Language of document : ECLI:EU:C:2023:503

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

22. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Zulässigkeit – Fortbestand eines Rechtsschutzinteresses im Ausgangsrechtsstreit – Überprüfungspflicht des vorlegenden Gerichts“

In den verbundenen Rechtssachen C-711/21 und C-712/21

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 4. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. November 2021, in den Verfahren

XXX (C-711/21),

XXX (C-712/21)

gegen

État belge, vertreten durch den Secrétaire d’État à l’Asile et la Migration (Staatssekretär für Asyl und Migration),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu‑Matei,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von XXX und XXX, vertreten durch D. Andrien, Avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von S. Matray, Avocate,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. März 2023

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 4, 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 5, Art. 6 Abs. 6 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Drittstaatsangehörigen auf der einen Seite und dem belgischen Staat auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der gegen diese Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidungen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 5 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

4        Art. 6 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(6)      Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“

5        In Art. 13 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(1)      Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.

(2)      Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.

…“

 Belgisches Recht

6        Art. 7 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Ausweisen von Ausländern) (Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 29535) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmte:

„Unbeschadet günstigerer Bestimmungen eines internationalen Vertrags kann der Minister oder sein Beauftragter den Ausländer, dem es weder erlaubt noch gestattet ist, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, anweisen, das Staatsgebiet binnen einer bestimmten Frist zu verlassen, oder muss ihm in den in Nr. 1, 2, 5, 11 oder 12 erwähnten Fällen eine an eine bestimmte Frist gebundene Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, ausstellen:

1.      wenn er sich weiter im Königreich aufhält, ohne die nach Artikel 2 erforderlichen Dokumente zu besitzen;

…“

7        Art. 52/3 Abs. 1 dieses Gesetzes sah vor:

„Wenn der Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose den Asylantrag nicht berücksichtigt oder es ablehnt, dem Ausländer die Rechtsstellung als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, und der Ausländer sich unrechtmäßig im Königreich aufhält, muss der Minister oder sein Beauftragter unverzüglich eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, ausstellen, die mit einem der in Artikel 7 Absatz 1 Nr. 1 bis 12 vorgesehenen Gründe versehen wird. Dieser Beschluss wird dem Betreffenden gemäß Artikel 51/2 notifiziert.

Wenn der Rat für Ausländerstreitsachen die Beschwerde des Ausländers gegen einen vom Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose gefassten Beschluss in Anwendung von Artikel 39/2 § 1 Nr. 1 zurückweist und der Ausländer sich unrechtmäßig im Königreich aufhält, beschließt der Minister oder sein Beauftragter unverzüglich, die in Absatz 1 vorgesehene Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zu verlängern. Dieser Beschluss wird dem Betreffenden unverzüglich gemäß Artikel 51/2 notifiziert.

…“

8        In Art. 74/13 des Gesetzes heißt es:

„Fasst der Minister oder sein Beauftragter einen Ausweisungsbeschluss, berücksichtigt er das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C-711/21

9        Am 20. Juli 2017 lehnte es der Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien) (im Folgenden: CGRA) ab, XXX die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihm subsidiären Schutz zu gewähren.

10      Am 26. Juli 2017 wurde XXX die Anweisung erteilt, das Staatsgebiet zu verlassen.

11      Am 21. August 2017 legte XXX beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) (im Folgenden: CCE) Beschwerde gegen die Entscheidung des CGRA ein, mit der sein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt worden war.

12      Am 24. August 2017 legte XXX beim CCE Beschwerde gegen die Anweisung ein, das Staatsgebiet zu verlassen.

13      Am 11. Januar 2018 wies der CCE die Beschwerde gegen die Entscheidung des CGRA zurück.

14      Mit Entscheidung vom 22. Oktober 2019, die im Anschluss an eine mündliche Verhandlung erging, in der XXX einen ergänzenden Vermerk und Unterlagen zu seinem Privatleben und seinem Gesundheitszustand vorgelegt hatte, wies der CCE die Beschwerde gegen die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zurück.

15      Der CCE vertrat die Auffassung, dass XXX kein Interesse mehr daran habe, diese Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, anzufechten, da zum einen der CCE seinen Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt habe und zum anderen die Hauptrüge von XXX darauf beruhe, dass die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, nicht erlassen werden dürfe, solange das Beschwerdeverfahren gegen die Entscheidung des CGRA bei ihm anhängig sei.

16      Der CCE vertrat die Ansicht, dass er nach dem Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C-181/16, im Folgenden: Gnandi-Urteil, EU:C:2018:465), nur dann verpflichtet sei, Ereignisse im Zusammenhang mit den familiären Bindungen und dem Gesundheitszustand von XXX zu berücksichtigen, wenn sie vor dem Abschluss des Verfahrens auf internationalen Schutz eingetreten seien. Die von XXX in dem beim CCE eingereichten ergänzenden Vermerk angeführten Ereignisse lägen jedoch zeitlich nach der Entscheidung des CCE, mit der die Beschwerde gegen die Entscheidung des CGRA zurückgewiesen worden sei.

