Language of document : ECLI:EU:C:2024:12

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C808/21

Europäische Kommission

gegen

Tschechische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Unionsbürgerschaft – Art. 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie für die Angehörigen dieses Staates – Unionsbürger, die in Tschechien wohnen, ohne die tschechische Staatsangehörigkeit zu besitzen – Kein Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei – Kandidatur für die Kommunalwahlen oder die Wahlen zum Europäischen Parlament unter anderen Bedingungen als für Staatsangehörige – Art. 10 EUV – Demokratieprinzip – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 12, 39 und 40 – Rechtfertigung – Art. 4 Abs. 2 EUV“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. AEU-Vertrag

2. Charta

3. Richtlinie 93/109/EG

4. Richtlinie 94/80/EG

B. Tschechisches Recht

1. Parteiengesetz

2. Gesetz über die Wahlen zu den Gemeinderäten

3. Gesetz über die Wahlen zum Europäischen Parlament

III. Vorverfahren

IV. Anträge der Parteien

V. Würdigung

A. Zur von der Tschechischen Republik erhobenen Einrede der Unzulässigkeit

1. Vorbringen der Parteien

2. Beurteilung

B. Zur Begründetheit

1. Zur Grundlage der Vertragsverletzungsklage

a) Vorbringen der Parteien

1) Kommission

2) Tschechische Republik

b) Beurteilung

2. Zum Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung des Wahlrechts

a) Vorbringen der Parteien

1) Kommission

2) Tschechische Republik

b) Beurteilung

3. Zur Rechtfertigung der Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei

a) Vorbringen der Parteien

1) Kommission

2) Tschechische Republik

3) Republik Polen als Streithelferin

b) Beurteilung

VI. Kosten

VII. Ergebnis

VIII. Anhang I: Die von der Kommission vorgelegten Regeln für die Finanzierung der politischen Parteien

IX. Anhang II: Angaben der Tschechischen Republik über die Zusammensetzung der Wahllisten und über die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen gewählten Kandidaten


I.      Einleitung

1.        Mit ihrer auf Art. 22 AEUV gestützten Klage nach Art. 258 AEUV beantragt die Europäische Kommission beim Gerichtshof die Feststellung, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in ihrem Hoheitsgebiet wohnen(2), das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei verwehrt, so dass ihre Chancen, bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gewählt zu werden, geringer sind als die der tschechischen Staatsangehörigen(3).

2.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, warum der Auffassung der Tschechischen Republik, dass sich Art. 22 AEUV auf eine wörtliche Auslegung in dem Sinne zu beschränken habe, dass er nur die gesetzlichen Voraussetzungen der Wählbarkeit regele, nicht gefolgt werden kann, und dass die systematische und teleologische Analyse der sich aus dieser Bestimmung ergebenden Verpflichtungen im Gegenteil zu dem Ergebnis führt, dass die von der Kommission geltend gemachte Rüge einer Beeinträchtigung der tatsächlichen Ausübung des passiven Wahlrechts begründet ist.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      AEU-Vertrag

3.        In Art. 20 AEUV heißt es:

„(1)      Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

(2)      Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

b)      in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;

Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“

4.        Art. 22 AEUV bestimmt:

„(1)      Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.

(2)      Unbeschadet des Artikels 223 Absatz 1 und der Bestimmungen zu dessen Durchführung besitzt jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.“

2.      Charta

5.        Art. 12 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) lautet wie folgt:

„(1)      Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.

(2)      Politische Parteien auf der Ebene der Union tragen dazu bei, den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.“

3.      Richtlinie 93/109/EG

6.        Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen(5), heißt es:

„Artikel 8b Absatz 2 des EG-Vertrags betrifft nur die Möglichkeit der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – unbeschadet der Durchführung von Artikel 138 Absatz 3 des EG-Vertrags, der die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Verfahrens für diese Wahlen vorsieht – und zielt vor allem darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit, an die heute in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung dieser Rechte geknüpft ist, aufzuheben.“

7.        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausüben können.“

4.      Richtlinie 94/80/EG

8.        Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen(6), heißt es:

„Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats sind, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises die gleichen Bedingungen gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten. Die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, dürfen keinen besonderen Voraussetzungen unterworfen sein, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Staatsangehörigen wäre durch besondere Umstände letzterer gerechtfertigt, die sie von den ersteren unterscheiden.“

