Language of document : ECLI:EU:T:2015:774

Rechtssache T‑403/12

Intrasoft International SA

gegen

Europäische Kommission

„Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Technische Hilfe für die Zollverwaltung in Serbien zur Unterstützung der Modernisierung des Zollsystems – Interessenkonflikt – Ablehnung des Angebots eines Bieters durch die Delegation der Union in der Republik Serbien – Stillschweigende Zurückweisung der Beschwerde gegen die Ablehnung des Angebots“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 13. Oktober 2015

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Beurteilung dieser Wirkung nach dem Sachgehalt der Handlung

(Art. 263 Abs. 1 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Schreiben einer Delegation der Union, mit dem einem Bieter mitgeteilt wird, dass er aufgrund des Vorliegens eines Interessenkonflikts nicht befugt ist, an der Vergabe eines Auftrags teilzunehmen – Einbeziehung

(Art. 263 AEUV)

3.      Nichtigkeitsklage – Beklagteneigenschaft – Delegation der Union – Fehlende Eigenschaft als Einrichtung oder sonstige Stelle der Union – Vom Leiter einer Delegation der Union im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens erlassene Handlungen – Der Kommission zurechenbare Handlungen

(Art. 221 AEUV und 263 AEUV)

4.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Klagebefugnis – Ausschreibungsverfahren – Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, die an ein als Bieter auftretendes Konsortium ohne Rechtspersönlichkeit gerichtet ist – Klage einer Gesellschaft dieses Konsortiums – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

5.      Nichtigkeitsklage – Fristen – Ausschlusswirkung – Klage gegen die Entscheidung eines Organs im Rahmen eines Vergabeverfahrens, das fakultative Verfahren der gütlichen Beilegung vorsieht – Klage des Beschwerdeführers eines solchen Beilegungsverfahrens – Keine Auswirkung auf den Ablauf der Frist für eine Nichtigkeitsklage

(Art. 263 AEUV)

6.      Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Erfordernis eines bestehenden und gegenwärtigen Interesses – Klage, die geeignet ist, dem Kläger einen Vorteil zu verschaffen

(Art. 263 AEUV)

7.      Nichtigkeitsklage – Klage gegen eine Entscheidung, mit der eine frühere bestandskräftig gewordene Entscheidung bestätigt wird – Unzulässigkeit – Begriff der bestätigenden Entscheidung – Kein neuer Gesichtspunkt im Verhältnis zur früheren Entscheidung und keine erneute Überprüfung der Lage des Adressaten der Entscheidung

(Art. 263 AEUV)

8.      Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Ausschreibungsverfahren – Pflicht, abgelehnten Bietern auf deren Ersuchen ergänzende Auskünfte zu den Gründen für die Ablehnung mitzuteilen – Einhaltung der Pflicht, die keine Ersetzung der Entscheidung über die Ablehnung des Angebots bewirkt

(Verordnung Nr. 1605/2002 des Rates; Verordnung Nr. 2342/2002 der Kommission, Art. 149, Abs.3 Unterabs. 4)

9.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Ausbleiben der Antwort eines Organs auf eine Beschwerde, die ein abgelehnter Bieter im Rahmen eines Vergabeverfahrens, das fakultative Verfahren der gütlichen Beilegung vorsieht, eingelegt hat – Nichteinbeziehung

(Art. 263 AEUV)

10.    Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Ausschreibungsverfahren – Erteilung des Zuschlags – Ausschluss von Bietern, die sich in einem Interessenkonflikt befinden – Begriff des Interessenkonflikts – Zugehörigkeit eines Bieters zu einem Konsortium, das in einem früheren Ausschreibungsverfahren Dokumente ausgearbeitet hat, und in der Folge Heranziehung dieser Dokumente als Grundlage für die fragliche Ausschreibung – Keine Teilnahme des Bieters an den vorbereitenden Arbeiten des früheren Ausschreibungsverfahrens – Kein Interessenkonflikt

(Verordnung Nr. 1605/2002 des Rates, Art. 94 Buchst. a)

11.    Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Ausschreibungsverfahren – Erteilung des Zuschlags – Ausschluss von Bietern, die sich in einem Interessenkonflikt befinden – Voraussetzungen – Konkrete Bewertung des Angebots und der Lage des Bieters – Notwendigkeit der Feststellung einer tatsächlichen und nicht eventuellen Gefahr

(Verordnung Nr. 1605/2002 des Rates, Art. 94)

12.    Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Ausschreibungsverfahren – Pflicht zur Beachtung der Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz – Bedeutung

(Verordnung Nr. 1605/2002 des Rates, Art. 89 Abs. 1; Verordnung Nr. 2342/2002 der Kommission)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 28-30)

2.      Die verbindlichen Rechtswirkungen einer Handlung sind anhand objektiver Kriterien, wie des Inhalts der Handlung, zu beurteilen, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind.

