Language of document : ECLI:EU:C:2023:655

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 7. September 2023(1)

Rechtssache C433/22

Autoridade Tributária e Aduaneira

gegen

HPA – Construções SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo [Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal])

„Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Zeitlich befristete Möglichkeit eines ermäßigten Steuersatzes für arbeitsintensive Dienstleistungen – Ermäßigter Steuersatz für die Renovierung von Privatwohnungen – Begriff der ‚Privatwohnung‘ – Grenzen eines selektiven ermäßigten Steuersatzes – Demokratieprinzip und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers – Grundsatz der steuerrechtlichen Neutralität“






I.      Einführung

1.        Dieses Verfahren zeigt einmal mehr, wie streitanfällig ermäßigte Steuersätze im Mehrwertsteuerrecht sind. Portugal besteuert arbeitsintensive Dienstleistungen an Gebäuden mit einem ermäßigten Steuersatz. Es muss sich aber um eine Renovierung, Restaurierung, Instandsetzung und Erhaltung von zu Wohnzwecken genutzten Immobilien handeln. Ein solch ermäßigter Steuersatz war im Streitjahr 2007 unionsrechtlich nur befristet (bis zum 31. Dezember 2010) möglich und hat bereits zu zwei Vorlageverfahren vor dem Gerichtshof geführt.

2.        Der Gerichtshof musste zur selben portugiesischen Vorschrift bereits am 5. Mai 2022 in der Rechtssache C‑218/21 entscheiden, ob darunter auch die Instandsetzung eines Aufzugs in einem Gebäude fällt, das nicht ausschließlich zu Wohnzwecken genutzt wird. Er bejahte dies zwar, betonte in den Entscheidungsgründen aber, dass im Fall von Renovierungs‑ und Reparaturdienstleistungen für gemeinsam genutzte Anlagen gemischt genutzter Gebäude eine „anteilige Aufteilung“ vorzunehmen sei.(2)

3.        Hier wird demgegenüber gefragt, ob es für eine „zu Wohnzwecken genutzte Immobilie“ genügt, dass im Grundbuch eingetragen ist, dass sie nur zu Wohnzwecken genutzt werden darf, oder ob sie im Zeitpunkt der Renovierung tatsächlich auch dazu genutzt werden muss. Letzteres würde verhindern, dass nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Investoren alte Häuser auf Vorrat zum ermäßigten Steuersatz renovieren und erst später (insbesondere nach Ablauf der zeitlichen Befristung des ermäßigten Steuersatzes) als Wohnungen oder auch als Spekulationsobjekte verkaufen. Im Kern geht es um die Befugnis der Mitgliedstaaten, einen ermäßigten Steuersatz selektiv vorzusehen, ohne dabei den Neutralitätsgrundsatz zu beeinträchtigen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 96 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie)(3) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer‑Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

5.        In Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2)      Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar. …“

6.        Zum im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt enthielt Titel VIII der Mehrwertsteuerrichtlinie ein Kapitel 3 („Befristete Bestimmungen für bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen“). Zu diesem Kapitel gehörten u. a. die Art. 106 und 107 dieser Richtlinie. Art. 106 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmte:

„Auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission können die Mitgliedstaaten vom Rat [der Europäischen Union] einstimmig ermächtigt werden, bis zum 31. Dezember 2010 auf die in Anhang IV genannten Dienstleistungen die ermäßigten Steuersätze des Artikels 98 anzuwenden.

Die ermäßigten Steuersätze dürfen nur auf Dienstleistungen angewandt werden, die höchstens zwei der in Anhang IV genannten Kategorien angehören.

In Ausnahmefällen kann ein Mitgliedstaat auch ermächtigt werden, den ermäßigten Steuersatz auf Dienstleistungen anzuwenden, die drei der genannten Kategorien angehören.“

7.        Art. 107 dieser Richtlinie sah vor:

„Die in Artikel 106 genannten Dienstleistungen müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:

a)      [S]ie müssen arbeitsintensiv sein;

b)      sie müssen in weitgehendem Maße direkt an Endverbraucher erbracht werden;

c)      sie müssen überwiegend lokalen Charakter aufweisen und dürfen nicht geeignet sein, Wettbewerbsverzerrungen hervorzurufen.

Darüber hinaus muss ein enger Zusammenhang zwischen den durch die Ermäßigung des Steuersatzes bedingten Preissenkungen und der absehbaren Zunahme der Nachfrage und der Beschäftigung bestehen. Durch die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes darf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts nicht gefährdet werden.“

8.        Anhang IV der Mehrwertsteuerrichtlinie enthielt das Verzeichnis der Dienstleistungen nach Art. 106 dieser Richtlinie. Nr. 2 dieses Anhangs lautete(4):

„Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen, mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen“.

B.      Portugiesisches Recht

9.        Portugal hat die Mehrwertsteuerrichtlinie durch das Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) umgesetzt.

10.      Art. 18 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sah vor:

„Es gelten folgende Steuersätze:

a)      Für die Einfuhren, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die in Liste I im Anhang zu diesem Gesetz aufgeführt sind, beträgt der Steuersatz 5 %“.

