Language of document : ECLI:EU:C:2023:772

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

12. Oktober 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 55 Abs. 1 Buchst. a – Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art – Anwendung der nationalen Doppelleistungsbestimmungen – Berechnung der Hinterbliebenenrente – Teilung der Beträge der Leistung oder Leistungen oder der sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen – Begriff der Beträge, die berücksichtigt worden sind“

In der Rechtssache C‑45/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 4. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Januar 2022, in dem Verfahren

HK

gegen

Service fédéral des Pensions

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter), des Richters J. Passer und der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von HK, der sich selbst vertritt,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.–R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen HK und dem Service fédéral des Pensions (Föderaler Pensionsdienst, Belgien, im Folgenden: SFP) über die Berechnung des Betrags der Hinterbliebenenrente, auf die HK nach dem Tod seiner Ehefrau Anspruch hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 1408/71

3        Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) wurde am 1. Mai 2010, dem Tag, seit dem die Verordnung Nr. 883/2004 gilt, aufgehoben.

4        Art. 46c („Besondere Vorschriften für das Zusammentreffen einer oder mehrerer Leistungen nach Artikel 46a Absatz 1 mit einer oder mehreren Leistungen unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmte:

„Führt der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder von sonstigen Einkünften gleichzeitig zur Kürzung, zum Ruhen oder zur Entziehung von zwei oder mehr Leistungen nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i), so werden Beträge, die bei strenger Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen nicht ausgezahlt werden, durch die Zahl der zu kürzenden, zum Ruhen zu bringenden oder zu entziehenden Leistungen geteilt.“

5        Art. 46c war durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. 1992, L 136, S. 7) in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt worden. In den Erwägungsgründen 16 und 22 der Verordnung Nr. 1248/92 hieß es:

„Zum Schutz der wandernden Erwerbspersonen und ihrer Hinterbliebenen gegen eine allzu strikte Anwendung der einzelstaatlichen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften ist es erforderlich, in die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eine Bestimmung aufzunehmen, in der die Anwendung dieser Vorschriften streng geregelt ist.

Es ist angezeigt, in die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Bestimmungen aufzunehmen, die sicherstellen, dass sich die gleichzeitige Anwendung von einzelstaatlichen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen durch zwei oder mehr Mitgliedstaaten bei Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art nicht nachteilig für die wandernden Erwerbspersonen oder ihre Anspruchsberechtigten auswirkt …“

 Verordnung Nr. 883/2004

6        In den Erwägungsgründen 4, 29 und 31 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„(4)      Es ist notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen.

(29)      Um Wanderarbeitnehmer und ihre Hinterbliebenen gegen eine übermäßig strenge Anwendung der nationalen Kürzungs‑, Ruhens- und Entziehungsvorschriften zu schützen, ist es erforderlich, Bestimmungen aufzunehmen, die für die Anwendung dieser Vorschriften strenge Regeln festlegen.

(31)      Nach Auffassung des Gerichtshofes ist es Sache des nationalen Gesetzgebers, derartige Rechtsvorschriften zu erlassen, wobei der Gemeinschaftsgesetzgeber die Grenzen festlegt, in denen die nationalen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften anzuwenden sind.“

7        Art. 52 („Feststellung der Leistungen“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Der zuständige Träger berechnet den geschuldeten Leistungsbetrag:

a)      allein nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften, wenn die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch ausschließlich nach nationalem Recht erfüllt wurden (autonome Leistung);

b)      indem er einen theoretischen Betrag und im Anschluss daran einen tatsächlichen Betrag (anteilige Leistung) wie folgt berechnet:

(2)      Der zuständige Träger wendet gegebenenfalls auf den nach Absatz 1 Buchstaben a) und b) berechneten Betrag innerhalb der Grenzen der Artikel 53 bis 55 alle Bestimmungen über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften an.

(3)      Die betreffende Person hat gegenüber dem zuständigen Träger jedes Mitgliedstaats Anspruch auf den höheren der Leistungsbeträge, die nach Absatz 1 Buchstaben a) und b) berechnet wurden.