Das Schreiben der Delegation der Europäischen Union in der Republik Serbien als von der Kommission nachgeordnet bevollmächtigter öffentlicher Auftraggeber, mit dem der Verfasser sich dazu geäußert hat, ob der Bieter befugt ist, am Zuschlagsverfahren teilzunehmen, ferner angegeben hat, dass sich der Bieter in einem Interessenkonflikt befinde, und folglich festgestellt hat, dass der Auftrag nicht an das Konsortium vergeben werden könne, dem der Betroffene angehörte, stellt angesichts seines Inhalts, des rechtlichen und des tatsächlichen Zusammenhangs, in den es sich einfügt, sowie der Befugnisse der Behörde, die es verfasst hat, eine beschwerende Maßnahme dar, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage vor dem Unionsrichter sein kann.

(vgl. Rn. 32, 43-45)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 34)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(Rn. 35)

5.      Hinsichtlich des Schreibens einer Delegation der Union, mit dem einem Bieter ihre Entscheidung, ihm den Zuschlag nicht zu erteilen, mitgeteilt wird, berührt der Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung einer Beschwerde gemäß Ziffer 2.4.15.3 des Handbuchs für Vergabeverfahren im Rahmen von EU-Außenmaßnahmen der Kommission nicht das Recht des Adressaten der Handlung, innerhalb der im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehenen Fristen das Gericht anzurufen. Daraus folgt, dass eine solche Möglichkeit den Betroffenen nicht von seiner Verpflichtung entbindet, die Fristen für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage vor dem Gericht zu beachten. Insoweit muss der Betroffene für die Klageerhebung eine Antwort auf seine Beschwerde nicht abwarten.

(vgl. Rn. 38, 39, 46)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 47)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 48, 50, 52, 54)

8.      Darüber hinaus können abgelehnte Bieter gemäß Art. 149 Abs. 3 Unterabs. 4 der Verordnung Nr. 2342/2002 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1605/2002 den öffentlichen Auftraggeber zwar schriftlich ersuchen, ihnen „ergänzende Auskünfte zu den Gründen für die Ablehnung“ mitzuteilen; die Mitteilung solcher ergänzender Informationen ersetzt jedoch nicht die Entscheidung, mit der das Angebot des betreffenden Bieters abgelehnt wurde, da die Begründung einer solchen Entscheidung in mehreren Etappen erfolgen kann.

(vgl. Rn. 51)

9.      Das bloße Schweigen eines Organs, wenn es zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde, kann als solches keine Rechtswirkungen erzeugen, es sei denn, dass diese Folge in einer Bestimmung des Unionsrechts ausdrücklich vorgesehen ist. Fehlt eine ausdrückliche Bestimmung des Unionsrechts, die eine Frist festsetzt, bei deren Ablauf von einer stillschweigenden Entscheidung ausgegangen wird, und die den Inhalt dieser Entscheidung festlegt, so kann die Untätigkeit eines Organs nicht einer Entscheidung gleichgesetzt werden, soll nicht das Rechtsschutzsystem des Vertrags in Frage gestellt werden.

Daher kann das Untätigbleiben eines öffentlichen Auftraggebers bei Ablauf der in Ziffer 2.4.15.1 des Handbuchs für Vergabeverfahren im Rahmen von EU-Außenmaßnahmen der Kommission festgelegten Frist nicht als stillschweigende Zurückweisung der Beschwerde eines abgelehnten Bieters angesehen werden. Denn dieses Handbuch ist ein bloßes Arbeitsmittel, das die in einem bestimmten Bereich geltenden Verfahren erläutert und das als solches keine Rechtsgrundlage für die Einführung einer obligatorischen vorherigen Verwaltungsbeschwerde sein kann. Ebenso wenig kann im vorliegenden Fall das Handbuch eine Rechtsgrundlage für die Einführung einer Ausschlussfrist zugunsten der Behörde sein, die eine Beschwerde beantworten soll.

(vgl. Rn. 57, 58)

10.    Was das Vorliegen eines Interessenkonflikts bei einem Bieter in einem Vergabeverfahren im Sinne von Art. 94 Buchst. a der Verordnung Nr. 1605/2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften angeht, so hat der Begriff des Interessenkonflikts objektiven Charakter und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Absichten der Betroffenen außer Betracht zu lassen sind und die bloße Eventualität eines Interessenkonflikts für einen Ausschluss eines Bieters vom Verfahren nicht ausreicht, da diese Gefahr im Einzelfall tatsächlich festgestellt werden muss.

