Language of document : ECLI:EU:C:2002:758

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCIS G. JACOBS

vom 12. Dezember 2002(1)

Rechtssache C-171/01

Wählergruppe Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG

1.
    Der Beschluss Nr. 1/80(2) des durch das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei(3) errichteten Assoziationsrates verbietet die Diskriminierung türkischer Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten hinsichtlich des Entgelts und anderer Arbeitsbedingungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der österreichische Verfassungsgerichtshof möchte wissen, ob dieser Text nationalen Vorschriften entgegensteht, nach denen türkische Arbeitnehmer nicht in die Vollversammlung einer Arbeiterkammer gewählt werden können, und gegebenenfalls, ob er unmittelbare Wirkung hat.

Rechtslage

Das Abkommen EWG-Türkei und der Beschluss Nr. 1/80

2.
    Das Abkommen hat im Wesentlichen zum Ziel, engere Verbindungen zwischen der Türkei und der Gemeinschaft zu schaffen und die Handelsbeziehungen zwischen ihnen zu verstärken, die türkische Wirtschaft zu entwickeln und das Beschäftigungsniveau und die Lebenshaltung des türkischen Volkes im Hinblick auf den späteren Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu verbessern. Das Abkommen sieht eine Vorbereitungshase, eine Übergangsphase - die derzeitige Phase - und eine Endphase vor(4).

3.
    Nach Artikel 9 erkennen die Vertragsparteien an, dass für den Anwendungsbereich des Abkommens entsprechend dem nach Änderung jetzt in Artikel 12 verankerten Grundsatz jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.

4.
    Die Artikel 12 bis 14 des Abkommens sehen die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs vor. In Artikel 12 vereinbaren die Vertragsparteien, sich von der nach Änderung jetzt in den Artikeln 39 EG bis 41 EG enthaltenen Regelung leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.

5.
    Ein Zusatzprotokoll zu dem Abkommen(5) legt die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der Übergangsphase fest. Die Artikel 36 bis 40 dieses Protokolls betreffen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Nach Artikel 36 wird „die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei ... nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens ... schrittweise hergestellt ... Der Assoziationsrat legt die hierfür erforderlichen Regeln fest.“

6.
    Artikel 37 des Zusatzprotokolls lautet: „Jeder Mitgliedstaat sieht für die in der Gemeinschaft beschäftigten Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit eine Regelung vor, die in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und das Entgelt keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung gegenüber Arbeitnehmern enthält, die Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten sind.“

7.
    Nach Artikel 6 des Assoziierungsabkommens wird ein Assoziationsrat errichtet, um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziation sicherzustellen. Dieser ist gemäß Artikel 22 Absatz 1 in den im Abkommen vorgesehenen Fällen befugt, Beschlüsse zu fassen, und die Vertragsparteien sind verpflichtet, die zur Durchführung dieser Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Nach Artikel 23 gehören dem Assoziationsrat Mitglieder der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates, der Kommission und der türkischen Regierung an.

8.
    Am 19. September 1980 erließ der Assoziationsrat den Beschluss Nr. 1/80, dessen Artikel 10 Absatz 1 lautet: „Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft räumen den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt.“

Vertragsvorschriften und die Verordnung Nr. 1612/68

9.
    Wie bereits ausgeführt, nimmt das Abkommen EWG-Türkei auf eine Reihe von Vertragsvorschriften Bezug, in deren Licht es auszulegen ist.

10.
    Artikel 12 EG bestimmt: „[Im] Anwendungsbereich ... dieses Vertrages ist ... jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ Artikel 39 gewährleistet die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, die nach Absatz 2 dieser Vorschrift „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ umfasst(6). Nach Absatz 4 findet dieser Artikel jedoch keine Anwendung auf die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“. Nach Artikel 40 trifft der Rat durch Richtlinien oder Verordnungen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 39 herzustellen.

11.
    Eine solche Maßnahme ist die Verordnung Nr. 1612/68 des Rates(7). Artikel 7 Absatz 1 bestimmt: „Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.“ Nach Artikel 8 Absatz 1(8) hat ein solcher Arbeitnehmer „Anspruch auf gleiche Behandlung hinsichtlich der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte, einschließlich des Wahlrechts sowie des Zugangs zur Verwaltung oder Leitung von Gewerkschaften; er kann von der Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Amtes ausgeschlossen werden. Er hat ferner das Recht auf Wählbarkeit zu den Organen der Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben ...“

Die ASTI-Rechtssachen

12.
    Im Jahr 1991 hat der Gerichtshof das Urteil in der Rechtssache ASTI erlassen(9). Der Ausgangsrechtsstreit betraf die Verpflichtung zur Entrichtung von Beiträgen zur Chambre des Employés Privés, einer Berufskammer in Luxemburg, durch Arbeitnehmer, die Gemeinschaftsbürger, aber nicht luxemburgische Staatsangehörige waren und die dieser Kammer nach luxemburgischem Recht zwingend angehörten, aber wegen ihrer Staatsangehörigkeit vom Wahlrecht bei den Berufskammerwahlen ausgeschlossen waren.