…“

8        Art. 53 („Doppelleistungsbestimmungen“) der Verordnung lautet:

„(1)      Jedes Zusammentreffen von Leistungen bei Invalidität, bei Alter oder an Hinterbliebene, die auf der Grundlage der von derselben Person zurückgelegten Versicherungs- und/oder Wohnzeiten berechnet oder gewährt wurden, gilt als Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art.

(2)      Das Zusammentreffen von Leistungen, die nicht als Leistungen gleicher Art im Sinne des Absatzes 1 angesehen werden können, gilt als Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art.

(3)      Für die Zwecke von Doppelleistungsbestimmungen, die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für den Fall des Zusammentreffens von Leistungen bei Invalidität, bei Alter oder an Hinterbliebene mit Leistungen gleicher Art oder Leistungen unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften festgelegt sind, gilt Folgendes:

a)      Der zuständige Träger berücksichtigt die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Leistungen oder erzielten Einkünfte nur dann, wenn die für ihn geltenden Rechtsvorschriften die Berücksichtigung von im Ausland erworbenen Leistungen oder erzielten Einkünften vorsehen.

b)      Der zuständige Träger berücksichtigt nach den in der [Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1)] festgelegten Bedingungen und Verfahren den von einem anderen Mitgliedstaat zu zahlenden Leistungsbetrag vor Abzug von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und anderen individuellen Abgaben oder Abzügen, sofern nicht die für ihn geltenden Rechtsvorschriften vorsehen, dass die Doppelleistungsbestimmungen nach den entsprechenden Abzügen anzuwenden sind.

c)      Der zuständige Träger berücksichtigt nicht den Betrag der Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats auf der Grundlage einer freiwilligen Versicherung oder einer freiwilligen Weiterversicherung erworben wurden.

d)      Wendet ein einzelner Mitgliedstaat Doppelleistungsbestimmungen an, weil die betreffende Person Leistungen gleicher oder unterschiedlicher Art nach den Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten bezieht oder in anderen Mitgliedstaaten Einkünfte erzielt hat, so kann die geschuldete Leistung nur um den Betrag dieser Leistungen oder Einkünfte gekürzt werden.“

9        Art. 55 („Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Erfordert der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder von sonstigen Einkünften die Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen:

a)      auf zwei oder mehrere autonome Leistungen, so teilen die zuständigen Träger die Beträge der Leistung oder Leistungen oder sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen, auf die diese Bestimmungen anzuwenden sind;

die Anwendung dieses Buchstabens darf jedoch nicht dazu führen, dass der betreffenden Person ihr Status als Rentner für die Zwecke der übrigen Kapitel dieses Titels nach den in der [Verordnung Nr. 987/2009] festgelegten Bedingungen und Verfahren aberkannt wird;

…“

 Belgisches Recht

10      In Art. 20 Abs. 1 und 4 des Königlichen Erlasses Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 über die Ruhestand- und Hinterbliebenenpension für Lohnempfänger (Moniteur belge vom 27. Oktober 1967, S. 11246) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königlicher Erlass Nr. 50) heißt es:

„Die Hinterbliebenenpension kann nur bis zu einem vom König festgesetzten Betrag mit einer Ruhestandspension oder jedem anderen als Ruhestandspension geltenden Vorteil kumuliert werden.

…“

Der König bestimmt, inwieweit Hinterbliebenenpensionen reduziert werden können, wenn hinterbliebene Ehepartner eine Hinterbliebenenpension oder irgendeinen anderen als Hinterbliebenenpension geltenden Vorteil beziehen, der aufgrund einer Ruhestands- oder Hinterbliebenenpensionsregelung eines anderen Landes oder aufgrund einer auf das Personal einer völkerrechtlichen Einrichtung anwendbaren Regelung gewährt wird.“

