Der vorliegende Klagegrund entspricht im Wesentlichen einem der von der Compagnie in der Rechtssache T‑73/09 geltend gemachten Klagegründe. Sie sind daher zusammen zu prüfen.

177    Der dritte von der Compagnie im Rahmen der Rechtssache T‑73/09 geltend gemachte Klagegrund enthält jedoch hilfsweise eine Rüge, in der auch eine Überschreitung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Obergrenze geltend gemacht wird, die aber auf einer anderen Argumentation beruht. Die Compagnie trägt nämlich vor, die Kommission habe – selbst wenn man zu dem Schluss kommen müsste, diese habe sie zu Recht für das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft Saint-Gobain Glass France verantwortlich gemacht – einen Fehler begangen, indem sie den Gesamtumsatz der Saint-Gobain-Gruppe zur Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Obergrenze zugrunde gelegt habe. Da diese Rüge von derjenigen, die Gegenstand des vorliegenden Klagegrundes ist, verschieden ist, wird sie getrennt geprüft (siehe nachstehend, Rn. 442 bis 458).

a)     Vorbringen der Parteien

178    Saint-Gobain und die Compagnie werfen der Kommission vor, sie habe der Compagnie das Verhalten von Saint-Gobain Glass France zugerechnet, deren Kapital sich zu 100 % im Besitz der Compagnie befinde, obwohl nicht bewiesen worden sei, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain ausgeübt habe.

179    Die Compagnie macht insoweit geltend, dass sowohl wegen der Art der Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln als auch wegen der Art und des Schweregrades der damit verbundenen Sanktionen nur dann in dieser Hinsicht eine Sanktion gegen eine juristische Person verhängt werden dürfe, wenn die Kommission den positiven Beweis für deren Beteiligung an einer solchen Zuwiderhandlung erbringen könne. Der Muttergesellschaft könne die Verantwortung für eine Zuwiderhandlung und das Verhalten einer ihrer Tochtergesellschaften zugerechnet werden, wenn feststehe, dass Letztere nicht autonom gehandelt oder nur Anweisungen dieser Muttergesellschaft ausgeführt habe. Die Compagnie ist dagegen der Ansicht, dass die Kommission einen Rechtsfehler begehe, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, eine solche Zurechnung bejahe, ohne geprüft zu haben, ob die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft ausgeübt habe. Die Zurechnung eines rechtswidrigen Verhaltens unter solchen Bedingungen würde bedeuten, dass die Konzepte von juristischer Person und Unternehmen vermischt und folglich der Grundsatz der individuellen Bestrafung verletzt würde.

180    Nach Ansicht der Compagnie ist zwar der Besitz des gesamten Kapitals einer Tochtergesellschaft ein starkes Indiz dafür, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der Tochtergesellschaft auf dem Markt ausüben kann, dies genüge jedoch für sich allein nicht, um die Verantwortung für ein Verhalten der Tochtergesellschaft dieser Muttergesellschaft zuzurechnen. Ein ergänzendes Indizienbündel sei trotz der Rechtsprechung der Union, die bereits im gegenteiligen Sinn entschieden habe, dafür unerlässlich.

181    Die Kommission habe unter Nichtbeachtung dieses in anderen Rechtssystemen anerkannten Grundsatzes und des Grundsatzes der Unschuldsvermutung der Compagnie die von Saint-Gobain Glass France begangene Zuwiderhandlung zugerechnet, obwohl es keine Belege dafür gebe, dass Letztere bei der Durchführung ihrer Geschäftspolitik nur den Anweisungen der Muttergesellschaft gefolgt sei. Insbesondere seien allgemeine Anweisungen an eine Tochtergesellschaft oder die Wahrnehmung von Aufgaben ohne Exekutivfunktion durch den für eine Tochtergesellschaft Verantwortlichen nicht geeignet, die Ausübung einer solchen Kontrolle festzustellen. Die Kommission habe somit eine unwiderlegbare Vermutung für einen bestimmenden Einfluss zulasten der Compagnie aufgestellt und dabei die Grundsätze, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, Slg. 2009, I‑8237) ergäben, nicht beachtet.

182    Nach Ansicht der Compagnie müsste sie sich auf den Nachweis beschränken können, dass die Gruppe, an deren Spitze sie sich befinde, nicht so organisiert sei, dass sie über ausreichende personelle und materielle Ressourcen verfüge, um sich regelmäßig und tiefgreifend in die Geschäftsführung und Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaften einzuschalten. Dies sei sehr wohl nachgewiesen worden.

183    Zunächst könne die bloße Tatsache, dass es eine gemeinsame Strategie für die gesamte Saint-Gobain-Gruppe gebe, die auf deren Internetseite veröffentlicht sei, nicht belegen, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain ausgeübt habe, da die Grundsätze, auf denen diese Strategie beruhe, keinen Zusammenhang mit der Geschäftspolitik der verschiedenen Sparten der Gruppe aufwiesen. Überdies bezeugten die begrenzten personellen Ressourcen der Compagnie ebenso wie die ausschließlich funktionellen Aufgaben ihrer verschiedenen Abteilungen, dass es für sie praktisch unmöglich sei, einen, auch nur allgemeinen, Einfluss auf die Geschäftspolitik von Hunderten von Tochtergesellschaften auszuüben. Die Compagnie gebe keine Anweisungen zu den Geschäftstechniken, auf die ihre Tochtergesellschaften zur Erreichung ihrer Ziele zurückgreifen müssten. Die Übermittlung nur begrenzter Informationen, wie Haushaltspläne und Finanzberichte, an die Compagnie seien im Übrigen nach einem „Bottom-up“-System organisiert, das charakteristisch sei für eine dezentralisierte Führung und für die breit gefächerten Aktivitäten der Saint-Gobain-Gruppe. Der Kommission sei es im Übrigen nicht gelungen, zu beweisen, dass Detailberichte über die Geschäftsaktivitäten des Flachglassektors an die Compagnie geschickt worden seien.

184    Weiter könne aufgrund der individuellen Rolle von Herrn A., dem ehemaligen Direktor des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe, nicht die fehlende Geschäftsautonomie dieses Sektors festgestellt werden. So macht die Compagnie geltend, dass Herr A. bei ihr keine Exekutivfunktionen ausgeübt habe und sein Titel als Leitender Vizegeschäftsführer ein Ehrentitel gewesen sei. Herr A. sei zu keinem Zeitpunkt Mitglied des Exekutivausschusses der Compagnie gewesen, der, vorbehaltlich der Zuweisungen des Vorstands, allein die Entscheidungen treffe, die in den Zuständigkeitsbereich der Compagnie innerhalb der Gruppe fielen. Überdies habe Herr A. erst ab dem 15. Oktober 2001, d. h. fast vier Jahre nach dem Beginn der Zuwiderhandlung, Funktionen bei der Compagnie ausgeübt und sei erst ab dem 1. Mai 2004, d. h. mehr als ein Jahr nach dem Ende des streitigen Kartells, für die Innovation in der Gruppe zuständig gewesen. Was das Comité de direction générale betreffe, seien die dort behandelten Themen zwar von gemeinsamem Interesse für die gesamte Gruppe, doch seien die dort ausgetauschten Informationen zu allgemein, um daraus ableiten zu können, dass es einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe gegeben habe.

185    Dass zwei Mitarbeiter der Compagnie dem Vorstand von Saint-Gobain Glass France angehörten, sei entgegen dem Vorbringen der Kommission im vorliegenden Fall völlig unerheblich. Es sei nämlich üblich, dass ein Aktionär mit einer Beteiligung von 100 % an einer Gesellschaft einige Sitze im Vorstand dieser Gesellschaft habe. Berücksichtige man einen solchen Punkt, um die Zuwiderhandlung der Compagnie zuzurechnen, trage dies ebenso wie die Berücksichtigung des bloßen Austauschs allgemeiner Informationen mit Saint-Gobain Glass France dazu bei, die von der Rechtsprechung herausgestellte Vermutung eines bestimmenden Einflusses unwiderlegbar zu machen.

186    In einer separaten Rüge tragen Saint-Gobain und die Compagnie im Übrigen vor, die angefochtene Entscheidung sei ermessensmissbräuchlich, da die Zurechnung der Zuwiderhandlung an die Compagnie nur deshalb erfolgt sei, um zu ermöglichen, dass die sehr hohe Geldbuße, die gegen sie verhängt worden sei, für jedes „an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung“ die in Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegte Obergrenze von 10 % des jeweiligen Umsatzes nicht übersteige. Somit hätte die gegen sie verhängte Geldbuße auch unabhängig von den anderen Klagegründen 10 % des Umsatzes von Saint-Gobain im vorausgegangenen Geschäftsjahr, d. h. [vertraulich] Mio. Euro, nicht übersteigen dürfen.

187    Die Kommission erhebt vorab eine Einrede der Unzulässigkeit gegen den vorliegenden Klagegrund, soweit er von Saint-Gobain geltend gemacht wird, da Letztere sich damit begnügt habe, im vorliegenden Fall auf bestimmte Argumente zu verweisen, die die Compagnie im Laufe der Untersuchung vorgetragen habe und die in der angefochtenen Entscheidung zusammengefasst worden seien.

188    Zur Begründetheit trägt die Kommission zunächst vor, die Compagnie habe ihr zu Unrecht vorgeworfen, in der angefochtenen Entscheidung die Begriffe „Unternehmen“ und „juristische Person“ vermischt zu haben. Die Kommission habe der Compagnie das wettbewerbswidrige Verhalten von Saint-Gobain erst zugerechnet, nachdem sie festgestellt hatte, dass diese Gesellschaften ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG bildeten.

189    Die Kommission verweist sodann darauf, dass nach gefestigter Rechtsprechung eine Vermutung bestehe, dass eine Muttergesellschaft, die 100 % des Kapitals einer Tochtergesellschaft halte, einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausgeübt habe und dass ihr folglich die von der Tochtergesellschaft begangenen Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht zugerechnet werden könnten. Diese Vermutung sei dadurch gerechtfertigt, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Tochtergesellschaft, die zu 100 % von einer Muttergesellschaft gehalten werde, ihre Geschäftspolitik nicht selbständig führe. Entgegen dem Vorbringen der Compagnie sei es deshalb nicht notwendig, dass die Kommission den positiven Beweis erbringe, dass die Muttergesellschaft einen solchen Einfluss im Einzelfall tatsächlich ausgeübt habe.

190    Außerdem habe sie zwar in der angefochtenen Entscheidung einige zusätzliche Punkte genannt, um diese Vermutung zu stützen, doch könne daraus nicht geschlossen werden, dass sie diese Punkte als unerlässlich angesehen habe, um die Compagnie für das wettbewerbswidrige Verhalten von Saint-Gobain haftbar zu machen.

191    Nach Ansicht der Kommission gibt es keinen Grund, der die Aufgabe der oben in Rn. 189 genannten Vermutung rechtfertigt. Zunächst sei es nicht von Bedeutung, dass die Rechtsordnungen von Drittstaaten eine Form von widerlegbarer Vermutung, ähnlich der soeben beschriebenen, nicht anerkennten. Weiter widerspreche diese Vermutung nicht dem Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Muttergesellschaften, die das gesamte Kapital einer Tochtergesellschaft hielten, und denjenigen, die nur einen begrenzten Teil dieses Kapitals hielten, da diese Gesellschaften sich nicht in vergleichbaren Situationen befänden. Schließlich sei die Kommission bereits in früheren Entscheidungen von der Verantwortung einer Muttergesellschaft, die nur einen Teil des Kapitals einer ihrer Tochtergesellschaften gehalten habe, ausgegangen.

192    Hinsichtlich der früheren Verwaltungspraxis, die die Compagnie geglaubt habe, feststellen zu können, weist die Kommission nicht nur darauf hin, dass sich eine solche Praxis nicht aus einem einzigen vorausgegangenen Fall ergebe, sondern auch, dass jedenfalls eine eventuelle Praxis dieser Art sie nicht verpflichten würde, die gleichen Beurteilungen im Rahmen späterer Entscheidungen vorzunehmen. Auf jeden Fall weist die Kommission das Vorliegen jeglichen Widerspruchs zwischen ihren von der Compagnie angeführten früheren Entscheidungen und der angefochtenen Entscheidung zurück, da Letztere in einem anderen tatsächlichen Rahmen erfolgt sei.

193    Wie der Gerichtshof im Übrigen in seinem Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, bestätigt habe, bedeute allein der Umstand, dass die Vermutung eines bestimmenden Einflusses schwierig zu widerlegen sei, nicht, dass diese Vermutung unwiderlegbar sei. Im vorliegenden Fall habe die Compagnie keine Punkte vorgetragen, die erlaubt hätten, die gegen sie sprechende Vermutung zu widerlegen. Die Compagnie bilde nämlich ein einziges Unternehmen mit Saint-Gobain Glass France im Sinne des Wettbewerbsrechts. Somit sei auch die Rüge, die angefochtene Entscheidung verletze in dieser Hinsicht den Grundsatz der individuellen Bestrafung oder auch den Grundsatz der Unschuldsvermutung, als unbegründet zurückzuweisen.

194    Diese Schlussfolgerung werde durch verschiedene Elemente bestätigt.

195    Zunächst könne die Geschäftsstruktur des Saint-Gobain-Konzerns, die von der Compagnie errichtet worden sei, zum Beweis dafür dienen, dass Letztere einen bestimmenden Einfluss auf das Geschäftsverhalten von Saint-Gobain France ausgeübt habe. Die Compagnie habe nämlich die Strategie dieses Konzerns entwickelt und dessen Tätigkeiten in spezifische Sektoren aufgeteilt. Dieser letzte Punkt zeige ihre Absicht, die Beherrschung der Struktur und der Führung dieses Konzerns schließlich zu behalten, ohne dass die Kenntnis der Compagnie von der Zuwiderhandlung für die Umsetzung der Vermutung erheblich sein soll. Es sei im Übrigen in diesem Kontext normal, dass die verschiedenen Aufgaben des Unternehmens, gegen das in der angefochtenen Entscheidung eine Sanktion verhängt worden sei, zwischen der Compagnie und ihren Tochtergesellschaften, die zum Flachglassektor gehörten, aufgeteilt seien und dass die Compagnie über weniger Humanressourcen verfüge als diese Tochtergesellschaften.

196    Die Behauptung der Compagnie, sie gebe keine genauen Anweisungen an ihre Tochtergesellschaften, werde außerdem durch keine Beweise gestützt. Zu diesem letzten Punkt sei anzumerken, dass es bei der Compagnie eine Abteilung gebe, die für Forschung und Entwicklung sowie für Innovation zuständig sei, ebenso wie die Position eines auf das Recht des geistigen Eigentums spezialisierten Juristen und die Position eines Leiters internationale Verträge.

197    Die Kommission ist weiter der Ansicht, dass die Funktionen, die Herr A. sowohl bei Saint-Gobain Glass France als auch in der Compagnie ausgeübt habe, dazu beitrügen, den bestimmenden Einfluss zu zeigen, den die Compagnie auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft gehabt habe. Herr A. sei nämlich Angestellter der Saint-Gobain Glass France und Direktor des Flachglassektors in der Saint-Gobain-Gruppe und für sämtliche Betriebsgesellschaften, die Glas herstellten und vertrieben, zuständig gewesen. Entgegen dem Vorbringen der Compagnie habe Herr A. die Funktion des Direktors des Flachglassektors in dieser Gruppe von Oktober 1996 bis Oktober 2001 ausgeübt, bevor er die Funktionen des stellvertretenden Generaldirektors übernommen habe. Herr A. habe im Rahmen dieser verschiedenen Funktionen der Compagnie wiederholt über die Aktivitäten des Flachglassektors Bericht erstattet, und diese habe nicht nachgewiesen, dass diese Funktionen keine exekutiven Aufgaben umfassten.

198    Überdies sei unstreitig, dass Herr A. Mitglied des Comité de direction générale gewesen sei, dessen Aufgabe laut den Antworten der Compagnie auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte darin bestanden habe, allgemeine Informationen weiterzugeben, die für die Konzernleitung von Interesse sein könnten, und Monat für Monat die konsolidierten Ergebnisse der Saint-Gobain-Gruppe sowie die Entwicklung seines Gesamtpersonalbestands zu prüfen. Dieser Ausschuss habe zusammen mit dem Exekutivausschuss die Leitungsebene der Saint-Gobain-Gruppe gebildet.

199    Was die Präsenz mehrerer Direktionsmitglieder der Compagnie in der Unternehmensspitze von Saint-Gobain Glass France betreffe, so zeige dies die Bedeutung des Engagements dieser Muttergesellschaft bei den Aktivitäten des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe.

200    Im Übrigen seien weder das Budget des Flachglassektors für das Jahr 2001 noch der Strategieplan für diesen Sektor für die Jahre 2002-2006, die von der Compagnie als Anlage zu ihrer Erwiderung vorgelegt worden seien, geeignet, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen. Selbst wenn man nämlich annehme, diese Dokumente seien auf der Ebene Flachglassektor vorbereitet und erst anschließend an die Compagnie weitergereicht worden, sei nicht bewiesen, dass die Compagnie nicht in der Lage gewesen sei, diese Dokumente zu ändern, abzulehnen oder ihre Anwendung zu kontrollieren. Es sei im Übrigen schwer vorstellbar, dass der Flachglassektor innerhalb des Saint-Gobain-Konzerns völlig autonom sei, wenn man berücksichtige, welche bedeutende Rolle ihm in diesem Konzern in Bezug auf Umsätze und Ergebnisse zukomme.

201    Schließlich trägt die Kommission vor, das Vorbringen einer behaupteten Verletzung des Rechts auf die Unschuldsvermutung, die die Compagnie in ihrem ergänzenden Schriftsatz geltend mache, sei verspätet und folglich unzulässig. Hilfsweise macht sie geltend, Schuldvermutungen seien im Strafrecht möglich, sofern sie eine bestimmte Grenze nicht überschritten. Es sei aber zum einen festzustellen, dass der Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen große Bedeutung zukomme, und zum anderen, dass die Verteidigungsrechte der Compagnie im vorliegenden Fall in vollem Umfang gewahrt worden seien, da diese in der Lage gewesen sei, im Anschluss an die Versendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte die Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf das Geschäftsverhalten von Saint-Gobain Glass France zu widerlegen.

b)     Würdigung durch das Gericht

 Zur Zulässigkeit des Klagegrundes, wie er von Saint-Gobain erhoben wurde

202    Vor einer Prüfung der Begründetheit des Klagegrundes ist die Einrede der Unzulässigkeit zu untersuchen, die die Kommission gegen diesen Klagegrund, wie er von Saint-Gobain erhoben wurde, geltend macht. Gestützt auf Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung macht die Kommission geltend, Saint-Gobain verweise in ihrer Klageschrift nur auf die Argumente, die die Compagnie während der Untersuchung vorgetragen habe und die in den Ziff. 606 und 607 der angefochtenen Entscheidung zusammengefasst worden seien, ohne sie jedoch auszuführen.

203    Nach Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung muss die Klageschrift den Streitgegenstand angeben und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so klar und genau sein, dass dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, ermöglicht wird (Urteil des Gerichts vom 20. April 1999, Limburgse Vinyl Maatschppij u. a./Kommission, genannt „PVC II“, T‑305/94 bis T‑307/94, T‑313/94 bis T‑316/94, T‑318/94, T‑325/94, T‑328/94, T‑329/94 und T‑335/94, Slg. 1999, II‑931, Rn. 39). Zwar kann der Text der Klageschrift zu bestimmten Punkten durch Bezugnahmen auf als Anlage beigefügte Aktenauszüge untermauert und ergänzt werden, doch kann eine pauschale Bezugnahme auf andere Schriftstücke, auch wenn sie der Klageschrift als Anlagen beigefügt sind, nicht das Fehlen der wesentlichen Bestandteile der Rechtsausführungen ausgleichen, die nach der genannten Vorschrift in der Klageschrift enthalten sein müssen (Beschluss des Gerichts vom 27. März 2009, Alves dos Santos/Kommission, T‑184/08, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 19).

204    Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, dass die Abschnitte der Klageschrift von Saint-Gobain, die diesen Klagegrund behandeln, diese Anforderungen erfüllen. Wie die Kommission in ihren Schriftsätzen selbst einräumt, hat sich Saint-Gobain im vorliegenden Fall nicht darauf beschränkt, ganz einfach nur auf eine Argumentation in anderen Schriftstücken zu verweisen. Die Klageschrift enthält nämlich mehrere Argumente zur Unterstützung des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen Bestrafung – wegen der Zurechnung des wettbewerbswidrigen Verhaltens von Saint-Gobain an die Compagnie – sowie eine Überschreitung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Obergrenze und ein Ermessensmissbrauch gerügt wird.

205    Somit ist die Einrede der Unzulässigkeit, die die Kommission gegen den vorliegenden Klagegrund, wie er von Saint-Gobain vorgetragen wird, erhebt, zurückzuweisen.

 Zur Begründetheit

206    Zur Begründetheit ist vorab zu bemerken, dass das Wettbewerbsrecht der Union die Tätigkeit von Unternehmen betrifft (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg. 2004, I‑123, Rn. 59), und dass der Begriff des Unternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung umfasst (Urteil des Gerichtshofs vom 10. Januar 2006, Cassa di Risparmio di Firenze u. a., C‑222/04, Slg. 2006, I‑289, Rn. 107).

207    Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass in diesem Zusammenhang unter dem Begriff des Unternehmens eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird (Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

208    Verstößt eine solche wirtschaftliche Einheit gegen die Wettbewerbsregeln, hat sie für diese Zuwiderhandlung einzustehen; diese muss eindeutig einer juristischen Person zugerechnet werden, gegen die Geldbußen festgesetzt werden können. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte muss im Übrigen an diese gerichtet werden und auch angeben, in welcher Eigenschaft ihr die behaupteten Tatsachen zur Last gelegt werden (vgl. Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 56 und 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

209    Außerdem kann nach ständiger Rechtsprechung einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden. Dies liegt darin begründet, dass in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein einziges Unternehmen im Sinne der oben in den Rn. 206 und 207 angeführten Rechtsprechung bilden. Weil eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG bilden, kann die Kommission demnach eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachgewiesen werden muss (vgl. Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

210    Nicht ein zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft in Bezug auf die Zuwiderhandlung bestehendes Anstiftungsverhältnis und schon gar nicht eine Beteiligung Ersterer an dieser Zuwiderhandlung, sondern der Umstand, dass sie ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG bilden, verleiht somit der Kommission die Befugnis, eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft einer Unternehmensgruppe zu richten (Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, T‑112/05, Slg. 2007, II‑5049, Rn. 58).

211    In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, kann zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht zum anderen eine widerlegliche Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

212    Auch wenn es zutrifft, dass der Gerichtshof in den Rn. 28 und 29 des Urteils vom 16. November 2000, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, außer der 100%igen Kapitalbeteiligung an der Tochtergesellschaft weitere Umstände wie das Nichtbestreiten des von der Muttergesellschaft auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft ausgeübten Einflusses und die gemeinsame Vertretung beider Gesellschaften im Verwaltungsverfahren erwähnt hat, ändert dies nichts daran, dass der Gerichtshof diese Umstände in dieser Rechtssache nur anführte, um alle Gesichtspunkte zu nennen, die das Gericht in seine Erwägungen einbezogen hatte, und um daraus den Schluss zu ziehen, dass sich das Gericht nicht allein auf die 100%ige Kapitalbeteiligung der Muttergesellschaft an ihrer Tochtergesellschaft gestützt hatte. Dass der Gerichtshof in dieser Rechtssache die Beurteilung des Gerichts bestätigte, kann daher nicht eine Änderung der Voraussetzungen für die Geltung der in der vorstehenden Randnummer genannten Vermutung eines bestimmenden Einflusses zur Folge haben (Urteile des Gerichts vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 62, und vom 30. April 2009, Itochu/Kommission, T‑12/03, Slg. 2009, II‑883, Rn. 50).

213    Unter diesen Umständen braucht die Kommission nur nachzuweisen, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, damit die Vermutung eingreift, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausübt. Die Kommission kann in der Folge dem Mutterunternehmen als Gesamtschuldner die Haftung für die Zahlung der gegen dessen Tochterunternehmen verhängten Geldbuße zuweisen, sofern die vom Mutterunternehmen, dem es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, vorgelegten Beweise nicht für den Nachweis ausreichen, dass sein Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt (vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 61, und vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, Slg. 2011, I‑8947, Rn. 57).

214    Bei der Prüfung der Frage, ob eine Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten autonom bestimmt, ist nicht nur zu berücksichtigen, dass die Muttergesellschaft die Preispolitik, die Herstellungs- und Vertriebsaktivitäten, die Verkaufsziele, die Bruttomargen, die Verkaufskosten, den Cashflow oder auch Lagerbestände und Marketing beeinflusst. Zu berücksichtigen sind auch, wie oben in Rn. 209 ausgeführt, sämtliche im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen der Tochtergesellschaft zur Muttergesellschaft relevanten Gesichtspunkte, die von Fall zu Fall variieren und daher nicht abschließend aufgezählt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, Rn. 65, und Urteil vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 64 und 65).

215    Eine Vermutung, auch wenn sie schwer zu widerlegen ist, hält sich in akzeptablen Grenzen, sofern sie im Hinblick auf das zulässige Ziel, das verfolgt wird, angemessen ist, sofern die Möglichkeit besteht, den Gegenbeweis zu erbringen, und die Verteidigungsrechte gewahrt sind (vgl. entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, Slg. 2009, I‑12073, Rn. 43 und 44, sowie Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Janosevic gegen Schweden, oben in Rn. 104 angeführt, §§ 101 bis 110).

216    Mit der Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses einer Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft, die vollständig oder fast vollständig von der Muttergesellschaft gehalten wird, soll u. a. ein Gleichgewicht zwischen der Bedeutung des Ziels, Verhaltensweisen, die gegen die Wettbewerbsregeln, insbesondere gegen Art. 81 EG, verstoßen, zu unterbinden und ihre Wiederholung zu verhindern, einerseits und den Anforderungen bestimmter allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts, wie etwa des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der individuellen Bestrafung und der Rechtssicherheit sowie der Verteidigungsrechte, einschließlich des Grundsatzes der Waffengleichheit andererseits hergestellt werden (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 59).

217    Somit ist eine solche Vermutung im Hinblick auf das verfolgte rechtmäßige Ziel angemessen.

218    Im Übrigen beruht die oben in Rn. 211 genannte Vermutung auf der Feststellung, dass – von wirklich außergewöhnlichen Umständen abgesehen – eine Gesellschaft, die die Gesamtheit des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, allein aufgrund dieser Beteiligung einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann und dass es normalerweise am zweckmäßigsten ist, in der Sphäre der Einheiten, denen gegenüber diese Vermutung eingreift, zu ermitteln, ob diese Befugnis zur Einflussnahme tatsächlich nicht ausgeübt wurde. Könnte daher ein Betroffener die genannte Vermutung durch bloße, nicht belegte Behauptungen widerlegen, wäre sie weitgehend nutzlos. Diese Vermutung kann jedoch entkräftet werden, und die Einheiten, die sie widerlegen möchten, können alle Gesichtspunkte vortragen, die sich auf die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen der Tochtergesellschaft und der Muttergesellschaft beziehen und die sie für den Nachweis als geeignet ansehen, dass die Tochtergesellschaft und die Muttergesellschaft keine wirtschaftliche Einheit darstellen, sondern dass die Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 60 und 61; vgl. in diesem Sinne Urteil Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, Rn. 29).