11.      In Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs hieß es:

„Werkverträge zum Zweck der Verbesserung, Umgestaltung, Renovierung, Restaurierung, Instandsetzung und Erhaltung von Immobilien und eigenständigen Teilen von zu Wohnzwecken genutzten Immobilien, mit Ausnahme von Reinigungsarbeiten, Arbeiten zur Instandhaltung von Grünflächen und Werkverträgen betreffend Immobilien, die die Bestandteile von Schwimmbädern, Saunas, Minigolf‑, Tennis‑, oder Golfplätzen und ähnlichen Anlagen zur Gänze oder teilweise umfassen.

Der ermäßigte Satz gilt nicht für eingebaute Materialien, es sei denn, dass ihr Wert 20 % des Gesamtwerts der Dienstleistung nicht übersteigt.“

12.      Zu dem Ausdruck ‚zu Wohnzwecken genutzte Immobilien oder eigenständige Teile solcher Immobilien‘ in Nr. 2.24 (jetzt Nr. 2.27) der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs hat die Steuer- und Zollverwaltung Verwaltungsvorschriften herausgegeben, u. a. das Rundschreiben Nr. 30025 vom 7. August 2000, dem, soweit es für den vorliegenden Fall von Belang ist, Folgendes zu entnehmen ist:

„2.      Immobilien

Diese Nummer umfasst nur Dienstleistungen, die an einer Immobilie oder einem Teil davon erbracht werden, die oder der, ohne dass eine Genehmigung zu anderen Zwecken vorliegt, zu Wohnzwecken genutzt wird.

Eine Immobilie oder ein Teil davon ist als zu Wohnzwecken genutzt anzusehen, wenn sie oder er zu Beginn der Arbeiten und nach deren Abschluss weiterhin tatsächlich als Privatwohnung Verwendung findet.“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

13.      Die HPA – Construções, SA (im Folgenden: HPA) ist eine Handelsgesellschaft in Form einer Aktiengesellschaft, deren Zweck die „Erbringung von Bau- und Handelsdienstleistungen, der Abschluss von Werk- und Immobilienkaufverträgen und der Handel mit Baumaterial“ ist.

14.      Im Jahr 2007 führte HPA mehrere Werkverträge aus, die die Renovierung von Gebäuden in Lissabon betrafen. Aus den Bescheinigungen des Grundbuchamts geht hervor, dass die Grundstücke zuvor (2004, 2005) bzw. danach (2008) von mehreren Handelsgesellschaften (darunter die Handelsgesellschaft Paço – Investimentos Imobiliários, SA, die Handelsgesellschaft Brown House – Empreendimentos Imobiliários, SA, und Handelsgesellschaft Sociedade Imobiliária do Palácio Alagoas, Lda.) erworben wurden und dass die Immobilien in weiten Teilen zu Wohnzwecken bestimmt sind.

15.      HPA wendete gemäß Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des CIVA einen Mehrwertsteuersatz von 5 % auf die Renovierungsdienstleistungen an, stellte diesen den genannten Handelsgesellschaften in Rechnung und führte die Mehrwertsteuer ab. Am 19. Januar 2011 leiteten die Serviços de Inspeção Tributária da Direção de Finanças de Lisboa (Steuerprüfungsbehörden der Finanzdirektion Lissabon, Portugal) eine Außenprüfung gegen HPA im Hinblick auf das Steuerjahr 2007 ein. Am 10. Mai 2011 erließ der Serviço de Finanças de Sintra-1 (Finanzamt Sintra-1, Portugal) Mehrwertsteuernacherhebungsbescheide für das Jahr 2007.

16.      Die Nacherhebung basiert auf der Anwendung des Regelsteuersatzes von 21 % anstelle des ermäßigten Steuersatzes von 5 %. HPA habe nicht nachweisen können, dass sich die in Rede stehenden Werkverträge auf tatsächlich zu Wohnzwecken genutzte Immobilien bezogen, wofür sie gemäß Art. 74 des Allgemeinen Steuergesetzes die Beweislast trage.

17.      HPA erhob vor dem Tribunal Administrativo e Fiscal de Sintra (Verwaltungs- und Finanzgericht Sintra, Portugal) Klage gegen den Nacherhebungsbescheid. Mit Urteil vom 26. Juni 2020 gab das genannte Gericht der Klage statt und hob die Nacherhebungsbescheide auf, weil als zu Wohnzwecken bestimmte oder genutzte Immobilien im Sinne von Nr. 2.24 alle Immobilien anzusehen seien, für die eine Genehmigung der Wohnnutzung vorliege, und nicht nur solche, die tatsächlich bewohnt seien. Die Steuer- und Zollverwaltung legte dagegen Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

18.      Das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende Frage vorgelegt:

Steht Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Werkverträge zum Zweck der Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen angewandt werden kann, die zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen bewohnt sind?

19.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben nur Portugal und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Zu der Vorlagefrage und dem Gang der Untersuchung

20.      Das Gericht fragt, ob es der damalige Art. 106 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Anhang IV Nr. 2 erlaubte, dass in Portugal der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Renovierungs- und Reparaturdienstleistungen von Privatwohnungen angewandt wird, die zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen als Wohnungen genutzt werden. Andersherum formuliert stellt sich die Frage, ob ein Mitgliedstaat diesen ermäßigten Steuersatz ausschließen darf, wenn das Gebäude zum Zeitpunkt der Leistungsdurchführung noch nicht oder nicht mehr zu Wohnzwecken genutzt wird, sondern z. B. zum Zwecke eines späteren Weiterverkaufs saniert wurde und eine Wohnnutzung möglicherweise erst später z. B. durch den Käufer erfolgt.