11      Art. 52 § 1 des Königlichen Erlasses vom 21. Dezember 1967 zur Einführung einer allgemeinen Regelung über die Ruhestands- und Hinterbliebenenpension für Lohnempfänger (Moniteur belge vom 16. Januar 1968, S. 441) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königlicher Erlass vom 21. Dezember 1967) sieht in seinen Abs. 1 und 3 bis 5 vor:

„Hat der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenpension nach der Pensionsregelung für Lohnempfänger sowie auf eine oder mehrere Ruhestandspensionen oder eine an deren Stelle tretende sonstige Vergünstigung nach der Ruhestandspensionsregelung für Lohnempfänger oder nach einer oder mehreren anderen Pensionsregelungen, so kann die Hinterbliebenenpension mit den genannten Ruhestandspensionen nur bis zur Summe von 110 % des Betrags der Hinterbliebenenpension kumuliert werden, die dem hinterbliebenen Ehegatten für eine vollständige Versicherungslaufbahn bewilligt worden wäre.

Hat der in Abs. 1 genannte hinterbliebene Ehegatte auch Anspruch auf eine oder mehrere Hinterbliebenenpensionen oder an deren Stelle tretende Vergünstigungen im Sinne des Art. 10a des Königlichen Erlasses Nr. 50 …, so darf die Hinterbliebenenpension nicht höher sein als die Differenz zwischen einerseits 110 % des Betrags der Hinterbliebenenpension für eine vollständige Versicherungslaufbahn und andererseits der Summe aus den Beträgen der Ruhestandspensionen oder der an deren Stelle tretenden Vergünstigungen im Sinne von Abs. 1 und einem Betrag in Höhe der Hinterbliebenenpension eines Lohnempfängers für eine vollständige Versicherungslaufbahn, multipliziert mit dem Bruch oder der Summe der Brüche, die die Höhe der Hinterbliebenenpensionen in den anderen Pensionsregelungen mit Ausnahme der Regelung für Selbständige ausdrücken. Bei diesen Brüchen handelt es sich um diejenigen, die bei der Anwendung des vorgenannten Art. 10a berücksichtigt worden sind oder worden wären.

Die Anwendung von Abs. 3 darf nicht dazu führen, dass die Hinterbliebenenpension auf einen Betrag gekürzt wird, der niedriger ist als der Unterschied zwischen der vor Anwendung der vorstehenden Absätze zu gewährenden Hinterbliebenenpension und der Summe der Beträge der Ruhestandspensionen und der an deren Stelle tretenden Vergünstigungen im Sinne von Abs. 1.

Für die Anwendung der Abs. 1 und 3 versteht sich die Hinterbliebenenpension für eine vollständige Versicherungslaufbahn als die dem hinterbliebenen Ehegatten vor Anwendung der vorstehenden Absätze zu gewährende Hinterbliebenenpension, multipliziert mit deren Kehrbruch und gegebenenfalls begrenzt gemäß dem vorgenannten Art. 10a, die für die Berechnung der Ruhestandspension angewendet worden ist, die als Grundlage für die Berechnung der Hinterbliebenenpension dient.“

12      Art. 52a des Königlichen Erlasses vom 21. Dezember 1967 sieht vor:

„Bei der Anwendung von Art. 20 Abs. 3 und 4 des Königlichen Erlasses Nr. 50 wird der Betrag der Hinterbliebenenpension des überlebenden Ehegatten, der nach dem Königlichen Erlass Nr. 50 oder [dem Königlichen Erlass vom 23. Dezember 1996 zur Ausführung der Artikel 15, 16 und 17 des Gesetzes vom 26. Juli 1996 zur Modernisierung der sozialen Sicherheit und zur Sicherung der gesetzlichen Pensionsregelungen (Moniteur belge vom 17. Januar 1997, S. 904)] gewährt wird, um den Betrag der Hinterbliebenenpension oder der an ihre Stelle tretenden Vergünstigung gekürzt, die aufgrund einer Regelung eines anderen Landes oder aufgrund einer für das Personal einer völkerrechtlichen Einrichtung geltenden Regelung gewährt wird und auf die nicht verzichtet werden kann.“

