URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
19. März 1998 (1)
„Zugang zu Informationen Beschluß der Kommission 94/90/EGKS, EG,
Euratom Verweigerung des Zugangs Tragweite der Ausnahme zum Schutz
des öffentlichen Interesses Rechtspflege Artikel 6 der Europäischen
Menschenrechtskonvention“
In der Rechtssache T-83/96
Gerard van der Wal, wohnhaft in Kraainem, Belgien, ursprünglich vertreten durch
Rechtsanwältinnen Caroline P. Bleeker und Laura Y. J. M. Parret, Den Haag und
Brüssel, sodann durch Rechtsanwältin Parret, Zustellungsanschrift: Kanzlei des
Rechtsanwalts Aloyse May, 31, Grand-rue, Luxemburg,
unterstützt durch
Königreich der Niederlande, vertreten durch Rechtsberater Marc Fierstra und
Johannes S. van den Oosterkamp als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift:
Botschaft der Niederlande, 5, rue C. M. Spoo, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Wouter Wils und
Ulrich Wölker, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 29. März 1996,
durch die diese dem Kläger den Zugang zu Schreiben verweigerte, die die
Generaldirektion Wettbewerb im Rahmen der Bekanntmachung über die
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten
bei der Anwendung der Artikel 85 und 86 des EG-Vertrags an nationale Gerichte
gesandt hatte,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Richterin P. Lindh und des
Richters J. D. Cooke,
Kanzler: H. Jung
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25.
September 1997,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- In die Schlußakte des am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrages
über die Europäische Union nahmen die Mitgliedstaaten folgende Erklärung
(Nr. 17) zum Recht auf Zugang zu Informationen auf:
„Die Konferenz ist der Auffassung, daß die Transparenz des Beschlußverfahrens
den demokratischen Charakter der Organe und das Vertrauen der Öffentlichkeit
in die Verwaltung stärkt. Die Konferenz empfiehlt daher, daß die Kommission dem
Rat spätestens 1993 einen Bericht über Maßnahmen vorlegt, mit denen die den
Organen vorliegenden Informationen der Öffentlichkeit besser zugänglich gemacht
werden sollen.“
- 2.
- Die Kommission veröffentlichte aufgrund dieser Erklärung die Mitteilung
93/C 156/05 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten, die sich im Besitz
der Gemeinschaftsorgane befinden, die sie am 5. Mai 1993 an den Rat, das
Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuß gerichtet hatte (ABl. C 156,
S. 5). Am 2. Juni 1993 legte sie die Mitteilung 93/C 166/04 zur Transparenz in der
Gemeinschaft vor (ABl. C 166, S. 4).
- 3.
- Der Rat und die Kommission erließen im Rahmen dieser vorbereitenden Schritte
zur Verwirklichung des Grundsatzes der Transparenz am 6. Dezember 1993 einen
Verhaltenskodex für den Zugang der Öffentlichkeit zu Rats- und
Kommissionsdokumenten (ABl. 1993, L 340, S. 41; im folgenden: Verhaltenskodex),
durch den die Grundsätze für den Zugang zu den Dokumenten des Rates und der
Kommission festgelegt wurden.
- 4.
- Um die Erfüllung dieser Verpflichtung zu gewährleisten, erließ die Kommission am
8. Februar 1994 auf der Grundlage von Artikel 162 EG-Vertrag den Beschluß
94/90/EGKS, EG, Euratom über den Zugang der Öffentlichkeit zu den der
Kommission vorliegenden Dokumenten (ABl. L 46, S. 58). Durch Artikel 1 dieses
Beschlusses wurde der in seinem Anhang wiedergegebene Verhaltenskodex
förmlich angenommen.
- 5.
- In dem von der Kommission angenommenen Verhaltenskodex wird folgender
allgemeiner Grundsatz aufgestellt:
„Die Öffentlichkeit erhält möglichst umfassenden Zugang zu den Dokumenten der
Kommission und des Rates.“
- 6.
- Der Ausdruck „Dokument“ bezeichnet nach dem Verhaltenskodex „unabhängig
vom Datenträger jedes im Besitz der Kommission oder des Rates befindliche
Schriftstück mit bereits vorhandenen Informationen“.
- 7.
- Nach einer kurzen Darstellung der Grundsätze für die Einreichung und
Bearbeitung von Anträgen auf Zugang zu Dokumenten wird in dem
Verhaltenskodex das Verfahren, das bei der beabsichtigten Ablehnung eines
Antrags auf Zugang zu Dokumenten einzuhalten ist, wie folgt beschrieben:
„Beabsichtigen die zuständigen Dienststellen des betreffenden Organs, diesem die
Ablehnung des Antrags vorzuschlagen, so setzen sie den Antragsteller davon in
Kenntnis und weisen ihn darauf hin, daß er das Organ binnen eines Monats durch
Einreichung eines Zweitantrags um Überprüfung dieses Standpunkts ersuchen kann
und daß anderenfalls davon ausgegangen wird, daß er seinen Erstantrag
zurückgezogen hat.
Beschließt das betreffende Organ, den Zugang zu einem Dokument nach einem
Zweitantrag zu verweigern, so ist dieser Beschluß, der binnen eines Monats nach
Einreichung des Zweitantrags ergehen muß, dem Antragsteller so bald wie möglich
schriftlich mitzuteilen; er ist ordnungsgemäß zu begründen und muß eine Angabe
der möglichen Rechtsmittel enthalten: Klageerhebung bzw. Beschwerde beim
Bürgerbeauftragten gemäß Artikel 173 bzw. 138e des Vertrages zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft.“
- 8.