Insoweit kann nicht hingenommen werden, dass die Gefahr eines Interessenkonflikts allein auf die Tatsache gestützt werden kann, dass der betreffende Bieter vor den anderen Bietern Zugang zu Dokumenten hatte, die zu einem anderen Ausschreibungsverfahren gehörten, weil er dem Konsortium angehörte, das diese Dokumente, die in der Folge herangezogen wurden, um als Referenz für die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der fraglichen Ausschreibung zu dienen, ausgearbeitet hat. Die Gefahr eines Interessenkonflikts kann indes nicht auf die bloße Vermutung gestützt werden, dass dieser Bieter, als die fraglichen Dokumente im Rahmen eines anderen Ausschreibungsverfahrens ausgearbeitet wurden, die Absicht des öffentlichen Auftraggebers kannte, eine neue Ausschreibung zu veröffentlichen und die Dokumente, die von dem Konsortium ausgearbeitet wurden, dem er angehörte, als Grundlage für bestimmte Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftrag, auf den sich die neue Ausschreibung bezieht, auszuwählen.

So besteht die Gefahr eines Interessenkonflikts bei der Person, die, nachdem sie mit vorbereitenden Arbeiten im Rahmen eines öffentlichen Auftrags betraut war, an eben diesem Auftrag teilnimmt. Da mit dem Ausdruck „vorbereitende Arbeiten“ auf Arbeiten verwiesen wird, die im Rahmen ein und desselben Ausschreibungsverfahrens ausgeführt wurden, kann der öffentliche Auftraggeber die Ausarbeitung von Dokumenten, die im Rahmen eines anderen Ausschreibungsverfahrens erfolgte, nicht mit dem Fall gleichsetzten, dass die vorbereitenden Arbeiten im Rahmen des fraglichen Ausschreibungsverfahrens ausgearbeitet wurden, es sei denn, er weist objektiv und konkret nach, dass diese Dokumente für das fragliche Ausschreibungsverfahren ausgearbeitet wurden und dass sie dem betreffenden Bieter einen tatsächlichen Vorteil verschafft haben. Ohne einen solchen Nachweis können Dokumente, die im Rahmen eines anderen Ausschreibungsverfahrens ausgearbeitet und später vom öffentlichen Auftraggeber als Referenz für einen Teil der Tätigkeiten eines anderen Ausschreibungsverfahrens ausgewählt wurden, nicht als vorbereitende Arbeiten im Sinne von Ziffer 2.3.6 des Handbuchs für Vergabeverfahren im Rahmen von EU-Außenmaßnahmen der Kommission angesehen werden, in der als vorbereitende Arbeiten insbesondere diejenigen zur Ausarbeitung eines Projekts, wie die Ausarbeitung des Lastenhefts, genannt werden.

(vgl. Rn. 74, 75, 82-85)

11.    Art. 94 der Verordnung Nr. 1605/2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften gestattet den Ausschluss eines Bieters von einem Vergabeverfahren nur, wenn der Interessenkonflikt, auf den er abstellt, wirklich besteht und nicht hypothetisch ist. Das jedoch bedeutet nicht, dass die Gefahr eines Interessenkonflikts für den Ausschluss eines Angebots nicht ausreichen würde. Vor Vertragsschluss kann ein Interessenkonflikt nämlich nur potenziell bestehen, und diese Bestimmung der Haushaltsordnung impliziert deshalb eine Beurteilung, die sich nach der Gefahr bemisst. Diese sich nach der Gefahr eines Interessenkonflikts bemessende Beurteilung setzt eine konkrete Bewertung zum einen des Angebots und zum anderen der Lage des betreffenden Bieters voraus, und der Ausschluss dieses Bieters ist eine Lösung, um die Beachtung der Grundsätze der Transparenz und der Chancengleichheit der Bieter zu gewährleisten.

Insoweit besteht keine uneingeschränkte Verpflichtung der öffentlichen Auftraggeber, Bieter, die sich in einem Interessenkonflikt befinden, systematisch auszuschließen, da ein solcher Ausschluss in den Fällen nicht gerechtfertigt ist, in denen nachgewiesen werden kann, dass sich der Interessenkonflikt nicht auf das Gebaren der Bieter im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens ausgewirkt hat und keine tatsächliche Gefahr besteht, dass es zu einer Praxis gekommen ist, die geeignet ist, den Wettbewerb zwischen den Bietern zu verfälschen. Hingegen ist der Ausschluss eines Bieters, der sich in einem Interessenkonflikt befindet, unerlässlich, wenn es keine angemessenere Lösung gibt, um einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz zu verhindern.

(vgl. Rn. 74, 76, 79)

12.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 77, 78)