13      Art. 7 § 1 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 23. Dezember 1996 zur Ausführung der Artikel 15, 16 und 17 des Gesetzes vom 26. Juli 1996 zur Modernisierung der sozialen Sicherheit und zur Sicherung der gesetzlichen Pensionsregelungen bestimmt:

„Wenn der Ehegatte vor dem Beginn des Bezugs seiner Ruhestandspension verstorben ist, beträgt die Hinterbliebenenpension 80 [%] des Betrags der Ruhestandspension, die anhand des in Art. 5 § 1 Abs. 1 Buchst. a dieses Erlasses angegebenen Satzes berechnet wird und die dem Ehegatten in Anwendung dieses Erlasses gewährt worden wäre.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14      Die Ehefrau von HK verstarb am 29. November 2016.

15      Da HK in verschiedenen Mitgliedstaaten, nämlich in Belgien, in Spanien und in Finnland gearbeitet und Beiträge gezahlt hatte, bezog er am 1. Dezember 2016 eine belgische Altersrente in Höhe von 11 962,55 Euro pro Jahr sowie eine spanische Altersrente in Höhe von 8 276,28 Euro pro Jahr. Da auch die Ehefrau von HK in denselben Mitgliedstaaten gearbeitet und Beiträge gezahlt hatte, bezog HK außerdem eine spanische Hinterbliebenenrente in Höhe von 5 123,88 Euro pro Jahr sowie eine finnische Hinterbliebenenrente in Höhe von 1 281,24 Euro pro Jahr aufgrund der von seiner verstorbenen Ehefrau in diese Sozialversicherungssysteme gezahlten Beiträge.

16      Was die belgische Hinterbliebenenrente betrifft, teilte der SFP am 22. Dezember 2017 HK mit, dass ihm kein Anspruch auf eine solche Rente zustehe, da der Gesamtbetrag seiner Altersrenten zu hoch sei.

17      Am 26. Dezember 2017 legte HK Widerspruch gegen diese Ablehnung ein.

18      Im Anschluss kam es zu einem regen Schriftwechsel zwischen HK und dem SFP über die Modalitäten der Berücksichtigung der verschiedenen von HK bezogenen Rentenleistungen, um zu ermitteln, ob und in welchem Umfang er Anspruch auf eine belgische Hinterbliebenenrente habe.

19      Mit Bescheid vom 18. September 2019 änderte der SFP seine ursprüngliche Auffassung und gewährte HK eine Altersrente auf Grundlage des belgischen Rechts in Höhe von 1 929,03 Euro pro Jahr rückwirkend ab dem 1. Dezember 2016.

20      HK beanstandete diese Entscheidung und erhob Klage beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien). Er machte geltend, dass sich der Betrag der belgischen Hinterbliebenenrente auf 6 339,01 Euro pro Jahr belaufen müsse.

21      Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts vertreten SFP und HK im Wesentlichen unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004, der die Regel enthalte, wonach der zuständige Träger bei der Anwendung von Doppelleistungsbestimmungen zu Leistungen unterschiedlicher Art die Beträge der Leistungen oder sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden seien, durch die Zahl der Leistungen, auf die die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen anzuwenden sind, teilen müsse.

22      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass sich die Parteien des Rechtsstreits – gemäß dem belgischen Recht, das das Zusammentreffen einer Hinterbliebenenrente und einer Altersrente zulasse, gleichzeitig diesen kumulierten Betrag aber auf 110 % des Betrags der Hinterbliebenenrente, die dem hinterbliebenen Ehepartner für eine vollständige Versicherungslaufbahn gewährt worden wäre, begrenze – einig seien, dass der für die Anwendung von Art. 52 des Königlichen Erlasses vom 21. Dezember 1967 zu berücksichtigende Gesamtbetrag der Altersrenten, nämlich der jährliche Betrag der belgischen (11 962,55 Euro) und der spanischen (8 276,28 Euro) Altersrente, 20 238,83 Euro betrage und dass die Kumulierungsobergrenze bei 16 458,42 Euro liege.

