Language of document : ECLI:EU:C:2024:21

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

11. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Elektrizitätsbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72/EG – Art. 3 Abs. 5 und 7 – Verbraucherschutz – Recht auf Wechsel des Lieferanten – Nichthaushaltskunde – Mit einem Kleinunternehmen abgeschlossener, befristeter Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif – Vertragsstrafe für die vorzeitige Kündigung – Nationale Regelung, mit der die Höhe der Vertragsstrafe auf die ‚Gebühren und Entschädigungszahlungen, die sich aus dem Inhalt des Vertrags ergeben‘, beschränkt wird“

In der Rechtssache C‑371/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 12. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2022, in dem Verfahren

G sp. z o.o.

gegen

W S.A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič, I. Jarukaitis (Berichterstatter) und D. Gratsias,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits und C. Kokkosi als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und T. Scharf als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. 2009, L 211, S. 55).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der G sp. z o.o. (im Folgenden: Gesellschaft G) und der W S.A., einem Stromlieferanten (im Folgenden: Lieferant W), über die Zahlung einer Vertragsstrafe aufgrund der vorzeitigen Kündigung eines von diesen Parteien abgeschlossenen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrags mit festem Tarif durch die Gesellschaft G.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2009/72

3        In den Erwägungsgründen 1, 3, 7, 8, 42, 51, 52, 54 und 57 der Richtlinie 2009/72 hieß es:

„(1)      Der Elektrizitätsbinnenmarkt, der seit 1999 in der Gemeinschaft schrittweise geschaffen wird, soll allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der Europäischen Union eine echte Wahl ermöglichen, neue Geschäftschancen für die Unternehmen eröffnen sowie den grenzüberschreitenden Handel fördern und auf diese Weise Effizienzgewinne, wettbewerbsfähige Preise und höhere Dienstleistungsstandards bewirken …

(3)      Die Freiheiten, die der Vertrag den Bürgern der Union garantiert … sind nur in einem vollständig geöffneten Markt erreichbar, der allen Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten und allen Anbietern die freie Belieferung ihrer Kunden gestattet.

(7)      In der Mitteilung der [Europäischen] Kommission vom 10. Januar 2007 mit dem Titel ‚Eine Energiepolitik für Europa‘ wurde dargelegt, wie wichtig es ist, den Elektrizitätsbinnenmarkt zu vollenden und für alle in der Gemeinschaft niedergelassenen Elektrizitätsunternehmen gleiche Bedingungen zu schaffen. …

(8)      Um den Wettbewerb zu gewährleisten und die Stromversorgung zu den wettbewerbsfähigsten Preisen sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten und die nationalen Regulierungsbehörden den grenzüberschreitenden Zugang sowohl für neue Stromversorger aus unterschiedlichen Energiequellen als auch für Stromversorger, die innovative Erzeugungstechnologien anwenden, begünstigen.

(42)      Überall in der Gemeinschaft sollten Industrie und Handel, einschließlich der kleinen und mittleren Unternehmen, sowie die Bürger der Union, die von den wirtschaftlichen Vorteilen des Binnenmarktes profitieren, auch ein hohes Verbraucherschutzniveau genießen können … Darüber hinaus sollten diese Kunden ein Recht auf Wahlmöglichkeiten, Fairness, Interessenvertretung und die Inanspruchnahme eines Streitbeilegungsverfahrens haben.

(51)      Im Mittelpunkt dieser Richtlinie sollten die Belange der Verbraucher stehen, und die Gewährleistung der Dienstleistungsqualität sollte zentraler Bestandteil der Aufgaben von Elektrizitätsunternehmen sein. Die bestehenden Verbraucherrechte müssen gestärkt und abgesichert werden und sollten auch auf mehr Transparenz ausgerichtet sein. Durch den Verbraucherschutz sollte sichergestellt werden, dass allen Kunden im größeren Kontext der Gemeinschaft die Vorzüge eines Wettbewerbsmarktes zugutekommen. Die Rechte der Verbraucher sollten von den Mitgliedstaaten oder, sofern dies von einem Mitgliedstaat so vorgesehen ist, von den Regulierungsbehörden durchgesetzt werden.

(52)      Die Verbraucher sollten klar und verständlich über ihre Rechte gegenüber dem Energiesektor informiert werden. …

(54)      Ein besserer Verbraucherschutz ist gewährleistet, wenn für alle Verbraucher ein Zugang zu wirksamen Streitbeilegungsverfahren besteht. …

(57)      Für die Mitgliedstaaten sollte es die oberste Priorität sein, den fairen Wettbewerb und einen freien Marktzugang für die einzelnen Versorger und die Entwicklung von Kapazitäten für neue Erzeugungsanlagen zu fördern, damit die Verbraucher die Vorzüge eines liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkts im vollen Umfang nutzen können.“

4        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/72 bestimmte:

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, ‑übertragung, ‑verteilung und ‑versorgung sowie Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes erlassen, um in der Gemeinschaft für die Verbesserung und Integration von durch Wettbewerb geprägte Strommärkte zu sorgen. …“

5        In Art. 2 der Richtlinie hieß es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚Kunden‘ einen Großhändler oder Endkunden, die Elektrizität kaufen;

9.      ‚[Endkunde]‘ einen Kunden, der Elektrizität für den eigenen Verbrauch kauft;

10.      ‚Haushalts-Kunde‘ einen Kunde[n], der Elektrizität für den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; dies schließt gewerbliche und berufliche Tätigkeiten nicht mit ein;