21.      Dies erfordert eine Auslegung des im Unionsrecht verwendeten Begriffs der Renovierung und Reparatur von „Privatwohnungen“ in Nr. 2 von Anhang IV der Mehrwertsteuerrichtlinie (dazu unter B.). Sollten unter diesen Begriff sämtliche Gebäude fallen, die irgendwann einmal als Wohnungen genutzt werden können, könnte die selektive Gewährung des ermäßigten Steuersatzes auf die Sanierung von Wohnungen, die im Moment der Sanierung auch als Wohnungen genutzt werden, unzulässig sein (dazu unter C.). Um dies zu beurteilen, wären die Anforderungen des Unionsrechts an die Mitgliedstaaten bei der Einführung eines selektiven Steuersatzes näher zu betrachten (dazu unter D.).

B.      Auslegung des Begriffs „Privatwohnung“

22.      Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 106 ermächtigte die Mitgliedstaaten, auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit der „Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen, mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen“, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.

23.      In Ermangelung eines Verweises auf das Recht der Mitgliedstaaten und einer einschlägigen Definition in der Mehrwertsteuerrichtlinie ist die Wendung in Anhang IV Nr. 2 dieser Richtlinie einheitlich und unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet wird, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen.(5)

24.      Insofern – so der Gerichtshof – ergibt sich aus dem Wortlaut dieses Anhangs IV Nr. 2 zum einen, dass zwei verschiedene Tätigkeiten von dieser Bestimmung erfasst werden, nämlich Renovierung und Reparatur, und zum anderen, dass sich diese Tätigkeiten auf Privatwohnungen beziehen müssen.(6) Hier ist gemäß der Vorlagefrage nur Letzteres zu klären.

25.      Der Gerichtshof hat bereits ausgeführt, dass der Begriff „Wohnung“ im Allgemeinen einen unbeweglichen oder sogar beweglichen Vermögensgegenstand oder einen Teil davon bezeichnet, der zu Wohnzwecken bestimmt ist und daher einer oder mehreren Personen als Wohnsitz dient. Außerdem ermöglicht der Zusatz „Privat-“ eine Abgrenzung zu nicht privaten Wohnungen wie Dienstwohnungen(7) oder Hotels.(8) Auch Ferienunterkünfte, die kurzfristig an wechselnde Urlaubsgäste überlassen werden, stellen daher keine „Privatwohnung“ dar.

26.      Folglich – so der Gerichtshof ausdrücklich – müssen sich die in Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Dienstleistungen der Renovierung und Reparatur auf Gegenstände beziehen, die zu privaten Wohnzwecken genutzt werden, während Dienstleistungen in Bezug auf Gegenstände, die zu anderen, z. B. gewerblichen, Zwecken, genutzt werden, von dieser Bestimmung nicht erfasst werden.(9) Mithin kommt es auf die tatsächliche Nutzung der Wohnung im Zeitpunkt der Renovierung an. Leerstehende Immobilien, die von einer Handelsgesellschaft zum Zweck des Verkaufs saniert werden, werden zu diesem Zeitpunkt nicht zu privaten Wohnzwecken, sondern zu gewerblichen Zwecken (hier dem Grundstückshandel) genutzt, wie auch Portugal zutreffend vorträgt.

27.      Der Wortlaut und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs sprechen daher dafür, dass unter Privatwohnungen nur solche Wohnungen fallen, die im Moment der Renovierung auch tatsächlich als Wohnung genutzt werden. Dies setzt allerdings nicht voraus, dass die Wohnung auch während der Renovierungsarbeiten tatsächlich bewohnt wird, sie muss zu diesem Zeitpunkt lediglich als Wohnung genutzt werden, mithin als Wohnsitz dienen.(10)

28.      Eine Privatwohnung – dies scheint die Kommissionen mit ihrem Beispiel einer Sommerwohnung zu übersehen – wird aber auch dann als Privatwohnung genutzt, wenn der Wohnungsinhaber während der Zeit der Renovierung an einem anderen Ort weilt. Das Verweilen an einem anderen Ort verschiebt nicht zwingend den Wohnsitz einer Person. Ebenso wenig ändert der Leerstand einer Privatwohnung für eine gewisse Zeit (z. B. eine vermietete Wohnung wird nach dem Auszug des alten und vor dem Einzug eines neuen Mieters renoviert) nicht deren Eigenschaft als Privatwohnung.

29.      Nichts anderes ergibt sich aus der in dem Rundschreiben niedergelegten Auffassung der portugiesischen Finanzverwaltung. Danach ist eine Immobilie als zu Wohnzwecken genutzt anzusehen, wenn sie zu Beginn der Arbeiten und nach deren Abschluss weiterhin tatsächlich als Privatwohnung Verwendung findet. Damit ist letztendlich nur gemeint, dass sie bei Beginn der Leistungsausführung als Privatwohnung genutzt wurde und am Ende der Arbeiten dies auch noch der Fall ist. Wenn ich die portugiesische Rechtslage richtig verstehe, dann geht es dabei um die Abgrenzung zu der nicht privilegierten Renovierung von Immobilien, die zu diesem Zeitpunkt keinen privaten Wohnzwecken dienen, sondern z. B. als Ferienunterkunft gewerblich vermietet werden sollen, als (leerstehende) Kapitalanlagen gedacht sind oder – so wie offenbar hier – im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels nach der Sanierung veräußert werden sollen.