- Im Verhaltenskodex werden die Umstände aufgezählt, auf die sich ein
Gemeinschaftsorgan zur Rechtfertigung der Ablehnung eines Antrags auf Zugang
zu Dokumenten berufen kann. Danach gilt folgendes:
„Die Organe verweigern den Zugang zu Dokumenten, wenn sich durch deren
Verbreitung eine Beeinträchtigung ergeben könnte in bezug auf
den Schutz des öffentlichen Interesses (öffentliche Sicherheit, internationale
Beziehungen, Währungsstabilität, Rechtspflege [niederländische Fassung:
gerechtelijke procedures], Inspektionstätigkeiten);
den Schutz des einzelnen und der Privatsphäre;
den Schutz des Geschäfts- und Industriegeheimnisses;
den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft;
die Wahrung der Vertraulichkeit, wenn dies von der natürlichen oder
juristischen Person, die die Information zur Verfügung gestellt hat,
beantragt wurde oder aufgrund der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats,
der die Information bereitgestellt hat, erforderlich ist.
Die Organe können ferner den Zugang verweigern, um den Schutz des Interesses
des Organs in bezug auf die Geheimhaltung seiner Beratungen zu gewährleisten.“
- 9.
- 1993 erließ die Kommission die Bekanntmachung 93/C 39/05 über die
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten
bei der Anwendung der Artikel 85 und 86 des EG-Vertrags (ABl. C 39, S. 6). In
dieser Bekanntmachung führt die Kommission aus:
„37. [D]er nationale Richter [kann sich] innerhalb der Grenzen seines
innerstaatlichen Verfahrensrechts an die Kommission und insbesondere an deren
Generaldirektion für Wettbewerb wenden, um die nachfolgenden Auskünfte zu
erhalten.
Dabei handelt es sich in erster Linie um Angaben zum Stand von Verfahren, so
etwa darüber, ob eine bestimmte Sache von der Kommission behandelt wird, ob
eine Anmeldung erfolgte, ob die Kommission ein förmliches Verfahren eingeleitet
hat oder ob sie sich bereits im Wege der Entscheidung oder eines
Verwaltungsschreibens ihrer Dienststellen geäußert hat. Erforderlichenfalls kann
der nationale Richter sich bei der Kommission auch nach dem voraussichtlichen
Zeitpunkt der Gewährung oder Ablehnung einer Einzelfreistellung für angemeldete
Vereinbarungen oder Verhaltensweisen erkundigen, um besser beurteilen zu
können, ob eine Aussetzung des Urteilsspruchs in Betracht zu ziehen ist und ob
einstweilige Maßnahmen getroffen werden müssen. Die Kommission wird sich
darum bemühen, Sachverhalte, die den Gegenstand eines vom nationalen Richter
ausgesetzten Verfahrens bilden, vorrangig zu behandeln, vor allem, wenn der
Ausgang eines Zivilrechtsstreits davon abhängt.
38. Außerdem kann der nationale Richter die Kommission zu Rechtsfragen
konsultieren. Falls die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 oder des Artikels 86
ihm besondere Schwierigkeiten bereitet, so kann er die Kommission zu ihrer
Verwaltungspraxis im Hinblick auf die einschlägigen Vorschriften des
Gemeinschaftsrechts befragen. Insbesondere wird im Rahmen der Artikel 85 und
86 das Tatbestandsmerkmal der Beeinträchtigung des Handels zwischen
Mitgliedstaaten, das beiden Artikeln gemeinsam ist, sowie das Merkmal der
Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung problematisch sein. In ihren
Antworten wird die Kommission sich nicht in die Entscheidung des Falles
einmischen. Wenn Zweifel bestehen, ob für die streitige Absprache eine
Einzelfreistellung in Betracht kommt, kann der nationale Richter die Kommission
außerdem um eine vorläufige Stellungnahme zu der Frage bitten. Gibt die
Kommission zu erkennen, daß eine Freistellung in dem fraglichen Fall
unwahrscheinlich ist, so kann der nationale Richter die Verfahrensaussetzung
beenden und sich zur Gültigkeit der Absprache äußern.
39. Die Antworten der Kommission binden den nationalen Richter, der um sie
nachgesucht hat, in keiner Weise. Die Kommission wird in ihren Antworten
klarstellen, daß sie keine endgültige Stellungnahme abgibt und daß das Recht der
nationalen Richter, gemäß Artikel 177 eine Vorlage an den Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften zu beschließen, unberührt bleibt. Nach Ansicht der
Kommission stellen sie jedoch eine nützliche Hilfestellung für die Urteilsfindung
dar.
40. Schließlich kann der nationale Richter bei der Kommission über
geschäftliche Vorgänge Unterlagen, wie etwa Statistiken, Marktstudien und
Wirtschaftsanalysen, anfordern. Die Kommission wird sich bemühen, diese Angaben
... zu übermitteln oder die Quellen anzugeben.“
Sachverhalt
- 10.
- Im XXIV. Bericht über die Wettbewerbspolitik (1994) (im folgenden: XXIV.
Bericht) heißt es, daß nationale Gerichte nach dem in Randnummer 9
beschriebenen Verfahren eine Reihe von Fragen an die Kommission gerichtet
hätten.
- 11.
- Der Kläger erbat mit Schreiben vom 23. Januar 1996 als Rechtsanwalt und
Teilhaber einer Firma, die Rechtssachen bearbeitet, in denen es um
Wettbewerbsfragen auf Gemeinschaftsebene geht, Kopien folgender
Antwortschreiben der Kommission auf derartige Fragen:
1. des Schreibens des Generaldirektors der Generaldirektion Wettbewerb
(GD IV) vom 2. August 1993 an das Oberlandesgericht Düsseldorf
betreffend die Vereinbarkeit einer Vertriebsvereinbarung mit der
Verordnung (EWG) Nr. 1983/83 der Kommission vom 22. Juni 1983 über
die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von
Alleinvertriebsvereinbarungen (ABl. L 173, S. 1);
2. des Schreibens des Kommissionsmitglieds Van Miert vom 13. September
1994 an das Tribunal d'instance St. Brieuc betreffend die Auslegung der
Verordnung Nr. 26 des Rates vom 4. April 1962 zur Anwendung bestimmter
Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und
den Handel mit diesen Erzeugnissen (ABl. 1962, Nr. 30, S. 993);
3. des Schreibens, das die Kommission im ersten Quartal 1995 an die Cour
d'appel Paris gesandt hatte, die sie um Stellungnahme zu Vertragsklauseln
über die Verkaufsziele von Vertriebshändlern für Kraftfahrzeuge im
Hinblick auf Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages sowie die Verordnung
(EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die
Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von
Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl.