219    Schließlich muss die Muttergesellschaft von der Kommission angehört werden, bevor diese ihr gegenüber eine Entscheidung erlässt, und diese Entscheidung kann der Überprüfung durch den Unionsrichter unterstellt werden, der unter Beachtung der Verteidigungsrechte entscheiden muss (Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 80 angeführt, Rn. 110).

220    Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Compagnie zur Zeit der Zuwiderhandlung zu 100 % am Gesellschaftskapital von Saint-Gobain Glass France beteiligt war.

221    Überdies geht aus der oben in den Rn. 213 bis 215 dargelegten Rechtsprechung hervor, dass es, wenn sich die Kommission auf die Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses stützt, um einer Muttergesellschaft eine Zuwiderhandlung zuzurechnen, der Muttergesellschaft obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, indem sie Beweise vorlegt, die für den Nachweis ausreichen, dass ihr Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt. Insoweit obliegt es der Muttergesellschaft, alle Gesichtspunkte vorzutragen, die sich auf die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen ihr selbst und der Tochtergesellschaft beziehen und die für den Nachweis geeignet sind, dass sie keine wirtschaftliche Einheit darstellen.

222    Somit ist zu prüfen, ob die Kommission zu Recht der Ansicht war, dass es nach den Gesichtspunkten, die von der Compagnie im Laufe der Untersuchung vorgetragen wurden, nicht möglich war, die wirtschaftliche Autonomie von Saint-Gobain Glass France auf dem Markt festzustellen und somit nachzuweisen, dass diese und die Compagnie keine wirtschaftliche Einheit im Sinne des Wettbewerbsrechts der Union bildeten.

223    Wie aus den Ziff. 600 ff. der angefochtenen Entscheidung deutlich wird, stützt die Kommission ihre Erwägungen im Wesentlichen auf drei Gesichtspunkte, um die Vermutung zu stützen, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf das Geschäftsverhalten von Saint-Gobain Glass France im Zeitraum der Zuwiderhandlung ausübte.

224    Die Kommission äußert sich erstens zur Geschäftsstruktur der Saint-Gobain-Gruppe. Die Kommission trägt unter Hinweis auf verschiedene Jahresberichte der Compagnie vor, dass die verschiedenen Sparten der Saint-Gobain-Gruppe, die zwar ihre eigenen Geschäfte verwalteten und die Geschäfts- und Vermarktungsstrategien in ihrem Bereich definierten und umsetzten, dennoch Teil eines von der Compagnie festgelegten gemeinsamen betrieblichen Rahmens für die Umsetzung des Geschäftsmodells der Gruppe seien. Die Kommission erwähnt insoweit ein Schreiben, das Saint-Gobain Glass France am 4. Oktober 2006 an sie in Beantwortung eines von ihr an Saint-Gobain gerichteten Auskunftsverlangens gesandt habe und aus dem sich ergebe, dass die Initiativen des Flachglassektors und die von ihm erzielten Ergebnisse den für sämtliche Geschäftsbereiche des Konzerns festgelegten Prioritäten und Zielen entsprächen, wie sie vom Gesamtmanagement der Compagnie vorgegeben seien. Dieses Schreiben weist nach Ansicht der Kommission auch darauf hin, dass über die geschäftlichen Vorgaben, wie Geschäftspläne und Finanzmittel sowie wichtige betriebliche Entscheidungen, obwohl sie auf der Ebene des Geschäftsbereichs vorbereitet würden, letzten Endes der Direktor des Flachglassektors von Saint-Gobain entscheide.

225    Zweitens trägt die Kommission strukturelle Gesichtspunkte vor. So verweist sie zunächst auf die Verbindungen, die zwischen der Geschäftsführung der Compagnie und der des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe bestanden hätten. So habe Herr A. die Position des leitenden Vizegeschäftsführers der Compagnie bekleidet und sei in dieser Eigenschaft unmittelbar dem Geschäftsführer angegliedert gewesen. Herr A. sei außerdem Präsident des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe sowie von Saint-Gobain Glass France und von Saint-Gobain Sekurit France gewesen. Er sei auch bis 2001 Präsident von Saint-Gobain Sekurit International gewesen. Herr A. habe an den Treffen des „Comité opérationnel“ und des „Comité de direction générale“ der Compagnie teilgenommen und sei überdies für Innovationen in der Saint-Gobain-Gruppe zuständig gewesen. Weiter sei zu berücksichtigen, dass drei Vorstandsmitglieder von Saint-Gobain Glass France gleichzeitig Managementpositionen bei der Compagnie besetzten.

226    Die Kommission führt weiter aus, Herr A. gehöre, ebenso wie der Geschäftsführer der Gruppe, zum Führungsteam der Gruppe, und dieser Geschäftsführer sei auch Mitglied des Exekutivausschusses der Compagnie. Es sei aber nicht plausibel, dass Mitglieder der Führungsmannschaft, die, wie Herr A., an der Spitze einer Geschäftssparte stünden, nur untereinander kommunizierten und die Leitung der Gruppe ohne Beteiligung des Exekutivausschusses der Compagnie ausübten.

227    Drittens schließlich weist die Kommission darauf hin, dass die Compagnie und Saint-Gobain Glass France ihren Sitz unter derselben Anschrift hätten. Dieser Umstand erleichtere die Entstehung einer einheitlichen Handelspolitik innerhalb dieses Unternehmens.

228    Die Compagnie und Saint-Gobain widersprechen diesem Standpunkt.

229    Zwar weisen einige Punkte, die von der Compagnie vorgetragen wurden, darauf hin, dass Saint-Gobain Glass France in erheblichem Umfang selbständig war, dennoch ist es der Compagnie nicht gelungen, die Vermutung zu widerlegen, die gegen sie spricht.

230    Erstens kann dem Vorbringen der Compagnie, die Autonomie von Saint-Gobain sei durch die dezentrale Führung der Saint-Gobain-Gruppe und durch die Tatsache, dass die Compagnie nur eine Dachgesellschaft sei, die keine operative Verantwortung übernehme und nicht in die operative Führung ihrer Tochtergesellschaften eingreife, belegt, nicht zugestimmt werden.

231    Zunächst bekräftigt die Compagnie nämlich, dass ihre „Ethik-Charta“ nur allgemeine Grundsätze enthalte, die keinen Zusammenhang mit der Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaften hätten, und dass sie zwar die allgemeine Strategie der Saint-Gobain-Gruppe festlege, es dagegen den Sparten überlasse, ihre Geschäftspolitik zu bestimmen und durchzuführen. Es ist jedoch festzustellen, dass die Compagnie weder ihre „Ethik-Charta“ noch irgendein Dokument vorgelegt hat, das ihre Ausführungen untermauern könnte.

232    Sodann ist es im Kontext einer Unternehmensgruppe Aufgabe einer Holdinggesellschaft, die Beteiligungen an verschiedenen Gesellschaften zu bündeln und als deren Leitungsinstanz zu fungieren (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 8. Oktober 2008, Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, T‑69/04, Slg. 2008, II‑2567, Rn. 63, und vom 29. Juni 2012, E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, T‑360/09, Rn. 283). Da es keine Anzeichen dafür gibt, dass dies nicht der Fall ist, ist davon auszugehen, dass die Verbindung zwischen der Compagnie und Saint-Gobain Glass France es mit sich bringen kann, dass die Compagnie im Zuwiderhandlungszeitraum einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausgeübt hat, u. a. durch die Koordinierung der Finanzinvestitionen in der Saint-Gobain-Gruppe (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, T‑299/08, Slg. 2011, II‑2149, Rn. 99). Insoweit ist jedoch zum einen zu bemerken, dass die Compagnie einräumt, allgemeine Rentabilitätsziele für ihre Tochtergesellschaften festzulegen, für deren finanzielles Gleichgewicht und Ansehen zu sorgen und zu der Finanzierung von Investitionen, die von diesen getätigt werden, beizutragen, und zum anderen, dass gemäß den von der Compagnie selbst vorgelegten Zahlen fast die Hälfte ihrer Mitarbeiter mit Finanzgeschäften befasst sind.

233    Die interne Aufteilung der verschiedenen Tätigkeiten der Compagnie, die einer dezentralen Führung ähnelt, zwischen verschiedenen Abteilungen oder Einheiten, stellt ein übliches Phänomen innerhalb von Unternehmensgruppen wie derjenigen, an deren Spitze die Klägerin steht, dar und ist daher ebenso wenig geeignet, die Vermutung zu widerlegen, dass die Compagnie und Saint-Gobain ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG bilden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 232 angeführt, Rn. 99).

234    Zweitens kann der Compagnie nicht gefolgt werden, wenn sie zum einen vorträgt, dass Saint-Gobain Glass France ihre Geschäftsstrategie immer autonom bestimmt habe, da die Compagnie ihre Geschäftsvorhaben und ihre finanziellen Mittel weder festgelegt noch gebilligt habe, und praktisch in der Lage gewesen sei, auf dem Markt autonom tätig zu sein, und dass zum anderen Saint-Gobain Glass France über eine vollständige finanzielle Autonomie verfügt habe, da die Kontrolle, die die Compagnie über sie ausgeübt habe, sehr allgemein gewesen sei.

235    Abgesehen davon nämlich, dass die Compagnie keine Nachweise vorlegt, die geeignet wären, ein solches Vorbringen zu stützen, ist zu bemerken, dass gemäß einem Schreiben von Saint-Gobain Glass France vom 4. Oktober 2006 an die Kommission, in dem sie auf ein Auskunftsverlangen antwortete, das die Kommission an sie gerichtet hatte, die Compagnie die Investitionen und die finanziellen Mittel jeder Sparte der Saint-Gobain-Gruppe billigte und regelmäßig die Geschäftsergebnisse der verschiedenen Sektoren kontrollierte. Dieser Punkt spricht letztlich für die Schlussfolgerung, dass die Compagnie vor allem bei der Koordinierung der Finanzanlagen innerhalb der Saint-Gobain-Gruppe einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 232 angeführt, Rn. 102).

236    In jedem Fall kann, selbst wenn unterstellt wird, dass die Geschäftsvorhaben von der Leitungsebene des Flachglassektors gebilligt wurden, bevor sie der Compagnie übermittelt wurden, daraus nicht geschlossen werden, dass Letztere sie weder ändern noch ablehnen oder deren Anwendung nicht kontrollieren konnte.

237    Drittens ist das Vorbringen der Compagnie, wonach Saint-Gobain Glass France ihr Informationen nach einem „Bottom-up“-System (von unten nach oben) übermittelt habe und die Übermittlung dieser Informationen nicht dazu geführt habe, dass daraufhin Anweisungen an ihre Tochtergesellschaft gesandt worden seien, unerheblich. Selbst wenn nämlich unterstellt wird, dass dies der Fall war, erfolgt diese Art der Übermittlung von Informationen von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft unbeschadet der Möglichkeit für Letztere, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der fraglichen Tochtergesellschaft auf dem Markt auszuüben. Die Bestätigung der Compagnie, dass die in der Finanzplanung und in den Finanzberichten ihrer Tochtergesellschaft enthaltenen Informationen an sie übermittelt worden seien, spricht vielmehr dafür, dass diese Muttergesellschaft voll und ganz in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der in Rede stehenden Tochtergesellschaft auf dem Markt auszuüben, indem sie deren Rentabilität kontrollierte und entsprechend den erzielten Resultaten die Zielrichtung ihrer strategischen Geschäftsentscheidungen festlegte. Diese Schlussfolgerung wird noch bestätigt durch den von Herrn A., Präsident des Flachglassektors im Saint-Gobain-Konzern, im Verwaltungsverfahren gegebenen Hinweis, dass dieser dem Geschäftsführer der Compagnie über die Aktivitäten des Geschäftszweigs „Automobilglas“ dieser Gruppe berichte.

238    Viertens ist das Vorbringen zurückzuweisen, wonach zum einen die Compagnie niemals an der Zuwiderhandlung teilgenommen und nicht einmal Kenntnis von ihr gehabt habe, da die Entscheidungen über Verkaufspreise, die Unterbreitung spezieller Angebote an die Automobilhersteller und die Rabattpolitik nur die Tochtergesellschaften beträfen, die zum Flachglassektor der Saint-Gobain-Gruppe gehörten, und zum anderen der Automobilglasmarkt einen besonderen Sektor unter den fünf Sparten der Saint-Gobain-Gruppe bilde, der überdies mit den anderen Bereichen des Flachglassektors nur entfernte Beziehungen habe.

239    Keines dieser Argumente ist nämlich geeignet, zu belegen, dass Saint-Gobain Glass France ihre Geschäftspolitik auf dem Markt selbständig bestimmte.

240    Zunächst ist festzustellen, dass, wie sich aus der ständigen Rechtsprechung ergibt, nicht ein zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft in Bezug auf die Zuwiderhandlung bestehendes Anstiftungsverhältnis und schon gar nicht eine Beteiligung Ersterer an dieser Zuwiderhandlung, sondern der Umstand, dass sie ein einziges Unternehmen bilden, der Kommission die Befugnis gibt, die Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an das Mutterunternehmen einer Unternehmensgruppe zu richten (Urteil vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 58; vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 16. November 2011, Groupe Gascogne/Kommission, T‑72/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 74). So können die organisatorischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verbindungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft einen Einfluss der Erstgenannten auf die Strategie der Zweitgenannten begründen und es somit rechtfertigen, sie als wirtschaftliche Einheit zu begreifen (Urteil vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 83).

241    Weiter ist die Tatsache, dass die von der angefochtenen Entscheidung betroffenen Aktivitäten von Saint-Gobain Glass France nur einen der vielen Märkte betreffen, auf denen die Saint-Gobain-Gruppe aktiv ist, im vorliegenden Fall unerheblich. Es ist nämlich nicht ungewöhnlich, dass Gruppen wie diejenige, an deren Spitze sich die Compagnie befindet, auf mehreren Märkten tätig sind und die Verantwortung für die zu diesen gehörenden Aktivitäten auf Tochtergesellschaften oder Gruppen von Tochtergesellschaften übertragen, ohne dass dies jedoch ein Hindernis dafür wäre, dass die Dachgesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer verschiedenen Tochtergesellschaften ausübt.

242    Folglich ist das Argument der Compagnie, wonach die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass die Informationen, die sie im Laufe der Untersuchung erhalten habe, nicht die Feststellung erlaubten, dass die Compagnie keinen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain Glass France ausübe, zurückzuweisen.

243    Der Rüge, dass der Beweisstandard, den die Kommission im vorliegenden Fall für die Widerlegung der Vermutung verlange, bedeute, dass die Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses in eine unwiderlegbare Vermutung umgewandelt werde, kann nicht gefolgt werden. In Übereinstimmung mit der oben in den Rn. 213 bis 215 angeführten Rechtsprechung wurde von der Compagnie nicht verlangt, einen Beweis für ihre Nichteinmischung in die Leitung ihrer Tochtergesellschaft zu erbringen, sondern nur, Beweise vorzulegen, die als Nachweis dafür ausreichen, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem fraglichen Markt eigenständig auftrat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 232 angeführt, Rn. 120). Der Umstand allein, dass eine Einheit in einem bestimmten Fall keine Beweismittel vorlegt, die geeignet sind, die Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen, bedeutet insoweit nicht, dass diese Vermutung keinesfalls widerlegt werden könnte (Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 65 und 66).

244    Nach alledem ist daher ebenfalls davon auszugehen, dass es sich bei dem Ansatz, dem die Kommission in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Elemente gefolgt ist, die die Compagnie vorgetragen hat, um die gegen sie sprechende Vermutung zu widerlegen, insgesamt betrachtet nicht um eine probatio diabolica handelt.

245    Hinsichtlich der verschiedenen Bezugnahmen der Compagnie auf bestimmte frühere Entscheidungen der Kommission, in denen diese den Muttergesellschaften das wettbewerbswidrige Verhalten der Tochtergesellschaften, an denen sie zu 100 %, beteiligt waren, nicht zugerechnet habe, genügt der Hinweis, dass die Entscheidungspraxis der Kommission für sich allein nicht als rechtlicher Rahmen für Geldbußen im Wettbewerbsrecht dient, da dieser nur in der Verordnung Nr. 1/2003, wie sie im Licht der Leitlinien angewandt wird, festgelegt ist, und dass die Kommission nicht an frühere eigene Beurteilungen gebunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 19. März 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, C‑510/06 P, Slg. 2009, I‑1843, Rn. 82, und Erste Group Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 118 angeführt, Rn. 123).

246    Ebenso ist es für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung unerheblich, dass in anderen Rechtssystemen andere Regeln über die Zurechnung von Zuwiderhandlungen im Wettbewerbsrecht Anwendung finden.

247    Nach alledem kann die Rüge eines Rechtsfehlers bei der Zurechnung des wettbewerbswidrigen Verhaltens von Saint-Gobain Glass France an die Compagnie nicht durchgreifen.

248    Da die Kommission zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Compagnie und Saint-Gobain Glass France ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG darstellen, ist im Übrigen das Argument der Compagnie als ins Leere gehend zurückzuweisen, nach dem im Wesentlichen die Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses, von der die Kommission in der angefochtenen Entscheidung Gebrauch gemacht hat und deren Rechtmäßigkeit der Gerichtshof im Grundsatz in seinem Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 181 angeführt, anerkannt hat, gegen den Grundsatz der individuellen Bestrafung verstößt. Ebenso kann die von der Compagnie erhobene Rüge einer Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der in Art. 48 der Grundrechtecharta und in Art. 6 der EMRK festgelegt ist, keinen Erfolg haben, selbst wenn man davon ausgeht, dass sie zulässig ist, obwohl sie erst im Stadium eines ergänzenden Schriftsatzes vorgelegt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 16. November 2011, Álvarez/Kommission, T‑78/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 31 und 41).

249    Schließlich ist unter Berücksichtigung der oben in Rn. 247 angeführten Schlussfolgerung die Rüge eines Ermessensmissbrauchs dadurch, dass die Zurechnung des wettbewerbswidrigen Verhaltens von Saint-Gobain an die Compagnie nur mit dem Wunsch der Kommission gerechtfertigt worden sei, gegen Saint-Gobain eine Geldbuße zu verhängen, die die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze von 10 % übersteigt, als unbegründet zurückzuweisen.

250    Daher ist der vorliegende Klagegrund nicht begründet und muss zurückgewiesen werden.

5.     Zum fünften Klagegrund: Verletzung des Verbots der Rückwirkung von Strafen und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes

251    Dieser Klagegrund stimmt im Wesentlichen mit einem der von der Compagnie in der Rechtssache T‑73/09 erhobenen Klagegründe überein. Sie sind daher zusammen zu prüfen.

a)     Vorbringen der Parteien

252    Saint-Gobain und die Compagnie tragen vor, die angefochtene Entscheidung beachte das in Art. 7 EMRK und Art. 49 der Grundrechtecharta verankerte Verbot der Rückwirkung von Strafen sowie den Grundsatz des Vertrauensschutzes insoweit nicht, als die Kommission die Leitlinien von 2006 anwende, obwohl diese nach dem Ende der Zuwiderhandlung erlassen worden seien. Diese rückwirkende Anwendung der Leitlinien habe zu einer erheblichen Anhebung der Höhe der Geldbußen geführt, die zur Zeit des Sachverhalts in Anwendung der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 [KS] (ABl. 1998, C 9, S. 3) (im Folgenden: Leitlinien von 1998) festgesetzt werden, vorhersehbar war.

253    Nach der Rechtsprechung stehe das Verbot der Rückwirkung von Strafen der rückwirkenden Anwendung einer neuen Auslegung einer Norm, die eine Zuwiderhandlung begründe, die sich erschwerend auf die Höhe der verhängten Geldbußen auswirke, entgegen, wenn diese Entwicklung in der Zeit, in der die Straftat begangen wurde, vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen sei und wenn sie nicht notwendig sei, um die Umsetzung der Wettbewerbspolitik der Union zu gewährleisten. Diese beiden Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt. Da zum einen die Höhe der seit der Anwendung der Leitlinien von 2006 verhängten Geldbußen in keinem Verhältnis zur Höhe der zuvor verhängten Geldbußen stehe, sei davon auszugehen, dass die sich aus der Anwendung dieser Leitlinien ergebende Entwicklung vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen sei. Dies sei vor allem auf die Bedeutung zurückzuführen, die dem Faktor Dauer der Zuwiderhandlung bei der Festsetzung der Geldbuße im Rahmen der Leitlinien von 2006 beigemessen werde, die deutlich mehr Gewicht habe als unter der Geltung der Leitlinien von 1998. Zum anderen sei das sehr hohe Niveau der Geldbußen, die die Kommission in Anwendung der Leitlinien von 2006 verhängt habe, für die Durchführung der Wettbewerbspolitik der Union nicht notwendig.

254    Nach Ansicht der Compagnie sind die Leitlinien von 2006, selbst wenn man davon ausgehen müsse, dass die Kommission im vorliegenden Fall die Verordnung Nr. 17 angewandt habe, mit einer Annahme strengerer Grundsätze als derjenigen, die die Kommission klar in den Leitlinien von 1998 festgelegt habe, vergleichbar. Die Leitlinien von 2006 seien deshalb nur auf Sachverhalte nach ihrer Veröffentlichung anwendbar.

255    Diese Schlussfolgerungen würden nicht durch das Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, in Frage gestellt, da sich der Gerichtshof in diesem Urteil darauf beschränkt habe, über die rückwirkende Anwendung der Leitlinien von 1998 zu entscheiden. Somit habe dieses Urteil die Anwendung von Leitlinien auf einen Sachverhalt betroffen, der sich zu einer Zeit ereignet habe, zu der solche Leitlinien noch nicht veröffentlicht gewesen seien. Somit sei im Gegensatz zu der Situation, die zum vorliegenden Rechtsstreit geführt habe, die in jener Rechtssache in Rede stehende Zuwiderhandlung zu einer Zeit begangen worden, in der große Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Berechnung der Geldbußen geherrscht habe und in der die betroffenen Unternehmen infolgedessen in dieser Hinsicht kein berechtigtes Vertrauen hätten entwickeln können. Im vorliegenden Fall hätten die Unternehmen, die Adressaten der angefochtenen Entscheidung gewesen seien, allen Grund gehabt, damit zu rechnen, dass ihr zukünftiges Verhalten unter Anwendung der Leitlinien von 1998 geahndet werde, und dies zumal der Gerichtshof den normativen Charakter dieser Leitlinien im Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, anerkannt habe.

256    Die Compagnie beruft sich außerdem auf mehrere Reden der für die Wettbewerbspolitik in der Union zuständigen Mitglieder der Europäischen Kommission vor 2006, aus denen sich ergeben habe, dass der Erlass neuer Leitlinien im Bereich der Festsetzung von Geldbußen im maßgeblichen Zeitraum nicht vorhersehbar gewesen sei.

257    Daraus folgt nach Ansicht von Saint-Gobain und der Compagnie, dass die Geldbuße auf der Grundlage der Leitlinien von 1998 hätte berechnet werden müssen.

258    Die Kommission weist darauf hin, dass die Rechtsgrundlage für Geldbußen, die bei Zuwiderhandlungen gegen die in Art. 81 EG aufgeführten Wettbewerbsregeln verhängt würden, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 sei, und dass die Leitlinien von 2006 lediglich die Methode präzisierten, mit der diese Geldbußen berechnet würden. So müsse die Berechnung der Geldbußen sowohl nach den Leitlinien von 1998 als auch nach den Leitlinien von 2006 nach der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlungen erfolgen, wie es Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 vorsehe. Da die Leitlinien von 2006 eine Methode widerspiegelten, die für die Anwendung einer unveränderten Rechtsvorschrift angepasst worden sei, ist die Kommission der Ansicht, dass die Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, auf den vorliegenden Fall übertragbar sei. Dies gelte umso mehr, als der Gerichtshof in diesem Urteil allgemeine Grundsätze in Bezug auf den Anwendungsbereich der Leitlinien für die Berechnung von Geldbußen aufgestellt habe.

259    Die Leitlinien von 2006 mäßen zwar dem Kriterium der Dauer mehr Gewicht bei, doch ist diese Entwicklung nach Ansicht der Kommission zu der Zeit, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, vorhersehbar gewesen, ebenso wie die Tatsache, dass für die Berechnung der Geldbuße in Zukunft anstatt eines Pauschalbetrags die betreffenden Umsätze berücksichtigt werden könnten. So habe der Gerichtshof schon vor dem Erlass der Leitlinien von 2006 eine gewisse Präferenz für die Berücksichtigung der betreffenden Umsätze bei der Festsetzung der Geldbuße gegenüber dem Pauschalbetrag zum Ausdruck gebracht. Im Übrigen sei der zusätzliche Betrag, der nunmehr zum Zweck der Abschreckung verhängt werde, entsprechend der Schwere der Zuwiderhandlung bereits in dem Pauschalbetrag enthalten gewesen, der zu der Zeit angewandt worden sei, als die Leitlinien von 1998 in Kraft gewesen seien. Schließlich trage die Compagnie ohne Grundlage vor, dass es zur Zeit des streitigen Sachverhalts vorhersehbar gewesen sei, dass die Kommission neue Leitlinien, die sie eventuell erlassen könnte, nicht rückwirkend anwenden würde. Die Kommission weist auf den Grundsatz hin, nach dem es ihr freistehe, die Leitlinien entsprechend den Erfordernissen anzupassen, sofern solche Anpassungen den in der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten rechtlichen Rahmen einhielten.

260    Die Kommission betont darüber hinaus, dass zum einen die Leitlinien von 1998 in keiner Weise erklärten, dass sie auf Entscheidungen anwendbar seien, die in ihrem Anwendungszeitraum begangene Zuwiderhandlungen beträfen, und dass zum anderen die Leitlinien von 2006, von denen sie nicht ohne Begründung abweichen dürfe, darauf hinwiesen, dass sie für alle Fälle gälten, in denen die Mitteilung der Beschwerdepunkte nach dem 1. September 2006 verschickt worden sei. Im vorliegenden Fall sei die Mitteilung der Beschwerdepunkte am 18. April 2007 verschickt worden.

261    Es ergebe sich überdies aus der neueren Rechtsprechung, dass das Ziel der Leitlinien von 1998 Transparenz und Unparteilichkeit, nicht aber die Vorhersehbarkeit der Höhe der Geldbußen gewesen sei. Eine solche Vorhersehbarkeit sei auch nicht erwünscht, da sie die abschreckende Wirkung der Geldbußen beeinträchtigen könnte, indem sie die betreffenden Unternehmen in die Lage versetze, die eventuelle Sanktion, die bei einer Zuwiderhandlung gegen sie verhängt werden könnte, mit den Vorteilen, die sie aus einer solchen Zuwiderhandlung erlangen könnten, zu vergleichen.