9.        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen ausüben können.“

B.      Tschechisches Recht

1.      Parteiengesetz

10.      § 1 Abs. 1 des Zákon č. 424/1991 Sb., o sdružování v politických stranách a v politických hnutích (Gesetz Nr. 424/1991 über die Vereinigung in politischen Parteien und politischen Bewegungen) vom 2. Oktober 1991 in geänderter Fassung(7) sieht vor:

„Die Bürger haben das Recht, sich in politischen Parteien und politischen Bewegungen (im Folgenden: ‚Parteien und Bewegungen‘) zusammenzuschließen. Die Ausübung dieses Rechts ermöglicht es den Bürgern, am politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen, insbesondere an der Bildung der Gesetzgebungsorgane und der Organe der regionalen und örtlichen Gebietskörperschaften …“

11.      § 2 Abs. 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„Jeder Bürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann Mitglied einer Partei oder Bewegung sein, aber nur einer Partei oder Bewegung angehören.“

2.      Gesetz über die Wahlen zu den Gemeinderäten

12.      § 20 Abs. 1 des Zákon č. 491/2001 Sb., o volbách do zastupitelstev obcí a o změně některých zákonů (Gesetz Nr. 491/2001 über die Wahlen zu den Gemeinderäten und zur Änderung bestimmter Gesetze) vom 6. Dezember 2001 in geänderter Fassung(8) bestimmt:

„Eingetragene politische Parteien und politische Bewegungen, deren Tätigkeit nicht ausgesetzt wurde …, deren Koalitionen sowie unabhängige Kandidaten, Vereinigungen unabhängiger Kandidaten oder Vereinigungen politischer Parteien oder politischer Bewegungen und unabhängiger Kandidaten können eine Wahlpartei im Sinne dieses Gesetzes sein.“

3.      Gesetz über die Wahlen zum Europäischen Parlament

13.      § 21 Abs. 1 des Zákon č. 62/2003 Sb., o volbách do Evropského parlamentu a o změně některých zákonů (Gesetz Nr. 62/2003 über die Wahlen zum Europäischen Parlament und zur Änderung bestimmter Gesetze)(9) vom 18. Februar 2003 bestimmt:

„Kandidatenlisten für die Wahlen zum Europäischen Parlament können von eingetragenen politischen Parteien und Bewegungen, deren Tätigkeiten nicht ausgesetzt wurde …, sowie von ihren Koalitionen eingereicht werden. …“

14.      In § 22 Abs. 2 und 3 dieses Gesetzes heißt es:

„(2)      Der Kandidatenliste sind ein Nachweis über die Staatsangehörigkeit des Kandidaten und eine vom Kandidaten unterzeichnete Erklärung beizufügen, dass er seiner Kandidatur zustimmt, dass ihm keine Hindernisse für seine Wählbarkeit bekannt sind, dass diese Hindernisse gegebenenfalls am Tag der Wahl zum Europäischen Parlament nicht mehr bestehen, und dass er nicht darin eingewilligt hat, auf einer anderen Kandidatenliste für die Wahlen zum Europäischen Parlament geführt zu werden, und zwar auch in keinem anderen Mitgliedstaat. Der Kandidat gibt in seiner Erklärung auch seinen ständigen Wohnsitz oder, wenn es sich um einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats handelt, seinen Aufenthaltsort und sein Geburtsdatum an. Die Erklärung des Kandidaten kann gemäß § 4 in tschechischer Sprache oder in einer der Arbeitssprachen der … Union abgefasst werden.

(3)      Ist der Kandidat Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, hat er in seiner Erklärung zusätzlich zu den in Absatz 2 genannten Angaben den Geburtsort und die Anschrift seines letzten Aufenthaltsorts in seinem Herkunftsmitgliedstaat anzugeben, eine Erklärung beizufügen, in der er angibt, dass ihm in seinem Herkunftsmitgliedstaat das passive Wahlrecht nicht entzogen wurde, und der Kandidatenliste die in Absatz 2 Satz 1 genannten Unterlagen beizufügen.“

III. Vorverfahren

15.      Im Jahr 2010 prüfte die Kommission im Rahmen des EU-Pilot-Systems 1300/10/JUST, ob es mit Art. 22 AEUV vereinbar ist, das Recht, Mitglied einer politischen Partei zu sein, allein auf tschechische Staatsangehörige zu beschränken.

