Language of document : ECLI:EU:C:2023:641

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

7. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Warenverkehr – Verbrauchsteuern – Richtlinie 92/12/EWG – Art. 6 Abs. 1 Buchst. a – Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs – Unrechtmäßige Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung – Rechtswidrige Handlung, die ausschließlich einem Dritten zuzurechnen ist – Fälschung des begleitenden Verwaltungsdokuments – Art. 14 Abs. 1 – Steuerbefreiung für Verluste, die während des Verfahrens der Steueraussetzung entstanden sind – Untergang oder höhere Gewalt – Haftung des zugelassenen Lagerinhabers“

In der Rechtssache C‑323/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 6. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Mai 2022, in dem Verfahren

KRI SpA, Rechtsnachfolgerin der SI.LO.NE. – Sistema logistico nord‑est Srl,

gegen

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und Z. Csehi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der KRI SpA, vertreten durch M. Logozzo und F. C. Palermo, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und F. Moro als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1) in der durch die Richtlinie 2004/106/EG des Rates vom 16. November 2004 (ABl. 2004, L 359, S. 30) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/12).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der KRI SpA, Rechtsnachfolgerin der SI.LO.NE. – Sistema logistico nord‑est Srl, und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Zoll- und Monopolagentur, Italien) über die Erhebung von Verbrauchsteuern, die dieses Unternehmen angeblich schuldet, weil es bei der Beförderung von Mineralölen gegen das Verfahren der Steueraussetzung verstoßen haben soll.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 1, 4 und 5 der Richtlinie 92/12 lauteten:

„Die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes setzt den freien Verkehr der Waren einschließlich der verbrauchsteuerpflichtigen Waren voraus.

Um die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, muss der Steueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch sein.

Jede Warenlieferung, jeder Besitz von zur Lieferung bestimmten Waren oder jede Bereitstellung von Waren für den Bedarf eines Wirtschaftsbeteiligten, der eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, oder einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung innerhalb eines anderen Mitgliedstaats als dem, in dem die Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt worden sind, lässt den Verbrauchsteueranspruch in diesem anderen Mitgliedstaat entstehen.“

4        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 sah vor:

„Diese Richtlinie regelt die Verbrauchsteuern und die anderen indirekten Steuern, die unmittelbar oder mittelbar auf den Verbrauch von Waren erhoben werden, mit Ausnahme der Mehrwertsteuer und der von der [Europäischen] Gemeinschaft festgelegten Abgaben.“

5        Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 fand die Richtlinie 92/12 auf Gemeinschaftsebene u. a. auf Mineralöle Anwendung.

6        Art. 4 der Richtlinie 92/12 bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie gelten als

a)      zugelassener Lagerinhaber: die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden;

b)      Steuerlager: jeder Ort, an dem unter bestimmten, von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren unter Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber hergestellt, bearbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden;

c)      Verfahren der Steueraussetzung: die steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung der Waren unter Steueraussetzung Anwendung findet;

d)      registrierter Wirtschaftsbeteiligter: die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren mit Herkunft aus einem anderen Mitgliedstaat zu empfangen, ohne zugelassener Lagerinhaber zu sein. Dieser Wirtschaftsbeteiligte darf jedoch keine Waren unter Steueraussetzung lagern oder versenden;

…“

7        Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/12 lautete:

„Die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Waren werden verbrauchsteuerpflichtig mit ihrer Herstellung im Gebiet der Gemeinschaft, wie es in Artikel 2 festgelegt ist, oder mit ihrer Einfuhr in dieses Gebiet.“

8        Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/12 bestimmte:

„(1)      Die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr oder mit der Feststellung von Fehlmengen gemäß Artikel 14 Absatz 3.

Als Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gelten

a)      jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung“.

9        Art. 13 der Richtlinie 92/12 sah vor:

„Der zugelassene Lagerinhaber muss

a)      vorbehaltlich des Artikels 15 Absatz 3 eine Sicherheit in Bezug auf die Beförderung sowie gegebenenfalls eine Sicherheit in Bezug auf die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung leisten, wobei die Voraussetzungen von den zuständigen Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem das Steuerlager zugelassen ist, festgelegt werden;

b)      den von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachkommen;

c)      eine nach Lagern getrennte Buchhaltung über die Bestände und Warenbewegungen führen;

d)      die Waren auf Verlangen vorführen;

e)      alle Maßnahmen zur Überwachung oder zur amtlichen Bestandsaufnahme dulden.