262    Diese Schlussfolgerungen können nach Ansicht der Kommission nicht durch das Verbot der Rückwirkung von Strafen in Frage gestellt werden. Zwar könne der Erlass von Richtlinien, die die allgemeine Wettbewerbspolitik im Bereich Geldbußen ändern könnten, grundsätzlich in den Anwendungsbereich dieses Verbots fallen. Daraus ergebe sich, dass dieses Verbot der rückwirkenden Anwendung neuer Leitlinien entgegenstehe, soweit die in Letzteren enthaltenen Regeln zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen seien. Die Kommission macht jedoch geltend, allein der Umstand, dass die Leitlinien von 2006 zu höheren Geldbußen führen könnten als diejenigen, die auf der Grundlage der Leitlinien von 1998 verhängt worden seien, könne nicht zu einem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot führen, da zum einen ein Vergleich der Geldbußen, die in verschiedenen Rechtssachen verhängt worden seien, insoweit keine zuverlässige Methode sei, und zum anderen die Compagnie und Saint-Gobain nicht die genaue Höhe der Geldbuße, die nach den Leitlinien von 1998 gegen sie verhängt worden wäre, hätten voraussehen können.

263    Die Kommission bestreitet ferner die Erheblichkeit des Verweises der Compagnie auf die nach Beendigung der Zuwiderhandlung gehaltenen Reden der für die Wettbewerbspolitik der Union zuständigen Mitglieder der Europäischen Kommission. Abgesehen davon, dass das Ermessen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder durch solche Reden nicht beschränkt werden könne, seien solche Reden in keinem Fall geeignet, zu beweisen, dass die Anpassung der Leitlinien von 1998 zum Zeitpunkt, als die Zuwiderhandlung begangen worden sei, vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen sei.

b)     Würdigung durch das Gericht

264    Mit dem vorliegenden Klagegrund werfen Saint-Gobain und die Compagnie der Kommission im Wesentlichen vor, die Grundsätze des Vertrauensschutzes und des Verbots der Rückwirkung von Strafen verletzt zu haben, indem sie im vorliegenden Fall die Leitlinien von 2006 angewandt habe, obwohl im Zuwiderhandlungszeitraum die Leitlinien von 1998 anwendbar gewesen seien. Die Anwendung der Leitlinien von 2006 habe – hauptsächlich wegen der Multiplikation des Wertes der betreffenden verkauften Waren mit der Dauer der Zuwiderhandlung – zu einer signifikanten Erhöhung der Geldbuße im Vergleich zu derjenigen, die sich aus der Anwendung der Leitlinien von 1998 ergeben hätte, geführt.

265    In diesem Zusammenhang stellt das Gericht zunächst fest, dass das Argument, dass die Erhöhung der Geldbußen, zu der die Anwendung der Leitlinien von 2006 führte, offensichtlich außer Verhältnis zu dem von der Wettbewerbspolitik der Union verfolgten Ziel stehe, im Wesentlichen mit den Argumenten zusammentrifft, die mit dem zweiten Teil des sechsten Klagegrundes in der Rechtssache T‑56/09 vorgetragen wurden. Es wird daher in den nachstehenden Rn. 353 bis 391 betrachtet.

266    Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Geldbußen, die die Kommission im vorliegenden Fall verhängt hat, in Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 geregelt sind, der Art. 15 der Verordnung Nr. 17 entspricht, die im Zuwiderhandlungszeitraum in Kraft war. Gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 ist bei der Festsetzung der Geldbuße, die gegen Unternehmen zu verhängen ist, die Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln begangen haben, sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen. Für die Festsetzung der Höhe der Geldbuße wandte die Kommission die Leitlinien von 2006 an, die vor dem Versenden der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die Klägerin am 18. April 2007 veröffentlicht wurden.

267    Nach ständiger Rechtsprechung stellt das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften, das in Art. 7 EMRK und nunmehr in Art. 49 Abs. 1 der Grundrechtecharta verankert ist, einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der bei der Festsetzung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln zu beachten ist. Dieses Verbot besagt, dass die verhängten Sanktionen denen entsprechen müssen, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung vorgesehen waren (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 202; Urteile des Gerichts LR AF 1998/Kommission, oben in Rn. 120 angeführt, Rn. 218 bis 221, und vom 9. Juli 2003, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, T‑224/00, Slg. 2003, II‑2597, Rn. 39).

268    So ist es nach Art. 7 Abs. 1 EMRK, der dahin auszulegen ist, dass er einen effektiven Schutz vor willkürlichen Strafverfolgungen, Verurteilungen und Sanktionen gewährleistet (vgl. EGMR, Urteil S. W. gegen Vereinigtes Königreich vom 22. November 1995, Serie A Nr. 335‑B, § 35), geboten, zu prüfen, ob es zu der Zeit, zu der ein Angeklagter die Handlung begangen hat, die zur Strafverfolgung und zur Verurteilung geführt hat, eine gesetzliche Bestimmung gab, die die Tat unter Strafe stellte, und dass die verhängte Strafe die in dieser Bestimmung festgelegten Grenzen nicht übersteigt (vgl. EGMR, Urteile Coëme u. a. gegen Belgien vom 22. Juni 2000, Recueil des arrêts et décisions 2000‑VII, § 145; Achour gegen Frankreich vom 29. März 2006, Recueil des arrêts et décisions 2006‑IV, § 43, und Gurguchiani gegen Spanien vom 15. Dezember 2009, Nr. 16012/06, § 30).

269    Im Übrigen können die Leitlinien Rechtswirkungen entfalten. Diese Rechtswirkungen ergeben sich nicht daraus, dass die Leitlinien selbst Normcharakter hätten, sondern daraus, dass sie von der Kommission erlassen und veröffentlicht worden sind. Mit diesem Erlass und dieser Veröffentlichung hat die Kommission die Ausübung ihres Ermessens beschränkt, und sie kann von den Leitlinien nicht mehr abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls als Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit geahndet würde (vgl. in diesem Sinne Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 209 bis 212).

270    Die Leitlinien als Instrument einer Politik auf dem Gebiet des Wettbewerbs fallen folglich in den Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbots, ebenso wie die neue Auslegung einer Norm, die eine Zuwiderhandlung begründet, wie sich aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK ergibt (vgl. EGMR, Urteile S. W. und C. R. gegen Vereinigtes Königreich vom 22. November 1995, Serie A Nrn. 335‑B und 335‑C, §§ 34 bis 36 und §§ 32 bis 34; Cantoni gegen Frankreich vom 15. November 1996, Recueil des arrêts et décisions 1996‑V, §§ 29 bis 32, und Coëme u. a. gegen Belgien, oben in Rn. 268 angeführt, § 145). Nach dieser Rechtsprechung kann ein Verstoß gegen diese Bestimmung dann vorliegen, wenn es sich um eine richterliche Auslegung handelt, deren Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zu der fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, nicht hinreichend vorhersehbar war.

271    Jedoch hängt die Bedeutung des Begriffs der Vorhersehbarkeit in hohem Maß ab vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie geregelten Bereich sowie von der Zahl und der Eigenschaft ihrer Adressaten. So ist es mit der Vorhersehbarkeit eines Gesetzes nicht unvereinbar, dass sich die betroffene Person, um unter den Umständen des konkreten Falls angemessen abschätzen zu können, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können, dazu veranlasst sieht, fachkundigen Rat einzuholen. Das gilt insbesondere für berufsmäßig tätige Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen, und von denen daher erwartet werden kann, dass sie die Risiken ihrer Tätigkeit besonders sorgfältig beurteilen (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 215 bis 223; Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Archer Daniels Midland/Kommission, T‑59/02, Slg. 2006, II‑3627, Rn. 44; vgl. EGMR, Urteile Cantoni gegen Frankreich, oben in Rn. 270 angeführt, § 35, und Sud Fondi Srl u. a. gegen Italien vom 20. Januar 2009, Nr. 75909/01, § 109).

272    Überdies können die in Art. 7 Abs. 1 EMRK vorgesehenen Garantien nicht dahin verstanden werden, dass sie die allmähliche Präzisierung der Strafbarkeitsregelung, insbesondere im Hinblick auf eine Anpassung an sich verändernde Umstände, verbieten, vorausgesetzt, das Ergebnis dieser Entwicklung steht mit dem Kern der Straftat im Einklang und war vernünftigerweise vorherzusehen (vgl. EGMR, Urteil Jorgic gegen Deutschland vom 12. Juli 2007, Recueil des arrêts et décisions 2007‑III, § 101, und die dort angeführte Rechtsprechung).

273    In Anbetracht dieser Rechtsprechungshinweise ist somit im Rahmen der Kontrolle der Beachtung des Rückwirkungsverbots zu prüfen, ob die Änderungen, die bei der Berechnungsweise der Geldbuße im Anschluss an den Erlass der Leitlinien von 2006 eingetreten sind, zum Zeitpunkt der Begehung der betreffenden Zuwiderhandlungen hinreichend vorhersehbar waren (vgl. in diesem Sinne Urteil Dansk Rørindustri u.. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 224).

274    Insoweit ist zu bemerken, dass der Hauptgrund für den Erlass der Leitlinien von 2006 war, auf der Grundlage der Lehren aus der vorausgehenden Praxis in erster Linie die Politik der Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 81 EG und 82 EG zu ändern, um eine hinreichende Abschreckungswirkung für die auf dieser Grundlage verhängten Geldbußen sicherzustellen. Dieses Ziel kam insbesondere durch drei Hauptneuerungen zum Ausdruck, nämlich erstens durch die Bezugnahme auf den Wert der verkauften Waren, die mit dem Verstoß in Zusammenhang stehen, als Basis für die Festsetzung der Geldbußen anstelle eines Tarifsystems, zweitens die Einfügung eines Zusatzbetrags in den Grundbetrag der Geldbuße, um die Unternehmen davon abzuschrecken, an schwerwiegendsten Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht teilzunehmen, und drittens dadurch, dass der Dauer der Zuwiderhandlung bei der Berechnung der Geldbuße ein größeres Gewicht eingeräumt wird.

275    Hinsichtlich dieses letzten Punkts ist die Kommission der Ansicht, dass es unter Berücksichtigung der Auswirkungen, die die Dauer einer Zuwiderhandlung zwangsläufig auf deren mögliche Folgen auf dem Markt hat, wichtig ist, dass die Geldbuße auch die Anzahl der Jahre widerspiegelt, in denen das Unternehmen an der Zuwiderhandlung teilgenommen hat. Die Multiplikation des Wertes der Verkäufe, die mit dem Verstoß in Zusammenhang stehen, mit der Dauer der Teilnahme an der Zuwiderhandlung trägt somit dazu bei, eine Geldbuße festzusetzen, die nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung dieser Zuwiderhandlung widerspiegelt, sondern auch das jeweilige Gewicht jedes beteiligten Unternehmens.

276    Aus der ständigen Rechtsprechung ergibt sich, und dies bereits zu dem Zeitpunkt, als das streitige Kartell begonnen hat, dass die Kommission dadurch, dass sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in bestimmter Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert ist, dieses Niveau innerhalb der in der Verordnung Nr. 17 und der Verordnung Nr. 1/2003 gezogenen Grenzen, selbst in erheblichem Umfang, anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung der Wettbewerbspolitik der Union sicherzustellen. Die effiziente Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union verlangt somit, dass die Kommission die Höhe der Geldbußen jederzeit den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Musique Diffusion française u. a./Kommission, oben in Rn. 77 angeführt, Rn. 109, vom 2. Oktober 2003, Aristrain/Kommission, oben in Rn. 135 angeführt, Rn. 81, und Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 227). Dieser Spielraum ist u. a. durch den Umstand gerechtfertigt, dass, wäre die Höhe der Geldbuße das Ergebnis einer Berechnung nach einer bloßen einfachen mathematischen Formel, die Unternehmen vorhersehen könnten, welche Sanktion in Betracht kommt, und diese mit den Vorteilen vergleichen könnten, die sie aus der Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts ziehen würden (Urteil BPB/Kommission, oben in Rn. 150 angeführt, Rn. 336).

277    Daraus folgt, dass die von einem Verwaltungsverfahren, das zur Verhängung einer Geldbuße führen kann, betroffenen Unternehmen nicht darauf vertrauen können, dass die Kommission nicht die Höhe der früher angewandten Geldbußen überschreitet oder sie nach einer bestimmten Methode berechnet (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 228). Dies gilt auch, wenn sich die Anhebung des Niveaus der Geldbußen daraus ergibt, dass im konkreten Fall Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung wie die Leitlinien von 2006 angewandt werden (vgl. entsprechend Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 229 und 230, und vom 19. März 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, oben in Rn. 245 angeführt, Rn. 59).

278    Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen der Compagnie in Frage gestellt werden, nach dem die „Compliance-Politik im Wettbewerbsrecht … eine Investition dar[stellt], deren Kalibrierung sich nach der erwarteten Höhe der Sanktionen richtet“, was nach Ansicht der Compagnie das Gericht ermutigen sollte, im Rahmen der Prüfung des vorliegenden Klagegrundes die besondere Anstrengung zu berücksichtigen, die sie auf sich nehmen müsse, um die Regeln, die sich aus dem Wettbewerbsrecht ergäben, einzuhalten. Ein solches Argument ist zurückzuweisen, da die Regeln der Union im Bereich des Wettbewerbs nicht abdingbar sind und da sich ein Unternehmen somit nicht erfolgreich auf die Kosten berufen kann, die ihm aus der Einhaltung dieser Regeln entstehen.

279    Entgegen der Ansicht der Compagnie ist es auch unerheblich, dass der Anstieg der durchschnittlichen Höhe der Geldbußen, der sich aus der Anwendung der Leitlinien von 2006 ergibt, auf eine Periode folgt, in der andere allgemeingültige Verhaltensregeln anwendbar waren.

280    Erstens kann dieser Anstieg als solcher nicht als nach den Grundsätzen des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes rechtswidrig angesehen werden, da er innerhalb des gesetzlichen Rahmens von Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1/2003 in der Auslegung durch den Unionsrichter bleibt (vgl. entsprechend Urteile des Gerichts vom 2. Februar 2012, EI du Pont de Nemours u. a./Kommission, T‑76/08, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Dow Chemical/Kommission, T‑77/08, Rn. 141 und die dort angeführte Rechtsprechung). So wird gemäß Ziff. 32 der Leitlinien von 2006 die neue Berechnungsmethode, die diese vorsehen, unbeschadet der Regelung in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 angewandt, nach der die verhängten Geldbußen auf keinen Fall die Obergrenze von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens oder der beteiligten Unternehmensvereinigung übersteigen darf. Außerdem sehen die Leitlinien von 2006 vor, dass die Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der in Rede stehenden Zuwiderhandlung berechnet wird und spiegeln somit die Regel in Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wider.

281    Zweitens können unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 276 und 277 angeführten Grundsätze und entgegen dem Vorbringen der Compagnie weder der Umstand, dass die Anwendung der Leitlinien von 1998 im Januar 2003 auf den gesamten EWR ausgedehnt wurde, noch die Reden der für die Wettbewerbspolitik zuständigen Mitglieder der Kommission in den Jahren 2003 und 2005 für die Wirtschaftsbeteiligten einen Vertrauensschutz dahin gehend schaffen, dass diese Leitlinien in der Zukunft nicht geändert würden.

282    Schließlich ist drittens unstreitig, dass die Kommission im vorliegenden Fall die Verhaltensregel in Ziff. 38 der Leitlinien von 2006 angewandt hat, nach der diese Leitlinien in sämtlichen Verfahren Anwendung finden, in denen nach dem 1. September 2006 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte ergangen ist. Somit kann dem Vorbringen der Compagnie, sie habe ein geschütztes Vertrauen in die Tatsache gehabt, dass die Kommission die Anwendung der in den Leitlinien von 2006 vorgesehenen Berechnungsmethode in der vorliegenden Rechtssache ausschließen würde, nicht gefolgt werden.

283    Aus den oben in den Rn. 274 bis 282 angestellten Erwägungen ergibt sich also, dass zu der Zeit, als die Zuwiderhandlungen begangen wurden, die Anhebung des durchschnittlichen Niveaus der Geldbußen, die gegen Unternehmen wegen Verstoßes gegen Art. 81 EG nach dem Erlass der Leitlinien von 2006 verhängt wurden, hinreichend voraussehbar war für informierte Wirtschaftsbeteiligte wie Saint-Gobain und die Compagnie. Somit kann ihnen nicht gefolgt werden, wenn sie der Kommission vorwerfen, im vorliegenden Fall die Leitlinien von 2006 angewandt zu haben und so das Rückwirkungsverbot und den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt zu haben, da dadurch eine höhere Geldbuße verhängt worden sei als diejenige, die sich aus den Leitlinien von 1998 ergeben hätte. Aus denselben Gründen musste die Kommission in den Leitlinien von 2006 nicht näher darlegen, dass die Anhebung des Geldbußenniveaus erforderlich war, um die Durchführung der Wettbewerbspolitik der Union sicherzustellen (vgl. entsprechend Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, Rn. 128).

284    Der fünfte Klagegrund ist somit als unbegründet zurückzuweisen.

6.     Zum sechsten Klagegrund: übermäßige Höhe der Geldbuße

285    Der sechste, der siebte und der achte Klagegrund der Klageschrift von Saint-Gobain sind als drei Teile desselben Klagegrundes zu verstehen, mit dem die übermäßige Höhe der Geldbuße gerügt wird. Zunächst ist die Rüge zu prüfen, die auf eine fehlerhafte Anwendung von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 hinsichtlich der Berücksichtigung der Wiederholungstäterschaft als erschwerender Umstand sowie auf einen Begründungsmangel gestützt wird. Dann werden die Rügen geprüft, mit denen die Unverhältnismäßigkeit der Geldbuße und der Umstand geltend gemacht werden, dass die Kommission das Nichtbestreiten des Sachverhalts durch Saint-Gobain unzureichend berücksichtigt habe.

a)     Zum ersten Teil: fehlerhafte Anwendung von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 hinsichtlich der Berücksichtigung der Wiederholungstäterschaft als erschwerender Umstand, Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Begründungsmangel

286    Dieser erste Teil stimmt im Wesentlichen mit einem der von der Compagnie im Rahmen der Rechtssache T‑73/09 geltend gemachten Klagegründe überein. Sie sind daher zusammen zu prüfen.

 Vorbringen der Parteien

287    Saint-Gobain und die Compagnie tragen vor, die Kommission habe die Regeln über die Wiederholungstäterschaft in Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 fehlerhaft angewendet, indem sie im Rahmen der Untersuchung der erschwerenden Umstände im gegebenen Fall die Entscheidung 84/388/EWG der Kommission vom 23. Juli 1984 betreffend ein Verfahren nach Artikel [81 EG] (IV/30.988 – Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Flachglassektor in den Benelux-Ländern) (ABl. L 212, S. 13) (im Folgenden: Flachglasentscheidung [Benelux]) und die Entscheidung 89/93/EWG der Kommission vom 7. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel [81 EG] und [82 EG] (IV/31.906 – Flachglas) (ABl. 1989, L 33, S. 44) (im Folgenden: Flachglasentscheidung [Italien]) berücksichtigt habe.

288    Zunächst macht die Compagnie geltend, die Anwendung der Leitlinien von 2006 in diesem Rahmen verstoße gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots, da diese Leitlinien zur Zeit des Sachverhalts der Rechtssache weder erlassen noch veröffentlicht gewesen seien.

289    Weiter stünden die für die Zurechenbarkeit von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln der Union an Unternehmen geltenden Grundsätze der Berücksichtigung dieser Entscheidungen bei der Berechnung der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße entgegen. Keine dieser Entscheidungen sei an Saint-Gobain gerichtet gewesen, und diese habe zudem keine Weisungsbefugnis gegenüber Unternehmen, die Adressaten dieser Entscheidungen seien. Selbst wenn – zu Unrecht – davon auszugehen wäre, dass die Saint-Gobain-Gruppe ein einziges Unternehmen bilde, habe die Kommission einen Fehler begangen, indem sie das gesamte Verhalten einer Unternehmensgruppe Gesellschaften zugerechnet habe, die sich nicht an der Spitze der Gruppe befänden. Diese Schlussfolgerung gelte erst recht für die Flachglasentscheidung (Italien), denn die einzige Gesellschaft, an die die Entscheidung gerichtet gewesen sei, sei Fabbrica Pisana gewesen, unter Ausschluss der Compagnie. Die Berücksichtigung dieser Entscheidung missachte auch die Verteidigungsrechte der Compagnie, da Letztere, an die die Entscheidung nicht gerichtet gewesen sei, weder in der Lage gewesen sei, zu dem ihrer Tochtergesellschaft zur Last gelegten Verhalten noch zu ihrer eigenen Verantwortung vor Erlass dieser Entscheidung Stellung zu nehmen. Außerdem zeige der Umstand, dass diese Entscheidung nur an Fabbrica Pisana gerichtet gewesen sei, dass die Compagnie als Muttergesellschaft der Fabbrica Pisana keinen bestimmenden Einfluss auf deren Geschäftspolitik ausgeübt habe.

290    Dieser Teil der angefochtenen Entscheidung sei darüber hinaus mit einem Begründungsmangel behaftet, da die Kommission die beiden in Rede stehenden Entscheidungen als erschwerende Umstände für die von Saint-Gobain begangene Zuwiderhandlung berücksichtigt habe, ohne Gründe dafür darzulegen, die rechtfertigen könnten, dass Letzterer das Verhalten der Schwestergesellschaften sowie das der Compagnie zugerechnet werde.

291    Saint-Gobain und die Compagnie sind außerdem der Ansicht, dass die Kommission zu Unrecht die Flachglasentscheidung (Benelux) für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft berücksichtigt habe, obwohl diese 1984 erlassen worden sei. Der Zeitraum von vierzehn Jahren, der zwischen 1984 und dem Beginn der Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall liege, sei in diesem Zusammenhang in der Tat zu lang.

292    Selbst wenn die Flachglasentscheidung (Benelux) für die Wiederholungstäterschaft berücksichtigt werden könnte, ist nach Ansicht der Compagnie eine Erhöhung von 60 % der Geldbuße, die gegen sie gesamtschuldnerisch mit Saint-Gobain verhängt worden sei, in jedem Fall unverhältnismäßig, und zwar nicht nur angesichts des Zeitraums, den diese Entscheidung zurückliege, sondern auch wegen der Tatsache, dass es sich dabei um den einzigen Wiederholungsfall handele, der ihr entgegengehalten werden könne. Somit müsse das Gericht, um die Grundsätze, die in Art. 47 der Grundrechtecharta gewährleistet würden, zu beachten, im vorliegenden Fall zumindest seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausüben und die Sanktion so herabsetzen, dass diese auf eine angemessene Weise die Schwere der Zuwiderhandlung widerspiegele. Auch Saint-Gobain ersucht das Gericht, seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben und die Geldbuße auf einen angemessenen Betrag herabzusetzen.

293    Die Kommission widerspricht diesen Überlegungen. Sie weist darauf hin, dass es gerechtfertigt gewesen sei, im vorliegenden Fall die Regeln der Leitlinien von 2006 zur Wiederholungstäterschaft anzuwenden, und dass jedenfalls, selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sei, die Wiederholungstäterschaft bereits zu den erschwerenden Umständen gezählt habe, die die Kommission auf der Grundlage der Leitlinien von 1998 habe anwenden können.

294    Weiter sei zu berücksichtigen, dass Saint-Gobain und die Compagnie zum selben Unternehmen gehörten und dass die Compagnie jede ihrer Tochtergesellschaften tatsächlich kontrolliere.

295    Hinsichtlich ihrer Flachglasentscheidung (Italien) ist die Kommission der Ansicht, dass es für sie möglich gewesen sei, davon abzusehen, diese an die Compagnie zu richten, ohne dass dieses Absehen ein Indiz für die Autonomie der Tochtergesellschaft Fabbrica Pisana gegenüber der Compagnie sei. Im Gegenteil, die Compagnie habe nicht bestritten, dass sie zur Zeit des Sachverhalts, der zum Erlass dieser Entscheidung geführt habe, 100 % der Anteile von Fabbrica Pisana gehalten habe. Daraus folge, da das Gegenteil nicht bewiesen sei, dass Letztere ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt habe und dass die Kommission folglich, wenn sie gewollt hätte, gegen die Compagnie in dieser Sache eine Geldbuße hätte verhängen können. Somit hat die Kommission nach ihrer Ansicht zu Recht die fragliche Entscheidung berücksichtigt, um in der angefochtenen Entscheidung eine Wiederholungstäterschaft des aus Saint-Gobain und der Compagnie gebildeten Unternehmens festzustellen.

296    Hinsichtlich der Flachglasentscheidung (Benelux), die an die Compagnie gerichtet war, trägt die Kommission vor, dass gemäß dem Urteil des Gerichtshofs vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission (C‑3/06 P, Slg. 2007, I‑1331) die Feststellung und die Beurteilung der besonderen Merkmale eines Wiederholungsfalls Teil ihres Ermessens zur Festsetzung der Höhe der Geldbuße seien und dass sie folglich für eine solche Feststellung nicht an eine Verjährungsfrist gebunden sei. Somit verfüge die Kommission über einen gewissen Ermessensspielraum, um in jedem Einzelfall die Anhaltspunkte zu prüfen, die eine eventuelle Neigung der betroffenen Unternehmen bestätigten, die Wettbewerbsregeln zu verletzen, einschließlich des zwischen den betreffenden Zuwiderhandlungen verstrichenen Zeitraums. Selbst wenn die 1988 erlassene Flachglasentscheidung (Italien) nicht zu berücksichtigen wäre, sei dennoch festzustellen, dass die Tatsache, dass zwischen der Entscheidung, mit der die Zuwiderhandlung in der Flachglassache (Benelux) festgestellt worden sei, und der Wiederholung des wettbewerbswidrigen Verhaltens weniger als vierzehn Jahre vergangen seien, eine Neigung des aus der Compagnie und Saint-Gobain bestehenden Unternehmens zeige, das Wettbewerbsrecht nicht zu beachten. Dies gelte umso mehr, als alle festgestellten Zuwiderhandlungen den Flachglassektor der Saint-Gobain-Gruppe beträfen.

297    Die angefochtene Entscheidung sei zudem nicht mit einem Begründungsmangel behaftet, da die Kommission zum einen darin die Gründe aufzeige, aus denen ihres Erachtens Saint-Gobain und die Compagnie demselben Unternehmen angehörten, und da zum anderen Letztere Adressatin der Flachglasentscheidung (Benelux) gewesen sei und Adressatin der Flachglasentscheidung (Italien) hätte sein können. Unter diesen Umständen sei es Saint-Gobain möglich gewesen, zu verstehen, warum diese Wiederholungsfälle gegenüber dem Unternehmen, das sie mit der Compagnie bilde, berücksichtigt worden seien.

298    Was die Verteidigungsrechte im Rahmen der Flachglasentscheidung (Italien) betreffe, so seien diese voll und ganz beachtet worden, da die Compagnie in dem Verfahren, das zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt habe, die Möglichkeit gehabt habe, durch den Nachweis, dass Fabbrica Pisana ein gesondertes Unternehmen sei, die Vermutung zu widerlegen, die es der Kommission erlaubt habe, von einem Wiederholungsfall auszugehen.