16.      Da die von der Tschechischen Republik vorgelegten Informationen den von der Kommission gehegten Verdacht eines Verstoßes dieses Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV nicht ausgeräumt hatten, richtete diese am 22. November 2012 ein Aufforderungsschreiben an die Tschechische Republik. In seiner Stellungnahme vom 22. Januar 2013 bestritt dieser Mitgliedstaat jeden Verstoß gegen das Unionsrecht, da er mit der Auslegung dieses Artikels und insbesondere des darin enthaltenen Ausdrucks „dieselben Bedingungen“ nicht einverstanden sei. Er machte geltend, dass dieser Artikel die Mitgliedstaaten nicht verpflichte, den Bürgern anderer Mitgliedstaaten zu gestatten, Mitglieder politischer Parteien zu werden und politische Parteien zu gründen.

17.      Am 22. April 2014 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, dass sie „mobilen“ Unionsbürgern das Recht, eine politische Partei oder eine politische Bewegung zu gründen, und das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung verwehre.

18.      In ihrer Antwort vom 20. Juni 2014 teilte die Tschechische Republik mit, dass die von ihr ergriffenen Maßnahmen als verhältnismäßig und daher mit dem Unionsrecht vereinbar anzusehen seien.

19.      Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 forderte der Europäische Justizkommissar die Tschechische Republik auf, ihn über eine mögliche Änderung ihres Standpunkts oder über Gesetzesänderungen zu informieren, die angenommen wurden, um diesen „mobilen“ Unionsbürgern die in Rede stehenden Rechte zu garantieren.

20.      Da die Kommission auf dieses Schreiben keine Antwort erhielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben und deren Gegenstand auf die Regelung beschränkt, die die Mitgliedschaft in einer politischen Partei tschechischen Staatsangehörigen vorbehält. Die Kommission hat klargestellt, dass sie sich die Möglichkeit vorbehalte, die in den früheren Phasen des Verfahrens aufgeworfene Frage der Gründung einer politischen Partei durch „mobile“ Unionsbürger im Rahmen eines gesonderten Verfahrens aufzugreifen.

IV.    Anträge der Parteien

21.      Mit ihrer Klage beantragt die Kommission,

–        festzustellen, dass [dieser Mitgliedstaat] „dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 22 [AEUV] verstoßen hat, dass er Unionsbürgern, die keine tschechischen Staatsangehörigen sind, aber ihren Wohnsitz in der Tschechischen Republik haben, das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder in einer politischen Bewegung[(10)] verwehrt“, und

–        der Tschechischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

22.      Die Tschechische Republik beantragt, die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet, abzuweisen. Ferner beantragt sie, der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

23.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Mai 2022 ist die Republik Polen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Tschechischen Republik zugelassen worden.

24.      Zu diesem Zweck hat die Republik Polen in ihrem Streithilfeschriftsatz zur Ausübung der in Art. 22 AEUV genannten Rechte zu den Wahlrechten der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen nach tschechischem Recht sowie zu den aus Art. 22 AEUV und der „Mitgliedschaft“ in einer politischen Partei abgeleiteten Befugnissen Stellung genommen.

25.      Die Kommission schließt ihre Stellungnahme zu diesen drei Gruppen von Argumenten mit der Erklärung ab, dass sie die in ihrer Klageschrift gestellten Anträge aufrecht erhalte.

V.      Würdigung

26.      Zur Begründung ihrer gegen die Tschechische Republik erhobenen und auf Art. 22 AEUV gestützten Vertragsverletzungsklage, die sich auf die nationale Regelung bezieht, die das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei allein tschechischen Staatsangehörigen einräumt, trägt die Kommission vor, dass dieser Mitgliedstaat gegen diese Bestimmung verstoße, indem er das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht beachte, das ihn verpflichte, den „mobilen“ Unionsbürgern das Recht zu garantieren, bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen zu kandidieren, wie sie für seine Staatsangehörigen gälten.

27.      Sie unterstreicht die Bedeutung der Möglichkeit, während der Wahlen Mitglied einer Partei zu sein, und macht insbesondere geltend, dass nach Art. 12 Abs. 2 der Charta die politischen Parteien auf Unionsebene dazu beitrügen, den politischen Willen der Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.