13.
    Der Gerichtshof hat diese Frage vor allem anhand des Artikels 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 geprüft und ausgeführt, dass dieser „über den Rahmen der Gewerkschaften im eigentlichen Sinne hinaus[geht] und ... insbesondere die Teilnahme der Arbeitnehmer an Einrichtungen [umfasst], die zwar nicht die Rechtsnatur von Gewerkschaften aufweisen, aber dennoch der Verteidigung und Vertretung von Arbeitnehmerinteressen vergleichbare Funktionen ausüben“(10), und dass er „nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die ausländischen Arbeitnehmern das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zu einer Berufskammer verweigern, der sie kraft Rechtsvorschrift zugehören, an die sie Beiträge entrichten, die mit der Verteidigung der Interessen der ihr zugehörigen Arbeitnehmer betraut ist und die eine beratende Funktion im Gesetzgebungsbereich ausübt“(11).

14.
    Durch diese Entscheidung hat der Gerichtshof das Argument der luxemburgischen Regierung zurückgewiesen, dass die in Rede stehende Berufskammer unter die in Artikel 8 Absatz 1 enthaltene Ausnahmeregelung falle, da sie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sei und durch ihre beratende Funktion an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse teilnehme, und ausgeführt, dass der Ausschluss (der der Ausnahmeregelung des Artikels 39 Absatz 4 EG entspricht) lediglich erlaube, Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten von bestimmten Tätigkeiten auszuschließen, die mit der Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind(12).

15.
    In der Folgezeit hat der Gerichtshof dieses Urteil in der Rechtssache Kommission/Luxemburg(13) bestätigt und entschieden, dass Luxemburg gegen seine Verpflichtungen aus dem jetzigen Artikel 39 Absatz 2 EG sowie Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 verstoßen habe, „indem es Rechtsvorschriften aufrechterhalten hat, die [im Großherzogtum Luxemburg] beschäftigten Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, das Recht vorenthalten, bei den Wahlen zu den luxemburgischen Berufskammern zu wählen und gewählt zu werden“.

Das einschlägige österreichische Recht

16.
    In Österreich haben die Kammern für Arbeiter und Angestellte (im Folgenden: Arbeiterkammern) in jedem Land, die in der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte (im Folgenden: Bundesarbeitskammer) zusammengeschlossen sind, die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu vertreten und zu fördern. Nach dem Arbeiterkammergesetz (AKG) von 1992 sind die Arbeiterkammern und die Bundesarbeitskammer Körperschaften des öffentlichen Rechts.

17.
    Dem Vorlagebeschluss zufolge befassen sie sich im Wesentlichen mit

-    der Interessenvertretung der Arbeitnehmer einschließlich der Arbeitslosen und Pensionisten, insbesondere der Entsendung von Vertretern in Körperschaften oder sonstige Einrichtungen,

-    der Überwachung von Arbeitsbedingungen,

-    der Zusammenarbeit mit den kollektivvertragsfähigen freiwilligen Berufsvereinigungen und den Organen der betrieblichen Interessenvertretung

und

-    der Beratung und insbesondere der gerichtlichen Vertretung der Arbeitnehmer in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten.

18.
    Außerdem sind die Arbeiterkammern im übertragenen Wirkungsbereich unter Bindung an die Weisungen staatlicher Organe berufen, Aufgaben der staatlichen Verwaltung, die ihnen durch Gesetz übertragen werden, wahrzunehmen. Dem Vorlagebeschluss zufolge sind ihnen jedoch insoweit keine nennenswerten Befugnisse eingeräumt worden.

19.
    Alle Arbeitnehmer sind grundsätzlich Mitglieder der Arbeiterkammern und verpflichtet, Beiträge zu entrichten.

20.
    Zu den Organen einer Arbeiterkammer zählt eine Vollversammlung, die aus den auf fünf Jahre von den wahlberechtigten Arbeitnehmern gewählten Kammerräten besteht. Dabei sind - unabhängig von der Staatsangehörigkeit - alle am Stichtag kammerzugehörigen Arbeitnehmer aktiv wahlberechtigt.

21.
    Hinsichtlich der Wählbarkeit stellt § 21 AKG jedoch bestimmte Bedingungen auf, u. a. die, dass die Kandidaten (abgesehen vom Erfordernis des Wahlalters) in den Nationalrat wählbar sein müssen. Dadurch werden insbesondere alle Personen ausgeschlossen, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.

Verfahren

22.
    Im Jahr 1999 fand die Wahl zur Vollversammlung der Arbeiterkammer für Vorarlberg statt.

23.
    Die wahlwerbende Gruppe „Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG“ (im Folgenden: Gemeinsam) brachte einen Wahlvorschlag ein, der 26 Kandidatinnen und Kandidaten umfasste, darunter fünf türkische Staatsangehörige, die alle Rechte aus dem Abkommen EWG-Türkei besaßen. Die Hauptwahlkommission entschied jedoch, die fünf türkischen Staatsangehörigen wegen fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft vom Wahlvorschlag zu streichen.