1985, L 15, S. 16) ersucht hatte.
- 12.
- Der Generaldirektor der GD IV wies das Ersuchen mit Schreiben vom 23. Februar
1996 mit der Begründung zurück, die Bekanntgabe der erbetenen Schreiben könnte
„den Schutz des öffentlichen Interesses (Rechtspflege [gerechtelijke procedures])“
beeinträchtigen. In dem Schreiben heißt es:
„Wenn die Kommission Fragen beantwortet, die ihr von nationalen Gerichten im
Hinblick auf die Entscheidung eines bei diesen anhängigen Rechtsstreits gestellt
werden, tritt sie als .amicus curiae' auf. Sie hat eine gewisse Zurückhaltung zu
üben, nicht nur im Hinblick darauf, ob sie die Art und Weise, wie ihr diese Fragen
gestellt werden, akzeptiert, sondern auch hinsichtlich des Gebrauchs, den sie von
den Antworten auf diese Fragen macht.
Sobald die Antworten abgesandt worden sind, bilden sie meines Erachtens einen
Teil des Verfahrens und befinden sich in den Händen des Gerichts, das sie gestellt
hat. Die in der Antwort enthaltenen rechtlichen und tatsächlichen Angaben sind ...
im Rahmen des laufenden Verfahrens als Bestandteil der dem nationalen Richter
vorliegenden Akten anzusehen. Nachdem die Kommission die Antworten an das
nationale Gericht gesandt hat, ist für die Beurteilung der Frage, ob diese
Informationen veröffentlicht und/oder Dritten zur Verfügung gestellt werden sollen,
in erster Linie die gerichtliche Instanz zuständig, an die diese Antwort gerichtet
ist.“
- 13.
- Der Generaldirektor berief sich außerdem darauf, daß zwischen der Exekutive der
Gemeinschaft und den Gerichten der Mitgliedstaaten ein Vertrauensverhältnisbestehen müsse. Diese allgemein gültigen Überlegungen müßten hier um so mehr
gelten, als in den Rechtsstreitigkeiten, in denen die Kommission befragt worden sei,
noch kein rechtskräftiges Urteil ergangen sei.
- 14.
- Der Kläger richtete mit Schreiben vom 29. Februar 1996 einen Zweitantrag an das
Generalsekretariat der Kommission, in dem er u. a. ausführte, es sei nicht
ersichtlich, weshalb der Ablauf nationaler Verfahren dadurch beeinträchtigt werden
könne, daß nichtvertrauliche Auskünfte, die die Kommission dem nationalen
Gericht im Rahmen der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft
erteilt habe, Dritten bekannt würden.
- 15.
- Der Generalsekretär der Kommission bestätigte mit Schreiben vom 29. März 1996
(im folgenden: angefochtene Entscheidung) die Entscheidung der GD IV mit der
Begründung, daß „die Bekanntgabe dieser Antworten dem Schutz des öffentlichen
Interesses, und zwar der geordneten Rechtspflege [goede rechtsbedeling], abträglich
sein könnte“. Er führte weiter aus:
„... Die Bekanntgabe der erbetenen Antworten, die in juristischen Untersuchungen
bestehen, würde die Gefahr mit sich bringen, die Beziehungen und die notwendige
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen gerichtlichen
Gerichten zu beeinträchtigen. Es liegt auf der Hand, daß ein Gericht, das an die
Kommission eine Frage gerichtet hat, die sich zudem auf ein anhängiges Verfahren
bezieht, es nicht schätzen würde, daß die ihm erteilte Antwort bekanntgegeben
wird ...“
- 16.
- Der Generalsekretär fügte hinzu, daß sich das betreffende Verfahren stark vom
Verfahren des Artikels 177 des Vertrages unterscheide, auf das der Kläger in
seinem Zweitantrag Bezug genommen habe.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 17.
- Der Kläger hat mit Klageschrift, die am 29. Mai 1996 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
- 18.
- Die niederländische und die schwedische Regierung haben mit Schriftsätzen, die
am 4. und 19. November 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, ihre
Zulassung als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Klägers
beantragt.
- 19.
- Beide Regierungen sind durch Beschluß des Präsidenten der Vierten Kammer des
Gerichts vom 9. Dezember 1996 als Streithelferinnen zur Unterstützung der
Anträge des Klägers zugelassen worden. Auf Antrag der schwedischen Regierung
vom 14. März 1997 hat der Präsident der Vierten Kammer des Gerichts durch
Beschluß vom 12. Mai 1997 die Streichung des Antrags dieser Regierung auf
Zulassung als Streithelferin verfügt und angeordnet, daß diese ihre eigenen Kosten
zu tragen hat.
- 20.
- Das schriftliche Verfahren ist am 24. April 1997 abgeschlossen worden.
- 21.
- Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung vom 25. September 1997 mündlich
verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
- 22.
- Der Kläger, der durch das Königreich der Niederlande unterstützt wird, beantragt,
die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären und
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 23.
- Die Kommission beantragt,
die Klage abzuweisen,
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Gründe
- 24.
- Der Kläger stützt seine Klage auf zwei Gründe: Verletzung des Beschlusses 94/90
und Verletzung des Artikels 190 des Vertrages.
Zum ersten Klagegrund: Verletzung des Beschlusses 94/90
Vorbringen der Parteien
- 25.
- Der Kläger führt zunächst aus, die im Verhaltenskodex für die „Rechtspflege“
vorgesehene Ausnahme beziehe sich nur auf die Verfahren, an denen die
Kommission beteiligt sei. Die Kommission könne sich deshalb im vorliegenden Fall
nicht auf diese Ausnahme berufen.