Die vorstehenden Verpflichtungen müssen dem Prinzip der Nichtdiskriminierung zwischen nationalen und innergemeinschaftlichen Geschäften entsprechen.“

10      In Art. 14 der Richtlinie 92/12 hieß es:

„(1)      Der zugelassene Lagerinhaber wird für Verluste von der Steuer befreit, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden und von den Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats festgestellt worden sind. Während des Verfahrens der Steueraussetzung wird er ebenfalls für den Schwund von der Steuer befreit, der während der Herstellung und Verarbeitung sowie der Lagerung und der Beförderung aus Gründen, die sich aus der Eigenart der Waren ergeben, eintritt. Jeder Mitgliedstaat legt die Bedingungen fest, unter denen diese Steuerbefreiungen gewährt werden. Diese Steuerbefreiungen für Verluste gelten für die in Artikel 16 genannten Wirtschaftsbeteiligten bei der Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung.

(2)      Die Verluste gemäß Absatz 1, die während einer innergemeinschaftlichen Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung eingetreten sind, müssen gemäß den Vorschriften des Bestimmungsmitgliedstaats festgestellt werden.

(3)      Unbeschadet des Artikels 20 werden bei Fehlmengen, die nicht unter die Verluste gemäß Absatz 1 fallen, sowie bei Fehlmengen, für die keine Steuerbefreiung gemäß Absatz 1 gewährt wurde, die Abgaben nach den Steuersätzen erhoben, die in dem betreffenden Mitgliedstaat in dem Zeitpunkt anwendbar waren, zu dem sich die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß ermittelten Fehlmengen ergeben haben, bzw. in dem die Fehlmengen festgestellt worden sind.

…“

11      Art. 15 der Richtlinie 92/12 sah vor:

„(1)      Unbeschadet des Artikels 5 Absatz 2, des Artikels 16, des Artikels 19 Absatz 4 und des Artikels 23 Absatz 1a muss die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Verfahren der Steueraussetzung zwischen Steuerlagern erfolgen.

(2)      Die gemäß Artikel 13 von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats zugelassenen Lagerinhaber gelten als für die Warenbeförderung im Inland und in der Gemeinschaft zugelassen.

(3)      Die mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken werden von der Sicherheit gemäß Artikel 13, die der Versender in seiner Eigenschaft als zugelassener Lagerinhaber geleistet hat, und gegebenenfalls durch eine gesamtschuldnerische Sicherheitsleistung des Versenders und des Beförderers gedeckt. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten können dem Beförderer oder dem Eigentümer der Waren gestatten, anstelle des zugelassenen Lagerinhabers als Versender eine Sicherheit zu leisten. Die Mitgliedstaaten können gegebenenfalls vom Empfänger eine Sicherheitsleistung verlangen.

Werden verbrauchsteuerpflichtige Mineralöle innerhalb der Gemeinschaft auf dem Seeweg oder durch feste Rohrleitungen befördert, können die Mitgliedstaaten die zugelassenen Lagerinhaber als Versender von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nach dem ersten Unterabsatz entbinden.

Die Einzelheiten der Sicherheitsleistung werden von den Mitgliedstaaten geregelt. Die Sicherheitsleistung muss für die gesamte Gemeinschaft gültig sein.

(4)      Unbeschadet des Artikels 20 können der zugelassene Lagerinhaber als Versender und gegebenenfalls der Beförderer erst dann aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn der Nachweis dafür vorliegt, dass der Empfänger die Waren übernommen hat, insbesondere mittels des in Artikel 18 genannten Begleitdokuments unter den in Artikel 19 festgelegten Bedingungen.

…“

12      Art. 18 der Richtlinie 92/12 bestimmte:

„(1)      Ungeachtet des etwaigen Einsatzes der elektronischen Datenverarbeitung wird jeder verbrauchsteuerpflichtigen Ware, die im Verfahren der Steueraussetzung zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten – auch im direkten See- oder Luftverkehr zwischen zwei Häfen bzw. Flughäfen der Gemeinschaft – befördert wird, ein vom Versender ausgestelltes Begleitdokument beigegeben. Das Begleitdokument kann entweder ein Verwaltungsdokument oder ein Handelsdokument sein. Form und Inhalt dieses Dokuments sowie das Verfahren für die Fälle, in denen die Verwendung des Dokuments objektiv unangebracht ist, werden nach dem Verfahren des Artikels 24 festgelegt.