23      Die Ansichten der Parteien divergierten nur hinsichtlich der Berechnung der Überschreitung der Kumulierungsobergrenze.

24      Nach Ansicht des SFP sei die Überschreitung dieser Obergrenze zu ermitteln, indem der jährliche Betrag der Hinterbliebenenrente und der jährliche Betrag der Altersrenten addiert würden, davon dann die Kumulierungsobergrenze abgezogen und die Differenz schließlich durch zwei geteilt werde. Im Fall von HK sei die Überschreitung der Kumulierungsobergrenze also wie folgt zu berechnen: 7 638,46 Euro (jährlicher Betrag der gewährten Hinterbliebenenrente) + 20 238,83 Euro (jährlicher Gesamtbetrag der Altersrenten) – 16 458,42 Euro (Kumulierungsobergrenze) = 11 418,87 Euro. Der gedeckelte jährliche Betrag der Hinterbliebenenrente belaufe sich damit auf: 7 638,46 Euro – 11 418,87 Euro/2 (Betrag, um den die Obergrenze überschritten wird, geteilt durch die Zahl der Hinterbliebenenrenten, die von Regeln über das Zusammentreffen von Leistungen betroffen sind, hier also die belgische und die finnische Hinterbliebenenrente) = 1 929,03 Euro.

25      Nach Angaben des SFP hätten die finnischen Behörden für die finnische Hinterbliebenenrente dieselbe Berechnung vorgenommen.

26      Nach Ansicht von HK sei nicht der die Kumulierungsobergrenze überschreitende Teil der Einkünfte durch zwei zu teilen, sondern die Gesamtheit der bei der Anwendung der Doppelleistungsbestimmungen berücksichtigten Einkünfte, also der jährliche Gesamtbetrag der Altersrenten. Die Überschreitung der Kumulierungsobergrenze sei also folgendermaßen zu berechnen: 7 638,46 Euro (jährlicher Betrag der gewährten Hinterbliebenenrente) + 20 238,83 Euro (jährlicher Gesamtbetrag der Altersrenten)/2 – 16 458,42 Euro (Kumulierungsobergrenze)= 1 299,45 Euro. Daraus folge, dass der gedeckelte jährliche Betrag der Hinterbliebenenrente, auf die er Anspruch habe, wie folgt zu berechnen sei: 7 638,46 Euro – 1 299,45 Euro = 6 399,01 Euro.

27      HK stütze diese Auslegung von Art. 55 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 auf die Informationen auf der Internetseite der Caisse nationale d’assurance vieillesse (Nationale Altersrentenkasse, Frankreich), des für die Berechnung und Auszahlung der Grundrenten zuständigen französischen Trägers.

28      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Teilungsregelung als solche nicht in der entsprechenden Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71, nämlich Art. 46c Abs. 1, enthalten gewesen sei, die vorgesehen habe, dass die Beträge, die bei strenger Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungsbestimmungen nicht ausgezahlt würden, durch die Zahl der der Kürzung unterliegenden Leistungen geteilt würden.

29      Unter diesen Umständen hat das Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist die Regel in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, wonach die zuständigen Träger die Beträge der Leistung oder Leistungen oder sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen teilen, auf die diese Bestimmungen anzuwenden sind, dahin auszulegen, dass die für die Anwendung des Kumulierungsverbots berücksichtigten Einkünfte als solche durch die Zahl der von Doppelleistungsbestimmungen betroffenen Hinterbliebenenrenten zu teilen sind?

2.      Ist die Regel in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, wonach die zuständigen Träger die Beträge der Leistung oder Leistungen oder sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen teilen, auf die diese Bestimmungen anzuwenden sind, vielmehr so auszulegen, dass nicht die für die Anwendung des Kumulierungsverbots berücksichtigten Einkünfte als solche, sondern vielmehr der Teil der Einkünfte, der eine Kumulierungsobergrenze wie die beispielsweise in der in Rede stehenden nationalen Bestimmung vorgesehene übersteigt, durch die Zahl der von Doppelleistungsbestimmungen betroffenen Hinterbliebenenrenten zu teilen ist?