- 26.
- Der Kläger macht für den Fall, daß das Gericht der Auffassung sein sollte, daß die
Ausnahme für die „Rechtspflege“ sich auch auf Verfahren bezieht, an denen die
Kommission nicht beteiligt ist, hilfsweise geltend, daß die Verbreitung der
fraglichen Dokumente nicht geeignet sei, die Zusammenarbeit zwischen der
Kommission und den nationalen Gerichten oder das öffentliche Interesse zu
beeinträchtigen. Das Vorbringen der Kommission, die Verbreitung derartiger
Dokumente würde vom nationalen Gericht nicht geschätzt, sei unbegründet;
jedenfalls könne das Gefühl des nationalen Richters keinen Vorrang vor dem
Grundsatz der Öffentlichkeit haben.
- 27.
- Die Kommission mache zu Unrecht geltend, daß sie unter bestimmten Umständen
verpflichtet sei, den Zugang zu Dokumenten zu verweigern. Sie müsse jedenfalls
angeben, wieweit ihre berechtigten Interessen und das Interesse an einem
ordnungsgemäßen und korrekten Ablauf der gerichtlichen Verfahren es
erforderten, daß eine Ausnahme vom Grundsatz der Öffentlichkeit gemacht werde
(Urteil des Gerichtshofes vom 18. Februar 1992 in der Rechtssache C-54/90,
Weddel/Kommission, Slg. 1992, I-871).
- 28.
- Auskünfte, die die Kommission im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit den
nationalen Gerichten erteile, hätten keinen vertraulichen Charakter; die
Kommission habe im vorliegenden Fall bestätigt, daß keines der erbetenen
Schreiben vertraulichen Charakter gehabt habe.
- 29.
- Es widerspreche der Tradition der Öffentlichkeit und Kontrollierbarkeit der
Verwaltung sowie der klassischen Gewaltenteilung, daß derartige Mitteilungen der
Verwaltung an die Justiz nicht öffentlich zugänglich seien.
- 30.
- Die niederländische Regierung ist der Meinung, daß die Kommission die
Ausnahmen von dem grundlegenden Prinzip, daß die Öffentlichkeit soweit wie
möglich Zugang zu den der Kommission vorliegenden Dokumenten haben sollte,
weit ausgelegt habe. Ihre Auslegung des Beschlusses 94/90 führe dazu, daß eine
Kategorie von Dokumenten von der öffentlichen Zugänglichkeit ausgenommen
würde, ohne daß untersucht würde, ob der Inhalt dieser Dokumente eine Berufung
auf die Gründe der Ausnahmeregelung rechtfertige. Die Schreiben der Kommission
an ein nationales Gericht fielen unter den Verhaltenskodex, und das Vorbringen
der Kommission, es sei ausschließlich Sache des nationalen Gerichts, zu
entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Schreiben Dritten
übermittelt werden könnten, sei unrichtig.
- 31.
- Der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens vor dem nationalen Gericht werde
nicht beeinträchtigt, wenn Dritte von den Informationen, die die Kommission dem
Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten gegeben habe, Kenntnis
erlangten. Das nationale Gericht wäre nicht weniger geneigt, die Kommission um
Informationen zu ersuchen, wenn die Möglichkeit bestünde, daß die Antwort
veröffentlicht würde. Aber selbst wenn es anders wäre, sei dies noch kein
ausreichender Grund für die Annahme, daß die Veröffentlichung mit dem
öffentlichen Interesse unvereinbar wäre. Die niederländische Regierung räumt ein,
daß die Veröffentlichung von Dokumenten die ordnungsgemäße Rechtspflege
beeinträchtigen könnte, wenn sich einzelne, die von den in diesen Dokumenten
enthaltenen Angaben Kenntnis erhielten, dadurch der Rechtsverfolgung entziehen
könnten, wodurch der effektive und einheitliche Vollzug des Gemeinschaftsrechts
beeinträchtigt würde.
- 32.
- Die Beziehungen zwischen der Kommission und dem nationalen Gericht seien vom
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit beherrscht, der in Artikel 5 des Vertrages
niedergelegt sei. Die Kommission trete im Rahmen der Bekanntmachung
93/C 39/05 nicht als Sachverständige auf.
- 33.
- Die niederländische Regierung führt abschließend aus, die Kommission habe es
unterlassen, jedes einzelne Dokument konkret zu beurteilen.
- 34.
- In Beantwortung des ersten Arguments des Klägers betont die Kommission, sie
gehe davon aus, daß die angefochtene Entscheidung in den Geltungsbereich des
Beschlusses 94/90 falle. Die die Rechtspflege betreffende Ausnahme beschränke
sich nicht nur auf die Verfahren, an denen sie beteiligt sei. Die im Verhaltenskodex
aufgestellte Regel sei so weit formuliert, daß darunter auch Mitteilungen der
Kommission im Rahmen der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten fielen.
- 35.
- Was das zweite Argument angehe, das sich auf den Schutz des öffentlichen
Interesses beziehe, brauchten die in Rede stehenden Interessen nicht geprüft zu
werden, da eine solche Prüfung nur notwendig sei, wenn die Kommission den
Zugang zu einem Dokument zum Schutz ihres Interesses an der Geheimhaltung
ihrer Beratungen verweigere (Urteil des Gerichts vom 5. März 1997 in der
Rechtssache T-105/95, WWF UK/Kommission, Slg. 1997, II-313, Randnr. 59). Das
Ersuchen des Klägers sei sehr wohl konkret geprüft worden, wie sich aus den
beiden Schreiben ergebe, mit denen dieses Ersuchen beantwortet worden sei. Im
vorliegenden Fall sei die Kommission schon deshalb verpflichtet, den Zugang zu
den fraglichen Dokumenten zu verweigern, weil die Verbreitung den Schutz des
öffentlichen Interesses, insbesondere der Rechtspflege, beeinträchtigen könne.