17      Das mit einem Rechtsmittel gegen diese Entscheidung des CCE befasste vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass der CCE im Rahmen eines Antrags auf Nichtigerklärung einer Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, diese Anweisung grundsätzlich ex tunc prüfen müsse.

18      Zweitens lasse sich aus dem Gnandi-Urteil nicht mit Sicherheit ableiten, bis zu welchem Zeitpunkt sich der Drittstaatsangehörige auf eine nach Erlass der gegen ihn gerichteten Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen könne, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben könne.

19      Daher könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Art. 4, 7 und 47 der Charta sowie die Richtlinie 2008/115 das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit der nach der Ablehnung eines Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz erlassenen Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, betraute nationale Gericht verpflichteten, Änderungen der familiären Bindungen oder des Gesundheitszustands des Drittstaatsangehörigen, die bis zum Tag der Entscheidung dieses Gerichts eingetreten seien, zu berücksichtigen.

20      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 4, 7 und 47 der Charta sowie Art. 5, Art. 6 Abs. 6 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht des Gnandi-Urteils dahin auszulegen, dass das mit dem Rechtsbehelf gegen eine nach Ablehnung der Gewährung internationalen Schutzes erlassene Rückkehrentscheidung befasste Gericht bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung nur Änderungen der Umstände, die im Hinblick auf Art. 5 der Richtlinie 2008/115 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung der Situation haben können, berücksichtigen darf, die vor dem Abschluss des Verfahrens über den internationalen Schutz durch den Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) eingetreten sind?

2.      Müssen die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Umstände zu einem Zeitpunkt eingetreten sein, zu dem der Ausländer sich rechtmäßig aufhielt oder ein Bleiberecht hatte?

 Rechtssache C-712/21

21      Am 30. September 2016 lehnte es der CGRA ab, XXX die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihr subsidiären Schutz zu gewähren.

22      Am 6. Oktober 2016 wurde XXX die Anweisung erteilt, das Staatsgebiet zu verlassen.

23      Am 28. Oktober 2016 legte XXX beim CCE Beschwerde gegen die Entscheidung des CGRA ein, mit der ihr Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde.

24      Am 7. November 2016 legte XXX beim CCE Beschwerde gegen die Anweisung ein, das Staatsgebiet zu verlassen.

25      Mit Entscheidung vom 19. Januar 2017 wies der CCE die Beschwerde gegen die Entscheidung des CGRA zurück.

26      Mit Entscheidung vom 22. Oktober 2019, die im Anschluss an eine mündliche Verhandlung erging, in der XXX einen ergänzenden Vermerk und Unterlagen zu ihrem Privatleben vorgelegt hatte, wies der CCE die Beschwerde gegen die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, aus Gründen zurück, die den oben in den Rn. 15 und 16 genannten entsprechen.

27      Das mit einem Rechtsmittel gegen diese Entscheidung befasste vorlegende Gericht vertritt aus ähnlichen Gründen wie den oben in den Rn. 17 bis 19 dargelegten die Ansicht, dass die Tragweite des Gnandi-Urteils geklärt werden müsse, um zu bestimmen, bis zu welchem Zeitpunkt eine Änderung der Umstände betreffend die familiären Bindungen eines Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung erlassen worden sei, von dem für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung zuständigen Gericht berücksichtigt werden könne. Dagegen hält es das vorlegende Gericht nicht für erforderlich, den Gerichtshof im Rahmen dieser Rechtssache zu einem etwaigen Verstoß gegen Art. 4 der Charta zu befragen, da XXX keinen solchen Verstoß geltend gemacht habe.

28      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 7 und 47 der Charta sowie Art. 5, Art. 6 Abs. 6 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht des Gnandi-Urteils dahin auszulegen, dass das mit dem Rechtsbehelf gegen eine nach Ablehnung der Gewährung internationalen Schutzes erlassene Rückkehrentscheidung befasste Gericht bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung nur Änderungen der Umstände, die im Hinblick auf Art. 5 der Richtlinie 2008/115 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung der Situation haben können, berücksichtigen darf, die vor dem Abschluss des Verfahrens über den internationalen Schutz durch den Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) eingetreten sind?

2.      Müssen die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Umstände zu einem Zeitpunkt eingetreten sein, zu dem der Ausländer sich rechtmäßig aufhielt oder ein Bleiberecht hatte?