299    Die Kommission ist schließlich der Ansicht, dass der von der Compagnie im Stadium der Erwiderung erhobene Vorwurf einer Nichtbeachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein neues Vorbringen darstelle und deshalb unzulässig sei. Jedenfalls sei die Kommission mit der Anwendung eines Erhöhungssatzes von 60 % im vorliegenden Fall deutlich unter der in den Leitlinien von 2006 vorgesehenen maximalen Erhöhung, nämlich einer Verdoppelung des Grundbetrags der Geldbuße, geblieben. Die dem Gericht eingeräumte Möglichkeit, die Verhältnismäßigkeit der Geldbuße zu überprüfen, zeige im Übrigen, dass die von ihm ausgeübte Kontrolle geeignet sei, die Anforderungen der Grundrechtecharta zu erfüllen.

 Würdigung des Gerichts

–       Zur Zulässigkeit des Vorbringens, das sich auf die Grundrechtecharta stützt und von der Compagnie in ihrem ergänzenden Schriftsatz dargelegt wird

300    Zunächst ist die Zulässigkeit des Arguments, das die Compagnie in ihrem ergänzenden Schriftsatz zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes vorträgt und das den in Art. 49 Abs. 3 der Grundrechtecharta genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen betrifft, zu prüfen.

301    Aus Art. 44 § 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung geht insoweit hervor, dass die Klageschrift zum einen den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss und dass zum anderen neue Angriffs‑ und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden können, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Allerdings ist ein Vorbringen, das eine Erweiterung eines bereits unmittelbar oder mittelbar in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels darstellt und das in engem Zusammenhang mit diesem steht, als zulässig anzusehen. Das Gleiche gilt für eine zur Stützung eines Klagegrundes vorgebrachte Rüge (Urteil des Gerichts vom 21. März 2002, Joynson/Kommission, T‑231/99, Slg. 2002, II‑2085, Rn. 156).

302    Im vorliegenden Fall macht die Compagnie mit ihren Verweisen auf den in Art. 49 Abs. 3 der Grundrechtecharta aufgeführten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen in ihrem ergänzenden Schriftsatz keinen gegenüber den zuvor genannten Klagegründen und Rügen neuen Klagegrund und keine neue Rüge geltend, sondern beruft sich lediglich auf eine Bestimmung der Grundrechtecharta, die die Rechtsgrundlage für eine der in ihrer Klageschrift erhobenen Rügen ergänzt.

303    Somit sind die Argumente, die die Compagnie in dieser Hinsicht in ihrem ergänzenden Schriftsatz vorträgt, zulässig.

–       Zur Begründetheit

304    Zunächst ist das Argument der Compagnie zurückzuweisen, dass die Kommission im vorliegenden Fall die Leitlinien von 2006 nicht habe anwenden dürfen, um den Grundbetrag der Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft zu erhöhen. Abgesehen davon, dass die Compagnie kein konkretes Argument zur Stützung dieser Behauptung vorträgt, ist darauf hinzuweisen, dass die Wiederholungstäterschaft bereits unter der Geltung der Leitlinien von 1998 zu den erschwerenden Umständen zählte, die zu einer Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße führen konnten, und dass folglich unter Berücksichtigung der Grundsätze, auf die oben in den Rn. 265 bis 273 hingewiesen wurde, die Anwendung der Leitlinien von 2006 im vorliegenden Fall insoweit weder unter dem Gesichtspunkt des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen noch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beanstandet werden kann.

305    Der Begriff des Wiederholungsfalls wird in einigen nationalen Rechtsordnungen so verstanden, dass jemand neue Zuwiderhandlungen begeht, nachdem ähnliche von ihm begangene Zuwiderhandlungen geahndet worden waren (Urteil vom 11. März 1999, Thyssen Stahl/Kommission, T‑141/94, Slg. 1999, II‑347, Rn. 617). So ist eines der in Ziff. 28 der Leitlinien von 2006 aufgeführten Beispiele für erschwerende Umstände der Fall der „Fortsetzung einer Zuwiderhandlung oder erneutes Begehen einer gleichartigen oder ähnlichen Zuwiderhandlung, nachdem die Kommission oder eine einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde festgestellt hat, dass das Unternehmen gegen Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] verstoßen hatte“.

306    Insoweit ergibt sich aus den oben in den Rn. 206 bis 247 angestellten Erwägungen, dass die Kommission rechtsfehlerfrei davon ausgegangen ist, dass die Compagnie und Saint-Gobain Glass France zur Zeit der Zuwiderhandlung, die mit der angefochtenen Entscheidung geahndet wurde, zu demselben Unternehmen gehörten.

307    Da Saint-Gobain und die Compagnie nicht vorbringen, dass keine Ähnlichkeit oder Identität zwischen der streitigen Zuwiderhandlung und den in den beiden früheren Entscheidungen geahndeten Zuwiderhandlungen bestehe, die von der Kommission hier für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft zugrunde gelegt wurden, ist zu prüfen, ob die Kommission gemäß Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Ziff. 28 der Leitlinien von 2006 zu Recht davon ausgegangen ist, dass diese verschiedenen Zuwiderhandlungen von demselben Unternehmen begangen wurden. Zu prüfen ist auch zum einen das Vorbringen von Saint-Gobain und der Compagnie, die Flachglasentscheidung (Benelux) habe im vorliegenden Fall in Anbetracht der Zeit, die zwischen dieser und dem Beginn der streitigen Zuwiderhandlung vergangen sei, nicht berücksichtigt werden können, und zum anderen der Vorwurf eines Begründungsmangels.

308    Was zunächst die Flachglasentscheidung (Italien) betrifft, die 1988 erlassen wurde, steht fest, dass diese u. a. an die Gesellschaft Fabbrica Pisana gerichtet war, die eine Tochtergesellschaft der Compagnie ist, dass aber weder Letztere noch Saint-Gobain deren Adressaten waren. Es wird auch nicht bestritten, dass Fabbrica Pisana zu der Zeit, als die Fachglasentscheidung (Italien) erlassen wurde, zu 100 % von der Compagnie gehalten wurde.

309    Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, hat das Gericht in seinem Urteil vom 30. September 2003, Michelin/Kommission (T‑203/01, Slg. 2003, II‑4071, Rn. 290 und die dort angeführte Rechtsprechung) entschieden, dass bei zwei Tochtergesellschaften, an deren Kapital dieselbe Muttergesellschaft zu 100 % oder nahezu 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist, vernünftigerweise der Schluss gezogen werden darf, dass solche Tochtergesellschaften ihr Marktverhalten nicht selbständig bestimmen und mit ihrer Muttergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit und somit ein Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG und Art. 82 EG bilden. Folglich kann die frühere Zuwiderhandlung, die von einer der Tochtergesellschaften der Gruppe begangen wurde, berücksichtigt werden, um den erschwerenden Umstand der Wiederholungstäterschaft in Bezug auf eine andere Tochtergesellschaft dieser Gruppe festzustellen.

310    Jedoch kann das wettbewerbswidrige Verhalten einer solchen Tochtergesellschaft, an deren Kapital ihre Muttergesellschaft zu 100 % oder nahezu 100 % beteiligt ist, Letzterer nur dann zugerechnet werden und die Kommission kann die Muttergesellschaft nur dann für die Bezahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße als gesamtschuldnerisch haftbar ansehen, wenn die Muttergesellschaft nicht die widerlegbare Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft gemäß den Grundsätzen, auf die oben in den Rn. 211, 213 und 214 hingewiesen wurde, entkräftet.

311    Somit kann sich die Kommission nicht mit der Feststellung begnügen, dass ein Unternehmen einen entscheidenden Einfluss auf die Geschäftspolitik eines anderen Unternehmens ausüben „konnte“, ohne dass zu prüfen wäre, ob dieser Einfluss tatsächlich ausgeübt wurde. Vielmehr obliegt es grundsätzlich der Kommission, einen solchen entscheidenden Einfluss anhand einer Reihe tatsächlicher Umstände zu beweisen, zu denen insbesondere auch das etwaige Weisungsrecht eines dieser Unternehmen gegenüber dem anderen gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 13. Juli 2011, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, T‑144/07, T‑147/07 bis T‑150/07 und T‑154/07, Slg. 2011, II‑5129, Rn. 311 und die dort angeführte Rechtsprechung).

312    Überdies ist darauf hinzuweisen, dass für die Anwendung und den Vollzug der Entscheidungen nach Art. 81 Abs. 1 EG eine Einheit mit Rechtspersönlichkeit bestimmt werden muss, die Adressat der Handlung ist (Urteil PVC II, oben in Rn. 203 angeführt, Rn. 978). So muss nach der Rechtsprechung, wenn eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Union festgestellt wurde, die natürliche oder juristische Person, die das Unternehmen leitete, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, ermittelt werden, damit sie für die Zuwiderhandlung einsteht (Urteile des Gerichtshofs vom 16. November 2000, Cascades/Kommission, C‑279/98 P, Slg. 2000, I‑9693, Rn. 78, und SCA Holding/Kommission, C‑297/98 P, Slg. 2000, I‑10101, Rn. 27; Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991, Enichem Anic/Kommission, T‑6/89, Slg. 1991, II‑1623, Rn. 236). Somit muss die Kommission, wenn sie eine Entscheidung nach Art. 81 Abs. 1 EG erlässt, die Person oder die Personen – natürliche oder juristische – namhaft machen, die für das Verhalten des fraglichen Unternehmens verantwortlich gemacht werden kann oder können und gegen die deswegen Sanktionen verhängt werden können; gegen diese Person oder Personen ist die Entscheidung zu richten (vgl. Urteil vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 232 angeführt, Rn. 250 und 251 und die dort angeführte Rechtsprechung).

313    Im Übrigen hat das Gericht in seinem Urteil vom 2. Oktober 2003, Aristrain/Kommission, oben in Rn. 135 angeführt (Rn. 99), entschieden, dass die bloße Tatsache, dass das Gesellschaftskapital von zwei eigenständigen Handelsgesellschaften derselben Person oder Familie gehört, nicht als Nachweis dafür ausreicht, dass diese beiden Gesellschaften eine wirtschaftliche Einheit bilden, die nach dem Wettbewerbsrecht der Union zur Folge hat, dass die Handlungen einer von ihnen der anderen zugerechnet werden können und dass die eine zur Zahlung einer Geldbuße für die andere verpflichtet werden kann.

314    Folglich ist nicht hinnehmbar, dass die Kommission im Rahmen der Feststellung des erschwerenden Umstandes der Wiederholungstäterschaft in Bezug auf Saint-Gobain und die Compagnie die Auffassung vertritt, dass diese für eine frühere Zuwiderhandlung zur Verantwortung gezogen werden können, für die sie nicht durch eine Entscheidung der Kommission mit einer Sanktion belegt wurden und im Rahmen von deren Erstellung sie nicht Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte waren, so dass ihnen keine Gelegenheit gegeben wurde, ihren Standpunkt vorzutragen, um das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen ihnen und dem einen oder anderen Unternehmen, das Adressat der früheren Entscheidung war, in Abrede zu stellen.

315    Somit ist im Hinblick auf die oben in Rn. 308 getroffene Feststellung zu entscheiden, dass die Flachglasentscheidung (Italien) von der Kommission nicht berücksichtigt werden konnte, um im vorliegenden Fall eine Wiederholungstäterschaft in Bezug auf Saint-Gobain und die Compagnie festzustellen.

316    Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt werden, wonach die Muttergesellschaft die Möglichkeit gehabt habe, in dem Verfahren, das zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt habe, das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen ihr und den Unternehmen, gegen die in der Flachglasentscheidung (Italien) Sanktionen verhängt worden seien, zu bestreiten.

317    Es ist insoweit auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, nach der zum einen der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ausschließt, dass eine Entscheidung als rechtmäßig angesehen werden kann, mit der die Kommission gegen ein Unternehmen eine Geldbuße im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängt, ohne ihm zuvor die ihm zur Last gelegten Beschwerdepunkte mitgeteilt zu haben, und zum anderen die Mitteilung der Beschwerdepunkte wegen ihrer Bedeutung eindeutig angeben muss, gegen welche juristische Person Geldbußen festgesetzt werden könnten, und an diese Person gerichtet sein muss (vgl. Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 318 und die dort angeführte Rechtsprechung).

318     Es ist daher nicht hinnehmbar, dass die Kommission im Rahmen der Feststellung des erschwerenden Umstandes der Wiederholungstäterschaft die Auffassung vertritt, dass ein Unternehmen für eine frühere Zuwiderhandlung zur Verantwortung gezogen werden müsse, für die es von ihr nicht durch eine Entscheidung mit einer Sanktion belegt wurde und im Rahmen von deren Erstellung es nicht Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte war, so dass einem solchen Unternehmen in dem Verfahren, das zum Erlass der die frühere Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung geführt hat, keine Gelegenheit gegeben wurde, seinen Standpunkt vorzutragen, um das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen ihm und dem einen oder anderen Unternehmen, das Adressat der früheren Entscheidung war, in Abrede zu stellen (Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 319).

319    Diese Lösung ist umso mehr gerechtfertigt, als die Kommission nach der Rechtsprechung für die Feststellung eines Wiederholungsfalls nicht an eine Verjährungsfrist gebunden ist und diese Feststellung somit auch viele Jahre nach der Feststellung einer Zuwiderhandlung zu einem Zeitpunkt getroffen werden kann, zu dem es dem betroffenen Unternehmen jedenfalls nicht möglich wäre, das Bestehen einer solchen wirtschaftlichen Einheit mit Erfolg zu bestreiten, insbesondere wenn die oben angeführte Vermutung eines bestimmenden Einflusses angewandt wird (Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 320).

320    Insoweit ist es zwar durchaus statthaft, anzunehmen, dass eine Muttergesellschaft von einer früheren Entscheidung der Kommission, die an ihre Tochtergesellschaft gerichtet war, deren Kapital sie fast vollständig hält, tatsächlich Kenntnis hat, doch kann eine solche Kenntnis nicht das Fehlen einer Feststellung in der früheren Entscheidung heilen, dass zwischen dieser Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit dergestalt bestehe, dass der Muttergesellschaft die Haftung für die frühere Zuwiderhandlung auferlegt werden könnte und die gegen sie festgesetzten Geldbußen wegen eines Wiederholungsfalls erhöht werden könnten (Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 322). Ein – möglicherweise langer – Zeitraum nach dem Erlass der Entscheidung, in der die frühere Zuwiderhandlung festgestellt wurde, macht es für die Muttergesellschaft schwierig, wenn nicht unmöglich, nicht nur das Bestehen einer solchen wirtschaftlichen Einheit zu bestreiten, sondern gegebenenfalls auch die Elemente, die die Zuwiderhandlung selbst begründen.

321    Den vorstehenden Erwägungen ist zu entnehmen, dass, ohne dass es notwendig wäre, insoweit über die Rüge eines Begründungsmangels der angefochtenen Entscheidung zu entscheiden, diese rechtsfehlerhaft ist, soweit die Kommission darin einen erschwerenden Umstand einer Wiederholungstäterschaft in Bezug auf Saint-Gobain und die Compagnie aufgrund der Flachglasentscheidung (Italien) bejaht hat.

322    Im Gegensatz zur Flachglasentscheidung (Italien) wurde die Flachglasentscheidung (Benelux), die 1984 erlassen wurde, nicht nur u. a. an eine Tochtergesellschaft der Saint-Gobain-Gruppe, im gegebenen Fall die SA Glaceries de Saint-Roch, sondern auch an die Compagnie gerichtet.

323     Aus der oben in den Rn. 206 bis 247 dargelegten Argumentation ergibt sich nun, dass die Kommission keinen Irrtum begangen hat, als sie davon ausgegangen ist, dass die Compagnie und Saint-Gobain Glass France zur Zeit der Zuwiderhandlung zu demselben Unternehmen gehörten.

324    Die Kommission konnte somit davon ausgehen, dass gegen das Unternehmen, das aus Saint-Gobain und der Compagnie gebildet wurde und auf das sich die angefochtene Entscheidung bezieht, bereits im Rahmen der Flachglasentscheidung (Benelux) eine Sanktion wegen einer gleichartigen oder ähnlichen Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG verhängt worden war. Insoweit ist es unerheblich, dass die Compagnie nicht unmittelbar an der Zuwiderhandlung, die in der Flachglasentscheidung (Benelux) geahndet wurde, beteiligt war. Da nämlich die wirtschaftliche Einheit das einzige maßgebliche Kriterium für die Definition des Unternehmens im Sinne der Wettbewerbsregeln der Union ist, genügt es, dass dieses in mehrere Zuwiderhandlungen involviert ist, um eine Wiederholungstäterschaft festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 6. März 2012, UPM-Kymmene/Kommission, T‑53/06, Rn. 129).

325    Saint-Gobain und die Compagnie wollen jedoch dem Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt, entnehmen, dass ein Zeitraum von mehr als zehn Jahren zwischen früheren Feststellungen von Zuwiderhandlungen und der Wiederholung des wettbewerbswidrigen Verhaltens durch das betroffene Unternehmen der Feststellung einer Wiederholungstäterschaft entgegenstehe. Die angefochtene Entscheidung verstoße in diesem Punkt gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

326    Es ist darauf hinzuweisen, dass sich für die Entscheidung, welche Punkte bei der Bestimmung der Höhe der Geldbuße zu berücksichtigen sind, das Ermessen der Kommission auch auf die Feststellung und die Beurteilung der besonderen Merkmale eines Wiederholungsfalls erstreckt und die Kommission für eine solche Feststellung nicht an eine Verjährungsfrist gebunden ist (Urteil vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 296 angeführt, Rn. 38; Urteile des Gerichts BPB/Kommission, oben in Rn. 150 angeführt, Rn. 383, und vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission, T‑161/05, Slg. 2009, II‑3555, Rn. 141).

327    Die Wiederholung von Zuwiderhandlungen ist somit ein wichtiger Gesichtspunkt, den die Kommission zu prüfen hat, da mit dessen Berücksichtigung der Zweck verfolgt wird, Unternehmen, die bereits eine Neigung zur Verletzung der Wettbewerbsregeln gezeigt haben, zur Änderung ihres Verhaltens zu veranlassen. Die Kommission kann daher in jedem Einzelfall die Anhaltspunkte berücksichtigen, die eine solche Neigung bestätigen, einschließlich z. B. der Zeitspanne zwischen den betreffenden Verstößen (Urteile vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 296 angeführt, Rn. 39), BPB/Kommission, oben in Rn. 150 angeführt, Rn. 383, und Hoechst/Kommission, oben in Rn. 326 angeführt, Rn. 142).

328    Wie der Gerichtshof ferner in seinem Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission (C‑413/08 P, Slg. 2010, I‑5361, Rn. 70) ausgeführt hat, verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Zeit, die zwischen der fraglichen Zuwiderhandlung und einem früheren Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln verstrichen ist, bei der Beurteilung der Neigung des Unternehmens zu Verstößen gegen diese Regeln berücksichtigt wird. Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der Handlungen der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts können das Gericht und gegebenenfalls der Gerichtshof daher aufgefordert sein, zu überprüfen, ob die Kommission diesen Grundsatz bei der Erhöhung der verhängten Geldbuße wegen wiederholter Zuwiderhandlung beachtet hat und insbesondere ob diese Erhöhung u. a. im Hinblick auf die Zeit, die zwischen der fraglichen Zuwiderhandlung und dem früheren Verstoß gegen Wettbewerbsregeln vergangen ist, angezeigt war.

329    Insoweit ist zu betonen, dass das Gericht im Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt (Rn. 354 und 355) zwar anerkannt hat, dass die Kommission eine Entscheidung berücksichtigen konnte, die fast achtzehn Jahre vor dem Beginn der in der betreffenden Rechtssache in Rede stehenden Zuwiderhandlung erlassen worden war, doch war dies in einem Kontext, in dem die Wiederholungstäterschaft auch auf der Grundlage einer weniger weit zurückliegenden Entscheidung hatte festgestellt werden können und in dem ein relativ kurzer Zeitraum, nämlich weniger als zehn Jahre, zwischen diesen beiden Zuwiderhandlungen lag. Vor dem Hintergrund dieser Umstände hat der Gerichtshof in seinem Rechtsmittelurteil den Rechtsmittelgrund zurückgewiesen, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit durch das Gericht gerügt wurde (Urteil vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 296 angeführt, Rn. 40).

330     Da im vorliegenden Fall die Flachglasentscheidung (Italien) zu Unrecht für die Feststellung einer Wiederholungstäterschaft von Saint-Gobain und der Compagnie berücksichtigt wurde (siehe oben, Rn. 308 bis 321), ist festzustellen, dass zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Flachglasentscheidung (Benelux) erlassen wurde, nämlich dem 23. Juli 1984, und demjenigen, zu dem die Zuwiderhandlung, die in der angefochtenen Entscheidung geahndet wird, begonnen hat, nämlich dem Monat März 1998, ein Zeitraum von ungefähr dreizehn Jahren und acht Monaten vergangen ist. Somit hat das Unternehmen, das durch Saint-Gobain und die Compagnie gebildet wird, keine Neigung zur Wiederholung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens gezeigt, die mit derjenigen, die der Danone-Gruppe in der Rechtssache, die in der vorstehenden Randnummer angeführt ist, zum Vorwurf gemacht wurde, genau vergleichbar ist.

331    Somit ist zu prüfen, ob die Tatsache, dass diese eine Entscheidung für die Feststellung einer Neigung von Saint-Gobain und der Compagnie, die Regeln des Wettbewerbsrechts nicht einzuhalten, berücksichtigt wird, zu einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz führt.

332    In der Flachglasentscheidung (Benelux) hat die Kommission Sanktionen u. a. gegen die Compagnie sowie gegen einige ihrer Tochtergesellschaften, die zum Flachglassektor der Saint-Gobain-Gruppe gehören, verhängt. Somit ist festzustellen, dass es sich um dieselbe Sparte handelt wie diejenige, zu der die Tochtergesellschaften der Saint-Gobain-Gruppe, die Adressaten der angefochtenen Entscheidung sind, gehören.

333    Überdies wies das Kartell, auf das die Flachglasentscheidung (Benelux) gerichtet war, sehr ähnliche Merkmale auf wie dasjenige, das in der angefochtenen Entscheidung geahndet wurde, wobei Gegenstand dieses Kartells der Austausch sensibler Preisinformationen, eine Verteilung der Kunden sowie das Streben nach einer Stabilität der Marktanteile der Teilnehmer war.

334    In Anbetracht dieser Umstände ist das Gericht der Ansicht, dass das Verstreichen eines Zeitraums von ungefähr dreizehn Jahren und acht Monaten zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Flachglasentscheidung (Benelux) erlassen wurde, und demjenigen, zu dem die in der angefochtenen Entscheidung geahndete Zuwiderhandlung begann, nicht unvereinbar damit ist, dass die Kommission – ohne gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstoßen – feststellen konnte, dass das Unternehmen, das die Klägerinnen bildeten, eine Neigung hatte, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen. Die Kommission hat somit keinen Irrtum begangen, als sie sich auf die Flachglasentscheidung (Benelux) gestützt hat, um den erschwerenden Umstand einer Wiederholungstäterschaft in Bezug auf Saint-Gobain und die Compagnie festzustellen.

335    Was schließlich die Rüge betrifft, es liege ein Begründungsmangel vor, da die angefochtene Entscheidung die Gründe, aus denen die Kommission Saint-Gobain die Flachglasentscheidung (Benelux) zugerechnet habe, nicht darlege, obwohl diese nicht an Saint-Gobain gerichtet worden sei, so kann ihr nicht gefolgt werden.

336    Die Compagnie war nämlich Adressatin der Flachglasentscheidung (Benelux). Die Kommission hat in der angefochtenen Entscheidung die Gründe dargelegt, aus denen sie der Ansicht war, dass die Compagnie und Saint-Gobain ein einziges Unternehmen bildeten, da es der Compagnie nicht gelungen sei, die Vermutung eines bestimmenden Einflusses auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain Glass France, an deren Kapital sie zu 100 % beteiligt gewesen sei, zu widerlegen (Ziff. 599 bis 622 der angefochtenen Entscheidung). Überdies ergibt sich u. a. aus den Ziff. 686 und 688 der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission dem aus Saint-Gobain und der Compagnie gebildeten Unternehmen seine Wiederholungstäterschaft vorgeworfen und dabei ausdrücklich auf die Flachglasentscheidungen (Italien) und (Benelux) Bezug genommen hat.

337    Auf der Grundlage dieser verschiedenen Elemente ist davon auszugehen, dass Saint-Gobain dadurch, dass sie von der angefochtenen Entscheidung Kenntnis nahm, verstehen konnte, dass die Kommission für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft die Tatsache berücksichtigt hatte, dass die Compagnie mit ihr ein einziges Unternehmen bildete und dass folglich das frühere Verhalten dieses Unternehmens und nicht nur das von Saint-Gobain allein berücksichtigt würde.

b)     Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

 Vorbringen der Parteien

338    In einem zweiten Teil wirft Saint-Gobain der Kommission vor, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen sowie die Regeln für die Berechnung von Geldbußen in Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 verletzt zu haben, indem sie gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 880 Mio. Euro verhängt habe. Zunächst trägt Saint-Gobain vor, dass die Verhältnismäßigkeit der gegen sie verhängten Geldbuße nicht nur anhand des Betrags dieser Geldbuße, der im verfügenden Teil der angefochtenen Entscheidung aufgeführt sei, zu beurteilen sei, sondern unter Bezugnahme auf den Gewinn vor Steuern, der erforderlich sei, um diese Geldbuße zu bezahlen, d. h. mehr als 1,3 Mrd. Euro.

339    Dieser Teil umfasst fünf Rügen.

340    Erstens ist Saint-Gobain der Ansicht, dass der Dauer der Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall zu viel Gewicht beigemessen worden sei, wegen der in Ziff. 24 der Leitlinien von 2006 genannten Multiplikationswirkung. Die Dauer habe somit bei der Berechnung der Geldbuße doppelt so viel Gewicht wie die Schwere.

341    Zweitens trägt Saint-Gobain vor, die Leitlinien von 2006 beschränkten dadurch, dass der Anteil des für die Berechnung von Geldbußen im Bereich von Zuwiderhandlungen auf horizontaler Ebene zu berücksichtigenden Umsatzes ihnen zufolge zwischen 16 und 30 % liegen müsse, unzulässigerweise den Wertungsspielraum der Kommission bei der Festsetzung einer Geldbuße entsprechend der tatsächlichen Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung. Im vorliegenden Fall hätte ein Prozentsatz unter 16 % zugrunde gelegt werden müssen, um die begrenzte wirtschaftliche Auswirkung auf dem Markt widerzuspiegeln, insbesondere in Anbetracht der außergewöhnlichen Verhandlungsmacht der Automobilhersteller. Ebenso begrenzten die Leitlinien von 2006 unzulässigerweise den Handlungsspielraum der Kommission, indem diese daran gehindert werde, einen Zusatzbetrag von weniger als 15 % des maßgeblichen Umsatzes zugrunde zu legen.

