Language of document : ECLI:EU:C:2023:654

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 7. September 2023(1)

Rechtssache C371/22

G sp. z o.o.

gegen

W S.A.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie [Regionalgericht Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Elektrizitätsbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72/EG – Art. 3 Abs. 5 und 7 – Verbraucherschutz – Recht des Kunden, im Rahmen der Vertragsbedingungen tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln zu können – Von einem Kleinunternehmen abgeschlossener, befristeter Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif – Vertragsstrafe für die vorzeitige Beendigung des Vertrags – Höhe der Strafe, die dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht – Nationale Gesetzgebung, die eine Kündigung ‚ohne weitere Gebühren und Entschädigungszahlungen außer denen, die sich aus dem Inhalt des Vertrags ergeben‘, zulässt“






I.      Einleitung

1.        Die Richtlinie 2009/72/EG(2), die gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt festlegt, sieht in ihrem Art. 3 Abs. 5 und 7 vor, dass einem Stromkunden, der im Rahmen der Vertragsbedingungen beabsichtigt, den Lieferanten zu wechseln, dieses Recht ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt wird und dass er tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln kann.

2.        Ist eine Vertragsstrafe, die einem Kleinunternehmen von seinem vorherigen Lieferanten für die vorzeitige, zum Zweck des Versorgerwechsels erfolgte Kündigung eines befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrags mit festem Tarif auferlegt wird und deren Betrag dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht, mit dem Recht dieses Kunden, tatsächlich und leicht den Lieferanten zu wechseln, im Sinne von Art. 3 Abs. 5 und 7 dieser Richtlinie vereinbar? Dies ist im Wesentlichen die Frage, die der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) gestellt hat.

3.        Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der G sp. z o.o., einem Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten (im Folgenden: Gesellschaft G), und der W S.A., einem Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen (im Folgenden: Lieferant W), über die Zahlung einer Vertragsstrafe für die vorzeitige Kündigung des zwischen diesen beiden Parteien geschlossenen Elektrizitätsversorgungsvertrags.

4.        In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof zum ersten Mal über die Auslegung von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 zu entscheiden haben. Um die vorgelegte Frage zu beantworten, werden innerhalb des Rahmens des ordnungsgemäßen Funktionierens des Elektrizitätsbinnenmarkts einerseits das dem Kunden zugestandene Recht, den Lieferanten tatsächlich leicht wechseln zu können, und andererseits das Recht des vorherigen Lieferanten, einen Ausgleich für den entfallenen Verbrauch an Strom zu erhalten, zu dessen Kauf sich der Kunde ihm gegenüber in einem befristeten Vertrag mit festem Tarif verpflichtet hat, gegeneinander abzuwägen sein.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2009/72

5.        In den Erwägungsgründen 1, 3, 42, 52 und 57 der Richtlinie 2009/72 heißt es:

„(1)      Der Elektrizitätsbinnenmarkt, der seit 1999 in der Gemeinschaft schrittweise geschaffen wird, soll allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der Europäischen Union eine echte Wahl ermöglichen, neue Geschäftschancen für die Unternehmen eröffnen sowie den grenzüberschreitenden Handel fördern und auf diese Weise Effizienzgewinne, wettbewerbsfähige Preise und höhere Dienstleistungsstandards bewirken und zu mehr Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit beitragen.

(3)      Die Freiheiten, die der Vertrag den Bürgern der Union garantiert – unter anderem der freie Warenverkehr, die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr, sind nur in einem vollständig geöffneten Markt erreichbar, der allen Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten und allen Anbietern die freie Belieferung ihrer Kunden gestattet.

(42)      Überall in der Gemeinschaft sollten Industrie und Handel, einschließlich der kleinen und mittleren Unternehmen, sowie die Bürger der Union, die von den wirtschaftlichen Vorteilen des Binnenmarktes profitieren, … auch ein hohes Verbraucherschutzniveau genießen können und insbesondere die Haushalte und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angemessen halten, Kleinunternehmen in den Genuss gemeinwirtschaftlicher Leistungen kommen können … Darüber hinaus sollten diese Kunden ein Recht auf Wahlmöglichkeiten, Fairness, Interessenvertretung und die Inanspruchnahme eines Streitbeilegungsverfahrens haben.

(52)      Die Verbraucher sollten klar und verständlich über ihre Rechte gegenüber dem Energiesektor informiert werden. …

(57)      Für die Mitgliedstaaten sollte es die oberste Priorität sein, den fairen Wettbewerb und einen freien Marktzugang für die einzelnen Versorger und die Entwicklung von Kapazitäten für neue Erzeugungsanlagen zu fördern, damit die Verbraucher die Vorzüge eines liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkts im vollen Umfang nutzen können.“

6.        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/72 bestimmt

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, ‑übertragung, ‑verteilung und ‑versorgung sowie Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes erlassen, um in der Gemeinschaft für die Verbesserung und Integration von durch Wettbewerb geprägte Strommärkte zu sorgen. Sie regelt die Organisation und Funktionsweise des Elektrizitätssektors, den freien Marktzugang, die Kriterien und Verfahren für Ausschreibungen und die Vergabe von Genehmigungen sowie den Betrieb der Netze. Darüber hinaus werden in der Richtlinie die Verpflichtungen zur Gewährleistung der Grundversorgung und die Rechte der Stromverbraucher festgelegt und die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften klargestellt.“

7.        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2009/72 bestimmt in seinen Nrn. 7, 9 bis 12 und 19:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚Kunden‘ einen Großhändler oder Endkunden, die Elektrizität kaufen;

9.      ‚Endkunden‘ einen Kunden, der Elektrizität für den eigenen Verbrauch kauft;

10.      ‚Haushalts-Kunde‘ einen Kunde[n], der Elektrizität für den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; dies schließt gewerbliche und berufliche Tätigkeiten nicht mit ein;

11.      ‚Nichthaushaltskunde‘ eine natürliche oder juristische Person, die Elektrizität für andere Zwecke als den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; hierzu zählen auch Erzeuger und Großhändler;

12.      ‚zugelassener Kunde‘ einen Kunde[n], dem es gemäß Artikel 33 frei steht, Elektrizität von einem Lieferanten [seiner] Wahl zu kaufen;

19.      ‚Versorgung‘ den Verkauf einschließlich des Weiterverkaufs von Elektrizität an Kunden;“

8.        Art. 3 („Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden“) Abs. 3 bis 5 sowie Abs. 7 der Richtlinie 2009/72 bestimmt:

„(3)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushalts-Kunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen, nämlich Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 10 Mio. EUR haben, in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen, leicht und eindeutig vergleichbaren und transparenten und nichtdiskriminierenden Preisen haben. …

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Kunden das Recht haben, von einem Lieferanten – sofern dieser zustimmt – mit Strom versorgt zu werden, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat dieser als Lieferant zugelassen ist, sofern der Lieferant die geltenden Regeln im Bereich Handel und Ausgleich einhält. …

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass

a)      in den Fällen, in denen Kunden im Rahmen der Vertragsbedingungen beabsichtigen, den Lieferanten zu wechseln, die betreffenden Betreiber diesen Wechsel innerhalb von drei Wochen vornehmen …

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die unter den Buchstaben a und b genannten Rechte allen Kunden ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt werden.