11.      ‚Nichthaushaltskunde‘ eine natürliche oder juristische Person, die Elektrizität für andere Zwecke als den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; hierzu zählen auch Erzeuger und Großhändler;

12.      ‚zugelassener Kunde‘ einen Kunde[n], dem es gemäß Artikel 33 freisteht, Elektrizität von einem Lieferanten [seiner] Wahl zu kaufen;

…“

6        Art. 3 („Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden“) Abs. 3 bis 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 sah vor:

„(3)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushalts-Kunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen, nämlich Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 10 Mio. [Euro] haben, in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen …

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Kunden das Recht haben, von einem Lieferanten – sofern dieser zustimmt – mit Strom versorgt zu werden, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat dieser als Lieferant zugelassen ist …

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass

a)      in den Fällen, in denen Kunden im Rahmen der Vertragsbedingungen beabsichtigen, den Lieferanten zu wechseln, die betreffenden Betreiber diesen Wechsel innerhalb von drei Wochen vornehmen, …

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die unter den Buchstaben a und b genannten Rechte allen Kunden ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt werden.

(7)      Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden … Die Mitgliedstaaten gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugelassene Kunden tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Zumindest im Fall der Haushalts-Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang I aufgeführten Maßnahmen ein.“

7        Art. 33 („Marktöffnung und Gegenseitigkeit“) Abs. 1 der Richtlinie 2009/72 bestimmte:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass folgende Kunden zugelassene Kunden sind:

c)      ab dem 1. Juli 2007 alle Kunden.“

8        Anhang I („Maßnahmen zum Schutz der Kunden“) dieser Richtlinie sah in Abs. 1 vor:

„Unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der Gemeinschaft … soll mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden

a)      Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen haben, in dem Folgendes festgelegt ist:

–        Vertragsdauer, Bedingungen für eine Verlängerung und Beendigung der Leistungen und des Vertragsverhältnisses, die Frage, ob ein kostenfreier Rücktritt vom Vertrag zulässig ist,

Die Bedingungen müssen gerecht und im Voraus bekannt sein. Diese Informationen sollten in jedem Fall vor Abschluss oder Bestätigung des Vertrags bereitgestellt werden. …

e)      den Lieferanten ohne Berechnung von Gebühren wechseln können;

…“

9        Die Richtlinie 2009/72 wurde gemäß Art. 72 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU (ABl. 2019, L 158, S. 125) mit Wirkung vom 1. Januar 2021 durch die Richtlinie 2019/944 aufgehoben und ersetzt.

 Richtlinie 2019/944

10      Art. 4 („Freie Versorgerwahl“) der Richtlinie 2019/944 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Kunden die Freiheit haben, Elektrizität vom Versorger ihrer Wahl zu beziehen und mehr als einen Elektrizitätsliefervertrag zur selben Zeit zu haben, sofern die erforderlichen Anschlusspunkte und Messstellen vorhanden sind.“

11      Art. 12 („Recht auf Wechsel und Bestimmungen über Wechselgebühren“) Abs. 3 der Richtlinie bestimmt:

„… [D]ie Mitgliedstaaten [können] zulassen, dass Versorger … den Kunden, die einen befristeten Elektrizitätsliefervertrag mit festem Tarif freiwillig vorzeitig kündigen, Kündigungsgebühren berechnen, sofern diese Gebühren in einem Vertrag vorgesehen sind, den der Kunde freiwillig geschlossen hat, und der Kunde vor Vertragsabschluss unmissverständlich über diese Gebühren informiert worden ist. Die Gebühren müssen verhältnismäßig sein und dürfen nicht höher sein als der dem Versorger … infolge der Vertragskündigung unmittelbar entstehende wirtschaftliche Verlust, einschließlich der Kosten etwaiger gebündelter Investitionen oder Dienstleistungen, die dem Endkunden im Rahmen des Vertrags bereits erbracht wurden. Die Beweislast dafür, dass dem Versorger … ein unmittelbarer wirtschaftlicher Verlust entstanden ist, liegt beim Versorger …, und die Zulässigkeit von Kündigungsgebühren wird von der Regulierungsbehörde oder einer anderen zuständigen nationalen Behörde überwacht.“

 Polnisches Recht

12      Die Ustawa – Prawo energetyczne (Energiegesetz) vom 10. April 1997 (Dz. U. Nr. 54, Pos. 348) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Energiegesetz) sieht in Art. 4j Abs. 3a vor:

„Ein Endkunde kann einen befristeten Vertrag, auf dessen Grundlage ein Energieunternehmen ihn mit gasförmigen Brennstoffen oder Energie versorgt, durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem Energieunternehmen kündigen, ohne dass er andere Gebühren oder Entschädigungszahlungen als die aus dem Inhalt des Vertrags hervorgehenden zahlen muss.“

13      Die Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964 (Dz. U. Nr. 16, Pos. 93) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) bestimmt in Art. 483 § 1:

„Im Vertrag kann vereinbart werden, dass der Ersatz des Schadens, der durch die Nicht- oder Schlechterfüllung einer nicht in Geld bestehenden Schuld entstanden ist, durch die Zahlung eines bestimmten Betrags zu leisten ist (Vertragsstrafe).“

14      Art. 484 des Zivilgesetzbuchs lautet:

„§ 1.      Bei Nicht- oder Schlechterfüllung einer Schuld ist die Vertragsstrafe in der dafür vorgesehenen Höhe an den Gläubiger zu zahlen, unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens. Eine Schadensersatzforderung, die über den Betrag der vorgesehenen Vertragsstrafe hinausgeht, ist nicht zulässig, es sei denn, die Parteien haben etwas anderes vereinbart.