A.      Zur von der Tschechischen Republik erhobenen Einrede der Unzulässigkeit

1.      Vorbringen der Parteien

28.      Die Tschechische Republik macht geltend, dass die Kommission ihre Klage zwar formal auf Art. 22 AEUV stütze, in ihrer Klageschrift aber auch auf einen Verstoß gegen verschiedene andere Bestimmungen des Unionsrechts abstelle.

29.      Sie ist der Ansicht, dass die Kommission, da sich aus Art. 22 AEUV – der sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(11) darauf beschränke, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf das aktive und das passive Wahlrecht anzuwenden – keine Argumente entnehmen ließen, in Wirklichkeit, soweit es um das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei gehe, einen Verstoß gegen dieses in Art. 18 AEUV niedergelegte Verbot und einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 der Charta geltend gemacht habe.

30.      Unter diesen Umständen sei die Grundlage der Klage nicht nachvollziehbar und unterscheide sich von der Grundlage, die im Rahmen der vorprozessualen Phase des Verfahrens behandelt worden sei. Dies setze den Gerichtshof der Gefahr aus, ultra petita zu entscheiden.

31.      Nach Ansicht der Kommission geht sowohl aus ihrer Klageschrift als auch aus ihren Klageanträgen klar hervor, dass das tschechische Gesetz, das das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei nur tschechischen Staatsangehörigen einräume, mit Art. 22 AEUV unvereinbar sei und dass sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs andere Normen des Primärrechts, insbesondere die Bestimmungen der Charta, zu berücksichtigen habe, um dem rechtlichen Kontext der aus den Verträgen abgeleiteten Bestimmungen sowie der Grundrechte Rechnung zu tragen(12).

2.      Beurteilung

32.      Die Tschechische Republik ist der Ansicht, dass sich aus der Begründung der Klageschrift verschiedene Klagegründe ergäben, die im Widerspruch zu den Klageanträgen stünden.

33.      Der Gerichtshof entscheidet in ständiger Rechtsprechung(13), dass

–        nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und seiner dazu ergangenen Rechtsprechung die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten muss. Diese Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe zu ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht, und

–        eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt.

34.      Im vorliegenden Fall geht aus der Begründung der Klageschrift eindeutig und in Übereinstimmung mit der mit Gründen versehenen Stellungnahme hervor, dass Art. 22 AEUV, auf den sie gestützt ist, in der Weise auszulegen ist, dass er in seinen Kontext gestellt wird und seine Verbindungen zur Charta, insbesondere zu deren Art. 12 Abs. 1, zu berücksichtigen sind.

35.      In diesem Zusammenhang hat die Kommission geltend gemacht, dass angesichts der zentralen und grundlegenden Rolle, die die politischen Parteien in den Wahlsystemen der Mitgliedstaaten und bei der Teilnahme am politischen Leben spielten, nicht davon ausgegangen werden könne, dass ein Unionsbürger bei den Wahlen in seinem Wohnsitzstaat unter den denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Staates kandidieren könne, wenn er in diesem Staat nicht als Mitglied einer politischen Partei auftreten könne, da sich diese Situation negativ auf seine Chancen auswirke, gewählt zu werden.

36.      Daraus folgt somit nicht, dass ein Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 der Charta geltend gemacht wird(14).

37.      Außerdem scheint die von der Tschechischen Republik geltend gemachte Unklarheit mit ihrer eigenen Analyse der Grundlage der geltend gemachten Vertragsverletzung zusammenzuhängen, bei der es sich nach Ansicht der Tschechischen Republik um Art. 18 AEUV handeln soll. Es handelt sich somit um ein Verteidigungsmittel, das dieser Staat sachgerecht geltend machen konnte und das in der Sache und nicht im Stadium der Zulässigkeit der Klage zu prüfen ist.