30.      Die Notwendigkeit einer Nutzung als Privatwohnung während der Erbringung der Dienstleistungen wird durch eine Einbeziehung von Art. 107 der Mehrwertsteuerrichtlinie in die Auslegung bestätigt. Art. 107 dieser Richtlinie sieht nämlich vor, dass die in Art. 106 genannten Dienstleistungen in weitgehendem Maße direkt an Endverbraucher erbracht werden. Eine Handelsgesellschaft, die leerstehende Immobilien sanieren lässt, um die dann sanierten Wohnungen weiterzuverkaufen, ist sicherlich nicht der Endverbraucher, den der Richtliniengeber im Auge hatte. Insofern fällt es bereits schwer, eine Handelsgesellschaft als Endverbraucher zu bezeichnen. Als Endverbraucher wäre hier wohl der Eigentümer oder Mieter zu sehen, der die Wohnung für eigene (private) Zwecke – genauer als Wohnsitz – nutzt. Da diese Dienstleistungen nur in weitgehendem Maße direkt an Endverbraucher erbracht werden müssen, können Renovierungsdienstleistungen an Vermieter, die Wohnraum vermieten, auch mit einbezogen werden, da dort der Mieter diese Wohnungen unmittelbar zu privaten Wohnzwecken nutzt.

31.      Im Übrigen spricht auch der Zweck eines ermäßigten Steuersatzes für diese restriktive Auslegung. Nimmt man den Charakter der Umsatzsteuer als eine allgemeine Verbrauchsteuer(11) ernst, dann kann die Steuersatzhöhe immer nur die Belastung – bzw. bei einer Ermäßigung die Begünstigung – des nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Endverbrauchers betreffen.(12) Dies gilt jedenfalls, wenn die Steuersatzermäßigung nicht an subjektive Eigenschaften des Leistenden, sondern – so wie hier – an bestimmte Umsätze anknüpft, welche der Gesetzgeber im Interesse des Leistungsempfängers für begünstigungswürdig hält.

32.      Für einen zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer ist es dabei egal, ob sein Eingangsumsatz mit dem Regelsteuersatz oder dem ermäßigten Steuersatz besteuert wird, da der Vorsteuerabzug ihn von beiden entlastet. Daher zielen ermäßigte Steuersätze grundsätzlich auf die Begünstigung des nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Endverbrauchers (Privateigentümer), für den die Kosten für die genannte Dienstleistung reduziert werden sollen. Gleiches gilt für einen Mieter, der Empfänger einer steuerfreien Leistung (Vermietung von Wohnraum – Art. 135 Buchst. l der Mehrwertsteuerrichtlinie) ist, in die die ermäßigt besteuerte Leistung (Renovierungsleistung) eingeht. Mangels Vorsteuerabzug kann der Leistende (Vermieter) dann geringere Kosten (nämlich nur den ermäßigten statt des Regelsteuersatzes) auf den Mieter umlegen.

33.      Mit der Steuersatzermäßigung für „Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen“ soll nämlich der Wohnungsnutzer entlastet werden, der entweder seine Privatwohnung renoviert oder repariert oder mittels der Miete die Renovierung oder Reparatur seiner Privatwohnung finanziert. Auf diese Weise können die Mitgliedstaaten über einen ermäßigten Steuersatz die Kosten des zum Leben notwendigen Wohnens senken, soweit sich diese auf Renovierungs- und Reparaturarbeiten beziehen. Dafür ist jedoch nicht entscheidend, ob die Immobilie kraft Grundbuch nur zu Wohnzwecken genutzt werden kann, sondern ob sie im Zeitpunkt der Kostenentstehung durch den Leistungsempfänger dazu genutzt wird oder werden soll. Dieser Zweck des ermäßigten Steuersatzes erfasst daher auch Renovierungen zum Zweck der anschließenden Wohnnutzung durch den Leistungsempfänger (direkt oder indirekt im Wege der Vermietung). Die Renovierung einer Immobilie zum Zweck eines anschließenden Verkaufs fällt – da der Verkauf keine Nutzung zu Wohnzwecken darstellt – hingegen nicht darunter.

34.      Hinzu kommt die Besonderheit, dass die in Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfassten Dienstleistungen gemäß Art. 106 Abs. 1 lediglich zeitlich befristet (bis zum 31. Dezember 2010) unter einen ermäßigten Steuersatz fielen. Dies bedingt ebenfalls eine Auslegung, die auf die aktuelle Nutzung der Immobilie im Moment der Dienstleistung abstellt. Andernfalls würde die zeitliche Befristung über Vorzieheffekte (Sanierung auf Vorrat von erst zukünftig möglicherweise zu Wohnzwecken genutzten Gebäuden) recht einfach unterlaufen werden können.

35.      All dies spricht dafür, dass Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie so auszulegen ist, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Dienstleistungen zum Zweck der Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen angewandt werden kann, die zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen auch als Privatwohnungen genutzt werden. Damit steht er einer nationalen Vorschrift wie Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs nicht entgegen, die verlangt, dass sich die genannten Dienstleistungen auf zu Wohnzwecken genutzte Immobilien beziehen. Er steht auch nicht der Auffassung der Finanzverwaltung entgegen, wonach eine Immobilie als zu Wohnzwecken genutzt anzusehen ist, wenn sie zu Beginn der Arbeiten und nach deren Abschluss weiterhin tatsächlich als Privatwohnung Verwendung findet. Dafür ist es jedoch nicht nötig, dass die Wohnung während der Arbeiten auch bewohnt ist.