(7)      Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht. In diesem Zusammenhang definiert jeder Mitgliedstaat das Konzept des ‚schutzbedürftigen Kunden‘, das sich auf Energiearmut sowie unter anderem auf das Verbot beziehen kann, solche Kunden in schwierigen Zeiten von der Energieversorgung auszuschließen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Rechte und Verpflichtungen im Zusammenhang mit schutzbedürftigen Kunden eingehalten werden. Insbesondere treffen sie Vorkehrungen, um Endkunden in abgelegenen Gebieten zu schützen. Die Mitgliedstaaten gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugelassene Kunden tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Zumindest im Fall der Haushalts-Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang I aufgeführten Maßnahmen ein.“

9.        Art. 33 („Marktöffnung und Gegenseitigkeit“) der Richtlinie 2009/72 lautet in seinem Abs. 1 wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass folgende Kunden zugelassene Kunden sind:

c)      ab dem 1. Juli 2007 alle Kunden.“

10.      Anhang I („Maßnahmen zum Schutz der Kunden“) der Richtlinie 2009/72 bestimmt in seinem Abs. 1:

„Unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der Gemeinschaft, insbesondere der Richtlinien 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz[(3)] und 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen[(4)] soll mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden

a)      Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen haben, in dem Folgendes festgelegt ist:

–        Vertragsdauer, Bedingungen für eine Verlängerung und Beendigung der Leistungen und des Vertragsverhältnisses, die Frage, ob ein kostenfreier Rücktritt vom Vertrag zulässig ist,

Die Bedingungen müssen gerecht und im Voraus bekannt sein. Diese Informationen sollten in jedem Fall vor Abschluss oder Bestätigung des Vertrags bereitgestellt werden. …

e)      den Lieferanten ohne Berechnung von Gebühren wechseln können;

…“

11.      Die Richtlinie 2009/72 wurde gemäß Art. 72 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/944(5) mit Wirkung zum 1. Januar 2021 aufgehoben und durch diese ersetzt.

2.      Richtlinie 2019/944

12.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2019/944 bestimmt in seinen Nrn. 16 bis 18:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

16.      ‚Kündigungsgebühren‘ eine Abgabe oder Strafzahlung, die Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer ihren Kunden für den Rücktritt von einem Elektrizitätsliefervertrag oder Elektrizitätsdienstleistungsvertrag auferlegen;

17.      ‚Gebühren bei einem Anbieterwechsel‘ eine Gebühr oder Strafzahlung, einschließlich Kündigungsgebühren, die Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer oder Netzbetreiber ihren Kunden direkt oder indirekt für einen Wechsel des Versorgers oder des im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmers auferlegen;

18.      ‚Aggregierung‘ eine von einer natürlichen oder juristischen Person ausgeübte Tätigkeit, bei der mehrere Kundenlasten oder erzeugte Elektrizität zum Kauf, Verkauf oder zur Versteigerung auf einem Elektrizitätsmarkt gebündelt werden bzw. wird;“

13.      Art. 12 („Recht auf Wechsel und Bestimmungen über Wechselgebühren“) der Richtlinie 2019/944 sieht in seinen Abs. 2 und 3 Folgendes vor:

„(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zumindest den Haushaltskunden und Kleinunternehmen keine Wechselgebühren in Rechnung gestellt werden.

(3)      Abweichend von Absatz 2 können die Mitgliedstaaten zulassen, dass Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer den Kunden, die einen befristeten Elektrizitätsliefervertrag mit festem Tarif freiwillig vorzeitig kündigen, Kündigungsgebühren berechnen, sofern diese Gebühren in einem Vertrag vorgesehen sind, den der Kunde freiwillig geschlossen hat, und der Kunde vor Vertragsabschluss unmissverständlich über diese Gebühren informiert worden ist. Die Gebühren müssen verhältnismäßig sein und dürfen nicht höher sein als der dem Versorger oder dem im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmer infolge der Vertragskündigung unmittelbar entstehende wirtschaftliche Verlust, einschließlich der Kosten etwaiger gebündelter Investitionen oder Dienstleistungen, die dem Endkunden im Rahmen des Vertrags bereits erbracht wurden. Die Beweislast dafür, dass dem Versorger oder dem im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmer ein unmittelbarer wirtschaftlicher Verlust entstanden ist, liegt beim Versorger oder dem im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmer, und die Zulässigkeit von Kündigungsgebühren wird von der Regulierungsbehörde oder einer anderen zuständigen nationalen Behörde überwacht.“

B.      Polnisches Recht

14.      Die Ustawa – Prawo energetyczne (Energiegesetz) vom 10. April 1997(6) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Energiegesetz) bestimmt in ihrem Art. 4j Abs. 3a:

„Ein Endkunde kann einen für eine bestimmte Zeit geschlossenen Vertrag, aufgrund dessen Grundlage ein Energieunternehmen ihn mit gasförmigen Brennstoffen oder Energie versorgt, durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem Energieunternehmen kündigen, ohne dass er andere Kosten oder Entschädigungszahlungen als die aus dem Inhalt des Vertrags hervorgehenden zahlen muss.“

15.      Die Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964(7) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) sieht in Art. 483 § 1 Folgendes vor:

„Im Vertrag kann vereinbart werden, dass der Ersatz des Schadens, der durch die Nicht- oder Schlechterfüllung einer nicht in Geld bestehenden Schuld entstanden ist, durch die Zahlung eines bestimmten Betrags zu leisten ist (Vertragsstrafe).“

16.      Art. 484 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:

„§ 1.      Bei Nicht- oder Schlechterfüllung einer Verpflichtung ist die Vertragsstrafe in der dafür vorgesehenen Höhe an den Gläubiger zu zahlen, unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens. Eine Schadensersatzforderung, die über den Betrag der vorgesehenen Vertragsstrafe hinausgeht, ist nicht zulässig, es sei denn, die Parteien haben etwas anderes vereinbart.

§ 2.      Wenn ein wesentlicher Teil der Verpflichtung erfüllt worden ist, kann der Schuldner eine Herabsetzung der Vertragsstrafe verlangen; das Gleiche gilt, wenn die Vertragsstrafe offensichtlich überhöht ist.“

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

17.      Am 1. Januar 2010 schloss die Gesellschaft G, nach polnischem Recht ein Kleinunternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten(8), einen allgemeinen, befristeten Vertrag mit festem Tarif mit dem Lieferanten W, in dem sich dieser verpflichtete, einen Agrotourismus-Betrieb in K. (Polen) mit Strom zu beliefern (im Folgenden: in Rede stehender Vertrag).

18.      Am 23. Februar 2015 schlossen die Gesellschaft G und der Lieferant W eine Vereinbarung, in der sich diese Gesellschaft verpflichtete, den in Rede stehenden Vertrag mindestens bis zum 31. Dezember 2016 fortzuführen. In dieser Vereinbarung einigten sich die Parteien darauf, dass sie das Recht haben, den in Rede stehenden Vertrag mit einer Frist von sechs Monaten ab dem Datum der Zustellung der Kündigung mit Wirkung zum Ende des Kalenderjahrs zu kündigen, und dass der Lieferant W im Fall einer vorzeitigen Kündigung des Vertrags durch die Gesellschaft G die Zahlung eines Betrags verlangen kann, der dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht (im Folgenden: Vertragsstrafe)(9).