- 36.
- Die Veröffentlichung der Antworten, die die Kommission im Rahmen der
Bekanntmachung 93/C 39/05 erteile, könnte den Schutz des öffentlichen Interesses
(Rechtspflege) tatsächlich beeinträchtigen, und zwar nicht nur in dem von der
niederländischen Regierung genannten Fall. Wenn ein nationales Gericht die
Artikel 85 Absatz 1 und 86 des Vertrages anwende, tue es dies aufgrund einer
eigenständigen Zuständigkeit und nach Modalitäten, die grundsätzlich durch die
Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts festgelegt würden (Urteile des
Gerichtshofes vom 10. November 1993 in der Rechtssache C-60/92, Otto, Slg. 1993,
I-5683, Randnr. 14, und vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-234/89,
Delimitis, Slg. 1991, I-935, Randnr. 53). Nach diesen Grundsätzen habe, wenn ein
nationales Gericht eine Anfrage an die Kommission richte, nur dieses Gericht nach
nationalem Verfahrensrecht zu bestimmen, ob, zu welchem Zeitpunkt und unter
welchen Voraussetzungen die Antwort der Kommission Dritten bekanntgegeben
werden könne. Dies gelte jedenfalls so lange, wie der betreffende Rechtsstreit noch
anhängig sei.
- 37.
- Die Rolle, die die Kommission im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit dem
nationalen Gericht spiele, unterscheide sich grundlegend von der Rolle des
Gerichtshofes im Rahmen des Artikels 177 des Vertrages, auf die der Kläger in
seinem Zweitantrag verwiesen habe. Wenn der Gerichtshof eine
Vorbabentscheidungsfrage beantworte, spreche er Recht, und seine Entscheidung
binde das vorlegende Gericht. Dagegen spiele die Kommission gegenüber dem
nationalen Gericht eine untergeordnete Rolle; es stehe diesem völlig frei, sich an
die Kommission zu wenden oder auch nicht. Die Rolle der Kommission könne mit
der eines Sachverständigen verglichen werden, dem ein Gericht einen Informations-
oder Untersuchungsauftrag erteile. Die Kommission übermittele ihre Antwort dem
nationalen Gericht, das davon nach Gutdünken Gebrauch mache.
- 38.
- Die Kommission fügt hinzu, der Grund, aus dem sie den Zugang zu den
Dokumenten verweigert habe, sei völlig unabhängig von der Frage, ob diese
Dokumente Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Angaben enthielten,
die sie im Rahmen eines Verfahrens nach der Verordnung Nr. 17 des Rates vom
6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des
Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) nicht bekanntgeben dürfe. Sie erinnert jedoch
daran, daß sie in den bei ihr anhängigen Wettbewerbsverfahren verpflichtet sei, die
Regeln der Vertraulichkeit einzuhalten. In diesen Grenzen bemühe sie sich um die
größtmögliche Offenheit.
- 39.
- Die Kommission wendet sich ebenfalls gegen das Vorbringen der niederländischen
Regierung, wonach der Grundsatz, daß die Öffentlichkeit größtmöglichen Zugang
zu den im Besitz der europäischen Organe befindlichen Dokumenten haben müsse,
ein grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts sei.
- 40.
- Zur Transparenz der Beziehungen zwischen der Exekutive und der
rechtsprechenden Gewalt vertritt sie die Auffassung, die Beziehungen zwischen der
Kommission und den nationalen Gerichten könnten nicht einfach mit den
Beziehungen zwischen der Exekutive und der rechtsprechenden Gewalt in einem
traditionellen Staatsmodell verglichen werden.
Würdigung durch das Gericht
- 41.
- Der Beschluß 94/90 ist eine Handlung, durch die den Bürgern ein Anspruch auf
Zugang zu den im Besitz der Kommission befindlichen Dokumenten verliehen wird
(Urteil WWF UK/Kommission, Randnr. 55). Nach seinem Sinn und Zweck ist er
allgemein auf die Anträge auf Zugang zu Dokumenten anwendbar, und jeder kann
ohne Angabe von Gründen den Zugang zu jedem beliebigen Dokument der
Kommission beantragen (siehe dazu die oben in Randnr. 2 genannte Mitteilung
93/C 156/05). Die Ausnahmen von diesem Recht auf Zugang müssen eng ausgelegt
und angewandt werden, um die Anwendung des in diesem Beschluß verankerten
allgemeinen Grundsatzes nicht zu vereiteln (Urteil WWF UK/Kommission,
Randnr. 56).
- 42.
- Der Beschluß 94/90 sieht zwei Kategorien von Ausnahmen vor. Nach dem
zwingenden Wortlaut der für die erste Kategorie geltenden Regelung verweigern
die „Organe ... den Zugang zu Dokumenten, wenn sich durch deren Verbreitung
eine Beeinträchtigung ergeben könnte in bezug auf den Schutz des öffentlichen
Interesses (... Rechtspflege ...)“ (siehe oben, Randnr. 8). Folglich ist die
Kommission verpflichtet, den Zugang zu den Dokumenten zu verweigern, die
nachweislich unter diese Ausnahme fallen (WWF UK/Kommission, Randnr. 58).
- 43.
- Aus der Verwendung des Verbs „können“ im zweiten Konjunktiv folgt, daß die
Kommission zum Nachweis, daß sich durch die Verbreitung von Dokumenten, die
mit einem Gerichtsverfahren zusammenhängen, eine Beeinträchtigung des Schutzes
des öffentlichen Interesses ergeben könnte, wie die Rechtsprechung dies verlangt
(siehe oben, Randnr. 42), vor einer Entscheidung über den Antrag auf Zugang zu
derartigen Dokumenten für jedes erbetene Dokument prüfen muß, ob die
Verbreitung unter Berücksichtigung der ihr vorliegenden Informationen tatsächlich
geeignet ist, das durch die erste Kategorie von Ausnahmen geschützte öffentliche
Interesse unter einem der dort genannten Aspekte zu beeinträchtigen. Ist dies der
Fall, so ist die Kommission verpflichtet, den Zugang zu den fraglichen Dokumenten
zu verweigern (siehe oben, Randnr. 42).