24.
    Gemeinsam gewann mit 1 535 von insgesamt 45 444 gültigen Stimmen zwei von insgesamt 70 Sitzen. Die Gruppe focht sodann die Gültigkeit der Wahlen bei der zuständigen Bundesministerin an, die die Anfechtung im Wesentlichen mit der Begründung abwies, dass, obwohl das Erfordernis der österreichischen Staatsangehörigkeit nach dem - unmittelbar anwendbaren - Diskriminierungsverbot des Artikels 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtswidrig sei, die Streichung der türkischen Staatsangehörigen vom Wahlvorschlag das Wahlergebnis nicht habe beeinflussen können, weil Listen und nicht einzelne Kandidaten zur Wahl gestanden hätten.

25.
    Gemeinsam und die fünf von der Wahl ausgeschlossenen türkischen Kandidaten richteten sodann eine Wahlanfechtung an den Verfassungsgerichtshof und wandten sich hauptsächlich gegen den zweiten Teil der Begründung der Ministerin. Das Gericht stimmte der Anfechtungswerberin offensichtlich in diesem Punkt zu, scheint jedoch Bedenken gegen den ersten Teil der Begründung zu haben, in dem die Ministerin die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Bestimmung bejahte. Es bezweifelt ausdrücklich, dass die Wählbarkeit zu der Vollversammlung einer Arbeiterkammer unter den Begriff „übrige Arbeitsbedingungen“ in Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses fällt.

26.
    Der Verfassungsgerichtshof ersucht deshalb um Vorabentscheidung über folgende Fragen:

1.    Ist Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 in der Weise auszulegen, dass die Bestimmung einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die türkische Arbeitnehmer von der Wählbarkeit in die Vollversammlung einer Arbeiterkammer ausschließt?

2.    Bei Bejahung der ersten Frage: Ist Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht?

27.
    Gemeinsam, die Arbeiterkammer für Vorarlberg, die österreichische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Alle Beteiligten mit Ausnahme der österreichischen Regierung haben in der Sitzung vom 24. Oktober 2002 mündliche Ausführungen gemacht.

28.
    Es mag nützlich sein, sich daran zu erinnern, dass derzeit eine entsprechende Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen die Republik Österreich beim Gerichtshof anhängig ist (Rechtssache C-465/01).

29.
    Am 9. Juli 1999 teilte die Kommission den österreichischen Behörden gemäß Artikel 226 EG mit, dass die österreichischen Bestimmungen über die Wählbarkeit in eine Arbeiterkammer oder einen Betriebsrat ihrer Meinung nach gegen Artikel 39 EG, Artikel 28 des EWR-Abkommens und das in verschiedenen von der Gemeinschaft geschlossenen Assoziierungsabkommen verankerte Diskriminierungsverbot verstießen. Am 4. Dezember 2001 hat sie Klage beim Gerichtshof erhoben.

30.
    Der Gegenstand jenes Verfahrens ist weiter als der des vorliegenden Verfahrens, da sich jenes Verfahren auch auf Betriebsräte bezieht und sich sowohl auf Bürger der Europäischen Union als auch auf Staatsangehörige anderer EWR-Staaten erstreckt. Die Entscheidung im vorliegenden Verfahren mag jedoch helfen, die Streitpunkte in jenem Verfahren beizulegen.

Beurteilung

Die erste Frage

31.
    Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates verbietet es, türkische Staatsangehörige, die dem regulären Arbeitsmarkt ihres Aufnahmemitgliedstaats angehören, aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Bezug auf das Arbeitsentgelt und die sonstigen Arbeitsbedingungen gegenüber Gemeinschaftsangehörigen zu diskriminieren. Unzweifelhaft betrifft die vorliegende Rechtssache nur türkische Staatsangehörige, die dem regulären Arbeitsmarkt angehören.

32.
    Es ist zu prüfen, ob das Recht, in die Vollversammlung einer Arbeiterkammer in Österreich gewählt zu werden, unter dieses Diskriminierungsverbot fällt.

33.
    Dagegen wurden im Wesentlichen zwei Gründe geltend gemacht: Erstens falle dieses Recht, wie das vorlegende Gericht meint und die österreichische Regierung vorträgt, möglicherweise nicht unter den Begriff „Arbeitsbedingungen“ im Sinne dieser Bestimmung. Zweitens könnte dieses Recht, wie die Arbeiterkammer für Vorarlberg geltend macht, selbst wenn es unter diese Definition fiele, gleichwohl vom Diskriminierungsverbot ausgenommen sein, da die gewählten Personen an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse teilnähmen.

a) Ist das Recht, in die Vollversammlung einer Arbeiterkammer gewählt zu werden, eine „Arbeitsbedingung“?