19.      Am 30. Januar 2015 schloss die Gesellschaft G mit der Z S.A., einem anderen Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen, einen Versorgungsvertrag für denselben Agrotourismus-Betrieb. Am 25. Februar 2015 informierte dieser andere Lieferant auf der Grundlage der ihm von der Gesellschaft G erteilten Ermächtigung den Lieferanten W über den Abschluss dieses neuen Vertrags und teilte ihm für den Fall, dass dieser der neuen Situation nicht zustimme, die Kündigung des in Rede stehenden Vertrags mit.

20.      Am 9. März 2016 übermittelte der Lieferant W der Gesellschaft G eine Zahlungsaufforderung über einen Betrag von 63 959,70 polnischen Zloty (PLN) (ca. 15 372 Euro zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens)(10) als Vertragsstrafe, wobei die Zahlung spätestens am 23. März 2016 erfolgen sollte. Da die Gesellschaft G die Zahlung bis zu diesem Zeitpunkt nicht geleistet hatte, reichte der Lieferant W am 21. November 2016 beim Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen) eine Klage ein, mit der er beantragte, diese Gesellschaft zu verurteilen, an ihn als Vertragsstrafe den genannten Betrag zuzüglich gesetzlicher Zinsen ab dem 24. März 2016 bis zum Zeitpunkt der Zahlung zu leisten.

21.      Mit Urteil vom 7. Februar 2020 gab dieses Gericht der Klage statt. Es befand insbesondere, dass der in Rede stehende Vertrag infolge des Wechsels des Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen durch die Gesellschaft G vorzeitig beendet worden sei, was den Lieferanten W berechtige, die Zahlung der Vertragsstrafe im Sinne von Art. 483 § 1 des Zivilgesetzbuchs zu verlangen. In diesem Zusammenhang stellte das genannte Gericht fest, dass nach Art. 484 § 1 des Zivilgesetzbuchs die von dem Lieferanten geltend gemachte Forderung einer Vertragsstrafe nicht vom Nachweis eines Schadens abhängig sei und dass die Vertragsstrafe in dem in Rede stehenden Vertrag für den Fall eines Lieferantenwechsels vorgesehen gewesen sei, wobei der Betrag der Vertragsstrafe den Bestimmungen dieses Vertrags entsprochen habe.

22.      Die Gesellschaft G legte gegen dieses Urteil beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein und machte u. a. geltend, dass ihr gemäß Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 die Vertragsstrafe nicht hätte auferlegt werden dürfen. Die Gesellschaft G brachte außerdem vor, dass der Lieferant W keinen tatsächlichen Schaden erlitten habe, sondern ihm lediglich der Vorteil entgangen sei, den er hätte erlangen können und der der von ihr angegebenen Stromabnahmemenge entspreche. Der Lieferant W machte seinerseits geltend, dass gemäß Art. 484 § 1 des Zivilgesetzbuchs die Höhe einer Vertragsstrafe unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens sei.

23.      Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass ein Endkunde nach Art. 4j Abs. 3a des Energiegesetzes einen befristeten Energieliefervertrag kündigen könne, ohne dass für ihn andere Kosten oder Entschädigungszahlungen anfielen als diejenigen, die sich aus dem Inhalt des Vertrags ergäben. Dieses Gesetz lege keine Kriterien für die Berechnung dieser Kosten und Entschädigungszahlungen fest, da es keinen Verweis auf deren Verhältnismäßigkeit enthalte, und schließe die Möglichkeit, eine pauschale Entschädigung zu verlangen, nicht aus. Im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit könnten die Parteien die Kosten und Entschädigungszahlungen im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung eines Elektrizitätsversorgungsvertrags festlegen, einschließlich der Auferlegung einer Vertragsstrafe. Eine solche Vertragsstrafe im Sinne des Zivilgesetzbuchs werde dem Gläubiger unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens in der dafür vorgesehenen Höhe geschuldet und könne von einem nationalen Gericht nicht von Amts wegen herabgesetzt werden, da die antragstellende Partei die Beweislast tragen und nachweisen müsse, dass der Betrag der Vertragsstrafe überhöht sei. Da Art. 4j Abs. 3a des Energiegesetzes keinen Verweis auf den Verbraucherschutz enthalte, könne in Bezug auf Kleinunternehmen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsstrafe nicht geprüft werden. Darüber hinaus sehe das Gesetz keine Möglichkeit vor, eine Vertragsstrafe gegenüber gewerblichen Kunden von Amts wegen herabzusetzen.

24.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind, da die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 sicherstellen müssten, dass den Kunden das Recht auf Wechsel des Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt werde. Darüber hinaus sehe Abs. 7 dieses Artikels zwar vor, dass zugelassene Kunden tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln können müssten, und verweise damit auf die Notwendigkeit, eine angemessene Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Kosten zu wahren, doch würden in dieser Bestimmung weder Straf- noch Entschädigungszahlungen erwähnt. Wenn dem Verbraucher faktisch ein finanzieller Nachteil auferlegt werde, dürfe das Ausmaß dieses Nachteils kein Mittel zur Diskriminierung anderer Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen sein, was dazu führen würde, dass der Kunde keine tatsächliche Möglichkeit hätte, den Lieferanten zu wechseln.

25.      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die Richtlinie 2009/72 auf das Ausgangsverfahren zwar zeitlich nicht anwendbar sei, dass aber die Richtlinie 2019/944, die diese Richtlinie ersetzt habe, Präzisierungen zum Recht auf einen freien Wechsel des Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen vorgenommen habe, die für die Auslegung der erstgenannten Richtlinie relevant seien. In diesem Zusammenhang verweist das vorlegende Gericht auf Art. 4 und Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2019/944, Bestimmungen, nach denen die Gebühren, die einem Kleinunternehmen für den Wechsel des Stromversorgers in Rechnung gestellt werden, verhältnismäßig sein müssen und nicht höher sein dürfen als der dem Versorger oder dem im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmer infolge der Vertragskündigung unmittelbar entstehende wirtschaftliche Verlust.

26.      Das vorlegende Gericht folgert daraus, dass die im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit, eine Vertragsstrafe unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens ohne klare und präzise Kriterien für die Berechnung dieser Strafe zu verhängen, das in Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 und in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2019/944 genannte Schutzziel zunichtemachen könnte, indem sie die Freiheit des Kunden, seinen Elektrizitätsversorgungsvertrag zu kündigen, faktisch einschränke.