- 44.
- Deshalb ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die
Kommission sich auf die zum Schutz des öffentlichen Interesses bestehende
Ausnahmeregelung berufen kann, um den Zugang zu Dokumenten zu verweigern,
die sie einem nationalen Gericht auf dessen Ersuchen im Rahmen der auf die
Bekanntmachung 93/C 39/05 gestützten Zusammenarbeit übersandt hat, wenn sie
nicht an dem vor dem nationalen Gericht anhängigen gerichtlichen Verfahren, das
zu dem Ersuchen geführt hat, beteiligt ist.
- 45.
- Nach Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten (EMRK) hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache
in billiger Weise gehört wird. Zur Gewährleistung dieses Rechts muß seine Sache
„von einem unabhängigen und unparteiischen ... Gericht“ gehört werden (Artikel
6 EMRK).
- 46.
- Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gemeinschaftsrichter sicherzustellen hat
(siehe insbesondere Gutachten 2/94 des Gerichtshofes vom 28. März 1996, Slg.
1996, I-1759, Randnr. 33, und Urteil des Gerichts vom 22. Oktober 1997 in den
Rechtssachen T-213/95 und T 18/96, SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739,
Randnr. 53). Dabei lassen sich der Gerichtshof und das Gericht von den
gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen
leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte
geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie
beigetreten sind. Insoweit kommt der EMRK besondere Bedeutung zu (siehe
insbesondere Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84,
Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 18). Im übrigen heißt es in Artikel F Absatz 2
des Vertrages über die Europäische Union, der am 1. November 1993 in Kraft
getreten ist: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [EMRK]
gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten [ergeben], als allgemeine
Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ...“
- 47.
- Der Anspruch jeder Person darauf, in billiger Weise von einem unabhängigen
Gericht gehört zu werden, impliziert namentlich, daß es sowohl den nationalen als
auch den Gemeinschaftsgerichten freistehen muß, ihre eigenen
Verfahrensvorschriften über die Befugnisse des Richters, den Verfahrensablauf im
allgemeinen und die Vertraulichkeit der Akten im besonderen anzuwenden.
- 48.
- Durch die im Beschluß 94/90 vorgesehene Ausnahme von dem allgemeinen
Grundsatz des Zugangs zu den Dokumenten der Kommission, die dem Schutz des
öffentlichen Interesses dient, wenn die fraglichen Dokumente mit einem
gerichtlichen Verfahren zusammenhängen, soll die allgemeine Wahrung dieses
grundlegenden Rechts sichergestellt werden. Die Tragweite dieser Ausnahme
beschränkt sich deshalb nicht auf den Schutz der Interessen der Parteien im
Rahmen eines bestimmten gerichtlichen Verfahrens, sondern umfaßt auch die
angesprochene Autonomie der nationalen Gerichte und der Gemeinschaftsgerichte
im Hinblick auf das Verfahren (siehe oben, Randnr. 47).
- 49.
- Angesichts der Tragweite dieser Ausnahme muß sich die Kommission somit auch
dann auf sie berufen können, wenn sie an einem Gerichtsverfahren, das eine
Ausnahme zum Schutz des öffentlichen Interesses rechtfertigt, nicht selbst beteiligt
ist.
- 50.
- Insoweit sind Dokumente, die wie die hier fraglichen Schreiben von der
Kommission nur für ein bestimmtes Gerichtsverfahren erstellt werden, von anderen
Dokumenten zu unterscheiden, die unabhängig von einem solchen Verfahren
existieren. Die Berufung auf die dem Schutz des öffentlichen Interesses dienende
Ausnahme kann nur hinsichtlich der ersten Kategorie von Dokumenten
gerechtfertigt sein, da die Entscheidung darüber, ob Zugang zu diesen Dokumenten
gewährt wird, entsprechend der innerlichen Rechtfertigung der dem Schutz des
öffentlichen Interesses im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens dienenden
Ausnahme allein Sache des betreffenden nationalen Gerichts ist (siehe oben,
Randnr. 48).
- 51.
- Wenn ein nationales Gericht in einem bei ihm anhängigen Verfahren die
Kommission im Rahmen der in der Bekanntmachung 93/C 39/05 vorgesehenen
Zusammenarbeit um Informationen ersucht, erteilt die Kommission die Antwort
ausdrücklich für das fragliche Gerichtsverfahren. In diesem Fall verlangt der Schutz
des öffentlichen Interesses, daß die Kommission den Zugang zu diesen
Informationen und folglich zu den Dokumenten, in denen sie enthalten sind,
verweigert, denn solange das gerichtliche Verfahren, aufgrund dessen diese
Informationen in ein Dokument der Kommission Eingang gefunden haben,
anhängig ist, ist allein das betreffende nationale Gericht aufgrund des nationalen
Verfahrensrechts zur Entscheidung über den Zugang zu diesen Informationen
befugt.
- 52.
- Im vorliegenden Fall hat der Kläger um Übersendung von drei Schreiben gebeten,
die sich sämtlich auf anhängige Gerichtsverfahren bezogen und von denen er nicht
behauptet hat, daß in ihnen nur Informationen wiedergegeben würden, die im
übrigen aufgrund der Bestimmungen des Beschlusses 94/90 verfügbar gewesen
seien. Das erste Schreiben bezog sich auf die Vereinbarkeit einer
Vertriebsvereinbarung mit der Verordnung Nr. 1983/83, das zweite auf die
Anwendung der Verordnung Nr. 26 und das dritte auf die Auslegung der
Verordnung Nr. 123/85 (siehe oben, Randnr. 11). Diese Schreiben betrafen somit
Rechtsfragen, die im Rahmen bestimmter anhängiger Verfahren aufgeworfen
worden waren.
- 53.