38.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, diese Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

B.      Zur Begründetheit

1.      Zur Grundlage der Vertragsverletzungsklage

a)      Vorbringen der Parteien

1)      Kommission

39.      Die Kommission weist darauf hin, dass Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV ausdrücklich verlangten, dass die „mobilen“ Unionsbürger bei den Kommunalwahlen oder den Wahlen zum Europäischen Parlament unter „d[en]selben Bedingungen“(15) wie Inländer auftreten könnten. Sie räumt ein, dass Art. 22 AEUV nicht die verschiedenen konkreten Modalitäten festlegt, nach denen die Gleichbehandlung zu gewährleisten ist, vertritt aber die Ansicht, dass diese Bestimmung ein allgemeines und umfassendes Gebot der Gleichbehandlung aufstelle. Dieses Gebot verpflichte die Mitgliedstaaten, in Ermangelung einer abschließenden Liste von Anforderungen, zu denen auch die Möglichkeit der Mitgliedschaft in einer politischen Partei gehöre, dafür zu sorgen, dass die bestehenden Vorschriften es den Unionsbürgern ermöglichten, bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie ihre eigenen Staatsangehörigen zu wählen und zu kandidieren.

40.      Um festzustellen, ob diese Verpflichtung tatsächlich erfüllt sei, müsse daher geprüft werden, ob in einem Mitgliedstaat rechtliche oder tatsächliche Hindernisse bestünden, die es den „mobilen“ Unionsbürgern unmöglich machten oder erschwerten, auf eine der nach nationalem Recht formal verfügbaren Formen der Kandidatur zurückzugreifen(16).

41.      Die Kommission stützt sich auch auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach zum einen die Mitgliedstaaten, obwohl es derzeit ihre Sache sei, die auf Unionsebene nicht harmonisierten Aspekte der Wahlen zum Europäischen Parlament zu regeln, dabei das Unionsrecht beachten müssten(17). Zum anderen könne eine nationale Maßnahme, die geeignet sei, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten einzuschränken, im Hinblick auf das Unionsrecht nur dann mit Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, wenn diese Maßnahme mit den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten vereinbar sei(18).

42.      Insoweit macht sie geltend, dass die Einschränkungen der Ausübung des Rechts, eine politische Partei zu gründen, und des Rechts auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei eindeutig Einschränkungen des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit darstellten, das in Art. 12 Abs. 1 der Charta verankert sei, dessen Wortlaut Art. 11 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(19) entspreche.

43.      Angesichts der zentralen und grundlegenden Rolle, die die politischen Parteien in den Wahlsystemen der Mitgliedstaaten spielten, könne nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass ein Unionsbürger bei den Wahlen in seinem Wohnsitzstaat unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Staates kandidieren könne, wenn er in diesem Staat nicht als Mitglied einer politischen Partei kandidieren könne.

44.      So macht sie geltend, dass

–        die politischen Parteien in allen Mitgliedstaaten nach wie vor eine wesentliche Form der Teilnahme am politischen Leben und das am häufigsten verwendete Instrument seien, um als Kandidat an Wahlen teilzunehmen, und

–        folglich die Bedeutung der politischen Parteien in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(20) anerkannt und in den von der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) herausgegebenen Guidelines on Political Party Regulation (Leitlinien zur Regulierung der politischen Parteien)(21) hervorgehoben worden sei.

45.      Die Kommission fügt hinzu, dass die in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Gründe, die eine Einschränkung der Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit rechtfertigen könnten und auf die nach Art. 52 Abs. 3 der Charta Bezug zu nehmen sei, im vorliegenden Fall offensichtlich nicht anwendbar seien.

46.      Auf das Vorbringen zur begrenzten Tragweite von Art. 22 AEUV im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für politische Tätigkeiten(22) entgegnet die Kommission erstens, dass der Anwendungsbereich der Richtlinien 93/109 und 94/80, die verwaltungs- oder verfahrensrechtliche Fragen der in Rede stehenden Wahlrechte regelten, die Tragweite des aus Art. 22 AEUV folgenden Verbots jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht ausschöpfe. Dieser Anwendungsbereich könne nicht als Grundlage oder Anlass für eine restriktive Auslegung der Tragweite des Primärrechts dienen(23). Abgesehen davon würde zum einen eine solche Argumentation dazu führen, dass Diskriminierungen, die andere Regelungen wie die über den Wahlkampf – z. B. in Bezug auf Versammlungen oder Wahlplakate – beträfen, zugelassen werden müssten. Zum anderen könne die Tschechische Republik aus dem Urteil Eman und Sevinger(24) nicht ableiten, dass Art. 22 AEUV die Wahlrechte der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zum Gegenstand habe.