(3)      …

Dieses Dokument muss folgende Angaben enthalten:

–        Anschrift der örtlich zuständigen Steuerbehörde des Bestimmungsmitgliedstaats;

–        Zeitpunkt und Verweis auf die Zahlung bzw. die Annahme der Sicherheit durch diese Behörde.

…“

13      Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 sah vor:

„Die Steuerbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten werden durch die Wirtschaftsbeteiligten mittels des in Artikel 18 genannten Dokuments bzw. eines Verweises auf dieses Dokument über versandte und empfangene Warensendungen unterrichtet. Dieses Dokument ist in vier Exemplaren anzufertigen:

–        eine Ausfertigung für den Versender;

–        eine Ausfertigung für den Empfänger;

–        eine Ausfertigung, die zur Erledigung des Verfahrens für die Rücksendung bestimmt ist;

–        eine Ausfertigung für die zuständigen Behörden des Bestimmungsmitgliedstaats.

…“

14      Art. 20 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/12 lautete:

„(1)      Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen, aufgrund derer eine Verbrauchsteuer entsteht, so wird die Verbrauchsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem die Unregelmäßigkeit oder die Zuwiderhandlung begangen wurde, ungeachtet einer etwaigen Strafverfolgung von der natürlichen oder juristischen Person geschuldet, die gemäß Artikel 15 Absatz 3 eine Sicherheit für die Zahlung der Verbrauchsteuern geleistet hat.

Wird die Verbrauchsteuer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Abgangsmitgliedstaat erhoben, so unterrichtet der Mitgliedstaat, der die Verbrauchsteuern erhebt, die zuständigen Behörden des Abgangsmitgliedstaats.

(2)      Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit festgestellt, ohne dass der Ort der Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit feststeht, so gilt sie als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist.

(3)      Treffen die verbrauchsteuerpflichtigen Waren nicht am Bestimmungsort ein, und kann der Ort der Zuwiderhandlung oder der Unregelmäßigkeit nicht festgestellt werden, so gilt diese Zuwiderhandlung oder diese Unregelmäßigkeit unbeschadet des Artikels 6 Absatz 2 als in dem Abgangsmitgliedstaat begangen; der Abgangsmitgliedstaat erhebt die Verbrauchsteuern nach dem zum Zeitpunkt des Versands der Waren geltenden Satz, sofern nicht innerhalb von vier Monaten nach dem Versand der Waren der Nachweis über die Ordnungsmäßigkeit des Vorgangs oder den Ort, an dem die Zuwiderhandlung oder die Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen worden ist, zur Zufriedenheit der zuständigen Behörden erbracht wird. Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen.“

15      Die Richtlinie 92/12 wurde mit Wirkung vom 1. April 2010 durch die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts wird das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen jedoch anhand der Richtlinie 92/12 geprüft.

 Italienisches Recht

16      Das Decreto legislativo n. 504 – Testo unico delle disposizioni legislative concernenti le imposte sulla produzione e sui consumi e relative sanzioni penali e amministrative (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 zur Billigung des Einheitstextes der Rechtsvorschriften über Produktions- und Verbrauchsteuern und die entsprechenden strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom 26. Oktober 1995 (GURI Nr. 279 vom 29. November 1995, S. 5) in der durch die Legge n. 342 – Misure in materia fiscale (Gesetz Nr. 342 über steuerliche Maßnahmen) vom 21. November 2000 (GURI Nr. 194 vom 25. November 2000, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 504/1995) sieht in Art. 2 Abs. 1, 2 und 4 vor:

„1.      Für verbrauchsteuerpflichtige Waren entsteht die Steuerpflicht im Zeitpunkt der Herstellung oder der Einfuhr.

2.      Der Anspruch auf die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung der Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr im Inland. Als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gelten auch:

a)      Fehlmengen, die die zulässigen Mengen überschreiten, oder Fälle, in denen die Bedingungen für die Gewährung einer Steuerbefreiung gemäß Art. 4 nicht erfüllt sind;

b)      jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

c)      jede – auch unrechtmäßige – Herstellung oder Einfuhr außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung.

4.      Die Pflicht zur Zahlung der Verbrauchsteuer obliegt dem Inhaber des Steuerlagers, aus dem die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr erfolgt, und gesamtschuldnerisch mit diesem der Person, die eine Sicherheit für diese Zahlung geleistet hat, oder der Person, gegenüber der die Voraussetzungen für den Steueranspruch erfüllt sind. Bei eingeführten Waren wird der Steuerpflichtige auf der Grundlage der zollrechtlichen Vorschriften ermittelt.