34.
    Was die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft, hat der Gerichtshof das Abkommen EWG-Türkei, das Zusatzprotokoll und die Beschlüsse des Assoziationsrates anhand der Artikel 39 EG bis 41 EG ausgelegt, was unter Berücksichtigung des Artikels 12 des Abkommens völlig korrekt ist.

35.
    Kürzlich hat er z. B. im Urteil Nazli(14) ausgeführt:

„Die Vorschriften des Abschnitts 1 von Kapitel II des Beschlusses Nr. 1/80(15) bilden somit eine weitere Stufe bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Geiste der Artikel [39 EG bis 40 EG] ...(16)

Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens und des Artikels 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 hergeleitet, dass die im Rahmen der Artikel [39 EG bis 41 EG] geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen ... (17)

Daraus folgt, dass bei der Bestimmung des Umfangs der in Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sind, ausgelegt wird. Eine solche Auslegung ist umso mehr gerechtfertigt, als die genannte Vorschrift nahezu denselben Wortlaut wie Artikel [39 Absatz 3 EG] hat.“(18)

36.
    Diese letztgenannte Erwägung ist im vorliegenden Fall von Bedeutung, und zwar aufgrund der starken Ähnlichkeit zwischen dem Wortlaut des Artikels 39 Absatz 2 EG und dem des Artikels 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80, soweit er hier erheblich ist.

37.
    Zudem übernimmt Artikel 9 des Abkommens EWG-Türkei ausdrücklich das in Artikel 12 EG aufgestellte allgemeine Diskriminierungsverbot.

38.
    Für den Anwendungsbereich des Vertrages ist aufgrund der Urteile ASTI und Kommission/Luxemburg klar, dass das österreichische Recht Gemeinschaftsbürger nicht von der Wählbarkeit zur Vollversammlung einer Arbeiterkammer ausschließen darf.

39.
    Ein einziges Argument könnte gegen die Anwendung dieses Grundsatzes auf türkische Arbeitnehmer sprechen, die bereits dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören und somit nicht hinsichtlich der Arbeitsbedingungen diskriminiert werden dürfen.

40.
    Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, auf den sich der Gerichtshof in jenen Rechtssachen besonders gestützt hat, ist deutlicher als Artikel 39 Absatz 2 EG. Er ist auch deutlicher als Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, dessen Wortlaut eher mit dem des Artikels 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vergleichbar ist. Man könnte deshalb annehmen, dass Artikel 8 Absatz 1 eine Erweiterung der Rechte enthält, die Arbeitnehmern im Allgemeinen im Bereich der Freizügigkeit eingeräumt werden, und über das hinausgeht, was normalerweise unter „Arbeitsbedingungen“ verstanden wird - eine Erweiterung allerdings, die speziell auf Gemeinschaftsbürger (und Staatsangehörige der anderen EWR-Staaten) beschränkt ist, die unter die Verordnung Nr. 1612/68 fallen. Man könnte somit aus dem Umstand, dass im Zusammenhang mit dem Abkommen EWG-Türkei keine solche ausdrückliche Vorschrift erlassen wurde, schließen, dass das Recht auf Wählbarkeit zu den Organen der Arbeitnehmervertretungen hier nicht zum Tragen kommt.

41.
    Ich stimme dieser Auffassung jedoch nicht zu.

42.
    Meines Erachtens gehört das Recht auf Teilnahme an der Vertretung der Beschäftigten zu den „Arbeitsbedingungen“ im Sinne des Vertrages, der Verordnung Nr. 1612/68, des Abkommens EWG-Türkei und des Zusatzprotokolls dazu sowie des Beschlusses Nr. 1/80.

43.
    Der Begriff der Arbeitsbedingungen, der in verschiedenen Gemeinschaftsvorschriften im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot verwendet wird, ist, wie das vorlegende Gericht, die österreichische Regierung und die Kommission übereinstimmend dargelegt haben, vom Gerichtshof weit ausgelegt worden, so z. B. im Urteil Meyers(19), das einen Fall der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Vergabe von Familiendarlehen betraf. Der Gerichtshof hat es abgelehnt, diesen Begriff auf die Arbeitsbedingungen zu beschränken, die im Arbeitsvertrag enthalten sind oder vom Arbeitgeber angewandt werden, da dies darauf hinauslaufen würde, dass Situationen, die unmittelbar auf dem Arbeitsverhältnis beruhen, dem Anwendungsbereich des fraglichen Diskriminierungsverbots(20) entzogen wären.