§ 2.      Wenn ein wesentlicher Teil der Schuld erfüllt worden ist, kann der Schuldner eine Herabsetzung der Vertragsstrafe verlangen; das Gleiche gilt, wenn die Vertragsstrafe offensichtlich überhöht ist.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Am 1. Januar 2010 schlossen die Gesellschaft G, ein Kleinunternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten, und der Lieferant W einen allgemeinen Vertrag (im Folgenden: allgemeiner Vertrag), durch den sich Letzterer verpflichtete, Strom an einen Agrotourismus-Betrieb in K. (Polen) zu verkaufen.

16      Am 23. Februar 2015 schlossen diese Parteien eine Vereinbarung, durch die sich die Gesellschaft G verpflichtete, diesen allgemeinen Vertrag mindestens bis zum 31. Dezember 2016 fortzuführen. In dieser Vereinbarung einigten sie sich auch darauf, dass sie das Recht haben, den Vertrag unter Einhaltung einer Frist zu kündigen, und dass der Lieferant W im Fall einer Kündigung des Vertrags durch die Gesellschaft G vor Ablauf des Zeitraums, für den dieser abgeschlossen wurde, von dieser Gesellschaft die Zahlung eines Betrags verlangen wird, der dem Preis für den Strom entspricht, zu dessen Abnahme sich die Gesellschaft bei ihm verpflichtet hat, den sie aber noch nicht bezahlt oder verbraucht hat, wobei dieser Preis in dieser Vereinbarung festgelegt wurde.

17      Ferner schloss die Gesellschaft G am 30. Januar 2015 mit der Z S.A., einem anderen Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen, einen Elektrizitätsversorgungsvertrag für denselben Agrotourismus-Betrieb ab. Gemäß der ihr in diesem Rahmen erteilten Ermächtigung informierte Z am 25. Februar 2015 den Lieferanten W über den Abschluss dieses Vertrags und teilte ihm für den Fall, dass er dieser neuen Situation nicht zustimme, die Kündigung des allgemeinen Vertrags mit.

18      Am 9. März 2016 übermittelte der Lieferant W der Gesellschaft G eine Zahlungsaufforderung über einen Betrag von 63 959,70 Złoty (PLN) (ca. 14 161 Euro) als Vertragsstrafe, die wegen der vorzeitigen Kündigung des allgemeinen Vertrags auferlegt wurde, die sich aus dem vorzeitigen Wechsel des Anbieters von Elektrizitätsdienstleistungen ergeben hatte. Da die Gesellschaft G die verlangte Zahlung nicht innerhalb der gesetzten Frist geleistet hatte, beantragte der Lieferant W am 21. November 2016 beim Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen), die Gesellschaft zur Zahlung dieses Betrags zuzüglich Zinsen zu verurteilen.

19      Mit Urteil vom 7. Februar 2020 gab das Gericht diesem Antrag statt. Es befand insbesondere, dass der Lieferant W die Zahlung der Vertragsstrafe verlangen könne, da sein Vertrag mit der Gesellschaft G aufgrund des durch den Abschluss eines neuen Vertrags mit Z erfolgten Lieferantenwechsels vor dem vereinbarten Termin beendet worden sei. Zum einen sei nach Art. 484 § 1 des Zivilgesetzbuchs die Forderung einer Vertragsstrafe nicht vom Nachweis eines Schadens abhängig, und zum anderen entspreche der geltend gemachte Betrag dem, was in der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten Vereinbarung festgelegt worden sei.

20      Die Gesellschaft G legte gegen dieses Urteil beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein und machte u. a. geltend, dass ihr gemäß Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 die Vertragsstrafe nicht auferlegt werden könne. Der Lieferant W habe keinen Schaden erlitten, ihm sei nur Gewinn entgangen. Dagegen macht der Lieferant W geltend, dass gemäß Art. 484 § 1 des Zivilgesetzbuchs die Höhe einer Vertragsstrafe unabhängig von der Höhe des erlittenen Schadens sei.

21      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass, obwohl die Richtlinie 2009/72 zeitlich auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbar sei, Art. 4 und Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2019/944 Präzisierungen zu dieser ersten Richtlinie vorgenommen hätten, die sich auf die Durchsetzung der in der Richtlinie 2009/72 vorgesehenen Rechte der Kunden auswirken könnten.

22      Was den Ausgangsrechtsstreit betrifft, stellt es erstens fest, dass Art. 4j Abs. 3a des Energiegesetzes die Kündigung eines befristeten Vertrags erlaube, ohne dass andere Gebühren oder Entschädigungszahlungen anfielen als diejenigen, die sich aus dem Inhalt des Vertrags ergäben, dass dieses Gesetz aber keine Kriterien, und sei es auch nur ein Kriterium der Verhältnismäßigkeit, für die Berechnung dieser Gebühren und Entschädigungszahlungen vorsehe und die Möglichkeit, eine pauschale Entschädigung zu verlangen, nicht ausschließe. Eine Vertragsstrafe im Sinne des Zivilgesetzbuchs könne von einem Gericht nur auf Antrag der betroffenen Partei herabgesetzt werden, und diese trage die Beweislast dafür, dass diese Vertragsstrafe überhöht sei.