27.      Das vorlegende Gericht prüft zweitens, ob ein Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen einem Kunden vertraglich eine Gebühr für die vorzeitige Beendigung des Vertrags auferlegen könne, wenn diese Gebühr faktisch den Kosten für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspreche, und zwar unter Berücksichtigung des mit der Richtlinie 2009/72 verfolgten Ziels, den Lieferanten ohne Diskriminierung leicht wechseln zu können, und der Notwendigkeit, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Diesbezüglich ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die Richtlinie 2019/944 in ihrem Art. 12 Abs. 3 nützliche Hinweise für die Auslegung von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 enthalte, indem sie die Möglichkeit der Erhebung von Gebühren nicht ausschließe, wobei diese Gebühren jedoch verhältnismäßig sein müssten. In diesem Kontext fragt das vorlegende Gericht, ob Vertragsbestimmungen rechtmäßig seien, in denen festgelegt sei, dass die mit der vorzeitigen Beendigung eines befristeten Vertrags verbundenen Gebühren einer Schuld gleichkämen, die der nicht verbrauchten Strommenge entspreche, die der Kunde während der verbleibenden Vertragslaufzeit potenziell hätte nutzen können, und ob die Möglichkeit bestehe, diese Gebühren unter Bezugnahme auf eine Klausel des Typs „nimm oder zahl“ zu berechnen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob ein solcher Mechanismus nicht im Wesentlichen dazu führen würde, dass ein tatsächlicher Wechsel des Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen behindert wird. Wenn der Betrag der Vertragsstrafe den Kosten für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspreche, hätte eine vorzeitige Vertragsbeendigung für den Kunden eine vergleichbare Folge wie die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses mit dem Lieferanten. In einer solchen Situation würde sich ein Kunde, der den Vertrag kündigen möchte, wahrscheinlich dennoch für ein Festhalten an dem aus seiner Sicht ungünstigen Vertragsverhältnis entscheiden und der Lieferant wäre seinerseits sicher, während der gesamten Vertragslaufzeit auf jeden Fall einen finanziellen Vorteil zu erzielen. Eine solche Strafe würde darauf hinauslaufen, dem Kunden das gesamte finanzielle Risiko der Vertragsbeendigung aufzubürden, und wäre dann offensichtlich überzogen.

28.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass dem Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen, wenn er einen Kunden gewinne, verschiedene Kosten entstünden, z. B. für den Kauf von Strom. Es stelle sich die Frage, wie der unmittelbare wirtschaftliche Verlust eines Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen im Fall der vorzeitigen Vertragsbeendigung durch einen Kunden zu berechnen sei, d. h. ob der Preis für den verbrauchten Strom oder auch der Preis für die Bereitstellung der Übertragungs- oder Verteilungsdienstleistung für diesen Strom zu berücksichtigen sei. Um den Vorwurf einer ermessensabhängigen und willkürlichen Anwendung zu vermeiden und eine gerechte Verteilung der Beweislast vorzunehmen und um die Übereinstimmung der nationalen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2009/72 zu gewährleisten, müsse in diesem Zusammenhang geprüft werden, ob die Art und Weise der Berechnung der Gebühren im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung eines befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrags mit festem Tarif nicht ausdrücklich in den Bestimmungen des Energiegesetzes vorgesehen sein sollte.

29.      Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72, wonach im Hinblick auf die Wahrnehmung der Rechte eines Stromkunden (Kleinunternehmer) beim Wechsel des Stromlieferanten der Grundsatz zu beachten ist, dass für zugelassene Kunden die tatsächliche Möglichkeit eines leichten Lieferantenwechsels gewährleistet ist und dieser Wechsel ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer zu erfolgen hat, dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, einem Kunden, der einen befristeten Energieliefervertrag kündigt, weil er den Stromlieferanten wechseln möchte, eine Vertragsstrafe aufzuerlegen, ohne dass diese von der Höhe des erlittenen Schadens abhängt (Art. 483 § 1 und Art. 484 §§ 1 und 2 des Zivilgesetzbuchs) und ohne dass das Energiegesetz (Art. 4j Abs. 3a des Energiegesetzes) Kriterien vorgibt, wie diese Gebühren zu berechnen und herabzusetzen sind?

2.      Ist Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72, wonach die Wahrnehmung der Rechte eines Stromkunden (Kleinunternehmer) beim Wechsel des Stromlieferanten ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer zu erfolgen hat und wonach der Grundsatz zu beachten ist, dass für zugelassene Kunden die tatsächliche Möglichkeit eines leichten Lieferantenwechsels gewährleistet ist, dahin auszulegen, dass er einer Auslegung der vertraglichen Bestimmungen entgegensteht, wonach im Fall einer vorzeitigen Auflösung eines mit dem Stromlieferanten für einen befristeten Zeitraum geschlossenen Stromliefervertrags von den Kunden (Kleinunternehmern) nach dem Prinzip „nimm oder zahl“ Gebühren verlangt werden können, die de facto dem Preis des bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht abgenommenen Stroms entsprechen?

30.      Die polnische und die griechische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

IV.    Würdigung

31.      Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen ein Kleinunternehmen, das einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, zur Zahlung einer Vertragsstrafe verpflichtet werden kann, wenn in den besagten Rechtsvorschriften festgelegt ist, dass die Vertragsstrafe unabhängig von der Höhe des vom vorherigen Lieferanten erlittenen Schadens zu zahlen ist, und auch wenn diese Rechtsvorschriften keine Kriterien für die Berechnung oder Herabsetzung der Vertragsstrafe festlegen und zulassen, dass die Höhe dieser Vertragsstrafe dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht.

32.      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es sich bei der Gesellschaft G um ein Kleinunternehmen handelt, das den in Rede stehenden Vertrag zum Zweck der Stromversorgung eines Agrotourismus-Betriebs abgeschlossen hat. Am 9. März 2016 verlangte der Lieferant W von der Gesellschaft G gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags für die vorzeitige, zum Zweck des Lieferantenwechsels erfolgte Kündigung des Vertrags die Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe des Preises für den nicht verbrauchten Strom, zu dessen Abnahme bis zum Ende des Vertrags sich die Gesellschaft G verpflichtet hatte. Wie das vorlegende Gericht feststellt, erlauben die nationalen Rechtsvorschriften die Kündigung eines befristeten Vertrags, ohne dass andere Kosten und Entschädigungszahlungen anfallen als diejenigen, die sich aus dem Inhalt des Vertrags ergeben, ohne jedoch die bei ihrer Berechnung zu berücksichtigenden Kriterien zu präzisieren oder die Möglichkeit vorzusehen, eine Vertragsstrafe von Amts wegen herabzusetzen, außer auf Antrag der betroffenen Partei, die die Beweislast dafür trägt, dass diese Vertragsstrafe überhöht ist. Darüber hinaus ist nach nationalem Recht die Höhe einer Vertragsstrafe nicht von der Höhe des erlittenen Schadens abhängig. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob diese Rechtsvorschriften mit Art. 3 der Richtlinie 2009/72, der u. a. die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Verbraucherschutzes festlegt(11), und insbesondere mit den Abs. 5 und 7 dieses Artikels, die vom Gerichtshof noch nicht ausgelegt worden sind, vereinbar sind.

33.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind(12).

34.      In diesem Rahmen bestimmt, was als Erstes den Wortlaut der genannten Regelungen betrifft, Art. 3 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2009/72, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass in den Fällen, in denen Kunden „im Rahmen der Vertragsbedingungen“ beabsichtigen, den Anbieter zu wechseln, die betreffenden Betreiber diesen Wechsel innerhalb von drei Wochen(13) vornehmen und dass dieses Recht den Kunden ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt wird. Darüber hinaus sieht Abs. 7 dieses Artikels, abgesehen davon, dass er auf den ersten Blick hauptsächlich und speziell auf „schutzbedürftige Kunden“ ausgerichtet ist, ganz allgemein vor, dass die Mitgliedstaaten einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, und sicherstellen, dass „zugelassene Kunden tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln können“. In diesem Abs. 7 heißt es außerdem, dass solche Maßnahmen „[z]umindest im Fall der Haushalts-Kunden“ die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Maßnahmen einschließen.