44.
    Meines Erachtens kann vernünftigerweise nicht angenommen werden, dass ein Arbeitnehmer, dem das - den Staatsangehörigen seines Aufnahmestaats zustehende - Recht auf Teilnahme an Gewerkschaften oder anderen vergleichbaren Organisationen, die die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, abgesprochen wird, keiner Diskriminierung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen ausgesetzt ist. Bei einer weiten Auslegung dieses Begriffes, wie der Gerichtshof sie in ständiger Rechtsprechung befürwortet hat, kann nicht zwischen der Teilnahme an den verschiedenen Verfahren zur Regelung der Arbeitsbedingungen und diesen Bedingungen selbst oder zwischen der Teilnahme in Form des aktiven und in Form des passiven Wahlrechts unterschieden werden.

45.
    Anders ausgedrückt: Wenn alle Arbeitnehmer denselben materiellen Arbeitsbedingungen unterliegen und eine Organisation existiert, die möglicherweise einigen Einfluss auf diese Bedingungen nehmen kann, kann nicht behauptet werden, dass keine Diskriminierung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vorliegt, wenn eine Gruppe sowohl das passive als auch das aktive Wahlrecht für die Organe dieser Organisation besitzt, während eine andere Gruppe lediglich das aktive Wahlrecht hat.

46.
    In der Tat erscheint es unvereinbar mit der z. B. in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union und in Artikel 136 EG zum Ausdruck gebrachten Bindung der Mitgliedstaaten an die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, irgendeinem Arbeitnehmer dieses Recht zu versagen. Darüber hinaus könnte es - ganz abgesehen von der Diskriminierung der betroffenen Personen - den Einfluss der Organe der Arbeitnehmervertretungen beeinträchtigen und ihre Legitimität untergraben, wenn in einem bestimmten Sektor, Betrieb oder Unternehmen ein nennenswerter Anteil der Arbeitnehmer durch eine Vorschrift wie die, um die es hier geht, ausgeschlossen würde.

47.
    Ich bin deshalb der Auffassung, dass Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 eine Verdeutlichung des Umfangs des in Artikel 39 Absatz 2 EG aufgestellten und in Artikel 7 Absatz 1 dieser Verordnung bestätigten Diskriminierungsverbots enthält.

48.
    Außerdem verdeutlicht er jedoch auch die sich aus Artikels 39 Absatz 4 EG - wonach Artikel 39 keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung findet - ergebenden Grenzen dieses Umfangs durch die Bestimmung, dass Ausländer „von der Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Amtes ausgeschlossen werden“ können. Bei der Ermittlung der Tragweite des entsprechenden Verbotes in Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sind somit beide Aspekte dieser Verdeutlichung zu berücksichtigen.

b) Ist die Wahl zur Vollversammlung einer Arbeiterkammer eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse?

49.
    Die Arbeiterkammer für Vorarlberg macht drei Argumente dafür geltend, dass das Recht, an Arbeitnehmervertretungen teilzunehmen, unter Artikel 39 Absatz 4 EG falle, der anwendbar sei, wenn „die betreffenden Stellen typisch für die spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung insoweit sind, als diese mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und mit der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut ist“(21).

50.
    Erstens seien die Arbeiterkammern nicht territoriale Selbstverwaltungsorgane, die Körperschaften des öffentlichen Rechts seien, dem verfassungsmäßigen Demokratieprinzip unterlägen und quasi-legislative und Entscheidungskompetenzen hätten, die die Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich brächten. Die Teilnahme am demokratischen Prozess setze den Besitz der betreffenden Staatsangehörigkeit voraus. Die einzige Ausnahme sei das allen Unionsbürgern durch Artikel 19 Absatz 1 EG eingeräumte aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Dies sei jedoch eine begrenzte Ausnahme, die ausdrücklich im Vertrag vorgesehen sei. Die österreichischen Arbeiterkammern bildeten ein anderes subnationales demokratisches Organ, das nicht unter diese Ausnahme falle, so dass sogar Unionsbürger hier kein passives Wahlrecht hätten. Dies müsse erst recht für türkische Staatsangehörige gelten.

51.
    Zweitens legt die Arbeiterkammer dem Gerichtshof eine sorgfältig erstellte vollständige Liste von Regierungsstellen vor, für die Mitglieder oder Vertreter ernannt oder bestimmt würden und die staatliche Befugnisse ausüben könnten.

52.
    Drittens weist die Arbeiterkammer für Vorarlberg darauf hin, dass in dem Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates, der am selben Tag erlassen wurde wie der Beschluss Nr. 1/80, türkische Arbeitnehmer ausdrücklich vom passiven Wahlrecht für Organe der sozialen Sicherheit ausgeschlossen würden, während sie das aktive Wahlrecht besäßen(22). Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist ihrer Meinung nach im Licht dieser Vorschrift auszulegen.

53.
    Auffallend ist, dass das Vorbringen der Arbeiterkammer für Vorarlberg den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs im Ausgangsverfahren zu widersprechen scheint. Dieser bringt klar zum Ausdruck(23), dass auf die österreichischen Arbeiterkammern alle Merkmale zuträfen, die der Gerichtshof in den Urteilen ASTI und Kommission/Luxemburg für entscheidungsrelevant gehalten habe, und dass die typischen Befugnisse dieser Kammern zur Mitwirkung an der staatlichen Wirtschafts- und Sozialverwaltung oder zur Entsendung von Mitgliedern in staatliche Verwaltungsorgane die Arbeiterkammern als solche nicht an der staatlichen Hoheitsverwaltung teilnehmen ließen.