29      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Januar 2022 sind die Rechtssachen C-711/21 und C-712/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

30      Als Erstes spricht nach ständiger Rechtsprechung zwar eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ist aber ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass die Beantwortung der Vorlagefragen für die Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits erforderlich ist. Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Förigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatósák, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 167 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Daher muss sich der Gerichtshof hinsichtlich der Erheblichkeit der ihm vorgelegten Fragen zwar weitestgehend auf die Beurteilung durch das nationale Gericht verlassen können, er muss jedoch auch in die Lage versetzt werden, alle mit der Wahrnehmung seiner eigenen Aufgabe zusammenhängenden Fragen zu beurteilen, vor allem um die Zulässigkeit des an ihn gerichteten Vorabentscheidungsersuchens zu prüfen, wobei das nationale Gericht bei der Inanspruchnahme der durch Art. 267 AEUV eröffneten Möglichkeiten auf die besondere Aufgabe Rücksicht nehmen muss, die der Gerichtshof in diesem Bereich erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 19 und 20, sowie vom 9. Dezember 2010, Fluxys, C-241/09, EU:C:2010:753, Rn. 31).

32      Daher ist es unerlässlich, dass die nationalen Gerichte die Gründe darlegen, aus denen sie eine Beantwortung ihrer Fragen für entscheidungserheblich halten, falls sich diese Gründe nicht eindeutig aus den Akten ergeben (Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 17, und vom 29. April 2004, Plato Plastik Robert Frank, C-341/01, EU:C:2004:254, Rn. 29).

33      Als Zweites verlangt die praktische Wirksamkeit der mit dem Verfahren nach Art. 267 AEUV eingeführten Zusammenarbeit der Gerichte, dass das vorlegende Gericht die ihm vom Gerichtshof vorgelegten Fragen so umfassend wie möglich beantwortet, wobei es gegebenenfalls davor die Parteien des Ausgangsverfahrens hierzu anhören muss.

34      Im vorliegenden Fall bestreitet die belgische Regierung die Zulässigkeit der Vorlagefragen mit der Begründung, dass der Conseil d’État (Staatsrat) die bei ihm anhängigen Beschwerden aus einem Grund für unzulässig erklären müsse, der nichts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu tun habe, um deren Auslegung mit diesen Fragen ersucht werde. Die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren hätten nach Erhebung dieser Beschwerden ein Recht auf Aufenthalt im belgischen Hoheitsgebiet erhalten und hätten daher ihr Rechtsschutzinteresse an einer Beschwerde beim Conseil d’État (Staatsrat) verloren.

35      Sollte sich herausstellen, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren tatsächlich ihr Interesse an der Nichtigerklärung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen des CCE verloren haben, wären die Vorlagefragen für die in den beim Conseil d’État (Staatsrat) anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu treffende Entscheidung nicht mehr erheblich und müsste der Gerichtshof feststellen, dass er keine Entscheidung treffen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 70).

36      Vor diesem Hintergrund ist der Conseil d’État (Staatsrat) gebeten worden, dem Gerichtshof mitzuteilen, ob die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren inzwischen über ein Recht auf Aufenthalt im belgischen Hoheitsgebiet verfügen und ob er bejahendenfalls seine Vorlagefragen aufrechterhalten möchte.

37      Der Conseil d’État (Staatsrat) hat geantwortet, der Anwalt der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren habe geltend gemacht, dass den Beschwerdeführern zwar ein vorläufiges Recht auf Aufenthalt im belgischen Hoheitsgebiet zuerkannt worden sei, dass aber, wenn ein solches Aufenthaltsrecht nicht verlängert werde, die belgischen Behörden das Rückkehrverfahren auf der Grundlage der bereits bestehenden Rückkehrentscheidungen, die nicht zurückgenommen worden seien, wieder aufnehmen könnten. Unter Berücksichtigung dieser Erläuterungen hat der Conseil d’État (Staatsrat) mitgeteilt, dass er seine Vorlagefragen aufrechterhalten möchte.

38      In Anbetracht dieser Antwort haben der Berichterstatter und der Generalanwalt die belgische Regierung ersucht, den Gerichtshof über den gegenwärtigen Status der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rückkehrentscheidungen zu informieren.

39      Die belgische Regierung hat im Wesentlichen geltend gemacht, dass diese Rückkehrentscheidungen durch die Entscheidungen, mit denen den Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren ein Aufenthaltsrecht gewährt worden sei, aufgehoben worden seien und dass die zuständige nationale Behörde daher selbst nach Beendigung eines solchen Aufenthaltsrechts das Rückkehrverfahren in Bezug auf die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nicht auf der Grundlage dieser Rückkehrentscheidungen fortsetzen könnte.