35.      Gemäß Art. 2 Nr. 12 der Richtlinie 2009/72 ist ein „zugelassener Kunde“ ein Kunde, dem es gemäß Art. 33 der Richtlinie 2009/72 freisteht, Elektrizität von einem Lieferanten seiner Wahl zu kaufen. Gemäß Art. 33 Abs. 1 Buchst. c umfasst der Ausdruck „zugelassene Kunden“ seit dem 1. Juli 2007 „alle Kunden“. Folglich sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, zu gewährleisten, dass alle Kunden, einschließlich eines Kleinunternehmens, ungeachtet ihrer Schutzbedürftigkeit, die Möglichkeit haben, den Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen tatsächlich leicht zu wechseln.

36.      Aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 geht somit hervor, dass der Kunde eines Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen geschützt werden muss, wenn er den Lieferanten wechseln möchte. Gleichzeitig wird in diesen Bestimmungen zwar nicht ausdrücklich erwähnt, dass der vorherige Lieferant die Zahlung einer Vertragsstrafe für die vorzeitige Beendigung des Vertrags verlangen kann, geschweige denn, dass Kriterien für die Berechnung der Höhe einer solchen Vertragsstrafe genannt werden, Abs. 5 Buchst. a dieses Artikels besagt jedoch, dass die Vertragsbedingungen eingehalten werden müssen.

37.      Ich bin folglich der Ansicht, dass nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Elektrizitätsversorgungsvertrag vorsieht, dass einem Kunden eine Vertragsstrafe auferlegt wird, für den Fall, dass er den Lieferanten wechseln möchte und einen befristeten Vertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt. Gemäß diesen Bestimmungen darf die Höhe dieser Vertragsstrafe dem Kunden jedoch nicht die Möglichkeit nehmen, den Lieferanten tatsächlich und leicht zu wechseln.

38.      Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 einfügt, ist erstens festzustellen, dass dieser Artikel in seinem Abs. 7 letzter Satz auf die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher verweist, die die Mitgliedstaaten „[z]umindest“ in Bezug auf Haushalts-Kunden zu erlassen haben. Dieser Anhang sieht unter anderem in Abs. 1 Buchst. a vor, dass die Kunden Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen haben, in dem die Frage, ob ein kostenfreier Rücktritt vom Vertrag zulässig ist, festgelegt ist. Nach dieser Bestimmung müssen im Übrigen die Vertragsbedingungen gerecht und im Voraus bekannt sein, wobei diese Informationen in jedem Fall vor Abschluss oder Bestätigung des Vertrags bereitgestellt werden sollten. Abs. 1 Buchst. e des genannten Anhangs stellt klar, dass die Kunden den Lieferanten ohne Berechnung von Gebühren wechseln können. Aus diesen Bestimmungen geht somit hervor, dass „[z]umindest im Fall der Haushalts-Kunden“ diesen keine Gebühren entstehen, wenn sie den Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen wechseln, auch wenn der Liefervertrag befristet ist und einen festen Tarif vorsieht.

39.      Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die Gesellschaft G unter die Begriffe „Kunde“, „Endkunde“ und „zugelassener Kunde“, wie sie jeweils in Art. 2 Nrn. 7, 9 und 12 der Richtlinie 2009/72 definiert sind, aber auch unter den Begriff „Nichthaushaltskunde“ im Sinne von Nr. 11 dieses Artikels fällt, der eine natürliche oder juristische Person bezeichnet, die Elektrizität für andere Zwecke als den Eigenverbrauch im Haushalt kauft. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass die Gesellschaft G, die den in Rede stehenden Vertrag zum Zweck der Versorgung eines Agrotourismus-Betriebs abgeschlossen hat, im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit gehandelt hat(14).

40.      Gleichzeitig fällt diese Gesellschaft nicht unter den Begriff des „Haushalts-Kunden“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Richtlinie 2009/72, der als ein Kunde definiert ist, der Elektrizität für den Eigenverbrauch im Haushalt kauft. Darüber hinaus geht aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass die Republik Polen den Anwendungsbereich von Anhang I dieser Richtlinie auf „Nichthaushaltskunden“ ausdehnen wollte. Folglich scheinen die in Nr. 1 Buchst. a und e dieses Anhangs vorgesehenen Bestimmungen auf einen Nichthaushaltskunden wie die Gesellschaft G nicht anwendbar zu sein. Daraus folgt, dass im Umkehrschluss für einen solchen Kunden die Richtlinie nicht ausschließt, dass ein befristeter Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif das Vorliegen einer Vertragsstrafe für den Fall vorsehen kann, dass dieser Vertrag zum Zweck des Lieferantenwechsels vorzeitig gekündigt wird.

41.      Zweitens heißt es im 42. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72, dass überall in der Gemeinschaft Industrie und Handel, einschließlich der kleinen und mittleren Unternehmen, „auch ein hohes Verbraucherschutzniveau genießen können [sollten]“ und insbesondere die Haushalte und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angemessen halten, Kleinunternehmen in den Genuss gemeinwirtschaftlicher Leistungen kommen können sollten. Die Verwendung des Verbs „sollen“ im Konjunktiv II zeigt also den Willen des Unionsgesetzgebers, den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum einzuräumen, indem er ihnen lediglich eine Befugnis und keine Verpflichtung überträgt, Kleinunternehmen die Vorteile eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu gewähren. Auch hier geht, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass diese Befugnis von der Republik Polen in Bezug auf Kleinunternehmen ausgeübt worden ist. In einer solchen Situation bin ich der Ansicht, dass diese Richtlinie der Verhängung einer Vertragsstrafe gegen ein Kleinunternehmen nicht entgegensteht, wenn dieses seinen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um zu einem anderen Lieferanten zu wechseln.

42.      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2019/944, die die Richtlinie 2009/72 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 aufgehoben und ersetzt hat, in ihrem Art. 12 Abs. 2 ausdrücklich festlegt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass „zumindest den Haushaltskunden und Kleinunternehmen(15) keine Wechselgebühren“ in Rechnung gestellt werden, während sie in Art. 12 Abs. 3 vorsieht, dass abweichend hiervon die Mitgliedstaaten zulassen können, dass Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer den Kunden, die einen befristeten Elektrizitätsliefervertrag mit festem Tarif freiwillig vorzeitig kündigen, Kündigungsgebühren berechnen, sofern diese Gebühren in einem Vertrag vorgesehen sind, den der Kunde freiwillig geschlossen hat, und der Kunde vor Vertragsabschluss unmissverständlich über diese Gebühren informiert worden ist.

43.      Insoweit definiert zum einen Art. 2 Nr. 16 der Richtlinie 2019/944 die „Kündigungsgebühren“ als eine Abgabe oder Strafzahlung, die Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer ihren Kunden für den Rücktritt von einem Elektrizitätsliefervertrag oder Elektrizitätsdienstleistungsvertrag auferlegen, und heißt es zum anderen in Art. 2 Nr. 17, dass „Gebühren bei einem Anbieterwechsel“ eine Gebühr oder Strafzahlung, einschließlich Kündigungsgebühren, bezeichnen, die Versorger oder im Bereich der Aggregierung tätige Marktteilnehmer oder Netzbetreiber ihren Kunden direkt oder indirekt für einen Wechsel des Versorgers oder des im Bereich der Aggregierung tätigen Marktteilnehmers auferlegen. Folglich unterscheidet diese Richtlinie zwischen der einfachen Kündigung eines Versorgungsvertrags und der Kündigung zum Zweck des Versorgerwechsels. Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass ein Kleinunternehmen wie die Gesellschaft G nach der genannten Richtlinie berechtigt wäre, einen befristeten Elektrizitätsliefervertrag mit festem Tarif zum Zweck des Versorgerwechsels vorzeitig zu kündigen, ohne an den Versorgerwechsel geknüpfte Gebühren und folglich auch ohne Kündigungsgebühren zu tragen.