…“

17      Art. 4 („Steuerbefreiungen für Verluste und Schwund“) des Decreto legislativo Nr. 504/1995 lautet:

„1.      Im Falle des Verlustes oder der Zerstörung von Waren, die sich im Verfahren der Steueraussetzung befinden, wird eine Steuerbefreiung gewährt, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass der Verlust oder die Zerstörung der Waren durch Untergang oder höhere Gewalt verursacht wurde. Untergang und höherer Gewalt gleichgestellt sind Handlungen Dritter, die dem Steuerpflichtigen nicht aufgrund Vorsatzes oder grober Fahrlässigkeit zuzurechnen sind, sowie Handlungen, die dem Steuerpflichtigen aufgrund leichter Fahrlässigkeit zuzurechnen sind. Wird nach der Begehung von Straftaten durch Dritte ein Strafverfahren eingeleitet, so wird das Verfahren zur Beitreibung der Verbrauchsteuern bis zum Erlass eines Einstellungsbeschlusses oder eines rechtskräftigen Urteils gemäß Art. 648 des Codice di procedura penale (Strafprozessordnung) ausgesetzt. In diesem Fall wird auch das Verfahren zur Beitreibung der Mehrwertsteuer auf die betreffenden Verbrauchsteuern ausgesetzt. Steht nicht fest, dass der Steuerpflichtige an der Tat beteiligt war, und sind die tatsächlich Verantwortlichen ermittelt worden oder sind diese nicht bekannt, so wird dem Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewährt, und die Beitreibung erfolgt gegebenenfalls bei dem tatsächlich Verantwortlichen.

2.      Für den Verlust von Waren im Verfahren der Steueraussetzung, der während des Herstellungs- oder Verarbeitungsverfahrens, dem sie unterliegen, wenn die Steuerschuld bereits entstanden ist, eintritt, wird die Befreiung in den Grenzen des technisch zulässigen Schwundes gewährt, die der Finanzminister durch Dekret bestimmt, das gemäß Art. 17 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 400 vom 23. August 1988 zu erlassen ist.

3.      Für natürlichen und technischen Schwund gelten die Bestimmungen des Zollrechts.

4.      Die Vorschriften über bei der Beförderung entstandenen Schwund gelten auch für die Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.“

18      Art. 7 („Unregelmäßigkeiten bei der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren“) des Decreto legislativo Nr. 504/1995 bestimmt:

„1.      Im Falle einer Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung, für die keine Steuerbefreiung gemäß Art. 4 vorgesehen ist und die im Rahmen der Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung begangen wurde, gelten – unbeschadet der Bestimmungen über die Strafverfolgung, wenn die zur Last gelegten Tatsachen eine Straftat darstellen – folgende Bestimmungen:

a)      Die Verbrauchsteuer wird von der natürlichen oder juristischen Person entrichtet, die eine Sicherheit für die Beförderung geleistet hat;

b)      die Verbrauchsteuer wird in Italien erhoben, wenn die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung im italienischen Staatsgebiet begangen wurde;

c)      wird die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung im italienischen Staatsgebiet festgestellt und kann nicht ermittelt werden, wo sie tatsächlich begangen wurde, so wird vermutet, dass sie im italienischen Staatsgebiet begangen wurde;

d)      erreichen aus dem italienischen Staatsgebiet versandte Waren nicht ihren Bestimmungsort in einem anderen Mitgliedstaat und kann der Ort, an dem sie in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden, nicht festgestellt werden, so gilt die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung als im italienischen Staatsgebiet begangen, und die Verbrauchsteuer wird zu dem am Tag des Versands der Waren geltenden Steuersatz erhoben, es sei denn, dass innerhalb von vier Monaten nach dem Tag der Versendung der Nachweis der Ordnungsmäßigkeit des Vorgangs oder der Nachweis, dass die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung tatsächlich außerhalb des italienischen Staatsgebiets begangen wurde, erbracht wird;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

19      Die Gesellschaft italienischen Rechts SI.LO.NE. war in der Lagerung und Beförderung von Mineralölerzeugnissen tätig. Sie wurde von der Shell Italia SpA übernommen, aus der KRI wurde.

20      Vom 22. August 2005 bis zum 30. Juni 2006 nahm SI.LO.NE. in ihrer Eigenschaft als zugelassene Lagerinhaberin im Verfahren der Steueraussetzung 196 Versendungen von Mineralölen (Diesel und Benzin) aus ihrem Steuerlager in Italien an die in Slowenien ansässige Gesellschaft BMB Projekt d.o.o. vor, die als registrierte Wirtschaftsbeteiligte zum Empfang solcher Waren berechtigt war. Der auf diese Versendungen entfallende Verbrauchsteuerbetrag belief sich auf 2 816 426,10 Euro.