- Insoweit ist es, wie die Kommission bereits ausgeführt hat, unerheblich, ob diese
drei Dokumente Geschäftsgeheimnisse enthielten, da die Weigerung der
Kommission, diese Antworten bekanntzugeben, aus den vorgenannten Gründen
(siehe oben, Randnrn. 45 bis 52) gerechtfertigt war.
- 54.
- Auch unterscheidet sich die Rolle, die die Kommission im Rahmen der in der
Bekanntmachung 93/C 39/05 geregelten Zusammenarbeit spielt, von der Rolle des
Gerichtshofes im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 177 des Vertrages. Bei
letzterem handelt es um ein besonderes Verfahren zwischen zwei
Gerichtsbarkeiten, in dem die Rolle des Gerichtshofes darin besteht, über Fragen
der nationalen Gerichte zu entscheiden. Das nationale Gericht formuliert seine
Vorabentscheidungsfragen nach Maßgabe seiner eigenen Verfahrensvorschriften,
die sicherstellen, daß sensible Informationen erforderlichenfalls vertraulich
behandelt werden. Auch die Dienstanweisungen an den Kanzler des Gerichtshofes
sehen vor, daß in den die Rechtssache betreffenden Veröffentlichungen Namen
oder vertrauliche Angaben ausgelassen werden können, wenn dies angezeigt ist. Die
in der Bekanntmachung 93/C 39/05 vorgesehene Zusammenarbeit ist dagegen nicht
durch derartige Verfahrensvorschriften geregelt. Deshalb besteht kein Grund, die
Grundsätze, die für die Veröffentlichung der im Rahmen des Verfahrens nach
Artikel 177 erlassenen Urteile gelten, auf die Antworten anzuwenden, die die
Kommission im Rahmen der Bekanntmachung 93/C 39/05 erteilt.
- 55.
- Schließlich hat der Kläger nicht angegeben, weshalb die Grundsätze der
Gewaltenteilung und der „Kontrollierbarkeit der Verwaltung“ nicht eingehalten
sein sollten, wenn die Antworten, die die Kommission den nationalen Gerichten im
Rahmen der Bekanntmachung 93/C 39/05 erteilt, der Öffentlichkeit nicht auf
bloßen Antrag an die Kommission zugänglich gemacht würden. Deshalb ist dieses
Vorbringen als unbegründet zurückzuweisen.
- 56.
- Aus allen vorgenannten Gründen kann diesem Klagegrund nicht stattgegeben
werden.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung des Artikels 190 des Vertrages
Vorbringen der Parteien
- 57.
- Der Kläger macht geltend, daß die von der Kommission gegebene Begründung
unzureichend sei.
- 58.
- Die niederländische Regierung führt aus, daß die Begründung der Natur der
fraglichen Handlung angepaßt sein müsse. Ihrer Ansicht nach ist die Begründung
unverständlich, da die Kommission in den beiden Schreiben verschiedene Gründe,
und zwar im ersten Schreiben die „gerechtelijke procedures“ und im zweiten die
„goede rechtsbedeling“ angeführt habe. Für den Adressaten sei somit nicht klar,
aus welchen Gründen das Organ seine Entscheidung letztlich getroffen habe.
- 59.
- In den Verfahrensunterlagen gebe die Kommission eine noch ganz andere
Rechtfertigung für die streitige Entscheidung, indem sie auf die Natur der
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten Bezug
nehme, in deren Rahmen sie mit einem Sachverständigen verglichen werden müsse,
dem das Gericht einen Informationsauftrag erteile. Selbst wenn man davon absehe,
daß dieser Vergleich unzutreffend sei, würden die wirklichen Gründe, aus denen
die Kommission den Zugang zu den erbetenen Dokumenten verweigert habe, nach
diesem Vorbringen völlig undurchsichtig.
- 60.
- In den beiden Schreiben werde nicht angegeben, warum oder wie das
Vertrauensverhältnis zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten
gefährdet werden könnte, wenn dem Kläger Zugang zu den Dokumenten gewährt
würde. Die Kommission habe ihr Vorbringen, das nationale Gericht würde die
Bekanntgabe der fraglichen Dokumente nicht schätzen, nicht begründet. Außerdem
gehe aus der Begründung nicht hervor, inwieweit aus der eventuellen
Notwendigkeit, dieses Vertrauensverhältnis zu schützen, etwas anderes folgen
würde, wenn der betreffende Rechtsstreit nicht mehr anhängig wäre.
- 61.
- Nach Auffassung der Kommission ist die streitige Entscheidung ausreichend
begründet. Die Begründung finde sich nicht nur in der Entscheidung selbst, sondern
auch in dem Schreiben des Generaldirektors der GD IV vom 23. Februar 1996. In
diesen beiden Schreiben seien die Gründe für die Zurückweisung des Antrags auf
Zugang zu den Dokumenten eindeutig angegeben. Darüber hinaus habe der
Generalsekretär der Kommission auch auf einige Argumente geantwortet, die der
Kläger in seinem Zweitantrag vom 29. Februar 1996 vorgebracht habe.
- 62.
- Die Kommission weist in ihren Erklärungen zu dem Streithilfeschriftsatz der
niederländischen Regierung darauf hin, daß die Begründung der streitigen
Entscheidung nicht nur in dem Schreiben vom 29. März 1996, sondern auch in dem
Schreiben vom 23. Februar 1996 enthalten sei. Zwischen der Verwendung der
Worte „gerichtliche Verfahren“ in dem einen Schreiben und „geordnete
Rechtspflege“ in dem anderen Schreiben bestehe kein Widerspruch und auch kein
sachlicher Unterschied. Das Vertrauensverhältnis, von dem sie gesprochen habe,
sei natürlich das Verhältnis, das sich aus der in Artikel 5 des Vertrages verankerten
Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit ergebe.
Würdigung durch das Gericht
- 63.