342    Drittens sei es nicht richtig, dass die Kommission den Betrag der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft erhöht habe, obwohl der Grundbetrag der Geldbuße bereits einen Abschreckungsfaktor enthalte. Die Leitlinien von 2006 sähen nämlich im Gegensatz zu den Leitlinien von 1998 vor, dass bei der Berechnung dieses Grundbetrags ein Zusatzbetrag anzuwenden sei. Auf dieser Grundlage habe die Kommission den Grundbetrag der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße um 60 % erhöht. Somit sei der Abschreckungszweck auf zwei verschiedenen Ebenen berücksichtigt worden, wobei diese Kumulierung bei Saint-Gobain zu einer Erhöhung der Geldbuße von mehr als [vertraulich] Mio. Euro geführt habe. Diese Kumulierung gehe über das für die Gewährleistung der Beachtung der Wettbewerbsregeln der Union Erforderliche hinaus.

343    Viertens trägt Saint-Gobain vor, die Kommission hätte bei der Festsetzung der Geldbuße noch zwei ergänzende Punkte berücksichtigen müssen. Erstens wirft sie der Kommission vor, die abschreckende Wirkung der in ihrer Entscheidung K(2007) 5791 endg. vom 28. November 2007 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/39.165 – Flachglas) (im Folgenden: Flachglasentscheidung, zusammengefasst im ABl. 2008, C 127, S. 9) gegen Saint-Gobain Glass France verhängten Geldbuße in Höhe von 133,9 Mio. Euro nicht berücksichtigt zu haben. Die angefochtene Entscheidung weiche in diesem Punkt ohne Begründung von der Argumentation der Kommission in ihrer Entscheidung K(2002) 5083 endg. vom 17. Dezember 2002 betreffend ein Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/E-2/37.667 – Graphitspezialerzeugnisse) (im Folgenden: Entscheidung Graphitspezialerzeugnisse) ab, in der die Kommission den Betrag der gegen ein Unternehmen verhängten Geldbuße, das Adressat dieser Entscheidung gewesen sei, um 33 % herabgesetzt und damit eine Geldbuße berücksichtigt habe, die gegen dasselbe Unternehmen ein Jahr und fünf Monate zuvor verhängt worden sei. Saint-Gobain trägt weiter vor, die Kommission hätte die außergewöhnliche Wirtschaftskrise berücksichtigen müssen, die den Automobilsektor zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung erlassen worden sei, betroffen und die tatsächlichen Auswirkungen der Geldbuße erheblich verschärft habe. Zu diesem letzten Punkt betont Saint-Gobain, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht darauf zurückzuführen gewesen seien, dass sie sich den Marktbedingungen nicht habe anpassen können, sondern vielmehr eine Krisensituation widerspiegelten, die zu dem Zeitpunkt, als die angefochtene Entscheidung erlassen worden sei, den ganzen Sektor betroffen habe.

344    Fünftens schließlich ergebe sich die Unverhältnismäßigkeit der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße daraus, dass diese die Höhe einer optimalen Geldbuße bei weitem überschreite; diese entspreche einem Betrag, der gleich hoch oder etwas höher sei als der unzulässige Vorteil, den die Mitglieder eines Kartells aus diesem erzielten.

345    Nach Ansicht der Kommission ist die gegen Saint-Gobain verhängte Geldbuße verhältnismäßig.

346    Zunächst einmal könne das Argument der fehlenden steuerlichen Abzugsfähigkeit der Geldbuße nicht durchgreifen. Diese fehlende Abzugsfähigkeit führe keinesfalls zu einer Erhöhung der Geldbuße. Vielmehr würde die eventuelle Möglichkeit, die Geldbuße von den steuerbaren Einkünften des betreffenden Unternehmens abzuziehen, diesem erlauben, unzulässigerweise einen großen Teil der gegen das Unternehmen verhängten Geldbuße zurückzubekommen.

347    Sodann sei es zulässig, bei der Berechnung der Geldbuße davon auszugehen, dass die Schwere einer Zuwiderhandlung insbesondere von ihrer Dauer abhänge. Im vorliegenden Fall habe die Kommission dadurch, dass sie drei Phasen der Zuwiderhandlung unterschieden habe, die Bedeutung der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße indirekt reduziert.

348    Was den Prozentsatz des zugrunde gelegten Umsatzes angeht, stellt die Kommission in Abrede, dass die Leitlinien von 2006 ihr keinen ausreichenden Wertungsspielraum ließen, um die Höhe der Geldbußen im Fall horizontaler Zuwiderhandlungen herabzusetzen. Diese Zuwiderhandlungen gehörten nämlich zu den schwerwiegendsten, wodurch gerechtfertigt sei, bei diesen für die Ermittlung sowohl des variablen Betrags als auch des Zusatzbetrags der Geldbuße einen hohen Prozentsatz des Umsatzes zugrunde zu legen. Jedenfalls ließen die Leitlinien der Kommission genügend Spielraum, um entsprechend der Schwere der Zuwiderhandlungen zu differenzieren. Die Kommission widerspricht überdies dem Argument der Verhandlungsmacht der Automobilhersteller, da nach ihrer Ansicht die ständige Rechtsprechung dahin geht, dass ein solcher Umstand nicht zwangsläufig zu einer Herabsetzung der Geldbuße führen müsse.

349    Dem Argument, dass der Zweck der Abschreckung zweimal berücksichtigt worden sei, zum einen beim Zusatzbetrag und zum anderen bei der Erhöhung der Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft, kann nach Ansicht der Kommission nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass der Unionsrichter dieses Argument in anderen Rechtssachen bereits zurückgewiesen habe, dürften der Zusatzbetrag und die Erhöhung wegen Wiederholungstäterschaft nicht durcheinander gebracht werden, da Ersterer eine allgemeine Erhöhung und dazu bestimmt sei, die Schwere horizontaler Absprachen widerzuspiegeln, während Letztere ein individueller Erhöhungsfaktor sei, um das frühere Verhalten eines Unternehmens zu berücksichtigen.

350    Die Kommission macht geltend, der gegen sie erhobene Vorwurf, die gegen Saint-Gobain Glass France in der Flachglasentscheidung verhängte Geldbuße nicht berücksichtigt zu haben, sei auch zurückzuweisen, da die Berücksichtigung eines solchen Umstandes in ihrem Ermessen liege.

351    Die Kommission trägt überdies vor, gemäß der Rechtsprechung sei sie nicht verpflichtet, die Geldbußen, die sie wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht verhänge, in Anbetracht eventueller finanzieller Schwierigkeiten des betroffenen Unternehmens herabzusetzen, da dies bedeuten würde, dass den Unternehmen, die den Marktbedingungen am wenigsten angepasst seien, ein Wettbewerbsvorteil verschafft würde.

352    Was schließlich das Argument der Überschreitung der Höhe einer optimalen Geldbuße betrifft, betont die Kommission, dass bereits entschieden worden sei, dass eine Begrenzung der Höhe der Geldbußen in Kartellsachen auf den bloßen Vorteil, den die Kartellteilnehmer erwarteten, dazu führen würde, dass diese Geldbußen ihre abschreckende Wirkung verlören, und dass überdies das eventuelle Fehlen eines Vorteils kein Hindernis dafür darstelle, Geldbußen zu verhängen.

 Würdigung durch das Gericht

353    Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteil des Gerichtshofs vom 5. Mai 1998, Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑180/96, Slg. 1998, I‑2265, Rn. 96, und Urteil des Gerichts vom 29. März 2012, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, T‑336/07, Rn. 428).

354    Im Rahmen der von der Kommission zur Ahndung der Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln eingeleiteten Verfahren bedeutet die Anwendung dieses Grundsatzes, dass die Geldbußen nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen – d. h. zur Beachtung dieser Regeln – stehen dürfen und die einem Unternehmen wegen einer Zuwiderhandlung im Bereich des Wettbewerbs auferlegte Geldbuße so zu bemessen ist, dass sie bei einer Gesamtwürdigung der Zuwiderhandlung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Schwere in angemessenem Verhältnis zu ihr steht (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 12. September 2007, Prym und Prym Consumer/Kommission, T‑30/05, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 223 und 224 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Kommission die Geldbuße verhältnismäßig nach den Faktoren festsetzen muss, die sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt hat, und dass sie diese Faktoren dabei schlüssig und objektiv gerechtfertigt bewerten muss (Urteile des Gerichts vom 27. September 2006, Jungbunzlauer/Kommission, T‑43/02, Slg. 2006, II‑3435, Rn. 226 bis 228, und vom 28. April 2010, Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, T‑446/05, Slg. 2010, II‑1255, Rn. 171).

355    Im Licht dieser Grundsätze sind die Rügen, die Saint-Gobain im Rahmen des zweiten Teils des Klagegrundes vorträgt, zu prüfen.

356    Zunächst ist das Vorbringen von Saint-Gobain, die Verhältnismäßigkeit der gegen sie verhängten Geldbuße dürfe nicht in Bezug auf den Betrag dieser Geldbuße, wie er im verfügenden Teil der angefochtenen Entscheidung aufgeführt ist, nämlich 880 Mio. Euro geprüft werden, sondern müsse in Bezug auf den Betrag des Gewinns vor Steuern, der erforderlich wäre, um eine solche Geldbuße zu bezahlen, nämlich nach Angaben von Saint-Gobain mehr als 1,3 Mrd. Euro, beurteilt werden.

357    Nach Ansicht des Gerichts ist der Umstand, dass Saint-Gobain nicht die Möglichkeit angeboten wurde, die gegen sie verhängte Geldbuße von den zu versteuernden Gewinnen abzuziehen, im Hinblick auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Geldbuße unerheblich. Die Kommission geht nämlich bei der Festsetzung einer Geldbuße zutreffend davon aus, dass diese aus dem versteuerten Gewinn zu leisten ist, denn wäre die Geldbuße aus dem zu versteuernden Gewinn zu leisten, müsste der Staat, in dem das Unternehmen zur Steuer veranlagt wird, einen Teil der Geldbuße tragen, und eine solche Folge würde der den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln zugrunde liegenden Logik widersprechen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 10. März 1992, Hoechst/Kommission, T‑10/89, Slg. 1992, II‑629, Rn. 369).

358    Die Entscheidungen der Kommission, durch die Unternehmen Geldbußen auferlegt werden, könnten sehr viel von ihrer Wirksamkeit einbüßen, wenn die betroffenen Unternehmen berechtigt wären, die ihnen auferlegten Geldbußen insgesamt oder teilweise von ihren steuerbaren Gewinnen in Abzug zu bringen, denn diese Möglichkeit hätte zur Folge, dass die Belastung mit dieser Geldbuße durch eine Verringerung der Steuerlast teilweise ausgeglichen würde (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juni 2009, X, C‑429/07, Slg. 2009, I‑4833, Rn. 39).

359    Somit ist in Bezug auf den in Art. 2 Buchst. b des verfügenden Teils der angefochtenen Entscheidung genannten Betrag von 880 Mio. Euro zu beurteilen, ob die von der Kommission gegen Saint-Gobain verhängte Geldbuße mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist.

360    Die erste Rüge betrifft die Bedeutung, die der Dauer der Zuwiderhandlung für die Berechnung der Geldbuße bei der Anwendung der in Nr. 24 der Leitlinien von 2006 festgelegten Multiplikatorwirkung beigemessen wird. Insoweit verfügt die Kommission nach ständiger Rechtsprechung zwar bei der Ausübung ihrer Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen in den in der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Grenzen über einen Wertungsspielraum (Urteil Erste Group Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 118 angeführt, Rn. 123), der jedoch eingeschränkt ist. Es kommt nämlich, wenn die Kommission Leitlinien erlässt, die unter Beachtung des Vertrags die Kriterien präzisieren sollen, die sie bei der Ausübung ihres Ermessens heranzuziehen beabsichtigt, zu einer Selbstbeschränkung dieses Ermessens, da sie sich an die Leitlinien, die sie für sich selbst festgelegt hat, halten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, oben in Rn. 328 angeführt, Rn. 95). Sie kann davon im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind (vgl. entsprechend Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 209).

361    In Bezug auf den Multiplikationsfaktor für die Dauer sieht Ziff. 24 der Leitlinien von 2006 vor: „Um der Dauer der Mitwirkung der einzelnen Unternehmen an der Zuwiderhandlung in voller Länge Rechnung zu tragen, wird der nach dem Umsatz ermittelte Wert … mit der Anzahl der Jahre multipliziert, die das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war.“ Dabei werden Zeiträume bis zu sechs Monaten „mit einem halben“, Zeiträume von mehr als sechs Monaten bis zu einem Jahr „mit einem ganzen Jahr angerechnet“. Die Multiplikation mit der Anzahl der Jahre der Beteiligung an der Zuwiderhandlung entspricht einer Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße um 100 % pro Jahr.

362    Dieser Ansatz stellt einen grundlegenden Methodenwechsel für die Berücksichtigung der Dauer des Kartells dar. Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 steht einer solchen Fortentwicklung jedoch nicht entgegen; diese Vorschrift misst der Schwere der Zuwiderhandlung ein gleich hohes Gewicht für die Festsetzung der Geldbuße bei wie der Dauer der Zuwiderhandlung (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 16. Juni 2011, Team Relocations u. a./Kommission, T‑204/08 und T‑212/08, Slg. 2011, II‑3569, Rn. 109).

363    Nach dieser Vorschrift müssen sich diese beiden Faktoren aber nicht gleich im mathematischen Sinn auf die Höhe der Geldbuße auswirken.

364    Die Kommission geht zutreffend davon aus, dass der unzulässige Profit, den die Teilnehmer eines Kartells aus diesem ziehen, grundsätzlich umso größere Bedeutung hat, je länger die Zuwiderhandlung dauert. So hat sich im vorliegenden Fall erst nach Prüfung der Auswirkungen der ursprünglich durchgeführten abgestimmten Verhaltensweisen auf den Markt die Notwendigkeit von Anpassungen und Korrekturmaßnahmen gezeigt, um die angestrebte Stabilität der Marktanteile der Teilnehmer zu erreichen. Überdies können in dem Fall, dass ein Kartell die Aufteilung der Lieferaufträge betrifft, deren Laufzeit lange genug ist, um die Gesamtstabilität der Marktanteile zu sichern, mehrere Jahre vergehen, bevor das Kartell sich auf einen bedeutenden Teil des Marktes auswirkt.

365    Vor dem Hintergrund dieser Punkte wird deutlich, dass die Anwendung der Multiplikationsregel in Ziff. 24 der Leitlinien von 2006 gerechtfertigt war und dass die erste Rüge zurückzuweisen ist.

366    Mit ihrer zweiten Rüge trägt Saint-Gobain vor, die Leitlinien schränkten, indem sie vorschrieben, dass der Anteil des Umsatzes, der für die Berechnung der Geldbußen im Bereich der horizontalen Zuwiderhandlungen berücksichtigt werde, zwischen 16 und 30 % bei horizontalen Zuwiderhandlungen liege, den Wertungsspielraum der Kommission zur Festsetzung einer Geldbuße entsprechend der tatsächlichen Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung ungebührend ein.

367    Die zweite Rüge wurde erstmals in der Erwiderung erhoben. Da sie jedoch zur Unterstützung des sechsten Klagegrundes geltend gemacht wird, der in der Klageschrift aufgeführt ist und mit dem ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerügt wird, und da sie mit diesem in engem Zusammenhang steht, muss sie nach ständiger Rechtsprechung für zulässig erklärt werden (Urteile des Gerichts Joynson/Kommission, oben in Rn. 301 angeführt, Rn. 156, und vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, Slg. 2008, II‑2849, Rn. 85).

368    Zur Begründetheit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Ziff. 21 der Leitlinien von 2006 „[g]rundsätzlich … ein Betrag von bis zu 30 % des Umsatzes festgesetzt werden [kann]“. Gemäß Ziff. 23 dieser Leitlinie „[gehören h]orizontale, üblicherweise geheime Vereinbarungen … zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte oder Einschränkung der Erzeugung … ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen“ und müssen „streng geahndet“ werden. „Für solche Zuwiderhandlungen ist daher grundsätzlich ein Betrag am oberen Ende dieser Bandbreite anzusetzen“.

369    Es ergibt sich insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „grundsätzlich“, dass sich die Kommission mit dem Erlass dieser Bestimmungen keine absolute Verhaltensregel auferlegt, sondern ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen hat, davon abzuweichen, wenn die Umstände dies rechtfertigen, sofern sie diese in ihrer Entscheidung darlegt. Saint-Gobain kann somit nicht gefolgt werden, wenn sie vorträgt, die Kommission sei in keinem Fall in der Lage, im Bereich horizontaler Zuwiderhandlungen einen niedrigeren Prozentsatz als 16 % der Umsätze anzuwenden.

370    Weiter bestreitet Saint-Gobain nicht die Feststellung der Kommission in Ziff. 670 der angefochtenen Entscheidung, nach der das streitige Kartell eine Kundenzuteilung zwischen den Wettbewerbern durch eine Koordinierung der Preise bezweckte. Nach ständiger Rechtsprechung gehören aber horizontale Preisabsprachen zu den schwerwiegendsten Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht der Union und können deshalb für sich alleine als besonders schwer eingestuft werden (Urteile des Gerichts vom 12. Juli 2001, Tate & Lyle u. a./Kommission, T‑202/98, T‑204/98 und T‑207/98, Slg 2001, II‑2035, Rn. 103, und vom 19. März 2003, CMA CGM u. a./Kommission, genannt „FETTCSA“, T‑213/00, Slg. 2003, II‑913, Rn. 262). Somit gehören die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung beschriebenen Mechanismen, nämlich Absprachen über die Zuteilung von Verträgen über die Lieferung von Automobilglas im EWR, in denen die Preispolitik und die Strategien für die Versorgung der Kunden koordiniert werden und die darauf abzielen, die Marktteile der daran beteiligten Unternehmen insgesamt stabil zu halten, zu den schwerwiegendsten Arten der Beeinträchtigung der Wettbewerbsregeln, da sie darauf abzielen, den Wettbewerb zwischen den beteiligten Unternehmen schlichtweg auszuschalten.

371    Somit hat die Kommission zutreffend festgestellt, dass die in Rede stehenden Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen ihrem Wesen nach einen besonders schweren Verstoß darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt, Rn. 147). Eine solche Feststellung gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als nicht bestritten wird, dass zum einen die kumulierten Marktanteile der an dem Kartell beteiligten Unternehmen im Zuwiderhandlungszeitraum im Durchschnitt ungefähr 60 % betrugen, und zum anderen die Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen nach und nach fast die Gesamtheit der Automobilhersteller im EWR betrafen.

372     Im Übrigen ist hinsichtlich des Vorbringens, die Zuwiderhandlung habe in Anbetracht der Verhandlungsposition der Automobilhersteller nur begrenzte wirtschaftliche Auswirkungen gehabt, darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung für die Anwendung von Art. 81 Abs. 1 EG die Berücksichtigung der konkreten Auswirkungen einer Vereinbarung nicht erforderlich ist, sofern der Zweck dieser Vereinbarung darin besteht, den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt zu begrenzen oder zu verfälschen. Es ist daher nicht erforderlich, tatsächliche wettbewerbswidrige Wirkungen darzutun, wenn der wettbewerbswidrige Zweck der beanstandeten Verhaltensweisen erwiesen ist (vgl. Urteil Volkswagen/Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, Rn. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem hat die Kommission in Ziff. 677 der angefochtenen Entscheidung jedenfalls anerkannt, dass die Automobilhersteller eine Verhandlungsposition besaßen, die es ihnen ermöglichte, Gegenstrategien zu entwickeln, um das Kartell einzuschränken oder zu vereiteln. Es ergibt sich aber aus dieser Passage der angefochtenen Entscheidung in Verbindung mit deren Ziff. 673, dass die Kommission diesen Umstand im Hinblick darauf, keinen höheren Prozentsatz des maßgeblichen Umsatzes bei der Berechnung der gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße zugrunde zu legen, durchaus berücksichtigt hat.

373    Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Kommission im vorliegenden Fall den Zuwiderhandlungszeitraum in drei Phasen unterteilt hat, um die maßgeblichen Umsätze zu berechnen, und einen Durchschnittswert auf den gesamten Zuwiderhandlungszeitraum angewandt hat (siehe oben, Rn. 31, 156 und 158). Diese Methode weicht von der Regel in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 ab, nach der normalerweise der Umsatz des Unternehmens im letzten vollständigen Geschäftsjahr, in dem es an der Zuwiderhandlung beteiligt war, zugrunde gelegt wird. Die Kommission hat diese Abweichung gerechtfertigt, indem sie in den Ziff. 664 bis 667 der angefochtenen Entscheidung darlegte, dass sie nur für einige Automobilhersteller unmittelbare Beweise für wettbewerbswidrige Verhaltensweisen hinsichtlich der Einführungsphase und der Endphase des Kartells besitze, und dies habe nur gerechtfertigt, als maßgebliche Umsätze in diesen beiden Zeiträumen die Verkäufe an diese genannten Hersteller zu berücksichtigen. Auf den auf diese Weise berechneten Umsatz wandte die Kommission die gemäß den Ziff. 21 und 23 der Leitlinien von 2006 festgestellten Sätze und den Zusatzbetrag an. Somit erlaubte die von der Kommission angewandte Berechnungsmethode, dass der Betrag der Geldbuße, der gegen das aus Saint-Gobain und der Compagnie bestehende Unternehmen verhängt wurde, die Schwere der von diesem Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung bei einer Gesamtwürdigung der Zuwiderhandlung gemäß der oben in Rn. 354 dargelegten Rechtsprechung am besten widerspiegelt.

374    Das Argument, es sei für die Kommission nicht möglich, einen Zusatzbetrag von weniger als 15 % festzusetzen, betrifft im Wesentlichen die dritte Rüge und wird daher in diesem Rahmen geprüft.

375    Die zweite Rüge kann somit nicht durchgreifen.

376    Mit ihrer dritten Rüge wirft Saint-Gobain der Kommission vor, die gegen sie verhängte Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft erhöht zu haben, obwohl der Grundbetrag der Geldbuße bereits einen Abschreckungsfaktor umfasse, nämlich den Zusatzbetrag. Nach Saint-Gobain geht diese Kumulierung über das hinaus, was erforderlich ist, um die Einhaltung der Wettbewerbsregeln der Union zu gewährleisten.

377    Diesem Vorbringen kann jedoch nicht gefolgt werden.

378    Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die abschreckende Wirkung der Geldbuße nicht nur darauf abzielt, einen Rückfall des betroffenen Unternehmens abzuwenden, was unter die Spezialprävention fällt. Die Kommission darf auch das Niveau der Geldbußen anheben, um ihre abschreckende Wirkung allgemein zu verstärken, insbesondere wenn Zuwiderhandlungen eines bestimmten Typs immer noch verhältnismäßig häufig und als schwerwiegend anzusehen sind, was in den Bereich der Generalprävention fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts, Tate & Lyle u. a./Kommission, oben in Rn. 370 angeführt, Rn. 134, und vom 13. September 2013, Total Raffinage Marketing/Kommission, T‑566/08, Rn. 460). Ein solches Anliegen spiegelt Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 wider, in der vorgesehen ist, dass ein Betrag zwischen 15 und 25 % der Umsätze, die direkt oder indirekt mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen, in den Grundbetrag der Geldbuße eingefügt wird, um die Unternehmen von vornherein von der Beteiligung an horizontalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung von Märkten und Mengenbeschränkungen abzuschrecken.

379    Die Fähigkeit der Kommission, Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 EG allgemein vorzubeugen, wäre aber gefährdet wenn sie bei der Festsetzung des Grundbetrags einer Geldbuße das Ziel der Abschreckung nicht berücksichtigen könnte, da dieser letztgenannte Betrag, der auf der ersten Stufe der Festsetzung der Geldbuße ermittelt wird, die Schwere der Zuwiderhandlung anhand der Merkmale der Zuwiderhandlung selbst, wie ihrer Art, des kumulierten Marktanteils sämtlicher beteiligten Unternehmen, des Umfangs des von ihr betroffenen räumlichen Marktes und ihrer etwaigen Umsetzung widerspiegeln soll (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 25. Oktober 2011, Aragonesas Industrias y Energía/Kommission, T‑348/08, Slg. 2011, II‑7583, Rn. 264 und die dort angeführte Rechtsprechung).

380    Zum anderen stellt nach ständiger Rechtsprechung die Abschreckung einen Zweck der Geldbuße und ein allgemeines Erfordernis dar, das die Kommission bei der gesamten Berechnung der Geldbuße leitet. Das Ziel der Abschreckung erfordert somit nicht zwingend, dass diese Berechnung einen speziellen Abschnitt umfassen muss, der zur Gesamtbeurteilung aller für die Verwirklichung dieses Zweckes relevanten Umstände dient (Urteile des Gerichts BASF/Kommission, oben in Rn. 119 angeführt, Rn. 226, und vom 8. Oktober 2008, Carbone Lorraine/Kommission, T‑73/04, Slg. 2008, II‑2661, Rn. 131).

381    Selbst wenn somit das Erfordernis der Abschreckung den Zweck der Erhöhung der Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil Michelin/Kommission, oben in Rn. 309 angeführt, Rn. 293), konnte die Kommission das Ziel der Abschreckung auch bei der Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße durch Anwendung eines Zusatzbetrags rechtmäßig berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil UPM-Kymmene/Kommission, oben in Rn. 324 angeführt, Rn. 137). Im Übrigen ist insoweit zu bemerken, dass zwar das Einfügen eines Zusatzbetrags in den Grundbetrag der Geldbuße und die Erhöhung dieses Grundbetrags wegen Wiederholungstäterschaft jeweils das Ziel der Abschreckung verfolgen, dass ihre Rechtfertigung aber auf verschiedenen Erwägungen beruht. So soll der Zusatzbetrag, dessen Wortlaut in Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 sowohl in Französisch als auch in Englisch und Deutsch („inclura“, „will include“ und „fügt hinzu“) nahelegt, dass er bei offenkundigen Zuwiderhandlungen automatisch angewandt wird (vgl. in diesem Sinne Team Relocations u. a./Kommission, oben in Rn. 362 angeführt, Rn. 117), gemäß der oben in den Rn. 378 und 379 dargelegten Argumentation die ganz besondere Schwere horizontaler Vereinbarungen über Preisfestsetzung, Aufteilung der Marktanteile und Mengenbeschränkungen widerspiegeln, während die Erhöhung wegen Wiederholungstäterschaft das Ziel hat, das wettbewerbswidrige Verhalten von Unternehmen, die eine Neigung haben, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen, schwerer zu bestrafen.

382    Mit ihrer vierten Rüge macht Saint-Gobain geltend, dass die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße zwei zusätzliche Faktoren hätte berücksichtigen müssen, nämlich zum einen die Flachglasentscheidung, in der weniger als ein Jahr vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen sie eine Sanktion wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union verhängt worden sei, und zum anderen die außergewöhnliche Wirtschaftskrise, die den Automobilsektor zu dem Zeitpunkt betroffen habe, als die angefochtene Entscheidung erlassen worden sei.

383    Hinsichtlich der Berücksichtigung der Flachglasentscheidung bei der Bemessung der Geldbuße ist zu bemerken, dass Saint-Gobain weder nachgewiesen noch auch nur behauptet hat, dass diese darauf gerichtet war, die gleiche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zu ahnden wie diejenige, die zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat. Es ist jedoch bereits entschieden worden, dass die Existenz von unterschiedlichen, wenn auch benachbarten, Produktmärkten, ein relevantes Kriterium für die Bestimmung des Umfangs und damit der Identität von Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 EG ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 15. Juni 2005, Tokai Carbon u. a./Kommission, T‑71/03, T‑74/03, T‑87/03 und T‑91/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 118 bis 124, und Jungbunzlauer/Kommission, oben in Rn. 354 angeführt, Rn. 309 bis 314).