C.      Hilfsweise: selektiver ermäßigter Steuersatz

36.      Sollte der Gerichtshof hingegen der Auffassung sein, dass Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie weit auszulegen sei und es ausreichen lässt, dass die sanierte Immobilie irgendwann einmal zu Wohnzwecken genutzt wird und eine entsprechende Zweckbindung im Grundbuch dafür genügen soll, dann stellt sich die Frage, ob Portugal hier zulässigerweise einen selektiven ermäßigten Steuersatz eingeführt hat. Denn Portugal hätte dann den ermäßigten Steuersatz, der nach Unionsrecht für alle als Privatwohnungen nutzbaren Immobilien möglich wäre, auf solche Immobilien begrenzt, die im Moment der Leistungserbringung auch als Privatwohnungen genutzt werden.

37.      Hinsichtlich der Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nach Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Wortlaut dieser Bestimmung nicht zwingend zu der Auslegung führt, dass sich die Anwendung dieses ermäßigten Satzes auf alle Aspekte einer Kategorie von Leistungen im Sinne des Anhangs III dieser Richtlinie bezieht. So haben die Mitgliedstaaten, sofern der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, die Möglichkeit, konkrete und spezifische Aspekte einer Kategorie von Leistungen im Sinne des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen.(13) Gleiches gilt erst recht für die damals in Anhang IV der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgezählten Dienstleistungen, die erst nach einer Ermächtigung durch den Rat und nur befristet ermäßigt besteuert werden können.

38.      Die Möglichkeit einer solchen selektiven Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes soll u. a. dadurch gerechtfertigt sein, dass die Beschränkung des ermäßigten Steuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte der fraglichen Leistungskategorie im Einklang mit dem Grundsatz steht, dass Befreiungen und Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind.(14)

39.      Dies ist nur im Ergebnis zutreffend. Zum einen betont der Gerichtshof vermehrt, dass die Regel einer engen Auslegung nicht bedeutet, dass die Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die dem ermäßigten Steuersatz seine Wirkung nähme.(15) Die Auslegung dieser Begriffe muss nämlich mit den Zielen in Einklang stehen, die mit dieser Regelung verfolgt werden, und den Erfordernissen der steuerlichen Neutralität entsprechen, weswegen die „Regel einer engen Auslegung“ mittlerweile einer Leerformel gleicht, die überflüssig ist.(16)

40.      Zum anderen bezieht sich eine (enge oder weite) Auslegung einer Vorschrift immer auf ein Tatbestandsmerkmal, welches unionsrechtlich einheitlich (eng oder weit) auszulegen ist. Die selektive Anwendung des ermäßigten Steuersatzes bezieht sich aber nicht auf die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals im Unionsrecht. Vielmehr resultiert die Befugnis, den ermäßigten Steuersatz selektiv zu begrenzen, primär aus der Wahlmöglichkeit des Mitgliedstaats, einen ermäßigten Steuersatz einzuführen.

41.      So hat der Unionsgesetzgeber die Befugnis für die Mitgliedstaaten vorgesehen, auf die zu den Kategorien des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie gehörenden Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden. Daher ist es Sache der Mitgliedstaaten, genauer zu bestimmen, auf welche dieser Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen der ermäßigte Steuersatz Anwendung findet.(17) Wenn der Mitgliedstaat aber nicht gezwungen ist, einen ermäßigten Steuersatz einzuführen,(18) mithin auch in Gänze auf diesen ermäßigten Steuersatz verzichten kann, dann kann er erst recht auch auf Teile davon verzichten, d. h., ihn auch nur teilweise (selektiv) einführen (argumentum a maiore ad minus).

42.      Daher kann der Mitgliedstaat mit den Worten des Gerichtshofs die Anwendung eines solchen ermäßigten Steuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte der dort genannten Kategorie beschränken.(19) Die tatsächliche Nutzung als Privatwohnung im Moment der Renovierungsdienstleistungen ist ein solch konkreter und spezifischer Aspekt, da er hinreichend bestimmbar und abgrenzbar ist.(20)

43.      Sollte der Begriff der Privatwohnung daher ausschließlich im Sinne einer formellen Betrachtungsweise zu verstehen sein (alle Immobilien, die laut Grundbuch Wohnzwecken dienen), dann wäre es unionsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, wenn Portugal diesen Begriff einschränkend (materiell) auslegt und selektiv nur die Renovierungsarbeiten an tatsächlich auch als Privatwohnungen genutzten Wohnungen ermäßigt besteuert.

44.      Dass sich diese materielle Auslegung wohl erst in Verbindung mit den dazu ergangenen Verwaltungsvorschriften ergibt, ist dafür – entgegen der Auffassung der Kommission – unschädlich. So überlässt Art. 288 Abs. 3 AEUV den staatlichen Stellen bei der Umsetzung einer Richtlinie die Wahl der Form und Mittel. Da es in einigen Mitgliedstaaten sogenannte konkretisierende Verwaltungsvorschriften mit rechtlicher Bindungswirkung nach außen gibt, die – wie ein Gesetz – amtlich veröffentlicht werden, wäre eine selektive Umsetzung eines optionalen ermäßigten Steuersatzes durch eine Kombination von Gesetz und solchen Verwaltungsvorschriften unbedenklich.(21)

45.      Sofern die Verwaltungsvorschrift – wie Portugal in der schriftlichen Stellungnahme vorträgt – den Willen des portugiesischen Gesetzgebers lediglich nachzeichnet, bestehen noch weniger Bedenken. Anders als die Kommission in ihrer Stellungnahme offenbar meint, geht es auch nicht um die Anwendung einer Verwaltungsvorschrift durch ein Gericht, sondern um die Auslegung des Gesetzes. Jedenfalls geht das vorlegende Gericht in seiner Frage davon aus, dass sich die entsprechende Einschränkung aus einer nationalen Rechtsvorschrift ergibt.