54.
    Zweifellos ist der Verfassungsgerichtshof für die Bestimmung der Rolle, der Natur und der Befugnisse der Arbeiterkammern nach innerstaatlichem Recht besser qualifiziert als der Gerichtshof. Es wird deshalb in erster Linie Aufgabe dieses Gerichts sein, festzustellen, inwieweit die Arbeiterkammern möglicherweise hoheitliche Befugnisse ausüben.

55.
    Jedenfalls findet sich meines Erachtens auch unter Berücksichtigung des sehr ausführlichen Vorbringens der Arbeiterkammer im Gemeinschaftsrecht keine Stütze für deren Vorbringen.

56.
    Erstens ist zu betonen, dass es hier um eine Einschränkung eines Grundrechts geht, die als solche eng auszulegen ist.

57.
    Ferner ergibt sich diese Einschränkung aus Artikel 39 Absatz 4 EG und ist sowohl in Artikel 8 Absatz 1 Verordnung Nr. 1612/68 als auch in Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dementsprechend auszulegen. Unter Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes „diejenigen Stellen zu verstehen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Ausgenommen sind nur die Stellen, die in Anbetracht der mit ihnen verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten die Merkmale der spezifischen Tätigkeiten der Verwaltung auf den genannten Gebieten aufweisen können.“ Ein solches Verhältnis besonderer Verbundenheit sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten sind jedoch nach meiner Ansicht in keinem der von der Arbeiterkammer angeführten Beispiele zu finden(24).

58.
    Der Umstand, dass die Arbeiterkammern demokratischen und verfassungsmäßigen Prinzipien unterliegen, erscheint als solcher unerheblich, und jede Beurteilung ihrer demokratischen Legitimität muss zweifellos die Identität und die Interessen der von ihnen Repräsentierten berücksichtigen - hier weniger der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats als vielmehr derjenigen, die dort arbeiten. Darüber hinaus erscheint die Art von Maßnahmen, die die Kammern selbst erlassen können, hauptsächlich der Selbstverwaltung zu dienen; die Arbeiterkammer für Vorarlberg weist selbst auf die Autonomie der Arbeiterkammern hin und führt aus, dass sich deren Tätigkeitsbereich im Wesentlichen auf die Interessen der von ihnen Repräsentierten beschränke.

59.
    Zwar mögen mehrere in der Liste genannte Einrichtungen, zu denen die Arbeiterkammern Mitglieder entsenden können, hoheitliche Befugnisse ausüben (wenngleich viele andere eine rein beratende Rolle spielen und sich das Recht der Arbeiterkammern offensichtlich in den meisten Fällen darauf beschränkt, eine Reihe von Kandidaten vorzuschlagen, von denen eine staatliche Behörde dann einen oder mehrere ernennen kann). Aber selbst wenn die in Artikel 39 Absatz 4 EG und Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 enthaltene Ausnahmeregelung auf die Mitgliedschaft in solchen Einrichtungen anwendbar ist, so dass türkische Arbeitnehmer ihnen nicht angehören können, bedeutet dies nicht, dass diese Arbeitnehmer von der Mitgliedschaft in den Vollversammlungen der Arbeiterkammern selbst ausgeschlossen werden müssen. Dazu hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Belgien(25), das im Urteil ASTI zitiert wird, ausgeführt:

„Artikel 8 der Verordnung Nr. 1612/68 soll nicht den Arbeitnehmern der anderen Mitgliedstaaten den Zugang zu bestimmten Stellen verwehren, sondern erlaubt es lediglich, diese Arbeitnehmer eventuell von bestimmten Tätigkeiten auszuschließen, die mit der Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind, wie etwa jene - um bei den von der belgischen Regierung selbst angeführten Beispielen zu bleiben -, bei denen es zur .Mitwirkung von Gewerkschaftsvertretern in den Verwaltungsräten zahlreicher wirtschaftlich tätiger öffentlich-rechtlicher Körperschaften‘ kommt.“

60.
    Die aufgestellte These findet meines Erachtens auch keine Stütze in dem vorgeschlagenen Vergleich mit dem Ausschluss türkischer Arbeitnehmer von der Wählbarkeit zu den Organen der Träger der sozialen Sicherheit in Artikel 3 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 3/80. Dieser bestätigt eher - wenn er überhaupt irgendetwas bestätigt - meine bereits dargelegte Meinung, dass es diesen Arbeitnehmern gestattet sein muss, an Einrichtungen teilzunehmen, die Mitglieder in Organe entsenden, die hoheitliche Befugnisse ausüben, ohne dass sie selbst Mitglieder dieser Organe sein können.