384    Sodann ist die Bezugnahme von Saint-Gobain auf die Ermäßigung der Geldbuße von 33 %, die die Kommission einem der Unternehmen, die Adressaten der Entscheidung Graphitspezialerzeugnisse waren, gewährt hat, im vorliegenden Fall nicht relevant. Aus der ständigen Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass eine Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bilden kann, da dieser ausschließlich in der Verordnung Nr. 1/2003, wie sie im Licht der Leitlinien angewandt wird, festgelegt ist, und dass die Kommission nicht an frühere eigene Beurteilungen gebunden ist (siehe oben, Rn. 245). Die Entscheidungen in anderen Fällen haben nur Hinweischarakter in Bezug auf das eventuelle Vorliegen einer Diskriminierung, da es wenig wahrscheinlich ist, dass die für sie kennzeichnenden Umstände wie die Märkte, die Waren, die Länder, die Unternehmen und die betroffenen Zeiträume die gleichen sind (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, C‑76/06 P, Slg. 2007, I‑4405, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit war die Herabsetzung der gegen SGL Carbon AG, insbesondere in der Entscheidung Graphitspezialerzeugnisse verhängten Geldbuße durch eine Verbindung von Faktoren gerechtfertigt, nämlich nicht nur durch den Umstand, dass gegen dieses Unternehmen kurze Zeit zuvor eine Sanktion wegen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union verhängt worden war, sondern auch durch die sehr schwierige finanzielle Lage, in der es sich befand, ebenso wie die Tatsache, dass es sich nicht um eine Wiederholungstäterin handelte (Urteil Tokai Carbon u. a./Kommission, oben in Rn. 383 angeführt, Rn. 405 und 406). Saint‑Gobain hat aber keinen konkreten Nachweis dafür vorgelegt, dass sie sich zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung in einer vergleichbaren finanziellen Situation befand. Wie sich überdies aus der oben in den Rn. 300 bis 334 dargestellten Analyse ergibt, befand sich Saint-Gobain, als die Kommission die angefochtene Entscheidung erließ, in der Situation einer Wiederholungstäterin.

385    Der Umstand einer außergewöhnlichen Wirtschaftskrise, die den Automobilmarkt zu der Zeit, als die angefochtene Entscheidung erlassen wurde, betroffen und die tatsächlichen Auswirkungen der Geldbuße signifikant verschlimmert hat, ist, auch wenn man ihn als erwiesen unterstellt, im vorliegenden Fall nicht relevant. Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Kommission nicht verpflichtet, bei der Bemessung der Geldbuße die schlechte Finanzlage eines Unternehmens zu berücksichtigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen (Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2006, SGL Carbon/Kommission, C‑308/04 P, Slg. 2006, I‑5977, Rn. 105; vgl. Urteil des Gerichts vom 29. November 2005, Union Pigments/Kommission, T‑62/02, Slg. 2005, II‑5057, Rn. 175 und die dort angeführte Rechtsprechung).

386    Es ist insoweit ohne Bedeutung, dass solche finanziellen Schwierigkeiten, die zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen und buchhalterischen Indikatoren des betroffenen Unternehmens, ja sogar zu einer Überschuldung führen können, ihren Ursprung im Kontext einer Krise auf den Märkten, auf denen dieses Unternehmen tätig ist, haben.

387    Erstens wirkt sich eine solche Krise grundsätzlich stärker auf die am wenigsten an die Marktbedingungen angepassten Unternehmen aus. Zweitens könnte eine eventuelle Pflicht der Kommission, jede Situation einer wirtschaftlichen Krise für eine Herabsetzung der Höhe der bei Zuwiderhandlungen gegen Art. 81 Abs. 1 EG verhängten Geldbußen zu berücksichtigen, die Effizienz des in dieser Vorschrift enthaltenen Verbots massiv beeinträchtigen, da Kartelle häufig gerade dann entstehen, wenn eine Branche in Schwierigkeiten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 6. Mai 2009, KME Germany u. a./Kommission, T‑127/04, Slg. 2009, II‑1167, Rn. 122). Drittens schließlich gehören Umstände wie ein ständiger Rückgang der Nachfrage oder eine dadurch hervorgerufene überschüssige Produktionskapazität oder ein Preisdruck von Seiten des Großhandels, falls sie denn eingetreten sind, zu den Risiken jeder Wirtschaftstätigkeit, die als solche keine außergewöhnliche strukturelle oder konjunkturelle Lage kennzeichnen, der bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung zu tragen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt, Rn. 414).

388    Daraus folgt, dass auch die vierte Rüge zurückzuweisen ist.

389    Fünftens schließlich rügt Saint-Gobain, dass die gegen sie verhängte Geldbuße unverhältnismäßig sei, da sie weit über eine optimale Geldbuße hinausgehe.

390    Insoweit genügt der Hinweis, dass das Gericht in seinen Urteilen vom 27. September 2006, Archer Daniels Midland/Kommission (T‑329/01, Slg. 2006, II‑3255, Rn. 141, und T‑59/02, oben in Rn. 271 angeführt, Rn. 130) entschieden hat, dass eine Geldbuße, wenn sie in einer Höhe festgesetzt würde, mit der lediglich der Gewinn aus dem Kartell zunichte gemacht würde, keine abschreckende Wirkung hätte. Denn es ist vernünftigerweise davon auszugehen, dass Unternehmen im Rahmen ihrer finanziellen Kalkulation und Geschäftsführung nicht nur rational das Niveau der ihnen für eine Zuwiderhandlung drohenden Geldbußen, sondern auch die Größe des Risikos, dass das Kartell aufgedeckt wird, berücksichtigen. Würde die Funktion der Geldbuße auf die bloße Aufhebung des erhofften Gewinns oder Vorteils reduziert, so würde darüber hinaus nicht hinreichend berücksichtigt, dass ein unter Art. 81 Abs. 1 EG fallendes Verhalten den Charakter einer Zuwiderhandlung hat. Würde die Geldbuße auf einen bloßen Ausgleich des verursachten Schadens beschränkt, so würde nämlich außer der abschreckenden Wirkung, die nur auf künftige Verhaltensweisen gerichtet sein kann, der repressive Charakter einer solchen Maßnahme im Hinblick auf die tatsächlich begangene konkrete Zuwiderhandlung vernachlässigt. Es wird daher sowohl durch die abschreckende Wirkung als auch die repressive Wirkung der Geldbuße gerechtfertigt, dass die Kommission eine Geldbuße verhängen darf, die je nach den Umständen des Einzelfalls den Gewinn, den sich das Unternehmen erhofft, sogar erheblich überschreiten kann.

391    Somit ist die fünfte Rüge und mit ihr der zweite Teil des Klagegrundes zurückzuweisen.

c)     Zum dritten Teil: unzureichende Berücksichtigung des Umstandes, dass Saint-Gobain den Sachverhalt nicht bestritten hat, sowie ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und ein Begründungsmangel

 Vorbringen der Parteien

392    Saint-Gobain trägt vor, die Kommission habe gegen Art. 23 Abs. 2 Buchst. a und Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen, indem sie die gegen sie verhängte Geldbuße nicht allein aus dem Grund ermäßigt habe, dass sie in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte keine mildernden Umstände geltend gemacht habe. Die Notwendigkeit einer solchen Herabsetzung im vorliegenden Fall folge nicht nur aus der Rechtsprechung, sondern auch aus Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 sowie Rn. 21 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002. So hätte die Kommission den Umstand berücksichtigen müssen, dass sie im Gegensatz zu anderen betroffenen Unternehmen in der genannten Antwort den Sachverhalt, der ihr in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Last gelegt worden sei, nicht bestritten habe.

393    Nach Ansicht von Saint-Gobain vermindert eine solche Haltung den Schweregrad ihres Verhaltens, da dieses fehlende Bestreiten von der Kommission weitgehend benutzt worden sei, die Zuwiderhandlung in der angefochtenen Entscheidung festzustellen. Es sei insoweit ohne Bedeutung, dass Saint-Gobain im Verlauf der Untersuchung nicht ausdrücklich beantragt habe, diesen Faktor als mildernden Umstand zu berücksichtigen, da die Kommission sämtliche Fakten berücksichtigen müsse, die ihr zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung bekannt gewesen seien.

394    Die angefochtene Entscheidung verletze auch das Diskriminierungsverbot, da die Kommission die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zugunsten der Kronzeugin angewandt habe, ohne zu prüfen, ob die gegen Saint-Gobain verhängte Geldbuße ebenfalls unter Berücksichtigung dieser Mitteilung hätte herabgesetzt werden können. Dieser letztgenannte Umstand stehe überdies im Gegensatz zur früheren Verwaltungspraxis der Kommission.

395    Saint-Gobain trägt außerdem vor, die angefochtene Entscheidung sei mit einem Begründungsmangel behaftet, da die Gründe dafür, dass ihr Nichtbestreiten des Sachverhalts nicht als mildernder Umstand berücksichtigt worden sei, in der Begründung aufgeführt sein müssten.

396    Saint-Gobain fordert das Gericht hilfsweise auf, im vorliegenden Fall seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben und die in der angefochtenen Entscheidung gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen, um ihre Kooperation im Rahmen der Untersuchung zu berücksichtigen.

397    Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass der Vorwurf, sie habe das Nichtbestreiten des Sachverhalts durch Saint-Gobain nicht berücksichtigt, einer tatsächlichen Grundlage entbehre. Sie habe tatsächlich untersucht, ob das Nichtbestreiten des Sachverhalts durch dieses Unternehmen eine solche Ermäßigung rechtfertige.

398    Die Kommission macht sodann geltend, der Mehrwert im Zusammenhang mit der Kooperation von Saint-Gobain dürfe nicht überbewertet werden, da das Nichtbestreiten des Sachverhalts der angefochtenen Entscheidung durch Letztere hauptsächlich dazu gedient habe, die Erklärungen der Kronzeugin und die in der Untersuchung festgestellten Tatsachen zu untermauern. Saint-Gobain habe im Übrigen gewisse Aspekte der rechtlichen Qualifizierung der Tatbestandsmerkmale und sogar bestimmte Tatsachen bestritten.

399    Außerdem habe Saint-Gobain keinen außergewöhnlichen Umstand vorgetragen, der geeignet wäre, eine Berücksichtigung ihrer Zusammenarbeit außerhalb der Kronzeugenregelung zu rechtfertigen. Insoweit habe das Gericht in seinem Urteil vom 8. Juli 2008, Lafarge/Kommission, oben in Rn. 69 angeführt, bestätigt, dass ein einfaches Nichtbestreiten des Sachverhalts durch ein in ein rechtswidriges Kartell involviertes Unternehmen nicht zu einer Ermäßigung der gegen dieses Unternehmen zu verhängenden Geldbuße führe. Diese Schlussfolgerung könne nicht durch eine frühere Entscheidungspraxis der Kommission in Frage gestellt werden, die insbesondere auf ihrer Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mitteilung zur Kronzeugenregelung von 1996) beruht habe.

400    Die Kommission stellt im Übrigen in Abrede, dass ihre Entscheidung zu diesem Punkt unzureichend begründet sei. Sie ist der Ansicht, dass den Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung zur Frage des Nichtbestreitens des Sachverhalts durch die Kronzeugin ausreichend klar zu entnehmen sei, dass ein solches Nichtbestreiten auf keinen Fall zu einer Ermäßigung der gegen Saint-Gobain verhängten Geldbuße führen könne.

401    Schließlich ist die Kommission der Ansicht, dass es in der vorliegenden Rechtssache keinen Grund gebe, der rechtfertige, dass das Gericht aufgrund seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die gegen Saint-Gobain verhängte Geldbuße herabsetze.

 Würdigung durch das Gericht

402    Bei der Prüfung des vorliegenden Teils ist zwischen der Möglichkeit der Ermäßigung der Geldbuße nach den Rn. 20 bis 23 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zum einen und der Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände außerhalb des Kronzeugenprogramms in Anwendung der Leitlinien von 2006 zum anderen zu unterscheiden.

403    Was zunächst die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 betrifft, die ratione temporis auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, so hat die Kommission darin die Voraussetzungen präzisiert, unter denen Unternehmen, die mit ihr im Verlauf der Untersuchung eines Kartells zusammenarbeiten, die Geldbuße erlassen oder eine Ermäßigung der von ihnen zu entrichtenden Geldbuße gewährt werden kann.

404    So wird in Rn. 20 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 bestimmt, dass Unternehmen, die die Voraussetzungen für den Erlass der Geldbuße in Abschnitt A der genannten Mitteilung nicht erfüllen, dennoch eine Ermäßigung der Geldbuße gewährt werden kann, die andernfalls verhängt worden wäre. Rn. 21 dieser Mitteilung lautet: „Um für eine Ermäßigung der Geldbuße in Betracht zu kommen, muss das Unternehmen der Kommission Beweismittel für die mutmaßliche Zuwiderhandlung vorlegen, die gegenüber den bereits im Besitz der Kommission befindlichen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen, und seine Beteiligung an der mutmaßlich rechtswidrigen Handlung spätestens zum Zeitpunkt der Beweisvorlage einstellen.“

405    Das Gericht hat unlängst entschieden, dass im Rahmen des Kronzeugenprogramms, das in der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 vorgesehen ist, das Verfahren, mit dem einem Unternehmen ein vollständiger Erlass der Geldbuße gewährt wird, drei unterschiedliche Phasen umfasst, wobei die erste Phase darin besteht, dass das betroffene Unternehmen einen Antrag bei der Kommission stellt (Urteil des Gerichts vom 9. September 2011, Deltafina/Kommission, T‑12/06, Slg. 2011, II‑5639, Rn. 111 und 112).

406    Die Rn. 24 und 25 („Verfahren“) der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 bestimmen Folgendes:

„24. Ein Unternehmen, das eine Ermäßigung der Geldbuße anstrebt, hat der Kommission Beweismittel bezüglich des mutmaßlichen Kartells vorzulegen.

25. Das Unternehmen erhält von der Generaldirektion Wettbewerb eine Empfangsbestätigung, auf der das Datum vermerkt ist, an dem die betreffenden Beweismittel vorgelegt wurden. Die Kommission wird Beweismittel, die ein Unternehmen zwecks Ermäßigung der Geldbuße vorgelegt hat, erst dann berücksichtigen, wenn sie einen ihr zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Antrag auf bedingten Erlass der Geldbuße im Zusammenhang mit demselben mutmaßlichen Kartellverstoß beschieden hat.“

407    Aus dem Wortlaut dieser Passagen der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 ergibt sich, dass ein Unternehmen, um in den Genuss einer Ermäßigung der Geldbuße in Anwendung des in der genannten Mitteilung eingeführten Kronzeugenprogramms zu kommen, bei der Kommission einen dahingehenden Antrag stellen und dieser Beweise für ein mutmaßliches, den Wettbewerb in der Union beeinträchtigendes Kartell vorlegen muss. Diese Auslegung des Anwendungsbereichs der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 ist umso mehr gerechtfertigt, als das Kronzeugenprogramm die Folgen modifiziert, die grundsätzlich an die Feststellung der Verantwortung der Unternehmen, die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG begangen haben, geknüpft sind. Wenn es auch angebracht erscheinen kann, den Unternehmen, die mit der Kommission in Untersuchungen betreffend geheime, die Union beeinträchtigende Kartelle, zusammenarbeiten, eine bevorzugte Behandlung zu gewähren, so muss eine solche Behandlung den Unternehmen vorbehalten sein, die die Verfahrensvoraussetzungen und die materiellen Bedingungen, die in der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 vorgesehen sind, gewissenhaft einhalten.

408    Saint-Gobain hat aber im vorliegenden Fall im Verlauf der Untersuchung nicht ausdrücklich die Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zu ihren Gunsten beantragt, und sie beschränkt sich darauf, geltend zu machen, sie habe den Sachverhalt, der ihr vorgeworfen worden sei, in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht bestritten. In diesem Kontext kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, sie habe nicht versucht, festzustellen, ob Saint-Gobain eine Ermäßigung der Geldbuße nach dieser Mitteilung gewährt werden könne. Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass der Ansatz, dem die Kommission im vorliegenden Fall folgt, von einer früheren Entscheidungspraxis abweicht, da diese jedenfalls nicht für sich allein im Bereich des Wettbewerbs als rechtlicher Rahmen für Geldbußen dienen kann (siehe oben, Rn. 245). Daraus folgt auch, dass die Rüge einer fehlenden oder unzureichenden Begründung zu diesem Punkt nicht begründet ist.

409    Insoweit ist es unerheblich, dass das Gericht in der Vergangenheit entschieden hat, dass ein Unternehmen, um eine Herabsetzung der Geldbuße wegen Nichtbestreitens des Sachverhalts zu erlangen, gegenüber der Kommission, nachdem es von der Mitteilung der Beschwerdepunkte Kenntnis genommen hat, ausdrücklich erklären muss, dass es den Sachverhalt nicht bestreitet (Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2004, Mannesmannröhren-Werke/Kommission, T‑44/00, Slg. 2004, II‑2223, Rn. 303), was hier effektiv der Fall war, und dass, falls ein solcher Antrag gestellt worden war, es der Kommission oblag, gegebenenfalls die Gründe darzulegen, aus denen sie dennoch der Ansicht war, dass keine Ermäßigung der Geldbuße zu gewähren war (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 29. April 2004, Tokai Carbon u. a./Kommission, T‑236/01, T‑239/01, T‑244/01 bis T‑246/01, T‑251/01 und T‑252/01, Slg. 2004, II‑1181, Rn. 415, und vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission, oben in Rn. 326 angeführt, Rn. 98 und 99).

410    Diese Schlussfolgerungen waren nämlich eng mit der Tatsache verbunden, dass die Mitteilung über die Kronzeugenregelung von 1996 im Abschnitt D („Spürbar niedrigere Festsetzung der Geldbuße“) Nr. 2 vorsah, dass das Nichtbestreiten des Sachverhalts, auf den die Kommission ihre Einwände stützte, zu einer Ermäßigung der Geldbuße führen konnte, die ohne die Mitarbeit verhängt worden wäre. Die Kommission trägt in ihren Schriftsätzen zutreffend vor, dass eine solche Regelung in der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 nicht mehr enthalten ist; in dieser wird außer dem Fall des Erlasses lediglich die Möglichkeit der Ermäßigung der Geldbuße erwähnt, wenn ein Unternehmen der Kommission „Beweismittel für die mutmaßliche Zuwiderhandlung vorleg[t], die gegenüber den bereits [in ihrem] Besitz … befindlichen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen“.

411    Die Rüge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot wegen des Umstandes, dass der Kronzeugin im Gegensatz zu Saint-Gobain eine Ermäßigung der Geldbuße auf der Grundlage der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 gewährt worden sei, kann nicht durchgreifen. Zwar darf die Kommission bei der Beurteilung der Zusammenarbeit der an einer Vereinbarung Beteiligten nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen (Urteil des Gerichts vom 6. Mai 2009, Wieland-Werke/Kommission, T‑116/04, Slg. 2009, II‑1087, Rn. 124), der verbietet, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2009, Audiolux u. a., C‑101/08, Slg. 2009, I‑9823, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). Jedoch ist unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 406 bis 408 dargelegten Argumente davon auszugehen, dass Saint-Gobain und die Kronzeugin sich im Hinblick auf die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 nicht in einer vergleichbaren Situation befanden.

412    Hinsichtlich der mildernden Umstände, auf die in Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 Bezug genommen wird, ist sodann festzustellen, dass Saint-Gobain der Kommission im Wesentlichen vorwirft, sie habe die im vierten Gedankenstrich der genannten Ziffer angeführte Regel, nach der der Grundbetrag der Geldbuße verringert werden kann, wenn eine „aktive Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Kommission außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über [Zusammenarbeit von 2002] und über seine rechtliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit hinaus“ festgestellt wird, nicht berücksichtigt.

413    Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden.

414    Insoweit ist zu betonen, dass Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 ebenso wie Ziff. 3 sechster Gedankenstrich der Leitlinien von 1998 die Möglichkeit schaffen will, die tatsächliche Zusammenarbeit eines Unternehmens im Verfahren außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über Zusammenarbeit und über seine rechtlichen Pflichten hinaus als mildernden Umstand zu berücksichtigen.

415    Im Fall geheimer Kartelle ist die Kommission jedoch berechtigt, Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 nur in außergewöhnlichen Fällen anzuwenden. Die Anwendung der genannten Bestimmung kann nämlich nicht zur Folge haben, dass der Mitteilung über Zusammenarbeit ihre praktische Wirksamkeit entzogen wird. Dieser Mitteilung ist aber eindeutig zu entnehmen, dass diese den Rahmen festlegt, der es erlaubt, Unternehmen, die Mitglieder von geheimen Kartellen, die die Union beeinträchtigen, sind oder waren, für ihre Mitwirkung bei der Untersuchung der Kommission zu belohnen. Folglich können die Unternehmen grundsätzlich eine Geldbußenermäßigung für ihre Zusammenarbeit nur erhalten, wenn sie die Voraussetzungen gemäß dieser Mitteilung erfüllen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 30. November 2011, Quinn Barlo u. a./Kommission, T‑208/06, Slg. 2011, II‑7953, Rn. 270 und 271).

416    So steht es der Kommission frei, Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 nur auf das Unternehmen anzuwenden, das ihr als Erstes Informationen zur Verfügung stellt, aufgrund deren sie ihre Ermittlungen ausdehnen und die erforderlichen Maßnahmen ergreifen kann, um eine schwerere Zuwiderhandlung oder eine Zuwiderhandlung von einer längeren Dauer festzustellen (vgl. entsprechend Urteil Quinn Barlo u. a./Kommission, oben in Rn. 415 angeführt, Rn. 272 und die dort angeführte Rechtsprechung).

417    Die vorliegende Rechtssache fällt eindeutig in den Anwendungsbereich der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002, die in ihrer Rn. 1 geheime Absprachen zwischen Wettbewerbern zur Festsetzung von Preisen, die Aufteilung von Märkten sowie Submissionsabsprachen erfasst. Somit macht die Kommission zu Recht geltend, dass die Anwendung von Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 in einem solchen Fall eine Ausnahme sein müsse.

418    Das Gericht stellt fest, dass Saint-Gobain weder im Laufe der Untersuchung, die zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat, noch im Rahmen der vorliegenden Klage dargelegt hat, inwiefern der bloße Umstand, dass sie bestimmte Punkte des Sachverhalts nicht bestritten hat, eine solche Bedingung erfülle.

419    Erstens trägt die Kommission zutreffend vor, die Berücksichtigung des Nichtbestreitens des Sachverhalts als mildernder Umstand würde die Änderung ihrer Kronzeugenpolitik gefährden, die mit dem Erlass der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 eingetreten sei und für die u. a. kennzeichnend sei, dass ein Umstand dieser Art eine Ermäßigung der Geldbuße nunmehr grundsätzlich nicht mehr rechtfertige (siehe oben, Rn. 410).

420    Zweitens wurde selbst in Rechtssachen, in denen die Mitteilung über die Kronzeugenregelung von 1996 anwendbar war, bereits entschieden, dass, wenn ein Unternehmen bei der Kooperation nur bestimmte Aufschlüsse bestätigt, die ein anderes Unternehmen bei der Kooperation bereits gegeben hat, und dies zudem weniger genau und weniger explizit geschieht, der Mitwirkungsumfang dieses Unternehmens, selbst wenn er nicht eines gewissen Nutzens für die Kommission entbehren mag, nicht als gleich dem Ausmaß der Mitarbeit des Unternehmens angesehen werden kann, das die betreffenden Aufschlüsse als Erstes gegeben hat. Eine Erklärung, die nur in gewissem Maße eine Erklärung erhärtet, die der Kommission bereits vorlag, erleichtert aber deren Aufgabe nicht erheblich und reicht folglich nicht aus, um eine Ermäßigung der Geldbuße aufgrund der Kooperation zu rechtfertigen (vgl. entsprechend Urteil Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt, Rn. 455).

421    Insoweit stellt das Gericht fest, dass es sich, wie sich aus Ziff. 120 der angefochtenen Entscheidung ergibt, bei den Beweisen, die die Kommission zum Nachweis des Bestehens des streitigen Kartells und seiner Funktionsweise verwendet hat, im Wesentlichen um Dokumente handelt, die die Kommission bei ihren im Februar und März 2005 in den Geschäftsräumen der verschiedenen beteiligten Unternehmen durchgeführten Nachprüfungen beschlagnahmt hat, sowie um Erklärungen der Kronzeugin, die von Dokumenten, die aus der Zeit des Sachverhalts stammen, gestützt werden. Das Nichtbestreiten des Sachverhalts durch Saint-Gobain wurde von der Kommission, wie aus Ziff. 456 der angefochtenen Entscheidung ersichtlich wird, benutzt, um bestimmte Feststellungen zu untermauern, die aus anderen in ihrem Besitz befindlichen Beweisen abgeleitet wurden (vgl. insoweit u. a. Ziff. 127, 146 bis 148, 165, 187, 218, 255 bis 277, 297 bis 299, 312, 313, 316, 317, 328, 329, 337, 338 und 388 der angefochtenen Entscheidung).

422    Dem Vorbringen von Saint-Gobain, ihr Nichtbestreiten des Sachverhalts habe der Kommission einen erheblichen Mehrwert gegenüber den Beweisen, die sie bereits besessen habe, gebracht, kann somit nicht gefolgt werden.

423    Folglich kann die Rüge von Saint-Gobain, die Kommission habe den Umfang ihrer Zusammenarbeit nicht als mildernden Umstand außerhalb des rechtlichen Rahmens der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 berücksichtigt, nicht durchgreifen.

424    Diese Schlussfolgerung kann nicht durch eine eventuelle frühere Entscheidungspraxis in Frage gestellt werden. Aus dem Umstand, dass die Kommission in anderen Rechtssachen bestimmte Gesichtspunkte bei der Bemessung der Geldbuße als mildernde Umstände angesehen hat, kann nämlich nicht abgeleitet werden, dass sie verpflichtet wäre, in einer späteren Entscheidung ebenso zu verfahren, da eine derartige Entscheidungspraxis als solche nicht den rechtlichen Rahmen für die Geldbußen in Wettbewerbssachen bildet (siehe oben, Rn. 245, und Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 97 angeführt, Rn. 395).

425    Es ist auch unerheblich, ob in Anwendung der früheren Leitlinien über Zusammenarbeit insgesamt niedrigere Geldbußen verhängt werden konnten. Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union verlangt nämlich, dass die Kommission die Höhe der Geldbußen jederzeit an die Bedürfnisse dieser Politik anpassen kann, so dass die Unternehmen, die von einem Verwaltungsverfahren betroffen sind, das zu einer Geldbuße führen kann, weder darauf vertrauen können, dass die Kommission das zuvor praktizierte Bußgeldniveau nicht überschreiten wird, noch auf eine bestimmte Methode für die Berechnung der Geldbußen (siehe oben, Rn. 276 und 277).

426    Die Rüge, es liege insoweit ein Begründungsmangel vor, als die angefochtene Entscheidung nicht die Umstände offenlege, die erklären würden, warum Saint-Gobain keine Ermäßigung der Geldbuße nach Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 habe gewährt werden können, kann nicht durchgreifen.