D.      Anforderungen an einen selektiven ermäßigten Steuersatz

46.      Die Einführung eines selektiven ermäßigten Steuersatzes unterliegt aber gewissen Grenzen. Wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv auf bestimmte in Anhang III (und auch IV) der Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen oder Lieferungen von Gegenständen anzuwenden, muss er den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.(22) Dieser Grundsatz lässt es nicht zu, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.(23)

47.      Bei der Beantwortung der Frage, ob Gegenstände oder Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Gegenstände oder Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen,(24) mithin diese Umsätze für ihn austauschbar sind.(25)

48.      Die Entscheidung über eine Gleichartigkeit von Gegenständen oder Dienstleistungen aus der Perspektive eines Endverbrauchers beinhaltet naturgemäß einen gewissen Entscheidungsspielraum. Der Gerichtshof spricht im Zusammenhang mit dem Unionsgesetzgeber beim Erlass steuerrechtlicher Maßnahmen davon, dass dieser Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art treffen, divergierende Interessen in eine Rangfolge bringen oder komplexe Beurteilungen vornehmen muss. Infolgedessen ist ihm in diesem Rahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, so dass sich die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Voraussetzungen auf offensichtliche Fehler beschränken muss.(26) Insbesondere könne der Gerichtshof bei seiner gerichtlichen Nachprüfung der Wahrnehmung einer solchen Zuständigkeit die Beurteilung des Unionsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen.(27)

49.      Hier stellt sich nun die Frage, ob der Gerichtshof die Ausübung dieses Entscheidungsspielraums durch einen mitgliedstaatlichen Gesetzgeber ebenso nur in einer vergleichbar eingeschränkten Art überprüfen kann.

50.      Insbesondere unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dies zu bejahen. So betont der Gerichtshof zunehmend, dass die Union aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte achten und teilen.(28) Zu den in Art. 2 EUV genannten Werten, auf die sich die Union gründet, gehört insbesondere das Demokratieprinzip.

51.      Danach ist primär der demokratisch gewählte Gesetzgeber für die Ausfüllung gesetzgeberischer Entscheidungsspielräume zuständig. Gewährt das Unionsrecht daher einem Mitgliedstaat einen solchen Spielraum, dann ist dafür primär das gewählte Parlament dieses Mitgliedstaates zuständig. Folglich sind andere Organe bei der Überprüfung dieses parlamentarischen Entscheidungsspielraums per se beschränkt. Sie können nicht ihre eigene Auffassung von der Gleichartigkeit der Gegenstände oder Dienstleistungen an die Stelle des dazu demokratisch legitimierten Organs setzen. Dies gilt für nationale Gerichte gleichermaßen wie für Unionsgerichte.

52.      Insofern kann der Gerichtshof eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes durch den Gesetzgeber (Unionsgesetzgeber wie mitgliedstaatlicher Gesetzgeber) nur feststellen, wenn dieser seinen Entscheidungsspielraum offensichtlich überschritten hat. Dies ist aber erst der Fall, wenn aus Perspektive des Durchschnittsverbrauchers die unterschiedlich besteuerten Dienstleistungen oder Lieferungen nahezu identisch sind, so dass sie ohne Weiteres substituiert werden könnten. Nur dann besteht auch eine Verzerrung des Wettbewerbs der Anbieter dieser Dienstleistungen oder Lieferungen untereinander, die mit dem Neutralitätsprinzip nicht mehr vereinbar ist.

53.      Aus diesem Grund hat sich der Gerichtshof bislang grundsätzlich zurückgehalten, eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes festzustellen, sofern der Richtliniengeber es zulässt, dass nur Bücher (nicht aber E‑Books(29)), nur die Lieferung von Schlachtpferden (nicht aber von Reitpferden(30)) und nur die Vermietung von Campingplätzen (nicht aber die Vermietung von Bootsliegeplätzen(31)) ermäßigt besteuert werden. Gleiches gilt, wenn die Mitgliedstaaten nur frische Backwaren (nicht solche, die ein bestimmtes Mindesthaltbarkeitsdatum überschreiten(32)), nur Schausteller auf mobilen Jahrmärkten (und nicht stationären Vergnügungsparks(33)), nicht alle Arzneimittel (sondern nur bestimmte, auch in Abhängigkeit zu ihrer Verwendung(34)), nur Taxen (nicht aber alle Personenbeförderungen mit Pkws(35)), nur gedruckte Bücher (nicht Bücher auf anderen physischen Trägermedien(36)) ermäßigt besteuern oder befreien.

54.      Eine offensichtliche Überschreitung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums liegt hier jedoch nicht vor. Die unterschiedlich besteuerten Dienstleistungen sind nicht nahezu identisch, so dass eine Wettbewerbsverzerrung nicht eintritt.