44.      Allerdings ist die Richtlinie 2019/944 in Anbetracht des Zeitpunkts des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens auf den vorliegenden Fall zeitlich nicht anwendbar. Zudem sieht diese Richtlinie zwar detaillierte Regeln für die Gebühren vor, die einem Kleinunternehmen im Fall der vorzeitigen Kündigung eines Elektrizitätsliefervertrags auferlegt werden können, doch existierten solche Regeln nicht einmal implizit in der Richtlinie 2009/72, wie sich insbesondere aus Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge ergibt. Daher können die Bestimmungen von Art. 12 der Richtlinie 2019/944 meiner Ansicht nach im Rahmen des vorliegenden Falls nicht analog angewandt werden(16).

45.      Drittens schließlich heißt es im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72, dass die „Verbraucher“(17) klar und verständlich über ihre Rechte gegenüber dem Energiesektor informiert werden sollten. Meines Erachtens kann aus diesem Erwägungsgrund abgeleitet werden, dass im vorliegenden Fall, wenn ein Verbraucher Strom beziehen will, er vor Abschluss eines befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrags mit festem Tarif vom Lieferanten klar, vollständig und transparent über das Bestehen einer Vertragsstrafe, die Bedingungen für ihre Anwendung und die Art ihrer Berechnung informiert werden muss, wobei die Höhe dieser Vertragsstrafe ihm im Hinblick auf Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2009/72 nicht sein Recht nehmen darf, tatsächlich und leicht den Lieferanten zu wechseln. Im vorliegenden Fall geht meiner Ansicht nach aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Vertragsstrafe in dem in Rede stehenden Vertrag ausdrücklich und detailliert festgelegt worden ist, was es der Gesellschaft G ermöglichte, ihre Berechnungsweise und die Tatsache, dass ihre Höhe dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entsprach(18), genau zu verstehen.

46.      Der Zusammenhang, in den sich Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 einfügt, bestätigt somit, dass der Vertrag zwischen einem Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen und einem Kleinunternehmen grundsätzlich vorsehen kann, dass dem Kleinunternehmen eine Vertragsstrafe für eine vorzeitige Kündigung auferlegt wird, sofern es bei Vertragsschluss in klarer, vollständiger und transparenter Weise über die Existenz dieser Vertragsstrafe informiert worden ist und die Höhe der genannten Vertragsstrafe ihm nicht sein Recht nimmt, tatsächlich und leicht den Lieferanten zu wechseln.

47.      Als Drittes wird die Auslegung, dass Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 die Anwendung einer Vertragsstrafe auf ein Kleinunternehmen im Fall der vorzeitigen Kündigung eines befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrags mit festem Tarif nicht ausschließt, sofern der Mitgliedstaat den für Haushalts-Kunden gewährten Schutz nicht auf diese Unternehmen ausgedehnt hat, durch die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele gestützt.

48.      Wie aus Art. 1 der Richtlinie 2009/72 hervorgeht, bezweckt diese nämlich die Einführung von gemeinsamen Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, ‑übertragung, ‑verteilung und ‑versorgung sowie von Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes, um in der Gemeinschaft für die Verbesserung und Integration von durch Wettbewerb geprägte Strommärkte zu sorgen. In diesem Rahmen zielt diese Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Wesentlichen darauf ab, einen offenen und durch Wettbewerb geprägten Elektrizitätsbinnenmarkt zu errichten, der den Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten und den Anbietern die freie Belieferung ihrer Kunden gestattet, auf diesem Markt gleiche Bedingungen zu schaffen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und den Klimawandel zu bekämpfen(19).

49.      Folglich besteht das Hauptziel der Richtlinie 2009/72 darin, die Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarkts(20) zu erreichen, was insbesondere die Entwicklung von Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen voraussetzt, um letztendlich bessere Versorgungsbedingungen für Verbraucher zu gewährleisten. In diesem Sinne heißt es im 57. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72, dass die Mitgliedstaaten es den Verbrauchern ermöglichen müssen, die Vorzüge eines liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkts in vollem Umfang zu nutzen.

50.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass befristete Elektrizitätsversorgungsverträge mit festem Tarif den Schutz der Kunden gewährleisten können, indem sie ihnen einen niedrigen und stabilen Strompreis garantieren. In diesem Sinne verweist die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen auf eine Stellungnahme des Rates der europäischen Energieregulierungsbehörden (CEER) vom 17. Mai 2016 zu Gebühren für vorzeitige Kündigungen(21), wonach solche Verträge den Kunden die Sicherheit nicht schwankender Energiepreise bieten(22). Im Gegenzug hat der Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen bei Abschluss eines solchen Vertrags jedoch verschiedene Kosten aufgewendet, um die gesamte Energiemenge zu erwerben, die erforderlich ist, um den Bedarf des Kunden von Anfang an zu decken, was, wie der CEER feststellt, mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, insbesondere um sich gegen die Volatilität der Kosten auf dem Großkundenstrommarkt abzusichern(23). Daher kann in dem Fall, dass ein Kunde, der einen befristeten Vertrag mit festem Tarif abgeschlossen hat, den Vertrag vorzeitig kündigt, eine Gebühr für die vorzeitige Kündigung dem Lieferanten ermöglichen, die Kosten auszugleichen, die sich aus diesem Vertrag ergeben. Andernfalls könnte dieser Anbieter gezwungen sein, das Risiko, solche Kosten zu tragen, auf alle seine Kunden abzuwälzen, und dies könnte letztlich zu höheren Strompreisen und einem geringeren Angebot für die Kunden führen(24).

51.      Somit bringen es meiner Ansicht nach im Rahmen der Richtlinie 2009/72 die Besonderheiten von befristeten Elektrizitätsversorgungsverträgen mit festem Tarif mit sich, dass Gebühren im Fall einer vorzeitigen Kündigung als gerechtfertigt erscheinen können, um letztlich den Schutz aller Verbraucher zu gewährleisten, indem diese niedrigere Strompreise erhalten können.

52.      Ich bin daher der Ansicht, dass die Hauptschwierigkeit im vorliegenden Fall in der Höhe der Vertragsstrafe liegt, die sowohl dem Kunden einen tatsächlichen und leichten Wechsel des Lieferanten ermöglichen als auch dem vorherigen Lieferanten einen angemessenen Ausgleich für die Kosten bieten muss, die ihm entstanden sind, um die Erfüllung des Vertrags zu gewährleisten, da andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2009/72 beeinträchtigt würde.