23      Ferner weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es nach der Lehre zwar denkbar sei, in Vertragsverhältnissen mit Verbrauchern offensichtlich überhöhte Entschädigungszahlungen wegen einer Kündigung für nichtig zu erklären, dass es aber nicht in Betracht komme, die etwaige Missbräuchlichkeit von Klauseln, mit denen solche Vertragsstrafen auferlegt würden, zu prüfen, wenn das Vertragsverhältnis ein Kleinunternehmen betreffe.

24      Das Energiegesetz enthalte keinen Verweis auf den Verbraucherschutz, sehe in Bezug auf Nichthaushaltskunden keine Möglichkeit vor, Vertragsstrafen von Amts wegen herabzusetzen, und enthalte keine Kriterien für deren Berechnung. Die Mitgliedstaaten müssten gemäß Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 jedoch zum einen sicherstellen, dass den Kunden das Recht auf Wechsel des Lieferanten ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt werde. Zum anderen erwähne Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie die Notwendigkeit, dass dieses Recht tatsächlich und leicht ausgeübt werden könne, weshalb bei der Durchsetzung dieses Rechts eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen der Höhe der Vertragsstrafe und den der anderen Vertragspartei entstandenen Kosten gewahrt werden müsse. Außerdem sehe Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2009/72 in Verbindung mit deren Anhang I zwar vor, dass bei Haushaltskunden ein Lieferantenwechsel nicht zu Zahlungen führe, doch enthalte das Energiegesetz eine solche Klarstellung nicht.

25      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass der Umstand, dass das nationale Recht die Vereinbarung von Vertragsstrafen zulasse, ohne im Übrigen Kriterien für die Festlegung ihrer Höhe aufzustellen, das vom Unionsgesetzgeber mit Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 und Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2019/944 verfolgte Ziel des Verbraucherschutzes sowie die Freiheit von Kunden, Verträge zu kündigen, zunichtemachen und die Garantien des gleichberechtigten Zugangs zu Kunden für Elektrizitätsunternehmen der Union verfälschen könnte.

26      Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 der Möglichkeit entgegensteht, einem Kunden eine Vertragsstrafe wegen Kündigung eines befristeten Stromliefervertrags aufzuerlegen, wenn dieser Kunde beabsichtigt, den Lieferanten zu wechseln, ohne dass der erlittene Schaden berücksichtigt wird und das anwendbare Recht Kriterien für die Berechnung der Gebühren und deren Herabsetzung vorsieht.

27      Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, ob Energiekunden – angesichts des Ziels, eine tatsächliche Möglichkeit zu gewährleisten, den Stromlieferanten leicht wechseln zu können und eine Durchsetzung des Wechsels ohne Diskriminierung zu gewährleisten, sowie der Notwendigkeit, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren – vertraglich eine Gebühr für die vorzeitige Kündigung eines Stromliefervertrags im Rahmen eines Lieferantenwechsels auferlegt werden kann, wenn diese Gebühr de facto den Kosten für den nicht genutzten Strom entspricht. Die Richtlinie 2019/944 enthalte hierzu in ihrem Art. 12 Abs. 3 nützliche Hinweise für die Auslegung von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72, insbesondere durch den Verweis auf den dem Versorger „unmittelbar entstehende[n] wirtschaftliche[n] Verlust“ und den Verweis auf die Verhältnismäßigkeit.

28      In diesem Zusammenhang macht das vorlegende Gericht geltend, dass eine Vertragsstrafe des Typs „nimm oder zahl“ dem Kunden das gesamte finanzielle Risiko dieses Vertrags aufbürde. Sie sei daher offensichtlich überhöht und könnte den Kunden zwingen, die Erfüllung des Vertrags fortzusetzen, auch wenn er dies nicht möchte. Jedoch könne bei solchen Verträgen der „unmittelbar entstehende wirtschaftliche Verlust“ den Kosten entsprechen, die mit der Energieversorgung des betreffenden Kunden und der Notwendigkeit, die gesamte Infrastruktur zu unterhalten, mit den Kosten für bereits abgeschlossene Übertragungs- oder Verteilungsverträge sowie mit den Löhnen verbunden seien. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, wie der Begriff „angemessener Anteil der mit dem unmittelbar entstehenden wirtschaftlichen Verlust verbundenen Kosten“ eines Stromlieferanten auszulegen ist und ob die Richtlinie 2009/72 vorschreibt, dass die nationale Regelung ausdrücklich vorsieht, wie diese Kosten zu berechnen sind.

29      Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72, wonach im Hinblick auf die Wahrnehmung der Rechte eines Stromkunden (Kleinunternehmen) beim Wechsel des Stromlieferanten der Grundsatz zu beachten ist, dass für zugelassene Kunden die tatsächliche Möglichkeit eines leichten Lieferantenwechsels gewährleistet ist und dieser Wechsel ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer zu erfolgen hat, dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, einem Kunden, der einen befristeten Stromliefervertrag kündigt, weil er den Stromlieferanten wechseln möchte, eine Vertragsstrafe aufzuerlegen, ohne dass diese von der Höhe des erlittenen Schadens abhängt (Art. 483 § 1 und Art. 484 §§ 1 und 2 des Zivilgesetzbuchs) und ohne dass das Energiegesetz Kriterien vorgibt, wie diese Gebühren zu berechnen und herabzusetzen sind?