21      Für die Beförderung im Verfahren der Steueraussetzung stellte SI.LO.NE. für jede Versendung ein begleitendes Verwaltungsdokument (im Folgenden: Begleitdokument) in vier Exemplaren aus. Das Exemplar Nr. 1 sollte vom Versender aufbewahrt werden, das Exemplar Nr. 2 sollte die Waren begleiten und vom Empfänger aufbewahrt werden, das Exemplar Nr. 3 sollte die Waren begleiten und vom Empfänger zusammen mit der Bescheinigung über den Empfang der Waren an den Versender zurückgeschickt werden, und das Exemplar Nr. 4 sollte die Waren begleiten und vom Empfänger an die zuständige Steuerbehörde am Bestimmungsort weitergeleitet werden.

22      Das Exemplar Nr. 3 des Begleitdokuments für jede dieser Versendungen wurde vom slowenischen Wirtschaftsbeteiligten – mit einer Bescheinigung über den Empfang der Waren und einem offenbar von der slowenischen Zollbehörde angebrachten Sichtvermerk versehen – an SI.LO.NE. zurückgesandt.

23      Auf ein von den italienischen Zollbehörden im Rahmen eines Amtshilfeverfahrens in Steuersachen an die slowenischen Zollbehörden gerichtetes Auskunftsersuchen hin stellten diese am 10. Juli 2008 fest, dass die Bescheinigungen auf der Rückseite des Exemplars Nr. 3 der Begleitdokumente in Bezug auf 161 Versendungen gefälscht seien und lediglich 35 Versendungen tatsächlich in das slowenische Hoheitsgebiet verbracht worden seien.

24      Aufgrund der festgestellten Fälschungen sahen es die italienischen Zollbehörden als nicht erwiesen an, dass die fraglichen Waren außerhalb des italienischen Hoheitsgebiets in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden seien. Daher vertraten sie die Auffassung, dass SI.LO.NE. die Verfahren für die 161 betroffenen Versendungen unrechtmäßig beendet habe. Da sie nicht in der Lage gewesen seien, den Ort zu bestimmen, an dem die fraglichen Waren unrechtmäßig in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden seien, nahmen die italienischen Zollbehörden zudem an, dass diese Unregelmäßigkeiten im italienischen Hoheitsgebiet begangen worden seien.

25      Unter diesen Umständen entschieden sie, dass es Sache des italienischen Staates sei, die auf die fraglichen Waren entfallende Verbrauchsteuer zu erheben.

26      Am 13. Oktober 2008 wurde gegen die gesetzlichen Vertreter von SI.LO.NE. ein Strafverfahren wegen Fälschung zollrechtlicher Beförderungsdokumente eingeleitet. Das örtlich zuständige Gericht beschloss, dieses Verfahren einzustellen, da den gesetzlichen Vertretern dieser Gesellschaft keine Beteiligung an den Handlungen zur Hinterziehung der Verbrauchsteuer nachgewiesen werden konnte; die Fälschungen der Dokumente wurden ausschließlich auf die unerlaubte Handlung eines Dritten zurückgeführt.

27      Am 15. Juli 2009 erließ die Zoll- und Monopolagentur gegenüber SI.LO.NE. einen Zahlungsbescheid zur Erhebung der Verbrauchsteuern auf die Mineralölerzeugnisse für die 161 unrechtmäßigen Versendungen in Höhe von insgesamt 2 668 179 Euro.

28      SI.LO.NE. erhob gegen diesen Zahlungsbescheid Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Udine (Provinzfinanzkommission Udine, Italien) und berief sich dabei auf Art. 4 des Decreto legislativo Nr. 504/1995, der eine Steuerbefreiung bei Verlust oder Zerstörung von Waren durch Untergang oder infolge höherer Gewalt vorsehe.

29      Dieses Gericht gab der Klage von SI.LO.NE. mit Urteil vom 19. Januar 2011 statt. Die Zoll- und Monopolagentur legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Commissione tributaria regionale per il Friuli-Venezia Giulia (Regionale Finanzkommission Friaul-Julisch Venetien, Italien) ein.

30      Mit Urteil vom 6. Juli 2012 änderte dieses Gericht das Urteil ab und gab der Berufung der Zoll- und Monopolagentur statt.