61.
    Ich gelange somit zu der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der Beurteilung der Rolle und der Befugnisse der österreichischen Arbeiterkammern durch den Verfassungsgerichtshof und unter dem alleinigen Vorbehalt einer Änderung dieser Beurteilung Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates einer innerstaatlichen Regelung entgegensteht, die türkische Arbeitnehmer von der Wählbarkeit in die Vollversammlung dieser Arbeiterkammern ausschließt.

Die zweite Frage

62.
    Es ist klar, dass sowohl das Assoziierungsabkommen als auch Beschlüsse des Assoziationsrates grundsätzlich unmittelbare Wirkung haben können. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz in einer seiner kürzlich ergangenen Entscheidungen in diesem Bereich dahin gehend formuliert, dass „eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens unmittelbar anwendbar [ist], wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und nach Gegenstand und Art des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen“(26).

63.
    Im Urteil Sevince(27) hatte der Gerichtshof bereits bestätigt, dass die Beschlüsse des Assoziationsrates aufgrund ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit dem Abkommen, zu dessen Durchführung sie ergehen, ebenso wie das Abkommen selbst von ihrem Inkrafttreten an integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind.

64.
    Was Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 angeht, so ist es hilfreich, auf das Urteil Sürül(28) hinzuweisen, in dem es um die vergleichbare Vorschrift des Artikels 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates(29) ging. Diese Vorschrift stellt, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, klar, präzise und unbedingt das Verbot auf, Personen, für die der Beschluss Nr. 3/80 gilt, aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren.

Er begründe eine Verpflichtung zur Herstellung eines ganz bestimmten Ergebnisses und könne vom Einzelnen vor einem nationalen Gericht zur Stützung des Begehrens geltend gemacht werden, diskriminierende Vorschriften einer innerstaatlichen Regelung unangewandt zu lassen, die die Gewährung eines Anspruchs von einer Voraussetzung abhängig mache, die für Inländer nicht gelte. Weiterer Durchführungsvorschriften bedürfe es insoweit nicht. Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 bilde lediglich die Durchführung und Konkretisierung des in Artikel 9 des Abkommens, der auf Artikel 12 EG verweise, verankerten allgemeinen Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den besonderen Bereich der sozialen Sicherheit(30).

65.
    Zu einem ähnlichen Ergebnis war der Gerichtshof schon zuvor(31) im Hinblick auf Artikel 40 des Abkommens EWG-Marokko(32) gelangt. Dieser lautet: „Jeder Mitgliedstaat gewährt den Arbeitnehmern marokkanischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die hinsichtlich der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen bewirkt.“ Auch das im Europa-Abkommen mit Polen enthaltene Diskriminierungsverbot hat nach Auffassung des Gerichtshofes unmittelbare Wirkung(33).

66.
    Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes, des Gegenstands und der Art des Abkommens EWG-Türkei(34) sowie des Wortlauts der Bestimmung selbst scheint klar, dass Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ebenso wie diese anderen Bestimmungen eine klare und präzise Verpflichtung enthält, die nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt. Er hat deshalb unmittelbar Wirkung, und die Einzelnen können sich in Verfahren vor den nationalen Gerichten auf ihn berufen. Meines Erachtens besteht auch kein Grund, diese unmittelbare Wirkung, wie die Arbeiterkammer für Vorarlberg vorschlägt, von einer Auslegung des Artikel 10 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 3/80 abhängig zu machen. Dieser stellt eine ganz andere Maßnahme dar und führt ohnehin nicht zu dem von der Arbeiterkammer befürworteten Ergebnis.

67.
    Die Antwort auf die zweite Vorlagefrage ergibt sich somit - ebenso wie die Antwort auf die erste Frage - zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes.

Ergebnis

68.
    Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, die Fragen des Verfassungsgerichtshofs wie folgt zu beantworten:

1.    Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Abkommen EWG-Türkei eingerichteten Assoziationsrates steht einer innerstaatlichen Regelung entgegen, die türkische Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, von der Wählbarkeit in die Vollversammlung einer Einrichtung wie einer Arbeiterkammer in Österreich ausschließt, vorausgesetzt, dass diese Vollversammlung nicht selbst an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse teilnimmt.

2.    Artikel 10 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 hat unmittelbare Wirkung.


1: -     Originalsprache: Englisch.


2: -    Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nicht amtlich veröffentlicht).


3: -    Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, in Ankara am 12. September 1963 unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) gebilligt.


4: -    Siehe Präambel und Artikel 2.


5: -    Unterzeichnet in Brüssel am 23. November 1970 und bestätigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates (ABl. 1972, L 293, S. 1). Nach Artikel 62 ist das Zusatzprotokoll Bestandteil des Abkommens.


6: -    Artikel 28 Absatz 2 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. 1994, L 1, S. 3, EWR-Abkommen) enthält eine gleichlautende Vorschrift betreffend die unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der EG-Mitgliedstaaten und derjenigen der anderen EWR-Staaten.