53.      Diesbezüglich verweist das vorlegende Gericht auf Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2019/944, der in Bezug auf die Gebühren für die Kündigung eines befristeten Elektrizitätsliefervertrags mit festem Tarif besagt, dass diese Gebühren „nicht höher sein [dürfen] als der dem Versorger … unmittelbar entstehende wirtschaftliche Verlust“. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts gibt diese Bestimmung Hinweise zur Auslegung von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72. Jedoch ist erstens, wie in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge festgestellt, die Richtlinie 2019/944 auf den Ausgangsrechtsstreit zeitlich nicht anwendbar. Zweitens betrifft diese Bestimmung nur die Gebühren für die Kündigung eines befristeten Vertrags mit festem Tarif und nicht die Gebühren bei einem Wechsel des Lieferanten. Drittens wurde in Bezug auf Kleinunternehmen bei der Richtlinie 2019/944 ein anderer Ansatz verfolgt als bei der Richtlinie 2009/72, indem in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2019/944 ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass den Kleinunternehmen keine Wechselgebühren in Rechnung gestellt werden. Daher bin ich der Ansicht, dass die Richtlinie 2019/944 nicht als Referenz für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens dienen kann.

54.      In Bezug auf die Richtlinie 2009/72 ist festzustellen, dass diese keine Angaben zur Höhe der Gebühren enthält, die ein Kleinunternehmen entrichten könnte, wenn es einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, und auch nicht zur Art und Weise der Berechnung dieser Gebühren. Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten somit einen Ermessensspielraum bei der Regelung der Höhe solcher Kündigungsgebühren.

55.      Um die Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, bin ich daher der Ansicht, dass nationale Rechtsvorschriften, nach denen im Fall der vorzeitigen Kündigung eines befristeten Vertrags mit festem Tarif durch ein Kleinunternehmen eine Vertragsstrafe unabhängig von der Höhe des dem vorherigen Lieferanten entstandenen Schadens zu zahlen ist, selbst dann, wenn diese Rechtsvorschriften keine Kriterien für die Berechnung oder Herabsetzung der genannten Vertragsstrafe festlegen und zulassen, dass die Höhe der Vertragsstrafe dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht, nicht bereits aus diesem Grund mit der Richtlinie 2009/72 unvereinbar sind.

56.      Der den Mitgliedstaaten eingeräumte Ermessensspielraum darf gleichwohl nicht dazu führen, dass das Recht, den Lieferanten tatsächlich leicht wechseln zu können, wie es sich aus Art. 3 Abs. 5 und 7 dieser Richtlinie ergibt, seines Inhalts entleert wird. Das vorlegende Gericht bezieht sich insoweit auf den Fall einer Vertragsstrafe, deren Höhe dem Preis des bis zum Ende der Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Stroms entspricht, in Anwendung einer Klausel des Typs „take or pay“, „nimm oder zahl“(25). Nach einer solchen Klausel muss der Käufer im vorliegenden Fall den Strom, zu dessen Abnahme er sich verpflichtet hat, ganz oder teilweise bezahlen, unabhängig davon, ob er diesen Strom verbraucht oder nicht(26). Eine „Nimm-oder-zahl“-Klausel impliziert auf den ersten Blick, dass der Verbraucher das volle Risiko des von ihm abgeschlossenen Liefervertrags trägt, und übt einen starken Druck aus, diesen Vertrag nicht zu kündigen, um im Fall einer vorzeitigen Kündigung nicht die doppelten Stromkosten zahlen zu müssen. Hieraus könnte abgeleitet werden, dass eine solche Klausel nicht mit der Richtlinie 2009/72 vereinbar ist.

57.      Ich bin jedoch der Auffassung, dass unter bestimmten konkreten Umständen nicht ausgeschlossen werden kann, dass im Rahmen der nationalen Regelung in dem Fall, dass ein Lieferant verschiedene Kosten aufgewendet hat, um die Erfüllung eines befristeten Vertrags mit festem Tarif bis zu dessen Ende zu gewährleisten, darunter insbesondere den Kauf von Strom, um den Bedarf des Kunden von Anfang an zu decken, die Kosten, die diesem Lieferanten aufgrund der vorzeitigen Beendigung dieses Vertrags entstehen, tatsächlich dem Betrag entsprechen können, den der Kunde bis zum Ende des Vertrags gezahlt hätte, wenn er die Erfüllung des Vertrags in normaler Weise fortgesetzt hätte.

58.      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Vertragsstrafe nicht das Recht der Gesellschaft G beeinträchtigt, tatsächlich leicht den Lieferanten wechseln zu können, indem es alle konkreten Umstände des Rechtsstreits, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Höhe der Vertragsstrafe, berücksichtigt, wobei deren Höhe nicht über die Deckung der Kosten, die dem vorherigen Lieferanten aufgrund der vorzeitigen Beendigung des Vertrags entstanden sind, hinausgehen darf, damit eine ungerechtfertigte Bereicherung dieses Lieferanten verhindert wird(27).

59.      Nach alledem schlage ich vor, auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen ein Kleinunternehmen, wenn es einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif zum Zweck des Wechsels des Lieferanten vorzeitig kündigt, zur Zahlung einer Vertragsstrafe verpflichtet werden kann, wenn in diesen Rechtsvorschriften festgelegt ist, dass diese Strafe unabhängig von der Höhe des dem vorherigen Lieferanten entstandenen Schadens zu zahlen ist, und auch wenn die besagten Rechtsvorschriften keine Kriterien für die Berechnung oder Herabsetzung der Vertragsstrafe festlegen und zulassen, dass die Höhe dieser Strafe dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht, sofern das Unternehmen vom Lieferanten klar, vollständig und transparent über die Existenz der Vertragsstrafe, die Bedingungen für ihre Anwendung und die Art ihrer Berechnung informiert worden ist und die Höhe dieser Vertragsstrafe diesem Unternehmen nicht das Recht nimmt, den Lieferanten tatsächlich leicht wechseln zu können. In diesem Zusammenhang ist es Sache des nationalen Gerichts, alle konkreten Umstände des Rechtsstreits zu berücksichtigen, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Höhe der Vertragsstrafe, wobei deren Höhe nicht über die Deckung der Kosten, die dem vorherigen Lieferanten aufgrund der vorzeitigen Beendigung des Vertrags entstanden sind, hinausgehen darf.

V.      Ergebnis

60.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG

ist dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen ein Kleinunternehmen, wenn es einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif zum Zweck des Wechsels des Lieferanten vorzeitigt kündigt, zur Zahlung einer Vertragsstrafe verpflichtet werden kann, wenn in diesen Rechtsvorschriften festgelegt ist, dass diese Strafe unabhängig von der Höhe des dem vorherigen Lieferanten entstandenen Schadens zu zahlen ist, und auch wenn diese Rechtsvorschriften keine Kriterien für die Berechnung oder Herabsetzung der Vertragsstrafe festlegen und zulassen, dass die Höhe der Vertragsstrafe dem Preis für den bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht verbrauchten Strom entspricht, sofern das Unternehmen vom Lieferanten klar, vollständig und transparent über das Bestehen der Vertragsstrafe, die Bedingungen für ihre Anwendung und die Art ihrer Berechnung informiert worden ist und die Höhe der Vertragsstrafe diesem Unternehmen nicht das Recht nimmt, den Lieferanten tatsächlich leicht wechseln zu können. In diesem Zusammenhang ist es Sache des nationalen Gerichts, alle konkreten Umstände des Rechtsstreits zu berücksichtigen, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Höhe der Vertragsstrafe, wobei deren Höhe nicht über die Deckung der Kosten, die dem vorherigen Lieferanten aufgrund der vorzeitigen Beendigung des Vertrags entstanden sind, hinausgehen darf.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. 2009, L 211, S. 55).