31      Das Berufungsgericht führte aus, Art. 4 des Decreto legislativo Nr. 504/1995 sehe die Steuerbefreiung nur für den Fall des Verlusts oder der Zerstörung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren vor, nicht aber für den hier vorliegenden Fall der unrechtmäßigen Entziehung oder Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung. Es vertrat daher die Ansicht, dass SI.LO.NE. nach der nationalen Regelung über die unrechtmäßige Entziehung oder Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung verpflichtet sei, die Verbrauchsteuer zu entrichten, der die in Rede stehenden Waren aufgrund ihrer unrechtmäßigen Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung unterlägen.

32      Das Berufungsgericht schloss sich im Wesentlichen dem Standpunkt der Zoll- und Monopolagentur zur Haftung von SI.LO.NE für die Zahlung der Steuer an und führte hinsichtlich eines unrechtmäßigen Inverkehrbringens von Mineralölerzeugnissen in einem Verfahren der Steueraussetzung aus, dass der Lagerinhaber zwangsläufig für die Zahlung der hinterzogenen Verbrauchsteuer hafte und dass die rechtswidrige Handlung eines Dritten nicht zum Erlöschen dieser Verpflichtung führe, da die Haftung des Lagerinhabers objektiver Natur sei.

33      Shell Italia legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein und machte vielmehr geltend, dass im vorliegenden Fall die nationalen Rechtsvorschriften über die Steuerbefreiung anzuwenden seien.

34      In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs und seiner eigenen Rechtsprechung hegt das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Tragweite von Art. 14 der Richtlinie 92/12 und insbesondere hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Begriffe „Untergang“ und „höhere Gewalt“ im Fall rechtswidriger Handlungen eines Dritten, der – mangels eigener Verfehlungen des zugelassenen Lagerinhabers – ein berechtigtes Vertrauen desselben begründen könnte.

35      Zum einen scheine nämlich eine Rechtsprechungslinie aufgrund eines Mechanismus der objektiven Haftung zu der Ansicht zu tendieren, dass die vorsätzliche rechtswidrige Handlung eines Dritten den Steuerpflichtigen nicht von seiner Steuerpflicht befreie. Zum anderen gebe es eine weitere Rechtsprechungslinie, die vielmehr zu der Auffassung neige, dass die vorsätzliche rechtswidrige Handlung eines Dritten den Steuerpflichtigen von seiner Steuerpflicht befreien könne, wenn in Fällen von Betrug durch Fälschung von Zolldokumenten erwiesen sei, dass dem sicherheitsleistenden Lagerinhaber der Betrug völlig unbekannt gewesen sei und er daher keinen Grund zu der Annahme gehabt habe, dass die Ware nicht ordnungsgemäß im Verfahren der Steueraussetzung befördert worden sei.

36      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts können durch das Urteil vom 24. März 2022, TanQuid Polska (C‑711/20, EU:C:2022:215), die Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 14 der Richtlinie 92/12 nicht ausgeräumt werden, weil in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, der Empfänger der im Verfahren der Steueraussetzung beförderten Mineralöle bestritten habe, sie erhalten zu haben, wohingegen in der vorliegenden Rechtssache der Empfänger der Waren das Exemplar Nr. 3 des jeweiligen Begleitdokuments zurückgesandt und so den Lagerinhaber glauben lassen habe, dass die in Rede stehenden Waren am vorgesehenen Bestimmungsort eingetroffen seien.

37      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 dahin auszulegen, dass im Fall einer unrechtmäßigen Entnahme der verbrauchsteuerpflichtigen Ware die Haftung des Lagerinhabers, der eine Sicherheit für die Entrichtung der Steuer geleistet hat, objektiver Natur ist, ohne dass die Möglichkeit besteht, sich von der Verpflichtung und der Zahlung der den betreffenden Sanktionen entsprechenden Beträge zu befreien, selbst wenn die Entnahme durch eine rechtswidrige Handlung bedingt ist, die – ausschließlich – einem Dritten zuzurechnen ist, oder kann er so ausgelegt werden, dass die Befreiung von der Steuer und den entsprechenden Sanktionen – angesichts Untergangs oder höherer Gewalt – einem Lagerinhaber als Sicherheitsleistendem zu gewähren ist, der nicht nur in keinerlei Beziehung zu der rechtswidrigen Handlung des Dritten steht, sondern auch, mangels eigenen Fehlverhaltens, zu Recht darauf vertraut, dass die Ware im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung ordnungsgemäß befördert wurde?