55.      Denn der Verkäufer einer (ungenutzten) renovierten Wohnung konkurriert nicht mit dem Wohnungsinhaber, der seine (genutzte) Wohnung renovieren lässt und dann nur mit einem ermäßigten Steuersatz belastet wird. Selbst wenn Letzterer ein Unternehmen wäre (z. B. ein Vermieter), konkurriert dieser nicht auf einem Markt mit einem Verkäufer. Auch das Renovierungsunternehmen, das eine (ungenutzte) Wohnung renoviert, konkurriert nicht mit dem Renovierungsunternehmen, das eine genutzte Wohnung renoviert, da der jeweilige Leistungsempfänger nicht den Steuersatz frei wählen kann. Für ihn ist die Renovierung immer entweder ermäßigt (als bereits genutzte Wohnung) oder immer voll (als eine noch nicht genutzte Wohnung) besteuert. Damit beeinflusst der Steuersatz nicht die Auswahl des jeweiligen Renovierungsunternehmens durch den Leistungsempfänger. Folglich ist der Neutralitätsgrundsatz nicht tangiert.

56.      Darüber hinaus drängt sich auch keine (ungerechtfertigte) Ungleichbehandlung der in Betracht kommenden Endverbraucher im Sinne von Art. 20 der Charta der Grundrechte(37) auf. Zum einen ist der Käufer einer renovierten Wohnung nicht mit dem Wohnungsinhaber, der sich seine Wohnung renovieren lässt, vergleichbar, denn der eine empfängt eine Lieferung, der andere eine Dienstleistung. Hinzu kommt, dass, sofern der Erwerb einer renovierten Wohnung in Portugal steuerpflichtig ist, der Verkäufer ohnehin über den Vorsteuerabzug (unabhängig vom Steuersatz für die Renovierungsdienstleistungen) entlastet wird. Sofern der Erwerb steuerfrei ist, hat der Verkäufer zwar keinen Vorsteuerabzug und wird den Regelsteuersatz einkalkulieren. Dafür ist aber der Erwerb steuerfrei, d. h., der Erwerber wird zumindest von der Mehrwertsteuer auf den selbstgeschaffenen Mehrwert des Verkäufers (d. h. mindestens auf seinen Gewinn) entlastet. Gleiches gilt für Immobilien, die zu anderen gewerblichen Zwecken (als Hotel oder Ferienunterkünfte) eingesetzt werden.

57.      Auch insofern ist es nachvollziehbar, wenn der portugiesische Gesetzgeber den ermäßigten Steuersatz auf Immobilien, die im Moment der Renovierung tatsächlich als Wohnungen genutzt werden, beschränkt hat. Dies wird umso deutlicher, sollte mit der Beschränkung des ermäßigten Steuersatzes aus gesellschaftspolitischen Gründen insbesondere der private Eigentümer einer auch als Wohnung genutzten Wohnung gezielt entlastet werden. Ein Verstoß gegen den steuerrechtlichen Neutralitätsgrundsatz ist darin nicht zu sehen.

V.      Ergebnis

58.      Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefrage des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) zu antworten:

Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist so auszulegen, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Dienstleistungen zum Zweck der Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen angewandt werden kann, die zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen als Privatwohnungen genutzt werden. Eine Nutzung als Privatwohnung liegt auch vor, wenn der Leistungsempfänger die Immobilie einem Dritten als Wohnung überlassen hat. Für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes ist es jedoch nicht nötig, dass die Wohnung während der Leistungserbringung bewohnt ist.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 42). Auf diese Passage beruft sich die Regierung von Portugal ausdrücklich in ihrer schriftlichen Stellungnahme. Da ein Pro-rata-Steuersatz für eine einheitliche Leistung in der Mehrwertsteuerrichtlinie aber nicht vorgesehen ist und eine einheitliche Leistung auch nicht aufgeteilt werden kann (sonst wäre es keine einheitliche Leistung), kann diese Aussage sinnvollerweise nur auf den Fall bezogen gewesen sein, dass zwei trennbare Dienstleistungen (eine für den gewerblichen Teil, die andere für den als Wohnung genutzten Teil einer Immobilie) vorliegen.


3      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für das Streitjahr (2007) geltenden Fassung; insoweit zuletzt geändert durch die Richtlinie 2007/75/EG des Rates vom 20. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 346, S. 13).


4      Titel VIII Kapitel 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie deren Anhang IV wurden durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 zur Änderung der Richtlinie 2006/112 in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze (ABl. 2009, L 116, S. 18) aufgehoben. Dafür wurde mit der Richtlinie 2009/47 eine Nr. 10a in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie eingefügt, der das Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen enthält, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze nach Art. 98 dieser Richtlinie angewandt werden können. Diese Nr. 10a stimmt inhaltlich mit der Nr. 2 des alten Anhangs IV der Mehrwertsteuerrichtlinie überein, ist nunmehr aber nicht mehr zeitlich befristet.


5      Urteile vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 29), und vom 1. Oktober 2020, X (Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Aphrodisiaka) (C‑331/19, EU:C:2020:786, Rn. 24). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 29. Juli 2019, Spiegel Online (C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 65).


6      Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 31).


7      Im französischem Original spricht der Gerichtshof in Rn. 34 dabei von „logements de fonction“.


8      Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 34).


9      Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 35).


10      Vgl. nur Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 34 und 35).


11      Ganz deutlich: Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C‑317/94, EU:C:1996:400, Rn. 19). Vgl. auch Urteile vom 10. April 2019, PSM „K“ (C‑214/18, EU:C:2019:301, Rn. 40), vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš (C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 69), und vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 34).