427    Insoweit ist festzustellen, dass, was die Festsetzung von Geldbußen wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht betrifft, die Kommission ihre Begründungspflicht erfüllt, wenn sie in ihrer Entscheidung die Beurteilungsgesichtspunkte angibt, die es ihr ermöglicht haben, Schwere und Dauer der begangenen Zuwiderhandlung zu ermitteln, ohne dass sie diese eingehend darstellen oder Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbuße machen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, Rn. 66). Ob eine Begründung ausreicht, ist anhand der Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Inhalts der betreffenden Maßnahme, der Art der vorgetragenen Gründe und des Interesses zu beurteilen, das die Adressaten an Erläuterungen haben können (vgl. Urteil des Gerichts vom 28. April 1994, AWS Benelux/Kommission, T‑38/92, Slg. 1994, II‑211, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts, sondern auch seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet zu beurteilen ist (Urteil Kommission/Sytraval und Brink’s France, oben in Rn. 146 angeführt, Rn. 63).

428    Im vorliegenden Fall hat Saint-Gobain nach dem Erhalt der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei der Kommission keinen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße, die diese gegen sie verhängen konnte, aufgrund einer eventuellen Zusammenarbeit nach Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 gestellt. Überdies musste Saint-Gobain wissen, dass zum einen der in Ziff. 29 vierter Gedankenstrich dieser Leitlinien genannte mildernde Umstand angesichts seines Wortlauts nur außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 angewandt wird, und dass zum anderen das streitige Kartell nach seiner Natur in den Anwendungsbereich dieser Mitteilung fällt. Schließlich ist unter Berücksichtigung der Ziff. 56 bis 59 und 127 der angefochtenen Entscheidung davon auszugehen, dass Saint-Gobain verstehen konnte, dass die Kommission sich für die Feststellung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung insbesondere auf die Erklärungen der Kronzeugin gestützt hat und dass diese Erklärungen vor dem Zeitpunkt abgegeben wurden, zu dem Saint-Gobain ihre Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte versandte.

429    Somit war es Saint-Gobain möglich, bei der Lektüre der angefochtenen Entscheidung die Gründe zu verstehen, aus denen die Kommission ihr keine Ermäßigung der gegen sie verhängten Geldbuße aufgrund des in Ziff. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 genannten mildernden Umstandes gewährte, und folglich ist die angefochtene Entscheidung insoweit nicht mit einer unzureichenden oder fehlenden Begründung behaftet.

430    Der dritte Teil des Klagegrundes ist daher nicht begründet.

431    In Anbetracht der Prüfung des gesamten Klagegrundes ist festzustellen, dass dieser nur insoweit begründet ist, als mit ihm die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung unter dem Gesichtspunkt geltend gemacht wird, dass die Kommission darin die Flachglasentscheidung (Italien) für die Feststellung des erschwerenden Umstands der Wiederholungstäterschaft in Bezug auf die Compagnie und Saint-Gobain berücksichtigt hat.

B –  Rechtssache T‑73/09

432    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Würdigung der Klage in der Rechtssache T‑56/09 bereits mehrere von der Compagnie im Rahmen der Rechtssache T‑73/09 geltend gemachte Klagegründe und Argumente geprüft wurden. Dies gilt erstens für den Klagegrund der Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht, zweitens für den Klagegrund der Verletzung des Grundsatzes der individuellen Bestrafung wegen der Zurechnung an die Compagnie einer von ihrer Tochtergesellschaft begangenen Zuwiderhandlung, drittens für den Klagegrund der Verletzung der Grundsätze des Verbots der Rückwirkung von Strafen und des Vertrauensschutzes und schließlich viertens für den Klagegrund einer fehlerhaften Anwendung von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, soweit die Wiederholungstäterschaft als erschwerender Umstand herangezogen wurde, und eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

433    Die folgenden Ausführungen betreffen daher nur den Klagegrund, mit dem im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt wird, soweit die Kommission angeblich einen Fehler bei der Beurteilung des Umsatzes begangen hat, der der Berechnung der Obergrenze der Geldbuße zugrunde zu legen ist, sowie eine Verletzung der Verteidigungsrechte und ein Begründungsmangel geltend gemacht wird.

 Vorbringen der Parteien

434    Mit diesem Klagegrund macht die Compagnie geltend, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung nicht nach Nachweisen dafür gesucht, dass der Gesamtumsatz der Saint-Gobain-Gruppe für die Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Obergrenze der Geldbuße habe berücksichtigt werden können. Diese Vorschrift in der Auslegung durch den Unionsrichter erlaube nicht, dass eine Geldbuße verhängt werde, die höher als 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens sei, das als eine wirtschaftliche Einheit definiert werde. Aus der angefochtenen Entscheidung ergebe sich, dass diese nur Verhaltensweisen in Bezug auf bestimmte Aktivitäten der Saint-Gobain-Gruppe betreffe, die zu ihrem Flachglassektor gehörten, nicht die anderen Aktivitäten der Gruppe, die gesonderte Unternehmen darstellten.

435    Somit hätte die Kommission bei der Berechnung der Geldbuße nur den Umsatz des Flachglassektors der Saint-Gobain-Gruppe heranziehen dürfen. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Geldbuße jedenfalls den Betrag von 560 Mio. Euro nicht überschritten. Die Compagnie schließt daraus, dass die Geldbuße, die gegen sie gesamtschuldnerisch mit Saint-Gobain verhängt worden sei, übermäßig hoch und unverhältnismäßig sei.

436    Da die Kommission insoweit in der angefochtenen Entscheidung keine Erklärung abgegeben habe, sei diese überdies mit einem Begründungsmangel behaftet.

437    In der Erwiderung macht die Compagnie zudem geltend, sie sei, da die Mitteilung der Beschwerdepunkte keinen Hinweis darauf enthalten habe, dass die Berücksichtigung des gesamten Umsatzes der Saint-Gobain-Gruppe durch eine Vermutung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses durch sie auf alle Tochtergesellschaften gerechtfertigt sei, nicht in der Lage gewesen, ihre Rechte in dieser Hinsicht vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung sachgerecht geltend zu machen. Somit habe die Kommission unter Verstoß gegen ihre Verteidigungsrechte gehandelt.

438    Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Sie macht zunächst geltend, sie habe den Gesamtumsatz der Saint-Gobain-Gruppe in der angefochtenen Entscheidung nur zu dem Zweck berücksichtigt, zu ermitteln, ob die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze von 10 %, anzuwenden sei. Sie weist sodann darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung diese Obergrenze auf der Grundlage des kumulierten Umsatzes aller Gesellschaften, aus denen die wirtschaftliche Einheit bestehe, die die Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG begangen habe, berechnet werden müsse. Nur dieser Umsatz gebe einen Hinweis auf die Bedeutung und den Einfluss des Unternehmens auf dem Markt. Nach einer gefestigten Rechtsprechung sei die Kommission berechtigt, den konsolidierten Umsatz der Muttergesellschaft an der Spitze des Unternehmens, das an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei, bei der Berechnung dieser Obergrenze zu berücksichtigen. Diese Zahl umfasse den Umsatz der verschiedenen Tochtergesellschaften der Gruppe, ohne dass es erforderlich sei, die Verantwortung für die Zuwiderhandlung förmlich der Gesamtheit der Unternehmen zuzuweisen, aus denen sich diese zusammensetze.

439    Im vorliegenden Fall habe die Kommission hinreichend nachgewiesen, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaften ausübe und dass deshalb diese verschiedenen Gesellschaften zusammen ein Unternehmen bildeten. Folglich sei die in der vorstehenden Randnummer genannte Berechnung der Obergrenze unter Bezugnahme auf den konsolidierten Umsatz der gesamten Saint-Gobain-Gruppe vorzunehmen. Es sei insoweit unerheblich, dass die Compagnie eigene reduzierte Umsätze erziele, da der Gesamtumsatz der Saint-Gobain-Gruppe in ihren Jahresberichten erscheine. Darüber hinaus werde die Obergrenze von 10 % weder auf die Umsätze angewandt, die im Rahmen der unmittelbar von der Zuwiderhandlung betroffenen Aktivitäten erzielt würden, noch auf die im Verlauf der Zuwiderhandlung erzielten Gewinne oder auf die Umsätze, die von dem einzigen Teil der Saint-Gobain-Gruppe, zu dem die unmittelbar für die Zuwiderhandlung verantwortlichen Tochtergesellschaften gehörten, in dem der Entscheidung vorausgehenden Geschäftsjahr erzielt würden.

440    Was die Rüge eines Begründungsmangels in Bezug auf die Berechnung der Obergrenze der Geldbuße nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 betrifft, so tritt die Kommission ihr entgegen. Sie macht geltend, die genannte Obergrenze nehme auf den Umsatz des Unternehmens Bezug, gegen das eine auf der Grundlage der genannten Verordnung erlassene Sanktionsentscheidung gerichtet sei. Folglich sei die Compagnie als Adressatin der angefochtenen Entscheidung in der Lage gewesen, nachzuprüfen, ob die gegen sie verhängte Geldbuße die genannte Obergrenze nicht übersteige.

441    Hinsichtlich der in der Erwiderung erhobenen Rüge einer Verletzung der Verteidigungsrechte ist die Kommission der Ansicht, dass es sich um ein neues Vorbringen handele, das folglich unzulässig sei. Jedenfalls seien die Verteidigungsrechte der Compagnie im vorliegenden Fall nicht verletzt worden, da sie nicht verpflichtet gewesen sei, Letzterer konkrete Hinweise zur Höhe der Geldbuße, die sie gegen sie zu verhängen beabsichtigte, oder zum Umsatz, der verwendet würde, um zu überprüfen, dass die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze nicht überschritten sei, zu geben. Die Kommission ergänzt, dass sie gemäß der Rechtsprechung in der Mitteilung der Beschwerdepunkte angegeben habe, in welcher Eigenschaft sie der Compagnie die Anschuldigungen zur Last gelegt habe.

 Würdigung durch das Gericht

442    Vorab ist festzustellen, dass die Compagnie durch ihre Bezugnahme auf Art. 41 der Grundrechtecharta zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes in ihrem ergänzenden Schriftsatz gegenüber den in ihrer Klageschrift genannten Klagegründen und Rügen weder einen neuen Klagegrund noch eine neue Rüge geltend macht. Somit ist dieses Vorbringen gemäß der oben in Rn. 301 genannten Rechtsprechung zulässig.

443    Zur Begründetheit ist sodann darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus der oben in den Rn. 206 bis 247 vorgenommenen Würdigung ergibt, die Kommission im vorliegenden Fall zu Recht der Compagnie das wettbewerbswidrige Verhalten von Saint-Gobain zugerechnet hat.

444    Mit dem vorliegenden Klagegrund wird dennoch die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung dem Begriff des Umsatzes des an der Zuwiderhandlung beteiligten „Unternehmens“ zu geben ist, auf den Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 Bezug nimmt, in einer Situation, in der die Kommission zu Recht der Muttergesellschaft die Verantwortung für das wettbewerbswidrige Verhalten einer oder mehrerer Tochtergesellschaften, die in einem bestimmten Wirtschaftssektor tätig sind, zugerechnet hat, und diese Muttergesellschaft zum anderen weitere Tochtergesellschaften hat, die in anderen Sektoren tätig sind und in Bezug auf die der bestimmende Einfluss der Muttergesellschaft in der streitigen Entscheidung nicht festgestellt wurde. Wie die Compagnie ausführt, hängt im vorliegenden Fall die Feststellung einer eventuellen Überschreitung der Obergrenze der gegen sie gesamtschuldnerisch mit Saint-Gobain verhängten Geldbuße von dem Ansatz ab, dem man in dieser Frage folgt.

445    Insoweit ist zunächst die Rüge zurückzuweisen, mit der die Compagnie einen Begründungsmangel hinsichtlich der Höhe des Umsatzes geltend macht, der von der Kommission verwendet wurde, um zu überprüfen, ob die Geldbuße, die sie gegen das durch die Compagnie und Saint-Gobain gebildete Unternehmen verhängt hat, die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze überstieg.

446    Da nämlich die Obergrenze den Umsatz der Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen betrifft, die die Zuwiderhandlung begangen haben und die Adressaten der Entscheidung sind, sind diese Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen hypothetisch in der Lage, die Einhaltung dieser Obergrenze nachzuprüfen. Bei diesen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen wird nicht nur davon ausgegangen, dass sie die fragliche gesetzliche Grenze kennen, sondern es wird auch angenommen, dass sie die Höhe ihres eigenen Umsatzes kennen. Sie sind somit in der Lage, zu beurteilen, ob die Geldbuße die Obergrenze von 10 % überschritten hat oder nicht, auch wenn die Entscheidung, mit der die Sanktion gegen sie verhängt wurde, keinerlei Begründung zu diesem Punkt enthält. Somit ist bezüglich der Anwendung dieser Obergrenze keine besondere Begründung erforderlich (Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2006, FNCBV/Kommission, T‑217/03 und T‑245/03, Slg. II‑4987, Rn. 237 und 238).

447    Jedenfalls hat die Kommission in Ziff. 13 der angefochtenen Entscheidung u. a. angegeben, dass sich der konsolidierte Gesamtumsatz der Saint-Gobain-Gruppe im Jahr 2007 auf 43,4 Mrd. Euro belief und dass der von Saint-Gobain im selben Geschäftsjahr erzielte Umsatz bei 5,611 Mrd. Euro lag. Wie sich im Übrigen aus den Ziff. 593 bis 623 der angefochtenen Entscheidung ergibt, hat die Kommission im vorliegenden Fall die von Saint-Gobain begangene Zuwiderhandlung der Compagnie zugerechnet, und sie hat in Ziff. 622 der angefochtenen Entscheidung u. a. den Schluss gezogen, dass die verschiedenen Tochtergesellschaften der Saint-Gobain-Gruppe, die an dem Kartell beteiligt waren, zusammen mit der Compagnie Teil des gleichen Unternehmens waren. Die Kommission hat im Übrigen in Ziff. 710 der angefochtenen Entscheidung darauf hingewiesen, dass gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung, 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht überschreiten darf. Schließlich ergibt sich zumindest implizit aus den Ziff. 710 bis 712 der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission im vorliegenden Fall davon ausgegangen ist, dass die gesamtschuldnerisch gegen Saint-Gobain und die Compagnie verhängte Geldbuße diese Obergrenze nicht überschritten hat.

448    Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Compagnie bei der Lektüre der angefochtenen Entscheidung verstehen konnte, dass die Kommission unter Bezugnahme auf den konsolidierten Umsatz der Saint-Gobain-Gruppe und aufgrund des von der Compagnie auf die Geschäftspolitik von Saint-Gobain ausgeübten bestimmenden Einflusses geprüft hat, dass die gegen dieses Unternehmen verhängte Geldbuße die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze nicht überstieg.

449    Was die Rüge betrifft, die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannte Obergrenze sei überschritten worden, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass durch die in dieser Vorschrift festgelegte Obergrenze die Verhängung von Geldbußen verhindert werden soll, die die Unternehmen aufgrund ihrer Größe, wie sie, wenn auch nur annähernd und unvollständig, anhand ihres Gesamtumsatzes ermittelt wird, voraussichtlich nicht werden zahlen können. Es handelt sich somit um eine Grenze, die einheitlich für alle Unternehmen gilt, von deren jeweiliger Größe abhängt und überhöhte und unverhältnismäßige Geldbußen verhindern soll (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, Rn. 280 und 281; vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2008, Knauf Gips/Kommission, T‑52/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 452). So verbietet Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 der Kommission nur, eine Geldbuße zu verhängen, die 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens übersteigt, wobei sich diese Obergrenze auf das Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung bezieht (Urteile Sarrió/Kommission, oben in Rn. 149 angeführt, Rn. 85, und Limburgse Vinyl Maatschappij u. a/Kommission, oben in Rn. 86 angeführt, Rn. 593).

450    Diese Obergrenze von 10 % ist anhand des gesamten Umsatzes aller Gesellschaften zu ermitteln, aus denen die als Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG auftretende wirtschaftliche Einheit besteht, da nur der Gesamtumsatz dieser Gesellschaften die Größe und die Wirtschaftskraft des fraglichen Unternehmens widerspiegeln kann (Urteile des Gerichts vom 20. März 2002, HFB u. a./Kommission, T‑9/99, Slg. 2002, II‑1487, Rn. 528 und 529, vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 90, und vom 16. November 2011, Sachsa Verpackung/Kommission, T‑79/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 107). So ist es nicht rechtsfehlerhaft, wenn die Kommission als Bezugspunkt für die Berechnung der Obergrenze der Geldbuße den konsolidierten Umsatz der betroffenen Dachgesellschaft zugrunde legt, wenn die Vermutung, diese habe einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der an der Zuwiderhandlung beteiligten Tochtergesellschaft oder Tochtergesellschaften ausgeübt, nicht widerlegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 210 angeführt, Rn. 91, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 288, vom 5. Oktober 2011, Transcatab/Kommission, T‑39/06, Slg. 2011, II‑6831, Rn. 129, und vom 12. Oktober 2011, Alliance One International/Kommission, T‑41/05, Slg. 2011, II‑7101, Rn. 166).

451    Überdies ist, wie die Kommission zu Recht geltend macht, das Ziel der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr.1/2003 genannten Obergrenze von demjenigen, das sich aus den Kriterien der Schwere und der Dauer ergibt, verschieden und autonom (Urteil Knauf Gips/Kommission, oben in Rn. 449 angeführt, Rn. 452). So ist die Beurteilung dieser Obergrenze in Bezug auf die Größe und die Wirtschaftskraft des betroffenen Unternehmens vorzunehmen, da diese Obergrenze verhindern soll, dass eine Geldbuße verhängt wird, hinsichtlich deren vorhersehbar ist, dass das in Rede stehende Unternehmen nicht in der Lage sein wird, sie zu bezahlen.

452    Der konsolidierte Umsatz der Saint-Gobain-Gruppe ist besser geeignet, die Größe und die Wirtschaftskraft des von der angefochtenen Entscheidung betroffenen Unternehmens widerzuspiegeln als der bloße vom Flachglassektor dieser Gruppe erzielte Anteil an diesem Umsatz (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 15. März 2000, Cimenteries CBR u.a./Kommission, T‑25/95, T‑26/95, T‑30/95 bis T‑32/95, T‑34/95 bis T‑39/95, T‑42/95 bis T‑46/95, T‑48/95, T‑50/95 bis T‑65/95, T‑68/95 bis T‑71/95, T‑87/95, T‑88/95, T‑103/95 und T‑104/95, Slg. 2000, II‑491, Rn. 5040, und Urteil HFB u. a./Kommission, oben in Rn. 450 angeführt, Rn. 529). Es ist insoweit unerheblich, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung nicht nachgewiesen hat, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik aller ihrer Tochtergesellschaften ausgeübt hat.

453    Somit kann der bloße Umstand, dass die Saint-Gobain-Gruppe in verschiedenen Industriesparten wie Glas, innovative Werkstoffe, Bauprodukte oder auch Verpackung tätig ist, nicht rechtfertigen, dass ein niedrigerer Umsatz als der konsolidierte Umsatz dieser Gruppe für die Berechnung der Obergrenze der Geldbuße zugrunde gelegt wird, und zwar selbst dann, wenn die Zuwiderhandlung, auf die die angefochtene Entscheidung gerichtet ist, nur eine einzige dieser Sparten betrifft.

454    Im Übrigen hat die Kommission, wie oben in Rn. 443 erwähnt, festgestellt, dass die Compagnie für die Zwecke der Anwendung des Art. 81 EG mit dem Flachglassektor der Saint-Gobain-Gruppe eine wirtschaftliche Einheit bildete. In einem solchen Fall ist es nach der Rechtsprechung rechtmäßig, wenn die Kommission den Umsatz der Muttergesellschaft berücksichtigt, um die Geldbuße in einer hinreichend abschreckenden Höhe festzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission, oben in Rn. 311 angeführt, Rn. 445). Dieses Ziel würde jedoch beeinträchtigt, wenn, wie die Compagnie im Wesentlichen vorschlägt, nur der Umsatz der Gesellschaften, die unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligt waren, als Bezugsgröße für die Berechnung der Geldbuße dienen kann (Urteil des Gerichts vom 13. September 2010, Trioplast Wittenheim/Kommission, T‑26/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 115).

455    Diese Schlussfolgerung ist nicht unvereinbar mit der Argumentation, der das Gericht im Urteil Knauf Gips/Kommission, oben in Rn. 449 angeführt, gefolgt ist. In diesem Urteil hat das Gericht, um zu ermitteln, ob der Gesamtumsatz, der von den Gesellschaften des Knauf-Konzerns weltweit erzielt wurde, für die Festsetzung der Obergrenze der Geldbuße berücksichtigt werden konnte, zum einen geprüft, ob die Knauf-Gruppe eine wirtschaftliche Einheit im Sinne des Wettbewerbsrecht ist, und zum anderen, ob die Kommission rechtlich hinreichend nachgewiesen hatte, dass die Klägerin in dieser Rechtssache die juristische Person war, die an der Spitze der Knauf-Gruppe für die Koordinierung des Handelns dieser Gruppe verantwortlich war (Urteil Knauf Gips/Kommission, oben in Rn. 449 angeführt, Rn. 339). Dieser Ansatz war in diesem Fall jedoch durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Kommission in der Entscheidung, deren Nichtigerklärung in dieser Rechtssache beantragt worden war, nicht in der Lage war, eine juristische Person an der Spitze der Gruppe von Gesellschaften auszumachen, aus der das Unternehmen bestand, die für die Zuwiderhandlung verantwortlich war und der man die von den verschiedenen sie bildenden Gesellschaften begangenen Zuwiderhandlungen hätte zuweisen können (Urteil Knauf Gips/Kommission, oben in Rn. 449 angeführt, Rn. 337). Im Gegensatz dazu konnte die Kommission in der vorliegenden Rechtssache das Verhalten von Saint-Gobain zu Recht der Compagnie, der Dachgesellschaft der Saint-Gobain-Gruppe, zuweisen.

456    Was schließlich die Rüge der Verletzung der Verteidigungsrechte insoweit betrifft, als die Kommission vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung der Compagnie nicht die Möglichkeit gegeben habe, zu beweisen, dass sie keinen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik aller ihrer Tochtergesellschaften ausgeübt habe, ist festzustellen, dass sie, selbst wenn man unterstellt, dass sie zulässig ist, obwohl sie erst im Stadium der Erwiderung erhoben wurde, jedenfalls unbegründet ist. Wie nämlich oben in Rn. 452 festgestellt, war es für die Berechnung der Obergrenze der gegen die Compagnie und Saint-Gobain verhängten Geldbuße unter Bezugnahme auf den konsolidierten Umsatz der Saint-Gobain-Gruppe nicht Voraussetzung, dass die Compagnie einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik aller ihrer Tochtergesellschaften ausübte.

457    Somit hat die Kommission nicht gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen, indem sie sich auf den konsolidierten Umsatz der Saint-Gobain-Gruppe stützte, um die Obergrenze der Geldbuße zu bestimmen, die im vorliegenden Fall gegen die Compagnie und Saint-Gobain verhängt werden konnte. Es ist festzustellen, dass die Geldbuße in Höhe von 880 Mio. Euro, die gesamtschuldnerisch gegen die Compagnie Saint-Gobain verhängt wurde, unter der so berechneten Obergrenze liegt.

458    Infolgedessen ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

C –  Schlussfolgerung zu den beiden Klagen hinsichtlich der Anträge auf Nichtigerklärung

459    Nach alledem ist den Anträgen der Compagnie und von Saint-Gobain auf Nichtigerklärung nur insoweit stattzugeben, als sie die Feststellung betreffen, die Kommission habe zu Unrecht die Flachglasentscheidung (Italien) berücksichtigt, um ihnen gegenüber den erschwerenden Umstand der Wiederholungstäterschaft festzustellen.

III –  Zu den Anträgen auf Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht

460    Saint-Gobain und die Compagnie beantragen auch, dass das Gericht seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im vorliegenden Fall ausübt und die gegen sie verhängte Geldbuße herabsetzt.

461    Vorab stellt das Gericht fest, dass die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, die ihm im Wettbewerbsrecht nach Art. 229 EG durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 erteilt wurde, es ermächtigt, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Sanktion hinaus, die nur die Zurückweisung der Nichtigkeitsklage oder die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände abzuändern und insbesondere die verhängte Geldbuße anders festzusetzen, wenn ihm die Frage nach deren Höhe zur Beurteilung vorgelegt worden ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 3. September 2009, Prym und Prym Consumer/Kommission, C‑534/07 P, Slg. 2009, I‑7415, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, oben in Rn. 86 angeführt, Rn. 692, und Urteil Romana Tabacchi/Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, Rn. 265).

462    Im vorliegenden Fall ist nacheinander zu prüfen: erstens das Vorbringen von Saint-Gobain, wonach von der Berechnungsgrundlage der Geldbuße die Umsätze abzuziehen seien, die sie außerhalb des EWR erzielt habe, zweitens das Vorbringen von Saint-Gobain, wonach die im Jahr 1999 erzielten Umsätze nicht für das Jahr 1998 zur Berechnung der Geldbuße verwendet werden dürften, drittens die Konsequenzen, die gegebenenfalls aus der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung zu ziehen sind, was die Berücksichtigung der Flachglasentscheidung (Italien) zur Feststellung der Wiederholungstäterschaft in Bezug auf die Compagnie und Saint-Gobain angeht, und schließlich viertens der neue Klagegrund, den die Compagnie in der mündlichen Verhandlung erhoben hat und der die Überschreitung einer angemessenen Frist betrifft.

A –  Zu den Umsätzen, die Saint-Gobain außerhalb des EWR erzielt zu haben behauptet

463    Saint-Gobain trägt vor, die Umsätze, die sie außerhalb des EWR erzielt habe, müssten von der Berechnungsgrundlage für die Geldbuße abgezogen werden, unabhängig von einer fehlenden Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung in diesem Punkt. Sie verweist insoweit auf Ziff. 13 der Leitlinien von 2006, nach denen nur die innerhalb des EWR erzielten Umsätze zur Festsetzung der Geldbußen, die bei einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG verhängt würden, berücksichtigt würden.

464    In Ziff. 33 der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission darauf hingewiesen, dass der räumliche Geltungsbereich des von dem Kartell betroffenen Marktes dem gesamten EWR entspreche.

465    In einem Schreiben an die Kommission vom 28. Januar 2008 zur Beantwortung eines Auskunftsverlangens Letzterer vom 10. Dezember 2007 verweist Saint-Gobain auf Jahresumsätze für die Geschäftsjahre 2001 bis 2004, die u. a. außerhalb der EWR durchgeführten Verkäufen entsprächen. In einem an die Kommission gerichteten Schreiben vom 22. August 2008 zur Beantwortung eines neuen Auskunftsverlangens Letzterer vom 25. Juli 2008 hat Saint-Gobain diese Informationen ergänzt und auf einen Teil der Umsätze für die Geschäftsjahre 1999 und 2000 hingewiesen, die ebenfalls außerhalb des EWR durchgeführten Verkäufen entsprächen.