47.      Zweitens widerspricht die Kommission der Auffassung, dass eine Beschränkung der politischen Tätigkeit der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten nach Art. 16 EMRK zulässig sein könne(25), und macht geltend, dass nunmehr der Begriff „Unionsbürgerschaft“ und die damit verbundenen Rechte zu berücksichtigen seien. Sie weist insoweit darauf hin, dass sie nicht in Abrede stelle, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen erlassen könnten, um die Teilnahme der „mobilen“ Unionsbürger an den nationalen Parlamentswahlen zu begrenzen, betont jedoch, dass die Tragweite der erlassenen Maßnahmen nicht so weit gehen dürfe, dass die Gleichheit der Bedingungen für die Teilnahme dieser Bürger an den Kommunalwahlen und an den Wahlen zum Europäischen Parlament beeinträchtigt würde. Sie weist auch darauf hin, dass außer der Tschechischen Republik und einem weiteren Mitgliedstaat kein Mitgliedstaat eine solche Beschränkung vorsehe.

48.      Was drittens den verfassungsrechtlichen Aspekt der Beschränkung der Mitgliedschaft in politischen Parteien aufgrund ihrer Bedeutung auf nationaler Ebene angehe, den die Tschechische Republik mit ihrem Verweis auf das Urteil des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik)(26) rechtfertige, weist die Kommission darauf hin, dass es in Rn. 9 dieses Urteils ausdrücklich heiße, dass Gegenstand des Verfahrens die Entscheidung gewesen sei, die Satzung dieser Partei zu ändern, und nicht „der behauptete Eingriff in die Rechte von Unionsbürgern in Bezug auf die Bedingungen ihrer Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament und an den Kommunalwahlen“. Zur Auslegung der Listina základních práv a svobod (Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten), die Teil der tschechischen Verfassungsordnung ist, durch den Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht), wonach die Mitgliedschaft von Personen, die keine tschechischen Staatsbürger seien, untersagt sei, weist die Kommission außerdem darauf hin, dass der Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik) zu einer solchen Auslegung noch nicht Stellung genommen habe und dass sie Gegenstand unterschiedlicher Rechtsauffassungen sei(27).

2)      Tschechische Republik

49.      Nach Auffassung dieses Mitgliedstaats erfasst Art. 22 AEUV nicht die Frage der Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Er stützt sich dabei erstens auf die Entstehungsgeschichte und die Beständigkeit des Inhalts dieser Bestimmung(28). Seit ihrer erstmaligen Aufnahme in das Primärrecht in Art. 8b EG in der durch den Vertrag von Maastricht geänderten Fassung bis zum Vertrag von Lissabon, durch den sie in Art. 22 AEUV aufgenommen worden sei, seien die Wahlrechte der „mobilen“ Unionsbürger wortgleich formuliert.

50.      Zweitens macht die Tschechische Republik geltend, dass sich ihre Auslegung aus dem Wortlaut von Art. 22 AEUV und der in den Erwägungsgründen der Richtlinien 93/109 und 94/80 unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten Absicht des Unionsgesetzgebers ergebe(29). Ziel sei es, alle Staatsangehörigkeitserfordernisse für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts abzuschaffen, ohne dass andere Aspekte betroffen seien, darunter die Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei(30). Darüber hinaus habe dieser Gesetzgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in diesem Bereich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen sei.

51.      Drittens macht die Tschechische Republik geltend, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 22 AEUV klargestellt habe, dass das in Rede stehende aktive und passive Wahlrecht „vorbehaltlich der Einzelheiten …, die vom Rat … festgelegt werden“, ausgeübt werde(31). Dabei handele es sich jedoch genau um die Einzelheiten der Richtlinien 93/109 und 94/80, die in keiner Weise andeuteten, dass das in Art. 22 AEUV verankerte Recht irgendeine Auswirkung auf die Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei haben könnte.

52.      Viertens stehe der in dieser Weise begrenzte Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV und der Durchführungsvorschriften der Union in vollem Umfang im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 EUV(32), wonach die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achte, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme. Die Regelung über die Arbeitsweise der politischen Parteien sei aber der Eckpfeiler dieser Strukturen(33) und Art. 16 EMRK erkenne ebenfalls an, dass die Vertragsparteien die politische Tätigkeit ausländischer Personen beschränken könnten. Art. 22 AEUV stelle in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, die keine weite Auslegung in dem Sinne zulasse, dass sie jede politische Tätigkeit umfasse(34). Der Hinweis der Kommission auf die Zahl der Mitgliedstaaten, die einen solchen Standpunkt nicht eingenommen hätten, sei ohne Belang.