2.      Ist Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72, wonach die Wahrnehmung der Rechte eines Stromkunden (Kleinunternehmen) beim Wechsel des Stromlieferanten ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer zu erfolgen hat und wonach der Grundsatz zu beachten ist, dass für zugelassene Kunden die tatsächliche Möglichkeit eines leichten Lieferantenwechsels gewährleistet ist, dahin auszulegen, dass er einer Auslegung der vertraglichen Bestimmungen entgegensteht, wonach im Fall einer vorzeitigen Auflösung eines mit dem Lieferanten für einen befristeten Zeitraum abgeschlossenen Stromliefervertrags von den Kunden (Kleinunternehmen) nach dem Prinzip „nimm oder zahl“ Gebühren verlangt werden können, die de facto dem Preis des bis zum Ende der ursprünglichen Vertragslaufzeit nicht abgenommenen Stroms entsprechen?

 Zu den Vorlagefragen

30      Zunächst ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2019/944 – obwohl das vorlegende Gericht in der Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens auf mehrere ihrer Bestimmungen Bezug nimmt – die Richtlinie 2009/72 erst ab dem 1. Januar 2021 aufgehoben und ersetzt hat. Somit ist, angesichts des nach dem Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits maßgebenden Zeitraums, weiterhin die Richtlinie 2009/72 auf diesen Rechtsstreit anwendbar. Die Richtlinie 2019/944, auf die sich die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zudem formal nicht beziehen, ist daher im vorliegenden Fall nicht auszulegen. Zum anderen verweist das vorlegende Gericht zwar allgemein auf die Energieversorgung, doch geht es im Ausgangsrechtsstreit allein um die Lieferung von Strom. Die Richtlinie 2009/72 betrifft im Übrigen nach ihrem Art. 1 nur den Elektrizitätsbinnenmarkt.

31      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Kleinunternehmen, das einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, zur Zahlung der in diesem Vertrag vereinbarten Vertragsstrafe verpflichtet ist, deren Höhe dem Gesamtpreis für den Strom entsprechen kann, zu dessen Abnahme es sich verpflichtet hat, auch wenn dieser Strom nicht verbraucht wurde und nicht verbraucht werden wird, und obwohl diese Regelung keine Kriterien für die Berechnung oder etwaige Herabsetzung einer solchen Vertragsstrafe vorsieht.

32      Bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts sind nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

33      Was erstens den Wortlaut der Bestimmungen betrifft, um deren Auslegung ersucht wird, sieht Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/72 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass in den Fällen, in denen Kunden im Rahmen der Vertragsbedingungen beabsichtigen, den Lieferanten zu wechseln, die betreffenden Betreiber diesen Wechsel innerhalb von drei Wochen vornehmen. Gemäß Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 dieser Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten ferner sicher, dass die in Abs. 5 Unterabs. 1 genannten Rechte allen Kunden ohne Diskriminierung bezüglich der Kosten, des Aufwands und der Dauer gewährt werden. Art. 3 Abs. 7 verpflichtet die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden zu ergreifen, einen hohen Verbraucherschutz insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen zu gewährleisten und sicherzustellen, dass zugelassene Kunden tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Diese Bestimmung stellt außerdem klar, dass zumindest im Fall der Haushaltskunden solche Maßnahmen die in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Maßnahmen einschließen.

34      Im Übrigen bezeichnet der Begriff „[Endkunde]“ nach Art. 2 Nr. 9 dieser Richtlinie „einen Kunden, der Elektrizität für den eigenen Verbrauch kauft“, während nach Art. 2 Nr. 12 der Begriff „zugelassener Kunde“ einen Kunden bezeichnet, „dem es gemäß Artikel 33 [der Richtlinie 2009/72] freisteht, Elektrizität von einem Lieferanten [seiner] Wahl zu kaufen“. Der letztgenannte Begriff umfasst daher gemäß Art. 33 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie seit dem 1. Juli 2007 „alle Kunden“.

35      Ferner ist, wie der Generalanwalt in Fn. 17 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2009/72 keine Definition des darin vorkommenden Begriffs „Verbraucher“ enthält, dass aber aus ihrem ersten Erwägungsgrund, in dem es heißt, dass der Elektrizitätsbinnenmarkt „allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der … Union“ eine echte Wahl ermöglichen soll, sowie aus ihrem 42. Erwägungsgrund und mangels gegenteiliger Angaben in einer Bestimmung dieser Richtlinie abgeleitet werden kann, dass dieser Begriff in der Richtlinie weit gefasst ist und daher grundsätzlich jeden „Endkunden“, und zwar sowohl die „Haushalts-Kunden“ als auch die „Endkunden, die Nichthaushaltskunden sind“, einschließlich Kleinunternehmen, erfasst.

36      Daraus folgt, dass sich der Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 im Licht der in den Rn. 34 und 35 des vorliegenden Urteils angeführten einschlägigen Definitionen im Wesentlichen darauf beschränkt, vorzuschreiben, dass eine nationale Regelung wie die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils beschriebene erstens gewährleistet, dass ein Endkunde, wenn er dies beabsichtigt, im Rahmen der Bedingungen seines Elektrizitätsversorgungsvertrags tatsächlich und leicht den Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen wechseln kann, zweitens sicherstellt, dass vertragliche Bestimmungen wie die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils beschriebenen transparent sind, und drittens ein Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten vorsieht, die zwischen Verbrauchern und ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen auftreten könnten.