12      In diesem Sinne Urteile vom 1. Oktober 2020, X (Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Aphrodisiaka) (C‑331/19, EU:C:2020:786, Rn. 34), und vom 9. März 2017, Oxycure Belgium (C‑573/15, EU:C:2017:189, Rn. 22). Ähnlich auch Urteile vom 22. April 2021, Dyrektor Izby Administrcji Skarbowej wKatowicach (C‑703/19, EU:C:2021:314, Rn. 37), und vom 17. Januar 2013, Kommission/Spanien (C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 86).


13      Urteile vom 22. September 2022, The Escape Center (C‑330/21, EU:C:2022:719, Rn. 34), und vom 5. September 2019, Regards Photographiques (C‑145/18, EU:C:2019:668, Rn. 42). Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 2017, Oxycure Belgium (C‑573/15, EU:C:2017:189, Rn. 25 und 28), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 25 ff.).


14      Urteile vom 5. September 2019, Regards Photographiques (C‑145/18, EU:C:2019:668, Rn. 43), vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Rn. 24), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 29).


15      Urteil vom 5. September 2019, Regards Photographiques (C‑145/18, EU:C:2019:668, Rn. 32). Ähnlich: Urteil vom 29. November 2018, Mensing (C‑264/17, EU:C:2018:968, Rn. 22 und 23 zu Sonderregimen), und vom 21. März 2013, PFC Clinic (C‑91/12, EU:C:2013:198, Rn. 23 zu Befreiungstatbeständen).


16      Besonders deutlich wird dies in den Rn. 22 ff. der Stellungnahme der Kommission, wonach die Regel einer engen Auslegung hier anwendbar sei, aber nicht die engste Auslegung verlange. Der juristische Mehrwert einer solchen Aussage ist zweifelhaft.


17      Ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs: Urteile vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 44), vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Rn. 23), und vom 11. September 2014, K (C‑219/13, EU:C:2014:2207, Rn. 23). Ähnlich zu Art. 122 auch Urteil vom 3. Februar 2022, Finanzamt A (C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 37).


18      So auch Urteil vom 9. März 2017, Oxycure Belgium (C‑573/15, EU:C:2017:189, Rn. 25).


19      Urteile vom 22. September 2022, The Escape Center (C‑330/21, EU:C:2022:719, Rn. 34), vom 9. September 2021, Phantasialand (C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 25), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 28).


20      Vgl. Urteile vom 5. September 2019, Regards Photographiques (C‑145/18, EU:C:2019:668, Rn. 49), vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz (C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 47), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 35).


21      Möglicherweise anders Urteil vom 22. September 2022, The Escape Center (C‑330/21, EU:C:2022:719, Rn. 39), wobei hier aber nicht näher untersucht wurde, ob der dortige Anwendungserlass der Finanzverwaltung eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift war und sich der Mitgliedstaat dort auch nicht auf diese bezogen hat.


      Unklar hingegen Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C‑218/21, EU:C:2022:355, Rn. 45 und 46), das auch die hier relevante portugiesische Verwaltungsvorschrift betraf, aber immer von einer jederzeit änderbaren bloßen Verwaltungspraxis spricht. Konkretisierende Verwaltungsvorschriften sind aber etwas anderes als eine „bloße Verwaltungspraxis“ und können auch nicht beliebig geändert werden und sind grundsätzlich auch nicht „nur unzureichend bekannt“.


22      Urteile vom 9. September 2021, Phantasialand (C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 36), vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 46), und vom 9. März 2017, Oxycure Belgium (C‑573/15, EU:C:2017:189, Rn. 28).


23      Urteile vom 19. Dezember 2019, Segler-Vereinigung Cuxhaven (C‑715/18, EU:C:2019:1138, Rn. 36), vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 47), vom 9. März 2017, Oxycure Belgium (C‑573/15, EU:C:2017:189, Rn. 30), vom 23. April 2009, TNT Post UK (C‑357/07, EU:C:2009:248, Rn. 37), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 40).


24      Urteile vom 3. Februar 2022, Finanzamt A (C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 44), vom 9. September 2021, Phantasialand (C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 38), vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 48), vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Rn. 31), und vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz (C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 54).


25      So ausdrücklich Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand (C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 39). Das Urteil vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Rn. 33), spricht von gegenseitig ersetzbar.


26      Urteil vom 7. März 2017, RPO (C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 54). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco (C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 123), und vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 35).


27      So ausdrücklich noch Urteil vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 35).


28      Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 42 und 43). Zur Berücksichtigung des Demokratieprinzips bei der Auslegung von Richtlinien siehe auch Urteil vom 9. März 2010, Kommission/Deutschland (C‑518/07, EU:C:2010:125, Rn. 41).


29      Urteil vom 7. März 2017, RPO (C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 70 ff.).


30      Urteil vom 3. März 2011, Kommission/Niederlande (C‑41/09, EU:C:2011:108, Rn. 66).


31      Urteil vom 19. Dezember 2019, Segler-Vereinigung Cuxhaven (C‑715/18, EU:C:2019:1138, Rn. 38).


32      Urteil vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Rn. 36).


33      Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand (C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 48).


34      Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 49).


35      Urteil vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz (C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 60).


36      Urteil vom 11. September 2014, K (C‑219/13, EU:C:2014:2207, Rn. 34).


37      Zur Relevanz im Mehrwertsteuerrecht vgl. nur Urteil vom 7. März 2017, RPO (C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 41 ff.).