3      ABl. 1997, L 144, S. 19.


4      ABl. 1993, L 95, S. 29.


5      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU (ABl. 2019, L 158, S. 125).


6      Dz. U. 1997, Nr. 54, Pos. 348.


7      Dz. U. 1964, Nr. 16, Pos. 93.


8      Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2009/72 ist ein „Kleinunternehmen“ im Sinne dieser Richtlinie ein Unternehmen, das weniger als 50 Personen beschäftigt und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 10 Mio. Euro hat.


9      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass gemäß Art. 4 Abs. 4 der genannten Vereinbarung „[i]m Fall der Kündigung der in Art. 1 genannten Verträge vor Ablauf des Zeitraums, für den dieser Vertrag geschlossen worden ist, … [der Lieferant W] den Kunden zur Zahlung eines Betrags [verpflichtet], der der Differenz zwischen dem Wert des vom Kunden in Abs. 1 angegebenen Stroms, berechnet nach dem in Art. 2 festgelegten Tarif, und dem Wert des von ihm bis zur Kündigung des Vertrags verbrauchten Stroms, berechnet nach dem in Art. 2 festgelegten Preis, entspricht, wobei diese Differenz einen positiven Wert hat“. Darüber hinaus hat die Gesellschaft G in dieser Vereinbarung den Kauf einer bestimmten Strommenge vom Lieferanten W erklärt.


10      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass in dem in Rede stehenden Vertrag der Strompreis für den Zeitraum vom 1. März 2015 bis zum 31. Dezember 2016 auf 261,06 PLN/Megawattstunde (MWh) (ca. 61,24 Euro zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens) festgesetzt war und dass die Gesellschaft G in diesem Zeitraum 245 MWh vom Lieferanten W einkaufen sollte, was einen Gesamtbetrag von 63 959,70 PLN (ca. 15 372 Euro zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens) ergibt und der geforderten Vertragsstrafe entspricht.


11      Vgl. Urteil vom 23. Januar 2020, Energiavirasto (C‑578/18, EU:C:2020:35, Rn. 23).


12      Vgl. insbesondere Urteil vom 22. Juni 2023, Pankki S (C‑579/21, EU:C:2023:501, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen festgestellt hat, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der in Rede stehende Vertrag eine Kündigungsfrist nicht von drei Wochen, sondern von sechs Monaten ab dem Datum der Zustellung der Kündigung mit Wirkung zum Ende des Kalenderjahrs vorsah. Da die in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Fragen jedoch nicht die Dauer der Kündigungsfrist betreffen, werde ich diese Frage nicht näher untersuchen.


14      In ihren schriftlichen Erklärungen trägt die Kommission vor, dass es angebracht sei, auf die Bestimmungen zu missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen Bezug zu nehmen, insbesondere auf die in der Richtlinie 93/13 festgelegten Bestimmungen. Hierzu stelle ich fest, dass, wie es im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt, die in dieser Richtlinie vorgesehenen einheitlichen Vorschriften zu missbräuchlichen Klauseln für „alle Verträge“ gelten sollten, die zwischen „Gewerbetreibenden“ und „Verbrauchern“ geschlossen werden, wie sie in Art. 2 Buchst. b und c der Richtlinie definiert sind. Gemäß Art. 2 Buchst. b ist ein „Verbraucher“ eine natürliche Person, die bei Verträgen, die unter diese Richtlinie fallen, zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann (vgl. u. a. Urteil vom 9. Juli 2020, Raiffeisen Bank und BRD Groupe Société Générale, C‑698/18 und C‑699/18, EU:C:2020:537, Rn. 69 und 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Da die Gesellschaft G im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit gehandelt hat, besteht meines Erachtens im vorliegenden Fall jedoch kein Anlass, auf die Richtlinie 93/13 Bezug zu nehmen.


15      Hervorhebung nur hier.


16      Ich merke an, dass Bestimmungen, die Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 entsprechen, in der noch immer gültigen Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94) enthalten sind. Vgl. Art. 3 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2009/73.


17      Ich erinnere daran, dass mangels einer einheitlichen Definition im Primärrecht jeder verbraucherrelevante Unionsrechtsakt eine Definition des „Verbrauchers“ enthält, die nur für den betreffenden Rechtsakt gilt (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache YYY. [Begriff des Verbrauchers], C‑570/21, EU:C:2022:1002, Nr. 32). In der Richtlinie 2009/72 wird der Begriff „Verbraucher“ nicht definiert und scheint weit gefasst zu sein, insbesondere mit Blick auf den ersten Erwägungsgrund der Richtlinie, in dem es heißt, dass der Elektrizitätsbinnenmarkt „allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der Europäischen Union“ eine echte Wahl ermöglichen soll.


18      Siehe Fn. 9 der vorliegenden Schlussanträge.


19      Vgl. Urteile vom 12. Dezember 2019, Slovenské elektrárne (C‑376/18, EU:C:2019:1068, Rn. 32), und vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky (C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 22).


20      Urteil vom 28. November 2018, Solvay Chimica Italia u. a. (C‑262/17, C‑263/17 und C‑273/17, EU:C:2018:961, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Dieses Dokument kann (in englischer Sprache) unter folgender Adresse eingesehen werden: https://www.ceer.eu/documents/104400/-/-/792d2636-53db-f60c-a7b7-7a676f3a28d0.


22      Vgl. S. 2 der Stellungnahme des CEER.


23      Vgl. S. 2 der Stellungnahme des CEER.


24      Vgl. S. 2 der Stellungnahme des CEER.


25      Freie Übersetzung.


26      Die „Nimm-oder-zahl“-Klausel, die häufig in Lieferverträgen, insbesondere im Energiesektor, verwendet wird, weist drei Hauptmerkmale auf, nämlich erstens einen Entschädigungscharakter, da sie darauf abzielt, dem Begünstigten eine Entschädigung für die Nichterfüllung der Verpflichtungen durch den Vertragspartner zu gewähren, und es ermöglicht, die manchmal komplexe Frage des Nachweises des Schadens und seines Umfangs zu umgehen, zweitens einen antizipierenden Charakter, da die Parteien bei Vertragsabschluss im Voraus die Vertragsstrafen festlegen, die der Gläubiger zu zahlen hat, wenn sein Schuldner (der Kunde) seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, und drittens einen pauschalen Charakter, der sich in einem festen Betrag oder einem bestimmten Prozentsatz des Gesamtwerts der Güter oder des Verkaufspreises manifestiert, der so hoch angesetzt ist, dass er einen Anreiz zur Sorgfalt bietet. Vgl. insbesondere Kohl, B. u. a., „Les clauses take or pay: des clauses originales et méconnues“, Journal des tribunaux, 2009, Nr. 6354, S. 349-358, insbesondere S. 354 bis 356.


27      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte befugt sind, dafür Sorge zu tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt (vgl. Urteil vom 30. März 2023, AR u. a. [Direkte Inanspruchnahme des Versicherers] [C‑618/21, EU:C:2023:278, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung]).