40      Die belgische Regierung hat auch auf eine jüngere Rechtsprechung des Conseil d’État (Staatsrat) verwiesen, wonach die Rückkehrentscheidung, die gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangen sei, als zurückgenommen gelte, sobald ihm ein Aufenthaltsrecht zuerkannt werde, was dazu führe, dass der verfügende Teil der Entscheidung des CCE, mit der diese Rückkehrentscheidung bestätigt worden sei und die vor dem Conseil d’État (Staatsrat) bekämpft werde, den Drittstaatsangehörigen nicht mehr beschweren könne, so dass ihm das für seine Nichtigerklärung erforderliche Interesse fehle.

41      In Anbetracht dieser Antwort hat der Gerichtshof den Conseil d’État (Staatsrat) gebeten, ihm mitzuteilen, ob er seine Vorlagefragen aufrechterhalten möchte und, wenn ja, aus welchen Gründen.

42      Der Conseil d’État (Staatsrat) hat geantwortet, dass er seine Vorlagefragen aufrechterhalten möchte. Zur Begründung dieser Entscheidung hat er zum einen auf den Standpunkt des Rechtsanwalts der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren hingewiesen, wenngleich er eingeräumt hat, dass die belgische Regierung einen gegenteiligen Standpunkt vertrete. Zum anderen hat er hervorgehoben, dass die bei ihm anhängigen Verfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs ausgesetzt worden seien und dass er ohne neue streitige Erörterungen zwischen den Parteien in der mündlichen Verhandlung und ohne ein neues Urteil, in dem die Frage des Fortbestands des Interesses der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren an der Nichtigerklärung der Entscheidungen des CCE behandelt werde, nicht entscheiden könne, dass die Rückkehrentscheidungen als zurückgenommen gälten und diese Beschwerdeführer kein Rechtsschutzinteresse mehr hätten.

43      Daraus folgt, dass der Conseil d’État (Staatsrat) den Gerichtshof trotz dessen ausdrücklicher Aufforderung nicht in die Lage versetzt hat, sich zu vergewissern, dass die von ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen angesichts des Auftretens von Umständen, die nach den Vorabentscheidungsersuchen eingetreten sind, für die Entscheidung über die von den Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren eingelegten Beschwerden weiterhin erheblich und daher gerechtfertigt sind, weil sie für die tatsächliche Entscheidung der von ihm zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten erforderlich sind.

44      Zunächst bedeutet, wie oben in den Rn. 32 und 33 ausgeführt worden ist, das Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, das das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren darstellt, dass ein nationales Gericht die ihm vom Gerichtshof gestellten Fragen so weit wie möglich sachdienlich beantworten muss.

45      Die bloße Bezugnahme auf den Standpunkt einer Partei des Ausgangsverfahrens reicht insoweit nicht aus. Wenn nämlich das vorlegende Gericht dadurch die Argumente dieser Partei anführt, gibt dies keinen Aufschluss darüber, inwieweit es sich diese Argumente zu eigen machen möchte und ob es aus diesen Argumenten folgert, dass eine Beantwortung der gestellten Frage für den Erlass seiner Entscheidung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Oktober 2022, Teritorialna direktsia na NAP – Plovdiv, C-49/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:770, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Sodann wird nach Art. 23 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch die Entscheidung, mit der das vorlegende Gericht den Gerichtshof anruft, zwar das Verfahren ausgesetzt, jedoch ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass diese Bestimmung nicht dahin verstanden werden kann, dass sie es dem vorlegenden Gericht, sobald es den Gerichtshof befragt hat, untersagen würde, die Parteien zu den Antworten anzuhören, die auf die ihm im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit gestellten Fragen zu geben sind.

47      Wie der Generalanwalt in Nr. 24 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist ferner darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Bestimmung des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, unangewendet bleiben muss, ohne dass das betreffende Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C-312/93, EU:C:1995:437, Rn. 13, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 141).

48      Daraus folgt, dass jedes nationale Gericht jede Bestimmung seines nationalen Rechts unangewendet lassen muss, die es ihm verwehrt, auf die ihm vom Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV gestellten Fragen eine sachdienliche Antwort zu geben.

49      Schließlich unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. April 2021, État belge (Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände) (C-194/19, EU:C:2021:270), ergangen ist. Denn in der letztgenannten Rechtssache antwortete der Conseil d’État (Staatsrat) zum einen auf die Frage des Gerichtshofs, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit immer noch einen Gegenstand habe, und wurde zum anderen dem Gerichtshof nicht zur Kenntnis gebracht, dass der Conseil d’État (Staatsrat) eine Rechtsprechung entwickelt hätte, nach der er zu der Auffassung gelangt wäre, dass in dem Ausgangsverfahren entsprechenden Fällen davon auszugehen wäre, dass die Beschwerdeführer ihr Rechtsschutzinteresse verloren hätten.

50      Nach alledem sind die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig zu erklären.

 Kosten

51      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 4. November 2021 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen sind unzulässig.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.