 Zur Vorlagefrage

38      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Steuerbefreiung für Verluste, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden sind, einem für die Zahlung der Steuern haftenden Lagerinhaber im Fall einer durch eine rechtswidrige Handlung bedingten Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung zu gewähren ist, wenn er in keinerlei Beziehung zu dieser, ausschließlich einem Dritten zuzurechnenden, rechtswidrigen Handlung steht und zu Recht darauf vertraut, dass die Ware im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung ordnungsgemäß befördert wurde.

39      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 92/12 bezweckt, in bestimmtem Umfang den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren wie Mineralöle im Sinne ihres Art. 3 Abs. 1 zu regeln, und zwar – wie aus ihrem vierten Erwägungsgrund hervorgeht – insbesondere, um zu gewährleisten, dass der Verbrauchsteueranspruch in allen Mitgliedstaaten unter gleichen Umständen gegeben ist. Diese Harmonisierung ermöglicht es grundsätzlich, Doppelbesteuerungen im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten zu vermeiden (vgl. u. a. Urteil vom 24. Februar 2021, Silcompa, C‑95/19, EU:C:2021:128, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 besteht der steuerbare Vorgang im Sinne dieser Richtlinie in der Herstellung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Gebiet der Union oder ihrer Einfuhr in dieses Gebiet.

41      Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 hingegen entsteht die Verbrauchsteuer u. a. mit der Überführung verbrauchsteuerpflichtiger Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr. Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie zählt dazu auch jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung, das in Art. 4 Buchst. c der Richtlinie definiert ist.

42      Ein solches Aussetzungsverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass der Verbrauchsteueranspruch für die ihm unterliegenden Waren noch nicht entstanden ist, obwohl der Steuertatbestand bereits erfüllt ist. In Bezug auf die verbrauchsteuerpflichtigen Waren bewirkt diese Regelung daher den Aufschub der Steuerpflicht, bis eine Voraussetzung des Steueranspruchs wie die in der vorigen Randnummer beschriebene erfüllt ist (Urteil vom 24. März 2022, TanQuid Polska, C‑711/20, EU:C:2022:215, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Diese Voraussetzung für den Steueranspruch ist erfüllt, wenn die fraglichen Waren – auch unrechtmäßig – aus dem Verfahren der Steueraussetzung entnommen werden, wobei eine solche Entnahme nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/12 als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr anzusehen ist.

44      Daher sind die Voraussetzungen, an die die Inanspruchnahme einer Steuerbefreiung nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 geknüpft ist, zu prüfen, um zu ermitteln, ob sie in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfüllt sein könnten.

45      Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 wird der zugelassene Lagerinhaber für Verluste von der Steuer befreit, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden und von den Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats festgestellt worden sind.

46      Nach ständiger Rechtsprechung sind die Begriffe einer unionsrechtlichen Vorschrift, die für die Ermittlung ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen, wobei diese Auslegung entsprechend dem Sinn, den die Begriffe nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben, und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu erfolgen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs [Unschuldiger Ausführender], C‑279/19, EU:C:2021:473, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 ergibt sich, dass der Lagerinhaber von der Steuer befreit ist, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Der Lagerinhaber muss nämlich erstens nachweisen, dass während des Verfahrens der Steueraussetzung ein „Verlust“ entstanden ist, und zweitens, dass dieser „Verlust“ auf einen Untergang oder auf höhere Gewalt zurückzuführen ist.

48      Was den Sinn des Begriffs „Verlust“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch betrifft, so bezieht sich der dem zugelassenen Lagerinhaber entstandene Verlust darauf, dass ihm eine Sache ganz oder teilweise entzogen wird, die er gebraucht oder besitzt. Ein „Verlust“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 liegt folglich dann vor, wenn eine Ware während ihrer Herstellung, ihrer Verarbeitung, ihrer Lagerung oder ihrer Beförderung verschwindet.

49      Da die in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 92/12 vorgesehene Steuerbefreiung von der Steuerbefreiung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 zu unterscheiden ist, lässt sich die erstgenannte Steuerbefreiung nicht extensiv auslegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 43). Außerdem bildet die Befreiung, die in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 für Verluste vorgesehen ist, die durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden sind, von der allgemeinen Regel eine Ausnahme, die daher eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 30).

50      Daher kann das Verschwinden einer Ware, die sich im Verfahren der Steueraussetzung befindet, nur bedeuten, dass es faktisch unmöglich ist, diese Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr zu überführen oder gar in den Handelsverkehr der Union einzubringen.