37      Der Umstand, dass eine solche nationale Regelung es erlaubt, dass ein befristeter Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif im Fall seiner vorzeitigen Kündigung durch den Kunden zum Zweck des Lieferantenwechsels eine Vertragsstrafe vorsieht, stellt jedoch – selbst wenn sie die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils beschriebenen Merkmale aufweist – nicht zwangsläufig ein Hindernis dafür dar, dass dieser Kunde tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln kann, sofern diese Regelung zum einen vorschreibt, dass eine solche vertragliche Bestimmung in klaren Worten abgefasst sein muss, die es dem Kunden ermöglichen, deren Tragweite vor Unterzeichnung des Vertrags zu verstehen, und dass die Bestimmung freiwillig vereinbart werden muss, so dass sie die nach diesem Wortlaut erforderliche Voraussetzung der Transparenz erfüllt, und die Regelung zum anderen die Möglichkeit eines verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs für den Fall eines Rechtsstreits vorsieht.

38      Dagegen stellt Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 klar, dass Lieferantenwechsel im Rahmen der Vertragsbedingungen erfolgen.

39      Außerdem sieht zwar, wie bereits in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der letzte Satz von Art. 3 Abs. 7 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten zumindest im Fall von Haushaltskunden zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Maßnahmen ergreifen müssen. Wie aus diesem Anhang I hervorgeht, umfassen diese Maßnahmen solche, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Kunden nach Abs. 1 Buchst. a von Anhang I Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen haben, in dem festgelegt ist, ob ein kostenfreier Rücktritt vom Vertrag zulässig ist, und nach Abs. 1 Buchst. e von Anhang I den Lieferanten ohne Berechnung von Gebühren wechseln können. Aus Art. 2 Nr. 10 dieser Richtlinie geht hervor, dass der Begriff „Haushalts-Kunde“ einen Kunden bezeichnet, „der Elektrizität für den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; dies schließt gewerbliche und berufliche Tätigkeiten nicht mit ein“, während der Begriff „Nichthaushaltskunde“ in Art. 2 Nr. 11 definiert wird als „eine natürliche oder juristische Person, die Elektrizität für andere Zwecke als den Eigenverbrauch im Haushalt kauft; hierzu zählen auch Erzeuger und Großhändler“.

40      Da Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2009/72 ausdrücklich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten für die Zwecke der Anwendung der in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Maßnahmen Kunden, die Elektrizität für den Eigenverbrauch im Haushalt kaufen, von Kunden unterscheiden dürfen, die Elektrizität für eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit kaufen, steht er einer nationalen Regelung wie der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils beschriebenen keineswegs entgegen, sondern spricht vielmehr dafür, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, vorzusehen, dass ein Kleinunternehmen, das einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, zur Zahlung der in diesem Vertrag vereinbarten Vertragsstrafe verpflichtet ist.

41      Was zweitens den Zusammenhang betrifft, in dem die Abs. 5 und 7 von Art. 3 der Richtlinie 2009/72 stehen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es keine Bestimmung der Richtlinie 2009/72 gibt, die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Möglichkeit eines gebührenfreien Lieferantenwechsels oder ähnlicher Maßnahmen zugunsten von Endkunden, die Nichthaushaltskunden sind, vorzusehen, auch wenn es sich um Kleinunternehmen handelt.

42      Sodann bestimmt Art. 3 Abs. 4 dieser Richtlinie im Wesentlichen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Kunden das Recht haben, von einem Lieferanten – sofern dieser zustimmt – mit Strom versorgt zu werden.

43      Schließlich wird im 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72 darauf hingewiesen, dass die Belange der Verbraucher im Mittelpunkt dieser Richtlinie stehen und dass ihre Rechte von den zuständigen nationalen Behörden durchgesetzt werden sollten, heißt es im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass die Verbraucher „klar und verständlich über ihre Rechte gegenüber dem Energiesektor informiert“ werden sollten, und wird im 54. Erwägungsgrund der Richtlinie klargestellt, dass die Streitbeilegungsverfahren, die nach Art. 3 Abs. 7 dieser Richtlinie vorgesehen werden müssen, „alle[n] Verbraucher[n]“ zugutekommen sollten.

44      Aus diesem Zusammenhang ergibt sich daher nicht, dass die Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, grundsätzlich einer nationalen Regelung wie der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils beschriebenen entgegenstehen, wenn der betreffende Mitgliedstaat die in Anhang I der Richtlinie 2009/72 aufgeführten Maßnahmen nicht auf andere Kunden als Haushaltskunden ausgedehnt hat. Dagegen folgt aus diesem Kontext im Wesentlichen, dass eine solche nationale Regelung sicherstellen muss, dass die Kunden das Recht haben, ihren Lieferanten zu wählen, und dass die Verbraucher klar und nachvollziehbar über ihre Rechte informiert sowie in die Lage versetzt werden müssen, diese im Rahmen eines Streitbeilegungsverfahrens durchzusetzen.

45      Drittens ist zu den mit der Richtlinie 2009/72 verfolgten Zielen festzustellen, dass mit dieser Richtlinie nach ihrem Art. 1 gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, ‑übertragung, ‑verteilung und ‑versorgung sowie Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes erlassen werden sollen, um in der Union für die Verbesserung und Integration von durch Wettbewerb geprägten Strommärkten zu sorgen. In diesem Rahmen zielt diese Richtlinie, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 3, 7 und 8 ergibt, insbesondere darauf ab, einen vollständig geöffneten und durch Wettbewerb geprägten Elektrizitätsbinnenmarkt zu errichten, der allen Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten und den Anbietern die freie Belieferung ihrer Kunden gestattet, die Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt zu fördern, um die Stromversorgung zu den wettbewerbsfähigsten Preisen sicherzustellen, und auf diesem Markt gleiche Bedingungen zu schaffen, um zur Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarkts zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17 Oktober 2019, Elektrorazpredelenie Yug, C‑31/18, EU:C:2019:868, Rn. 39, und vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      In diesem Sinne heißt es auch im 57. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass es für die Mitgliedstaaten die oberste Priorität sein sollte, den fairen Wettbewerb und einen freien Marktzugang für die einzelnen Versorger und die Entwicklung von Kapazitäten für neue Erzeugungsanlagen zu fördern, damit die Verbraucher die Vorzüge eines liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkts im vollen Umfang nutzen können.