466    Die Kommission ist jedoch der Ansicht, dass die Verkäufe, die außerhalb des EWR durchgeführt worden sein sollen, nicht von den ihr von Saint-Gobain mitgeteilten Gesamtumsätzen abzuziehen seien.

467    Das Gericht hat im Wege einer prozessleitenden Maßnahme Saint-Gobain aufgefordert, alle Dokumente zu übermitteln, die geeignet sind, die Richtigkeit der Umsätze, die außerhalb des EWR durchgeführt worden sein sollen, zu untermauern, einschließlich der Vorlage von Aufträgen, und genau anzugeben, auf welche Hersteller sich die Verkäufe beziehen, die den Umsätzen entsprechen. Saint-Gobain wurde auch aufgefordert, auf das Vorbringen der Kommission in ihrer Gegenerwiderung zu antworten, mit dem diese sich dagegen wendet, dass die in Rede stehenden Zahlen von der Berechnungsgrundlage abgezogen würden.

468    Das Gericht ist insoweit zunächst der Ansicht, dass Saint-Gobain nicht zugestimmt werden kann, wenn sie vorträgt, der Umstand, nach dem die oben in Rn. 167 und 168 genannten Argumente von der Kommission erst im Stadium der Gegenerwiderung vorgetragen worden seien, lege nahe, dass diese irrtümlich die außerhalb des EWR durchgeführten Verkäufe in die Berechnungsgrundlage der Geldbuße einbezogen habe.

469     Zum einen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass diese Klarstellungen von der Kommission in ihrer Gegenerwiderung als Antwort auf einen von Saint-Gobain in ihrer Erwiderung vorgetragenen neuen Klagegrund, der speziell diesen behaupteten Irrtum betraf, erfolgten. Zum anderen hatte die Kommission in ihren Auskunftsverlangen vom 10. Dezember 2007 und vom 25. Juli 2008 Saint-Gobain aufgefordert, ihr ihre im EWR erzielten Umsätze für mehrere aufeinanderfolgende Jahre zu übermitteln. In jedem dieser Auskunftsverlangen forderte sie Saint-Gobain auf, ihr, wenn möglich, beglaubigte Zahlen vorzulegen und die Umsätze für jeden betroffenen Automobilhersteller zu unterscheiden. Saint- Gobain hat aber im Laufe der Untersuchung nichts vorgelegt, was geeignet gewesen wäre, nachzuweisen, dass die Prozentsätze der Umsätze, die sie von den Zahlen, die sie zuvor an die Kommission übermittelt hatte, in Abzug bringen wollte, tatsächlich Verkäufen entsprachen, die außerhalb des EWR durchgeführt wurden.

470    Sodann ist festzustellen, dass Saint-Gobain einige Rechnungen oder Rechnungslisten, die sich auf Verkäufe außerhalb des EWR zwischen 1999 und 2003 bezogen, vorgelegt hat. Aus der Tabelle in Nr. 11 des Schreibens von Saint-Gobain an das Gericht vom 12. November 2012 ergibt sich, dass die betroffenen Hersteller [vertraulich] sind. Die Glasteile, auf die sich diese Rechnungen beziehen, betreffen Produktionsstätten, die sich zur Zeit des Sachverhalts außerhalb des EWR befanden [vertraulich].

471    Insoweit ist erstens zu bemerken, dass die Rechnungen und Rechnungslisten, die von Saint-Gobain vorgelegt wurden, nur einen Teil der Umsätze stützen können, die dieses Unternehmen im Zuwiderhandlungszeitraum außerhalb des EWR vornahm. So hat Saint-Gobain nur Rechnungen oder Rechnungslisten zu den Jahren 2002 und 2003 vorgelegt hinsichtlich Verkäufen von Glas an [vertraulich] und [vertraulich]. In einigen Fällen, betreffend u. a. Verkäufe an [vertraulich], wurde keine Rechnung vorgelegt.

472    Saint-Gobain versucht, die Lücken in ihren Unterlagen zu rechtfertigen, indem sie insbesondere geltend macht, seit dem Geschehen sei ein langer Zeitraum vergangen, was zur Folge habe, dass zahlreiche Beweisdokumente, Buchhaltungsunterlagen oder andere Dokumente verschwunden seien. Diesem letzten Argument kann jedoch nicht gefolgt werden. Saint-Gobain hätte nämlich versuchen können, die Beweisdokumente während der Untersuchung an die Kommission zu übermitteln, worauf sie ausdrücklich verzichtet hat, sowohl wegen des „relativ geringen Betrags“ der betroffenen Verkäufe als auch wegen der „größeren Schwierigkeiten, die sich gestellt hätten, um von der [Internationalen Geschäftsdatenbank von Saint-Gobain] die Umsatzzahlen zu diesen Verkäufen außerhalb des [EWR] zu erhalten“. Zu diesem Punkt ist zu betonen, dass entgegen dem Vorbringen von Saint-Gobain die Fragen, die die Kommission im Verlauf der Untersuchung wiederholt an sie gerichtet hat, so präzise waren, dass sie die Notwendigkeit, Beweise vorzulegen, die die Richtigkeit der Verkaufszahlen außerhalb des EWR, auf die sie sich berief, belegen konnten, verstehen konnte. Saint-Gobain kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie sich darauf beruft, dass die Kommission sie nicht ausreichend auf die Bedeutung der Aufschlüsselung der Umsätze nach Hersteller aufmerksam gemacht habe. Diese Behauptung wird nämlich durch den Wortlaut der von der Kommission am 10. Dezember 2007 und am 25. Juli 2008 an Saint-Gobain gerichteten Fragebögen widerlegt.

473    Zweitens ist zu bemerken, dass nach der angefochtenen Entscheidung alle oben in Rn. 470 genannten Hersteller von geheimen Absprachen seitens der Mitglieder des „Clubs“ betroffen waren. Zwar räumt Saint-Gobain in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts ein, dass diese Verkäufe zum Teil im Rahmen einer größeren Geschäftsbeziehung erfolgten, für die ein mit einer im EWR ansässigen Einrichtung des Herstellers geschlossener Rahmenvertrag gegolten habe, doch seien die in Rede stehenden Verkäufe das Ergebnis von Ausschreibungen für Lieferaufträge, die von außerhalb des EWR ansässigen Tochtergesellschaften vergeben worden seien, und die Glasteile seien an Produktionsstätten außerhalb des EWR geliefert worden. In der mündlichen Verhandlung hat Saint-Gobain auch ausgeführt, die zentralen Beschaffungsstellen der Automobilkonzerne innerhalb des EWR seien nicht systematisch für die Aushandlung der Lieferverträge zuständig gewesen.

474    Jedoch ist zunächst festzustellen, dass Saint-Gobain, nur mit Ausnahme des Rahmenvertrags mit [vertraulich], der nachstehend in Rn. 475 geprüft wird, keine näheren Angaben zu den Umsätzen gemacht hat, die in der Tabelle in Nr. 10 ihrer schriftlichen Antwort auf die Fragen des Gerichts erwähnt sind und die nicht im Rahmen einer größeren, durch einen Rahmenvertrag mit einem Automobilhersteller im EWR geregelten Geschäftsbeziehung durchgeführt worden sein sollen. Das Gericht betont im Übrigen insoweit, dass einige der Dokumente, die Saint-Gobain in Beantwortung der Fragen des Gerichts vorgelegt hat, das Geschäftsmodell der zentralen Beschaffungsstellen der Automobilhersteller im EWR veranschaulichten. Man muss hierzu auf die Ausschreibung von [vertraulich] für die Lieferung von Windschutzscheiben an die Produktionsstätte dieses Herstellers in [vertraulich] sowie ebenso auf den Vertrag zwischen Saint-Gobain und [vertraulich] über die Lieferung von Glasteilen für das Werk [vertraulich] verweisen.

475    Der zwischen Saint-Gobain und [vertraulich] geschlossene Rahmenvertrag zeigt letztlich, dass die Umsätze, die Saint-Gobain in diesem Kontext erzielte, nicht aufgrund eines Rahmenvertrags mit einem im EWR niedergelassenen Hersteller erzielt wurden. Das Gericht betont dennoch, dass es sich um das einzige Dokument handelt, das Saint-Gobain vorgelegt hat, um die Umsätze in der in Nr. 10 ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts angeführten Tabelle betreffend Lieferungen an diesen Hersteller im Zuwiderhandlungszeitraum zu belegen. Mangels sonstiger Beweisdokumente, wie Rechnungen oder Buchhaltungsunterlagen, ist das Gericht folglich nicht in der Lage, sich von der Richtigkeit der vorgetragenen Zahlen zu überzeugen. Dies gilt umso mehr, als der Vertrag zwischen Saint-Gobain und [vertraulich] weder zu den praktizierten Preisen noch zum Vertragsvolumen hinsichtlich der Glasteile bezifferte Hinweise gibt.

476    Schließlich betrafen die Verkäufe, die Saint-Gobain außerhalb des EWR durchgeführt zu haben behauptet, Produktionsstätten von Automobilherstellern in an den EWR angrenzenden Staaten, von denen die meisten seit dem Ende der Zuwiderhandlung der Union beigetreten sind. Wie aber die Kommission in der mündlichen Verhandlung zutreffend geltend gemacht hat, besteht kein Zweifel, dass zumindest ein Teil der Fahrzeuge, die in diesen Werken hergestellt und mit Glasteilen ausgerüstet wurden, auf die Saint-Gobain in der oben genannten Tabelle verweist, im EWR vermarktet wurden. Es kann deshalb vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass zwischen solchen Verkäufen und dem Binnenmarkt ein enger Zusammenhang besteht.

477    Unter diesen Umständen können die Argumente, die Saint-Gobain vorträgt, um eine Ermäßigung der Geldbuße dadurch zu rechtfertigen, dass ein Teil ihrer Umsätze außerhalb des EWR erzielt wurde, nicht durchgreifen.

B –  Zu den für das Jahr 1998 zu berücksichtigenden Verkaufszahlen

478    Was die Umsätze betrifft, die für das Jahr 1998 zu berücksichtigen sind, ist darauf hinzuweisen, dass Saint-Gobain im Verlauf der Untersuchung für dieses Jahr keine nach Hersteller aufgeschlüsselten Umsätze mitgeteilt hat. Folglich hat die Kommission, wie bereits oben in Rn. 138 ausgeführt, für das Jahr 1998 die Verkaufszahlen pro Hersteller berücksichtigt, die ihr Saint-Gobain für das am nächsten liegende Jahr, das in den Zuwiderhandlungszeitraum fällt, nämlich 1999, vorgelegt hat.

479    Saint-Gobain trägt jedoch vor, der Automobilglasmarkt sei zwischen 1998 und 1999 gewachsen, und folglich wäre die Berücksichtigung der 1998 tatsächlich erzielten Verkaufszahlen für die Festlegung der Berechnungsgrundlage für die Geldbußen günstiger für sie gewesen als die Berücksichtigung der Verkaufszahlen von 1999 auch für das Jahr 1998.

480    Insoweit ist festzustellen, dass das Vorbringen von Saint-Gobain vage ist und dass es überdies durch kein Beweisdokument gestützt wird. Im Übrigen hat Saint-Gobain sowohl während der Untersuchung als auch in ihren Schreiben angegeben, dass sie nicht in der Lage sei, für das Jahr 1998 genaue Umsätze pro Hersteller vorzulegen.

481    Unter diesen Umständen ist im vorliegenden Fall kein anderer Ansatz zu wählen als derjenige, dem die Kommission bei der Berechnung der Geldbuße gefolgt ist, und es sind für die Ermittlung der Umsätze für das Jahr 1998 keine anderen Verkaufszahlen heranzuziehen als diejenigen, die Saint-Gobain im Jahr 1999 erzielte.

C –  Zu den Folgen der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung wegen der Berücksichtigung der Flachglasentscheidung (Italien) für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft

482    Es ist über die Folgen der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung wegen der Berücksichtigung der Flachglasentscheidung (Italien) zu dem Zweck, in Bezug auf Saint-Gobain und die Compagnie den erschwerenden Umstand der Wiederholungstäterschaft festzustellen, zu entscheiden.

483    Vorab ist anzumerken, dass der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Regeln zur Wiederholungstäterschaft gerügt wird, sowohl von Saint-Gobain als auch der Compagnie vorgebracht wurde und dass diesem Klagegrund im Rahmen der von ihnen eingereichten Klagen teilweise stattgegeben wurde (siehe oben, Rn. 308 bis 321).

484    Sodann kann das Gericht gemäß der oben in Rn. 461 angeführten Rechtsprechung in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die Beurteilung der Kommission – sofern es dies für nötig erachtet – durch seine eigene ersetzen, was die Berechnung der Geldbuße und damit auch die Konsequenzen angeht, die aus der Feststellung zu ziehen sind, dass ein Unternehmen die Neigung hat, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen.

485    Der Umfang der Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße wegen Wiederholungstäterschaft soll die Schwere widerspiegeln, die mit der Wiederholung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens verbunden ist. Nach der angefochtenen Entscheidung war die Erhöhung um 60 % des Grundbetrags der Geldbuße sowohl im Hinblick auf die Flachglasentscheidung (Benelux) als auch auf die Flachglasentscheidung (Italien) gerechtfertigt. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass nur die erste dieser Entscheidungen zum Zweck der Feststellung der Wiederholungstäterschaft berücksichtigt werden kann und dass diese Entscheidung überdies diejenige war, die vom Beginn der Zuwiderhandlung, auf die sich die angefochtene Entscheidung bezieht, zeitlich am weitesten entfernt war, ist davon auszugehen, dass die Wiederholung des wettbewerbswidrigen Verhaltens durch Saint-Gobain und die Compagnie weniger schwer wiegt als von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung angenommen wurde.

486    In Anbetracht dieser Umstände ist der Prozentsatz der Erhöhung wegen Wiederholungstäterschaft auf 30 % herabzusetzen und somit die Geldbuße, die gegen Saint-Gobain und die Compagnie als Gesamtschuldner verhängt wurde, auf 715 Mio. Euro festzusetzen.

D –  Zu dem von der Compagnie in der mündlichen Verhandlung erhobenen neuen Klagegrund der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer

487    Die Compagnie hat in der mündlichen Verhandlung einen neuen Klagegrund erhoben, mit dem sie die Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Hinblick auf die überlange Dauer des Verwaltungs- und des Gerichtsverfahrens rügt. Die Compagnie betont insoweit, dass zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission die erste Untersuchungsmaßnahme in dieser Rechtssache erlassen habe, und dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, zu dem die Compagnie noch das Urteil des Gerichts erwartet habe, mehr als sieben Jahre vergangen seien. Dieser Zeitraum habe wegen der Bankbürgschaft, die von Seiten der Kommission gefordert worden sei, um die sofortige Bezahlung der gegen sie verhängten Geldbuße zu vermeiden, erhebliche Folgen für die Compagnie. Die Compagnie beantragt deshalb, die angefochtene Entscheidung unter Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer und der Kosten, die für sie durch diese Verzögerung entstanden seien, abzuändern.

488    Nach Ansicht der Kommission ist dieser Klagegrund unzulässig, soweit er darauf gerichtet ist, die Dauer des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat, zu berücksichtigen. Diese Dauer sei der Klägerin nämlich zum Zeitpunkt der Einreichung ihrer Klage bekannt gewesen, und es habe ihr somit frei gestanden, in diesem Stadium die Unverhältnismäßigkeit geltend zu machen. Jedenfalls könne die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht als übermäßig lang angesehen werden. Schließlich könne nach der Rechtsprechung eine eventuell überlange Verfahrensdauer nicht die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung beeinträchtigen, wobei eine Klage auf Schadensersatz davon jedoch unberührt bleibe.

489    Insoweit ist anzumerken, dass nach Art. 6 Abs. 1 EMRK jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

490    Als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts gilt dieses Recht auch im Rahmen einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission. Es ist im Übrigen auch in Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes betrifft, bekräftigt worden (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C‑385/07 P, Slg. 2009, I‑6155, Rn. 178 und 179 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

491    Außerdem stellt nach ständiger Rechtsprechung die Einhaltung einer angemessenen Frist ebenfalls einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der im Rahmen von Verwaltungsverfahren vor der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik anwendbar ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, Slg. 2006, I‑8725, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser Grundsatz ist als solcher in Art. 41 Abs. 1 der Grundrechtecharta bestätigt worden, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden.

492    Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta enthalten somit zwei Ausprägungen ein und desselben verfahrensrechtlichen Grundsatzes, nämlich dass die Rechtsunterworfenen eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist erwarten dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, Rn. 285).

493    Im vorliegenden Fall macht die Compagnie zwar eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend, behauptet aber nicht, dass die Dauer des Verfahrens irgendeinen Einfluss auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung gehabt hätte oder dass sie die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits beeinträchtigen könnte. Sie behauptet insbesondere nicht, dass sich diese Dauer in irgendeiner Weise auf ihre Möglichkeiten zur Verteidigung, sei es im Verwaltungsverfahren, sei es im gerichtlichen Verfahren, ausgewirkt hätte. Sie begehrt auch nicht die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung aufgrund des angeblichen Verstoßes. Vielmehr beantragt die Compagnie beim Gericht, die Entscheidung der Kommission als Folge dieser Verletzung zu ändern.

494    Insoweit ist zunächst festzustellen, dass – unterstellt, die Rüge des Überschreitens einer angemessenen Verfahrensdauer im Verwaltungsverfahren ist zulässig, obwohl sie nicht in der Klageschrift erhoben wurde – die Dauer dieses Verfahrens unter den Umständen des vorliegenden Falles jedenfalls nicht als übermäßig lang angesehen werden kann. Dieses Verfahren, das im Februar 2005 mit den Nachprüfungen der Kommission in einigen Geschäftsräumen der Saint-Gobain-Gruppe begann, endete mit dem Erlass der angefochten Entscheidung am 12. November 2008, d. h. nach einer Dauer von etwa drei Jahren und zehn Monaten. Es genügt insoweit der Hinweis, dass Gegenstand des Verfahrens ein besonders komplexes Kartell war, das allmählich nahezu die Gesamtheit der Automobilhersteller in der Union betraf und zu vielfältigen Kontakten und Treffen führte. Die Untersuchung dieser Sache durch die Kommission erforderte die Prüfung zahlreicher Tatsachen- und Rechtsfragen, was der Umfang der angefochtenen Entscheidung zeigt, die 731 Absätze und 221 Seiten umfasst. Im Übrigen lässt die Darstellung des Verfahrens durch die Kommission in den Rn. 39 bis 55 der angefochtenen Entscheidung keine ungerechtfertigten Zeiten der Untätigkeit erkennen.

495    Was sodann die Dauer des Gerichtsverfahrens angeht, das zur Verkündung des vorliegenden Urteils geführt hat, ist zu betonen, dass sich aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission (C‑58/12 P), ergibt, dass der Verstoß eines Unionsgerichts gegen seine Pflicht nach Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden ist, da eine solche Schadensersatzklage einen effektiven und allgemeinen Rechtsbehelf zur Geltendmachung und Ahndung eines solchen Verstoßes darstellt (Urteil Groupe Gascogne/Kommission, Rn. 82 und 83).

496    Somit stellt die im vorliegenden Fall von der Compagnie erhobene Klage, die nur auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung, soweit diese sie betrifft, oder hilfsweise auf Herabsetzung der Höhe der gegen sie verhängten Geldbuße gerichtet ist und die auf keinen Fall einer Schadensersatzklage gleichgestellt werden kann, keinen geeigneten Rahmen dar, um in der vorliegenden Rechtssache einen eventuellen Verstoß des Gerichts gegen seine Pflicht, innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, zu ahnden.

497    Rein fürsorglich ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird. Diese Garantie, die zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gehört, ist auch in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert.

498    Nach der Rechtsprechung deckt die Gewährleistung der Unparteilichkeit zwei Aspekte ab. Erstens muss das angerufene Gericht subjektiv unparteiisch sein, d. h., keines seiner Mitglieder darf Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen, wobei die persönliche Unparteilichkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird. Zweitens muss das Gericht objektiv unparteiisch sein, d. h. hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen (Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a., C‑341/06 P und C‑342/06 P, Slg. 2008, I‑4777, Rn. 54; vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile Piersack gegen Belgien vom 1. Oktober 1982, Serie A Nr. 53, § 30, De Cubber gegen Belgien vom 26. Oktober 1984, Serie A Nr. 86, §§ 24 bis 30, und Findlay gegen Vereinigtes Königreich vom 25. Februar 1997, Recueil des arrêts et décisions 1997‑I, § 73).

499    Vorliegend fordert die Compagnie mit ihrer Rüge der überlangen Verfahrensdauer des gerichtlichen Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache die Kammer des Gerichts, die für diese Rechtssache zuständig ist, auf, zu beurteilen, ob sie selbst durch eine ungerechtfertigte Verzögerung der Bearbeitung der Rechtssache einen Verfahrensfehler begangen hat. Eine solche Beurteilung würde folglich dazu führen, dass die jetzige Besetzung des Spruchkörpers nicht nur zu entscheiden hätte, ob ihr eine Verzögerung vorzuwerfen ist, sondern auch, gegebenenfalls, ob diese als übermäßig anzusehen ist.

500    In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass – selbst wenn angenommen wird, dass die Nichtigkeitsklage ein geeigneter Rahmen war, um eine Verletzung der Pflicht des Unionsrichters innerhalb einer angemessenen Frist zu ahnden – die jetzige Besetzung des Spruchkörpers der Compagnie jedenfalls keine hinreichenden Garantien hätte bieten können, um jeden rechtmäßigen Zweifel darüber auszuschließen, dass sie die Rüge der überlangen Dauer des gerichtlichen Verfahrens unparteiisch prüft (vgl. entsprechend Urteil vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission, oben in Rn. 495 angeführt, Rn. 90).

501    Somit ist der vorliegende Klagegrund, den die Compagnie zur Stützung ihres Änderungsantrags vorgetragen hat, als teilweise unbegründet und teilweise unzulässig zurückzuweisen.

 Kosten

502    Nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht die Kosten teilen oder beschließen, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt oder wenn ein außergewöhnlicher Grund gegeben ist.

503    Im vorliegenden Fall sind die Anträge der Klägerinnen nur teilweise für begründet erklärt worden. Wie jedoch Saint-Gobain in der mündlichen Verhandlung zutreffend geltend gemacht hat, ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ihr Verzicht auf eine ihrer Rügen betreffend eine fehlerhafte Berechnung der Geldbuße erfolgte, nachdem die Kommission in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens, nämlich nach der mündlichen Verhandlung, eine Berichtigungsentscheidung erlassen hatte.

504    Überdies hat der Rat seine Streithilfe in der Rechtssache T‑56/09 auf die Unterstützung der Anträge der Kommission auf Zurückweisung des ersten von Saint-Gobain geltend gemachten Klagegrundes, mit dem die Ungültigkeit der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt wurde, begrenzt. Dieser Klagegrund wurde als unbegründet zurückgewiesen.

505    Somit ist nach Ansicht des Gerichts bei angemessener Würdigung der Umstände des Falles zu entscheiden, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, mit Ausnahme des Rates, dessen Kosten von Saint-Gobain getragen werden.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Rechtssachen T‑56/09 und T‑73/09 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

2.      Die in Art. 2 Buchst. b der Entscheidung K(2008) 6815 endg. der Kommission vom 12. November 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81[EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/39.125 – Automobilglas), in der durch die Entscheidung K(2009) 863 endg. der Kommission vom 11. Februar 2009 und die Entscheidung K(2013) 1118 endg. vom 28. Februar 2013 geänderten Fassung, gegen die Saint-Gobain Glass France SA, die Saint-Gobain Sekurit Deutschland GmbH & Co. KG, die Saint-Gobain Sekurit France SAS und die Compagnie de Saint-Gobain SA gesamtschuldnerisch verhängte Geldbuße wird auf 715 Mio. Euro festgesetzt.

3.      Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.

4.      Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten, mit Ausnahme des Rates der Europäischen Union, dessen Kosten Saint-Gobain Glass France, Saint-Gobain Sekurit Deutschland und Saint-Gobain Sekurit France tragen.

Forwood

Dehousse

Schwarcz

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. März 2014.

Unterschriften

Inhaltsverzeichnis


Vorgeschichte des Rechtsstreits

Angefochtene Entscheidung

Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten

Rechtliche Würdigung

I –  Zum Gegenstand der Klage

II –  Zu den Anträgen auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung

A –  Rechtssache T‑56/09

1.  Zum ersten Klagegrund: Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1/2003

a)  Zum ersten Teil: Verstoß gegen das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

Würdigung durch das Gericht

b)  Zum zweiten Teil, mit dem die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gerügt wird

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

Würdigung durch das Gericht

2.  Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte

a)  Vorbringen der Parteien

b)  Würdigung durch das Gericht

3.  Zum dritten Klagegrund: unzureichende Begründung und fehlerhafte Berechnung der Geldbuße

a)  Zum ersten Teil: unzureichende Begründung

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

Würdigung durch das Gericht

b)  Zum zweiten Teil: Rechenfehler

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

4.  Zum vierten Klagegrund: Fehler bei der Zurechnung der Verantwortlichkeit des wettbewerbswidrigen Verhaltens von Saint-Gobain an die Compagnie, Verletzung der Grundsätze der individuellen Bestrafung und der Unschuldsvermutung sowie Ermessensmissbrauch

a)  Vorbringen der Parteien

b)  Würdigung durch das Gericht

Zur Zulässigkeit des Klagegrundes, wie er von Saint-Gobain erhoben wurde

Zur Begründetheit

5.  Zum fünften Klagegrund: Verletzung des Verbots der Rückwirkung von Strafen und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes

a)  Vorbringen der Parteien

b)  Würdigung durch das Gericht

6.  Zum sechsten Klagegrund: übermäßige Höhe der Geldbuße

a)  Zum ersten Teil: fehlerhafte Anwendung von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 hinsichtlich der Berücksichtigung der Wiederholungstäterschaft als erschwerender Umstand, Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Begründungsmangel

Vorbringen der Parteien

Würdigung des Gerichts

–  Zur Zulässigkeit des Vorbringens, das sich auf die Grundrechtecharta stützt und von der Compagnie in ihrem ergänzenden Schriftsatz dargelegt wird

–  Zur Begründetheit

b)  Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

c)  Zum dritten Teil: unzureichende Berücksichtigung des Umstandes, dass Saint-Gobain den Sachverhalt nicht bestritten hat, sowie ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und ein Begründungsmangel

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

B –  Rechtssache T‑73/09

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

C –  Schlussfolgerung zu den beiden Klagen hinsichtlich der Anträge auf Nichtigerklärung

III –  Zu den Anträgen auf Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht

A –  Zu den Umsätzen, die Saint-Gobain außerhalb des EWR erzielt zu haben behauptet

B –  Zu den für das Jahr 1998 zu berücksichtigenden Verkaufszahlen

C –  Zu den Folgen der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung wegen der Berücksichtigung der Flachglasentscheidung (Italien) für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft

D –  Zu dem von der Compagnie in der mündlichen Verhandlung erhobenen neuen Klagegrund der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer

Kosten


1 Verfahrenssprache: Französisch.