7: -    Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).


8: -    In der Fassung der Verordnung (EWG) des Rates Nr. 312/76 vom 9. Februar 1976 zur Änderung der Vorschriften über die gewerkschaftlichen Rechte der Arbeitnehmer in der Verordnung Nr. 1612/68 (ABl. L 39, S. 2).


9: -    Rechtssache C-213/90 (Slg. 1991, I-3507).


10: -    Randnr. 16 des Urteils.


11: -    Randnr. 21 und Tenor.


12: -    Randnrn. 18 und 19 des Urteils, in denen das Urteil in der Rechtssache 149/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980,3881, Randnr. 15) zitiert wird.


13: -    Rechtssache C-118/92 (Slg. 1994, I-1891).


14: -    Rechtssache C-340/97 (Slg. 2000, I-957, Randnrn. 54 bis 56).


15: -    Also die Vorschriften, die sich auf die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beziehen, einschließlich des Artikels 10.


16: -    Der Gerichtshof zitiert hier die Urteile in den Rechtssachen C-434/93 (Bozkurt, Slg. 1995, I-1475, Randnrn. 14 und 19), C-171/95 (Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnr. 20) und C-210/97 (Akman, Slg. 1998, I-7519, Randnr. 20).


17: -    Der Gerichtshof zitiert hier die Urteile Bozkurt (Randnrn. 14, 19 und 20) und Tetik (Randnrn. 20 und 28) sowie die Urteile in den Rechtssachen C-1/97 (Birden, Slg. 1998, I-7747, Randnr. 23), C-36/96, Günaydin (Slg. 1997, I-5143, Randnr. 21) und C-98/96 (Ertanir, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 21).


18: -    Beide zitierten Vorschriften bestimmen, dass die betreffenden Rechte „vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen“ gewährt werden.


19: -    Rechtssache C-116/94 (Slg. 1995,I-2131), insbesondere Randnr. 24.


20: -    Nämlich in jener Rechtssache Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40).


21: -    Rechtssache 307/84 (Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 1725, Randnr. 12 und die dort zitierte Rechtsprechung).


22: -    Artikel 3 hat folgenden Wortlaut:

„Gleichbehandlung

Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die dieser Beschluss gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluss nichts anderes bestimmt.

Absatz 1 gilt auch für das aktive Wahlrecht bei der Wahl der Mitglieder der Organe der Träger der sozialen Sicherheit und für das Recht, sich an ihrer Benennung zu beteiligen; die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wählbarkeit und die Art der Benennung der genannten Personen für diese Organe werden jedoch davon nicht berührt.“


23: -    In Punkt 3.2.4 des Vorlagebeschlusses.


24: -    Siehe z. B. Rechtssache C-4/91 (Bleis, Slg. 1991, I-5627, Randnr. 6 sowie die dort zitierte Rechtsprechung).


25: -    Zitiert in Fußnote 12 (Randnr. 15 des Urteils).


26: -    Urteil vom 29. Januar 2002 in der Rechtssache C-162/00 (Pokrzeptowicz-Meyer, Randnr. 19), in dem u. a. die Rechtssachen C-262/96 (Sürül, Slg. 1999, I-2685, Randnr. 60) und C-63/99 (Gloszczuk, Slg. 2001, I-6369, Randnr. 30) zitiert werden. Die Rechtssache betraf das Europa-Abkommen zwischen Polen und den Gemeinschaften.


27: -    Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnr. 9).


28: -    Zitiert in Fußnote 26 (Randnrn. 60 ff.).


29: -    Zitiert in Fußnote 22.


30: -    Der Gerichtshof verwies auf das Urteil C-18/90 (Kziber, Slg. 1991, I-199, Randnrn. 15 bis 23), bestätigt durch die Urteile C-58/93 (Yousfi, Slg. 1994, I-1353, Randnrn. 16 bis 19), C-103/94 (Krid, Slg. 1995, I-719, Randnrn. 21 bis 24), C-126/95 (Hallouzi-Choho, Slg. 1996, I-4801, Randnrn. 19 und 20) und C-113/97 (Babahenini, Slg. 1998, I-183, Randnrn. 17 und 18) zum Gleichbehandlungsgrundsatz in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG-Algerien (Verordnung [EWG] Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September 1978, ABl. 1978, L 263, S. 1) und Artikel 41 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG-Marokko (Verordnung [EWG] Nr. 2211/78 des Rates, ABl. 1978, L 264, S. 1).


31: -    Im Urteil C-416/96 (El-Yassini, Slg. 1999, I-1209, Randnrn. 25 bis 32).


32: -    Zitiert in Fußnote 30.


33: -    Siehe Urteile Glosczuk (Randnrn. 29 bis 38) und Pokrzeptowicz-Meyer (Randnrn. 19 bis 30) (beide zitiert in Fußnote 26).


34: -    Siehe oben, Nrn. 2 bis 4 sowie Urteil Nazli (zitiert in Nr. 35).