 Zu den Vorlagefragen

30      Mit seinen beiden Vorlagefragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung, wenn der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art die Anwendung nationaler Doppelleistungsbestimmungen in Bezug auf autonome Leistungen erfordert, alle Mitgliedstaaten verpflichtet, für die Berechnung des Betrags der auszuzahlenden Leistung vorzusehen, dass der Gesamtbetrag der von diesen nationalen Vorschriften berücksichtigten Einkünfte durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist, oder ob diese Bestimmung sie verpflichtet, für diese Berechnung vorzusehen, dass der Teil der Einkünfte, der die in den genannten nationalen Bestimmungen festgelegte Kumulierungsobergrenze überschreitet, durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist.

31      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass, sofern in der Verordnung Nr. 883/2004 nichts anderes bestimmt ist, die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen gegenüber den Personen, die eine Leistung zulasten dieses Mitgliedstaats erhalten, anwendbar sind, wenn sie Anspruch auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit haben, und zwar auch dann, wenn diese Leistungen nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2018, Blanco Marqués, C‑431/16, EU:C:2018:189, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Daher darf der zuständige nationale Träger bei der Feststellung der Leistungen gemäß Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 alle Bestimmungen über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften innerhalb der in den Art. 53 bis 55 dieser Verordnung festgelegten Grenzen anwenden.

33      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Leistungen der sozialen Sicherheit als Leistungen gleicher Art zu betrachten, wenn ihr Sinn und Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung identisch sind. Dagegen sind lediglich formale Merkmale nicht als wesentliche Tatbestandsmerkmale für die Einstufung der Leistungen anzusehen (Urteil vom 15. März 2018, Blanco Marqués, C‑431/16, EU:C:2018:189, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Was das Zusammentreffen von Leistungen wie den vorliegenden anbelangt, nämlich Leistungen, die auf Grundlage des Versicherungsverlaufs zweier verschiedener Personen berechnet oder gewährt werden und die als Leistungen unterschiedlicher Art anzusehen sind, sieht Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 vor, dass die zuständigen Träger beim Zusammentreffen von zwei oder mehreren autonomen Leistungen die Beträge der Leistung oder Leistungen, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen teilen, auf die die von den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen anzuwenden sind.

35      Was die Bedeutung des Satzteils „die berücksichtigt worden sind“ anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, und ihr Zusammenhang zu berücksichtigen sind, wobei die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern kann (Urteil vom 8. Mai 2019, Inspecteur van de Belastingdienst, C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Was erstens den Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 betrifft, ergibt sich daraus, dass bei der Anwendung der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen die zuständigen Träger die Beträge der Leistungen, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen teilen, auf die diese Bestimmungen anzuwenden sind.

37      Nach der gewöhnlichen Bedeutung des in diesem Satz verwendeten Begriffs „berücksichtigen“ ist dieser Satz so zu verstehen, dass diejenigen Beträge der Teilung unterliegen, die von den zuständigen nationalen Trägern im Rahmen der Anwendung der in ihren Rechtsvorschriften vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen beachtet worden sind oder denen sie in diesem Rahmen Rechnung getragen haben.

38      Der Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 enthält jedoch keine ausdrückliche Angabe, wonach die Mitgliedstaaten einen bestimmten Betrag berücksichtigen müssten.

39      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 47 und 50 seiner Schlussanträge dargelegt hat, ist Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 so abgefasst, dass er den Mitgliedstaaten die Möglichkeit belässt, die Beträge, so wie sie sich aus der Anwendung ihrer nationalen Doppelleistungsbestimmungen ergeben, durch die Zahl der Leistungen, auf die diese Bestimmungen anzuwenden sind, zu teilen.

40      Folglich ergibt sich aus dem Wortlaut, dass die zuständigen nationalen Träger bei der Berechnung des Betrags der auszuzahlenden Leistung entweder den Gesamtbetrag der Einkünfte oder den Teil der Einkünfte, die eine bestimmte Kumulierungsobergrenze überschreiten, durch die Zahl der betreffenden Leistungen teilen können.