47      Insoweit ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 50 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass befristete Elektrizitätsversorgungsverträge mit festem Tarif dadurch den Schutz der Kunden gewährleisten können, dass sie ihnen einen niedrigen und stabilen Strompreis garantieren, indem den Verbrauchern die Sicherheit geboten wird, dass die von ihnen zu tragenden Kosten nicht während der gesamten Vertragsdauer schwanken. Um jedoch seinen Verpflichtungen aus solchen Verträgen nachzukommen, kann der betreffende Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen spezifische Kosten aufgewendet haben, die ihm im Vergleich zu einem unbefristeten Vertrag ohne festen Tarif zusätzliche Kosten verursachen konnten, insbesondere um sich gegen die Volatilität der Kosten auf dem Großkundenstrommarkt abzusichern. So kann die Möglichkeit, die Auferlegung einer Vertragsstrafe zulasten des Kunden zu erlauben, wenn er diesen Typ eines befristeten Vertrags mit festem Tarif vorzeitig kündigt, es dem Lieferanten ermöglichen, die besonderen Kosten auszugleichen, die sich für ihn aus diesem Vertragstyp ergeben, ohne dass er das mit einem solchen Vertragstyp verbundene finanzielle Risiko auf alle seine Kunden abwälzen muss, was zu höheren Strompreisen für diese führen könnte und was letztlich dem Ziel zuwiderliefe, die wettbewerbsfähigsten Preise für die Verbraucher sicherzustellen.

48      Zu berücksichtigen sind jedoch auch das mit der Richtlinie 2009/72 verfolgte allgemeine Ziel, zur Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarkts zu gelangen, sowie die in den Erwägungsgründen 51 und 57 dieser Richtlinie genannten spezifischeren Ziele, Kunden die Vorzüge eines Wettbewerbsmarkts und liberalisierten Marktes zugutekommen zu lassen. Die Verwirklichung dieser Ziele wäre jedoch gefährdet, wenn eine nationale Regelung die Auferlegung von Vertragsstrafen erlauben würde, die in keinem Verhältnis zu den durch den Vertrag entstandenen, aber wegen dessen vorzeitiger Kündigung nicht vollständig abgeschriebenen Kosten stehen. Solche Strafen können die betroffenen Kunden nämlich künstlich davon abhalten, ihren befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig zu kündigen, um den Lieferanten zu wechseln, und sie somit daran hindern, im vollen Umfang von einem durch Wettbewerb geprägten und liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkt zu profitieren.

49      Da sich die vorgelegten Fragen auf eine nationale Regelung beziehen, die zum einen vorsieht, dass die Gebühren und Entschädigungszahlungen – die für den Fall, dass ein Endkunde, der Nichthaushaltskunde ist, einen solchen Elektrizitätsversorgungsvertrag vorzeitig kündigt, vertraglich vereinbart werden können – unabhängig von einem etwaigen Schaden des ursprünglichen Lieferanten geschuldet werden, und zum anderen keine Kriterien für deren Berechnung oder etwaige Herabsetzung durch die Verwaltungs- oder Justizbehörde, die mit einem entsprechenden Rechtsstreit befasst ist, festlegt, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2009/72 hierzu freilich keine Angaben enthält.

50      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Mitgliedstaaten jedoch ihre Befugnisse unter Wahrung des Unionsrechts ausüben und dürfen daher die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2009/72 nicht beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteile vom 30. Juni 2005, Candolin u. a., C‑537/03, EU:C:2005:417, Rn. 25 bis 27, und vom 17. Dezember 2015, Szemerey, C‑330/14, EU:C:2015:826, Rn. 42).

51      In Anbetracht der Feststellung in Rn. 48 des vorliegenden Urteils wäre dies der Fall, wenn es der im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens, das die Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zugunsten der Stromverbraucher vorsehen müssen, befassten Verwaltungs- oder Justizbehörde unmöglich wäre, die Höhe einer Vertragsstrafe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu bewerten und gegebenenfalls ihre Herabsetzung oder sogar Aufhebung anzuordnen, falls sich herausstellen sollte, dass diese im Hinblick auf alle den Einzelfall kennzeichnenden Umstände außer Verhältnis zu den Kosten steht, die durch einen Vertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entstanden sind, aber wegen dessen vorzeitiger Kündigung nicht vollständig abgeschrieben worden sind, so dass die Vertragsstrafe praktisch dazu führen würde, dass das Recht des Endkunden, tatsächlich leicht zu einem neuen Lieferanten wechseln zu können, ausgehöhlt und die in den Rn. 45, 46 und 48 des vorliegenden Urteils genannten Ziele der Richtlinie 2009/72 gefährdet würden.