51      Eine Ware, die unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens unrechtmäßig aus dem Verfahren der Steueraussetzung entnommen wird, verbleibt jedoch im Handelsverkehr der Union.

52      Eine solche unrechtmäßige Entnahme einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung erfüllt daher nicht die erste der beiden oben in Rn. 47 genannten kumulativen Voraussetzungen für die Befreiung des zugelassenen Lagerinhabers von der Zahlung der Steuer.

53      Bei unrechtmäßiger Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung kann dem zugelassenen Lagerinhaber daher mangels Vorliegens eines „Verlustes“ eine Steuerbefreiung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 auch dann nicht gewährt werden, wenn diese Entnahme das Ergebnis einer ausschließlich einem Dritten zuzurechnenden rechtswidrigen Handlung ist und der Lagerinhaber zu Recht darauf vertraut, dass die Ware im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung ordnungsgemäß befördert wurde.

54      Die Auslegung dieser Bestimmung wird sowohl durch den Zusammenhang, in den sie sich einfügt, als auch durch die mit der Richtlinie 92/12 verfolgten Ziele untermauert.

55      Konkret ergibt sich aus der Systematik der Richtlinie 92/12, insbesondere von Art. 13, Art. 15 Abs. 3 und 4 sowie Art. 20 Abs. 1, dass der Gesetzgeber dem zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle im Rahmen des Verfahrens der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung zugedacht hat (Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31).

56      Dieser Lagerinhaber als natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden, haftet daher für die Zahlung der Verbrauchsteuern, wenn es bei der Beförderung dieser Waren zu einer Unregelmäßigkeit oder einer Zuwiderhandlung kommt, die zur Entstehung des Steueranspruchs führt. Ferner ist diese Haftung eine objektive Haftung, die nicht auf dem nachgewiesenen oder vermuteten Verschulden des Lagerinhabers, sondern auf seiner Beteiligung an einer wirtschaftlichen Tätigkeit beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2021, Silcompa, C‑95/19, EU:C:2021:128, Rn. 52).

57      Darüber hinaus geht aus dem ersten und dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 92/12 hervor, dass eines ihrer Ziele darin besteht, im Hinblick auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts – was den freien Verkehr der Waren einschließlich der verbrauchsteuerpflichtigen Waren voraussetzt – sicherzustellen, dass der Steueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch ist. Zu diesen Zielen gehört auch die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs [Unschuldiger Ausführender], C‑279/19, EU:C:2021:473, Rn. 31).

58      Eine Auslegung des Begriffs „Verlust“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 dahin, dass er eine unrechtmäßige Entnahme einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung umfasst, stünde jedoch nicht im Einklang mit den in der vorstehenden Randnummer genannten Zielen. Zum einen würde nämlich eine solche Auslegung die objektive Natur der Haftung, die dem Lagerinhaber nach der Richtlinie im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung obliegt, und damit die zentrale Rolle des Lagerinhabers bei der Sicherstellung des Steueranspruchs und letztlich den freien Verkehr der verbrauchsteuerpflichtigen Waren schwächen. Zum anderen würde eine solche Schwächung auch das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehungen und Missbräuchen gefährden, da in der Praxis die Erhebung der Verbrauchsteuern bei einem solchen Lagerinhaber im Fall einer Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung erschwert würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs [Unschuldiger Ausführender], C‑279/19, EU:C:2021:473, Rn. 34).

59      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Steuerbefreiung einem für die Zahlung der Steuern haftenden Lagerinhaber im Fall einer durch eine rechtswidrige Handlung bedingten Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung auch dann nicht zu gewähren ist, wenn er in keinerlei Beziehung zu dieser, ausschließlich einem Dritten zuzurechnenden, rechtswidrigen Handlung steht und zu Recht darauf vertraut, dass die Ware im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung ordnungsgemäß befördert wurde.

 Kosten

60      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren

ist dahin auszulegen, dass

die darin vorgesehene Steuerbefreiung einem für die Zahlung der Steuern haftenden Lagerinhaber im Fall einer durch eine rechtswidrige Handlung bedingten Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung auch dann nicht zu gewähren ist, wenn er in keinerlei Beziehung zu dieser, ausschließlich einem Dritten zuzurechnenden, rechtswidrigen Handlung steht und zu Recht darauf vertraut, dass die Ware im Rahmen des Verfahrens der Steueraussetzung ordnungsgemäß befördert wurde.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.