41      Zweitens wird diese wörtliche Auslegung durch den Kontext gestützt, in dem Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 steht.

42      So ergibt sich aus dem 29. Erwägungsgrund dieser Verordnung bezüglich ihrer Bestimmungen über nationale Vorschriften zur Einführung von Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsmechanismen, dass der Unionsgesetzgeber die Wanderarbeitnehmer und ihre Hinterbliebenen gegen eine übermäßig strenge Anwendung dieser Vorschriften durch die Mitgliedstaaten schützen wollte, indem er Bestimmungen in die Verordnung aufnahm, die für die Anwendung dieser Vorschriften strenge Regeln festlegen.

43      Insofern stellt der 31. Erwägungsgrund der Verordnung klar, dass es Sache des nationalen Gesetzgebers ist, Rechtsvorschriften zu erlassen, die das Zusammentreffen von zwei oder mehreren Rentenansprüchen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten erworben wurden, einschränken, wobei der Unionsgesetzgeber die Grenzen festlegt, in denen diese nationalen Doppelleistungsbestimmungen anzuwenden sind.

44      Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 zu den nationalen Doppelleistungsbestimmungen den Zweck verfolgen, besonders nachteilige Auswirkungen auf Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, zu begrenzen.

45      Wie auch der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist unter solchen Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht ersichtlich, dass die Berücksichtigung lediglich des Betrags, der die Kumulierungsobergrenze der verschiedenen berücksichtigten Renten überschreitet, durch einen Mitgliedstaat für die betroffenen Arbeitnehmer besonders nachteilig wäre, selbst wenn zuzugeben ist, dass die Berechnung unter Berücksichtigung des Gesamtbetrags der berücksichtigten Leistungen zu einem höheren Betrag führt.

46      Zum einen verpflichtet Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004, wie sich aus den Rn. 38 bis 40 des vorliegenden Urteils ergibt, die Mitgliedstaaten nämlich keineswegs dazu, den betroffenen Arbeitnehmern die höchsten Beträge zu gewähren. Zum anderen ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass HK vorliegend eine belgische Hinterbliebenenrente auf Grundlage dieser Bestimmung bezieht, während ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, in einem solchen Fall überhaupt keinen Anspruch auf eine Leistung hat.

47      Drittens wird eine Auslegung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004, wonach es Sache der nationalen Gesetzgeber ist, die im Rahmen der Anwendung ihrer nationalen Doppelleistungsbestimmungen zu berücksichtigenden Beträge der Leistungen festzulegen, auch durch die Ziele der Regelung, zu der diese Bestimmung gehört, gestützt.

48      Hierzu führt der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 aus, dass es notwendig ist, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen.

49      Die Verordnung Nr. 883/2004 schafft nämlich kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen. Die Mitgliedstaaten sind weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig; in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene bestimmt das Recht eines jeden Mitgliedstaats u. a. die Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, wozu auch die Doppelleistungsbestimmungen für Leistungen unterschiedlicher Art gehören. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 zu den Doppelleistungsbestimmungen beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2022, Rechtsanwaltskammer Wien, C‑58/21, EU:C:2022:691, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Art. 55 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2204 legt jedoch keine bestimmte Methode zur Berechnung des Betrags von Hinterbliebenenrenten fest, so dass es der Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats obliegt, diese Modalitäten im Rahmen der Anwendung dieser Bestimmung festzulegen, was im vorliegenden Fall zudem durch den in den Rn. 25 und 27 des vorliegenden Urteils dargelegten Umstand verdeutlicht wird, dass die zuständigen französischen und finnischen Behörden gemäß ihren jeweiligen nationalen Doppelleistungsbestimmungen verschiedene Berechnungsmethoden anwenden.

51      Viertens und letztens lässt auch die Entstehungsgeschichte von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 den Schluss zu, dass die Bestimmung in der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils dargelegten Weise auszulegen ist.