52      Auch wenn diese Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Höhe einer solchen Vertragsstrafe allein Sache der nationalen Behörde ist, die mit einem etwaigen Rechtsstreit befasst ist, ist gleichwohl, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, darauf hinzuweisen, dass für diese Beurteilung u. a. berücksichtigt werden können: die ursprüngliche Dauer des in Rede stehenden Vertrags, die zum Zeitpunkt seiner Kündigung noch verbleibende Laufzeit, die Strommenge, die zur Durchführung dieses Vertrags gekauft wurde, die der Kunde letztlich aber nicht verbrauchen wird, sowie die Mittel, über die ein angemessen sorgfältiger Lieferant verfügt hätte, um etwaige wirtschaftliche Verluste aufgrund dieser vorzeitigen Kündigung zu begrenzen.

53      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht hervor, dass die Republik Polen beabsichtigt hätte, die in Anhang I der Richtlinie 2009/72 aufgeführten Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie zugunsten der Haushaltskunden vorsehen müssen, auf Endkunden, die Nichthaushaltskunden sind, oder auf Kleinunternehmen auszudehnen. Außerdem ergibt sich zwar aus der Vorlageentscheidung, dass die anwendbare nationale Regelung im Wesentlichen vorsieht, dass es den Vertragsparteien freisteht, die Höhe der Vertragsstrafe zu bestimmen, die anwendbar ist, wenn ein Vertragspartner, der Endkunde ist, einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, und dass der vereinbarte Betrag unabhängig von der Höhe des entstandenen Schadens zu zahlen ist. Aus dieser Entscheidung geht jedoch auch hervor, dass es nach Art. 484 § 2 des Zivilgesetzbuchs möglich ist, im Fall eines entsprechenden Rechtsstreits eine Justizbehörde anzurufen und eine Herabsetzung dieser Vertragsstrafe zu beantragen, „wenn ein wesentlicher Teil der Schuld erfüllt worden ist“ oder wenn die Vertragsstrafe „offensichtlich überhöht ist“. Im Übrigen geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten auch nicht hervor, dass die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten anderen Voraussetzungen, deren Einhaltung durch die Richtlinie 2009/72 vorgeschrieben ist, durch das polnische Recht nicht gewährleistet würden. Unter diesen Umständen und vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Überprüfungen und Beurteilungen steht Art. 3 Abs. 5 und 7 dieser Richtlinie der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden auf Endkunden, die Nichthaushaltskunden im Sinne dieser Richtlinie sind, offenbar nicht entgegen.

54      Insoweit ist noch hinzuzufügen, dass selbst dann, wenn das vorlegende Gericht im Rahmen dieser Überprüfungen feststellen sollte, dass die Gesellschaft G, die es als „Kleinunternehmen“ einstuft, die beiden kumulativen, in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2009/72 genannten Voraussetzungen, die eine solche Einstufung nach dieser Richtlinie erlauben, nicht erfüllt, dies auf die Erheblichkeit der im Hinblick auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits gegebenen Antwort keine Auswirkungen hätte; wie sich aus den Erwägungen in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ergibt, gilt diese Antwort nämlich grundsätzlich für alle Endkunden, die Nichthaushaltskunden im Sinne dieser Richtlinie sind, und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist nicht ersichtlich, dass die Gesellschaft G der Einstufung als Nichthaushaltskunde nicht entspräche.

55      Nach alledem ist auf die beiden Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Kleinunternehmen, das einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, zur Zahlung der in diesem Vertrag vereinbarten Vertragsstrafe verpflichtet ist, deren Höhe dem Gesamtpreis für den Strom entsprechen kann, zu dessen Abnahme es sich verpflichtet hat; dies gilt auch dann, wenn dieser Strom nicht verbraucht wurde und nicht verbraucht werden wird, und obwohl diese Regelung keine Kriterien für die Berechnung oder etwaige Herabsetzung einer solchen Vertragsstrafe vorsieht, sofern sie zum einen gewährleistet, dass eine solche vertragliche Bestimmung klar, verständlich und freiwillig vereinbart sein muss, und zum anderen die Möglichkeit eines verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs vorsieht, in dessen Rahmen die befasste Behörde die Verhältnismäßigkeit dieser Vertragsstrafe im Hinblick auf alle Umstände des Einzelfalls beurteilen und gegebenenfalls ihre Herabsetzung oder Aufhebung anordnen kann.

 Kosten

56      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Abs. 5 und 7 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Kleinunternehmen, das einen befristeten Elektrizitätsversorgungsvertrag mit festem Tarif vorzeitig kündigt, um den Lieferanten zu wechseln, zur Zahlung der in diesem Vertrag vereinbarten Vertragsstrafe verpflichtet ist, deren Höhe dem Gesamtpreis für den Strom entsprechen kann, zu dessen Abnahme es sich verpflichtet hat; dies gilt auch dann, wenn dieser Strom nicht verbraucht wurde und nicht verbraucht werden wird, und obwohl diese Regelung keine Kriterien für die Berechnung oder etwaige Herabsetzung einer solchen Vertragsstrafe vorsieht, sofern sie zum einen gewährleistet, dass eine solche vertragliche Bestimmung klar, verständlich und freiwillig vereinbart sein muss, und zum anderen die Möglichkeit eines verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs vorsieht, in dessen Rahmen die befasste Behörde die Verhältnismäßigkeit dieser Vertragsstrafe im Hinblick auf alle Umstände des Einzelfalls beurteilen und gegebenenfalls ihre Herabsetzung oder Aufhebung anordnen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.