- Mit der Verpflichtung zur Begründung von Einzelfallentscheidungen wird ein
doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen soll den Betroffenen ermöglicht werden, die
tragenden Gründe für die getroffene Maßnahme zu erkennen, und zum anderen
soll der Gemeinschaftsrichter in die Lage versetzt werden, die Entscheidung auf
ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (vgl. insbesondere Urteil des Gerichtshofes
vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-350/88, Delacre u. a./Kommission, Slg.
1990, I-395, Randnr. 15, und das vorgenannte Urteil WWF UK/Kommission,
Randnr. 66). Die Frage, ob die Begründung einer Entscheidung diesen
Erfordernissen genügt, ist nicht nur im Hinblick auf ihren Wortlaut zu beurteilen,
sondern auch anhand ihres Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften, die das
betreffende Gebiet regeln (Urteil des Gerichtshofes vom 29. Februar 1996 in der
Rechtssache C-122/94, Kommission/Rat, Slg. 1996, I-881, Randnr. 29).
- 64.
- Der Verhaltenskodex sieht vor, daß der Antragsteller im Fall der Zurückweisung
des ursprünglichen Antrags auf Zugang zu Dokumenten das Organ ersuchen kann,
diese Zurückweisung zu überprüfen, ohne daß er Argumente gegen die Gültigkeit
der ersten Entscheidung anzuführen braucht. Dieses Verfahren stellt keinen
Rechtsbehelf gegen die Zurückweisung dar, sondern eröffnet die Möglichkeit einer
zweiten Prüfung des Antrags durch das Organ.
- 65.
- Bestätigt eine Antwort auf einen Zweitantrag die Zurückweisung des Erstantrags
aus denselben Gründen, so ist folglich die Frage, ob die Begründung ausreichend
ist, anhand des gesamten Briefwechsels zwischen dem Organ und dem Antragsteller
zu prüfen, wobei die Informationen zu berücksichtigen sind, über die der Kläger
hinsichtlich der Natur und des Inhalts der erbetenen Dokumente verfügte.
- 66.
- Aus dem Schreiben des Klägers vom 23. Januar 1996 und den dort zitierten
Absätzen des XXIV. Berichts geht hervor, daß der Kläger von Anfang an wußte,
daß es sich bei den Schreiben der Kommission um Antworten handelte, die diese
aufgrund der Bekanntmachung an drei nationale Gerichte gesandt hatte und die
bei diesen Gerichten anhängige Verfahren betrafen. Auch der Gegenstand dieser
Schreiben war in allgemeiner Form angegeben.
- 67.
- Der Generaldirektor der GD IV berief sich in seinem Schreiben vom 23. Februar
1996 auf die Ausnahme zum Schutz des öffentlichen Interesses (Rechtspflege) und
erklärte, daß die erbetenen Schreiben rechtliche und sachliche Angaben enthielten,
die als Teil der Akten der nationalen Gerichte anzusehen seien, zumal die
fraglichen Rechtsstreitigkeiten immer noch anhängig seien.
- 68.
- Die streitige Entscheidung enthält eine ausdrückliche Bestätigung der ersten
ablehnenden Entscheidung. Selbst wenn dort vom „Schutz des öffentlichen
Interesses, und zwar der geordneten Rechtspflege“ die Rede ist, konnte der Kläger
nicht im Zweifel darüber sein, daß der Generalsekretär den Antrag aufgrund
derselben Ausnahmeregelung des Verhaltenskodex zurückweisen wollte. Somit
besteht kein Widerspruch zwischen der Verwendung der Worte „gerechtelijke
procedures“ in dem ersten Schreiben und „goede rechtsbedeling“ in dem zweiten
Schreiben, da die fragliche Ausnahmeregelung bezweckt, die geordnete
Rechtspflege zu gewährleisten. Die Kommission hat somit in den beiden Schreiben
in der Sache dieselben Erklärungen gegeben.
- 69.
- Der Umstand, daß die Kommission in der mündlichen Verhandlung auf die
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten
Bezug genommen hat, stellt entgegen dem Vorbringen der niederländischen
Regierung keine neue Begründung dar. Diese Zusammenarbeit war bereits in dem
ersten Schreiben erwähnt worden, das von einem „Vertrauensverhältnis“ zwischen
der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten spricht, und wurde sodann
in dem zweiten Schreiben erneut angesprochen, wo von der „notwendigen
Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten“ und der
Gefahr die Rede ist, daß die Verbreitung der erbetenen Antworten diese
Zusammenarbeit beeinträchtigen könnte.
- 70.
- Auch kann der Kommission kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie erst in
ihrem zweiten Schreiben auf das Verfahren des Artikels 177 Bezug genommen hat,
da sie damit auf den Vergleich antwortete, den der Kläger in seinem Zweitantrag
zwischen diesem Verfahren und dem in der Bekanntmachung 93/C 39/05 geregelten
Verfahren zu ziehen versucht hatte.
- 71.
- Nach alledem hat die Kommission deutlich die Gründe angegeben, aus denen sie
der Ansicht war, daß die drei erbetenen Antwortschreiben unter die zum Schutz
des öffentlichen Interesses (Rechtspflege) gebotene Ausnahme fielen, wobei sie die
Natur der in diesen Antwortschreiben enthaltenen Informationen berücksichtigt hat.
Der Kläger konnte somit erkennen, womit die streitige Entscheidung gerechtfertigt
wurde, und das Gericht war in der Lage, diese Entscheidung auf ihre
Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
- 72.
- Der zweite Klagegrund greift deshalb nicht durch, und die Klage ist insgesamt
abzuweisen.
Kosten
- 73.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger mit seinem Vorbringen
unterlegen ist und die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat, sind
ihm die Kosten aufzuerlegen. Der Streithelfer trägt jedoch gemäß Artikel 87 § 4
der Verfahrensordnung seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten der Beklagten.
3. Das Königreich der Niederlande trägt seine eigenen Kosten.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 1998.
Der Kanzler
Die Präsidentin
H. Jung
P. Lindh