52      Die Verordnung Nr. 1408/71 enthielt nämlich ursprünglich keine mit Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 vergleichbare Bestimmung zur Abschwächung der Auswirkungen beim Zusammentreffen von Sozialleistungen.

53      Erst mit der Aufnahme des Art. 46c in die Verordnung Nr. 1408/71 durch die Verordnung Nr. 1248/92 wurde eine solche Bestimmung vom Unionsgesetzgeber eingeführt. Hierzu führten die Erwägungsgründe 16 und 22 der Verordnung Nr. 1248/92 aus, dass es wichtig sei, die Wanderarbeitnehmer und deren Hinterbliebene gegen eine allzu strikte Anwendung der einzelstaatlichen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften zu schützen, da sich die gleichzeitige Anwendung von einzelstaatlichen Bestimmungen bei Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art nachteilig auswirken könne.

54      Art. 46c Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sah daher vor, dass, wenn der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder von sonstigen Einkünften gleichzeitig zur Kürzung, zum Ruhen oder zur Entziehung von zwei oder mehr Leistungen führte, die Beträge, die bei strenger Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften nicht ausgezahlt würden, durch die Zahl der zu kürzenden, zum Ruhen zu bringenden oder zu entziehenden Leistungen geteilt werden mussten.

55      Auch wenn der Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin geändert wurde, dass die berücksichtigten Beträge der Leistungen und nicht mehr die wegen der Anwendung von Doppelleistungsbestimmungen nicht ausgezahlten Beträge durch die Zahl der Leistungen, auf die die Doppelleistungsbestimmungen anzuwenden sind, geteilt werden, verfolgen dennoch sowohl diese Vorschrift als auch Art. 46c der Verordnung Nr. 1408/71 dasselbe Ziel, nämlich den Schutz der Wanderarbeitnehmer gegen nachteilige Auswirkungen einer kumulativen Anwendung der genannten Bestimmungen in den Mitgliedstaaten.

56      Die Verordnung Nr. 883/2004 hat nämlich die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 aktualisiert und vereinfacht, dabei jedoch das Ziel der Verordnung Nr. 1408/71 beibehalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2021, Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen [Uwv], C‑285/20, EU:C:2021:785, Rn. 42).

57      Im Übrigen beziehen sich, wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge angemerkt hat, sowohl Art. 46c Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 als auch Art. 55 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 auf die in den Rechtsvorschriften der jeweiligen Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungs‑, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften sowie auf die in diesen Rechtsvorschriften berücksichtigten Beträge, wodurch der den Staaten zustehende Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Modalitäten der Anwendung von Doppelleistungsbestimmungen hervorgehoben wird.

58      In Anbetracht sämtlicher vorangegangener Erwägungen ist auf die gestellten Fragen zu antworten, dass Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er, wenn der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder sonstiger Einkünfte die Anwendung nationaler Doppelleistungsbestimmungen in Bezug auf autonome Leistungen erfordert, den betreffenden Mitgliedstaaten erlaubt, in ihren Rechtsordnungen vorzusehen, dass für die Berechnung des Betrags der auszuzahlenden Leistung entweder der Gesamtbetrag der von diesen nationalen Vorschriften berücksichtigten Einkünfte durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist, oder dass der Teil der Einkünfte, der die in genannten nationalen Vorschriften festgelegte Kumulierungsobergrenze überschreitet, durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist.

 Kosten

59      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

ist dahin auszulegen, dass

er, wenn der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder sonstiger Einkünfte die Anwendung nationaler Doppelleistungsbestimmungen in Bezug auf autonome Leistungen erfordert, den betreffenden Mitgliedstaaten erlaubt, in ihren Rechtsordnungen vorzusehen, dass für die Berechnung des Betrags der auszuzahlenden Leistung entweder der Gesamtbetrag der von diesen nationalen Vorschriften berücksichtigten Einkünfte durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist, oder dass der Teil der Einkünfte, der die in den genannten nationalen Vorschriften festgelegte Kumulierungsobergrenze überschreitet, durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.