53.      Außerdem ergebe sich aus der von der Kommission angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass politische Parteien für die Wahlen auf nationaler Ebene von grundlegender Bedeutung seien. Auf diese Ebene finde das Unionsrecht aber keine Anwendung, wie die Kommission anerkenne.

54.      Schließlich stehe das Recht der Mitgliedstaaten, die Mitwirkung an der für die nationale politische Tätigkeit entscheidenden Plattform, d. h. den politischen Parteien, ihren Staatsangehörigen vorzubehalten, in unmittelbarem Zusammenhang mit der von der Kommission anerkannten Möglichkeit, die Kandidaturen bei den Wahlen des gesetzgebenden Organs zu beschränken, sowie mit der Möglichkeit, die „mobilen“ Unionsbürger gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 94/80 von den Ämtern der Exekutivorgane der Gemeinden auszuschließen.

55.      In ihrer Gegenerwiderung ergänzt die Tschechische Republik ihre Argumentation, wonach die materielle Rechtsgrundlage der vorliegenden Klage Art. 18 AEUV sein sollte(35). Zum einen leitet sie aus dem Urteil Eman und Sevinger(36) ab, dass dieser Artikel auf Fragen anwendbar sei, die unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit unter das Unionsrecht fielen, wie z. B. die Wahlwerbung.

56.      Zum anderen ist die Tschechische Republik der Ansicht, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Frage, ob von den Bestimmungen des Unionsrechts diejenige anwendbar sei, die das allgemeine Diskriminierungsverbot aufstelle, oder ob die besonderen Bestimmungen des Primärrechts anzuwenden seien, entscheidend darauf ankomme, ob die betroffene Person einen „Status“(37) erworben habe, der in einer besonderen Bestimmung vorgesehen sei(38), wie u. a. den Status eines Arbeitnehmers im Sinne von Art. 45 AEUV oder den einer im Sinne von Art. 49 AEUV niedergelassenen Person.

57.      Folglich sei Art. 22 AEUV auf einen „mobilen“ Unionsbürger nur dann anwendbar, wenn dieser den Status eines Wählers oder eines Kandidaten für eine Wahl erhalte. Der Status eines Kandidaten könne nicht von der Mitgliedschaft in einer politischen Partei abhängen, weil diese nicht gewährleiste, dass der Betroffene in eine Kandidatenliste aufgenommen werde(39).

b)      Beurteilung

58.      Die vorliegende Klage betrifft die Folgen, die sich für das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament aus dem Recht ergeben, Mitglied einer politischen Partei zu sein, was das tschechische Recht „mobilen“ Unionsbürgern verwehrt. Hat dieses Verbot zur Folge, wie die Kommission geltend macht, dass diese Bürger ihr passives Wahlrecht bei diesen Wahlen nicht im Sinne von Art. 22 AEUV „unter denselben Bedingungen“ ausüben wie tschechische Staatsangehörige?

59.      Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts fällt die Mitgliedschaft in einer politischen Partei in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen beachten müssen(40).

60.      Daher ist zu prüfen, welche Anforderungen sich aus Art. 22 AEUV ergeben, auf den sich die Kommission beruft.

61.      Gemäß dem Wortlaut von Art. 22 AEUV beschränkt sich dessen Anwendungsbereich auf die von ihm erfassten Wahlen, d. h. auf die Kommunalwahlen (Abs. 1) und auf die Wahlen zum Europäischen Parlament (Abs. 2), was somit nationale Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen ausschließt.

62.      Mit der vorliegenden Klage wird der Gerichtshof um Klärung gebeten, ob der Gleichheitsgrundsatz, den Art. 22 AEUV aufstellt, so zu verstehen ist, dass er sämtliche Bedingungen umfasst, unter denen jeder „mobile“ Unionsbürger bei Wahlen kandidieren kann, oder ob er sich nur auf die gesetzlichen Voraussetzungen des passiven Wahlrechts bezieht.

63.      Es geht mithin darum, den Handlungsspielraum zu bestimmen, der den Mitgliedstaaten in Anbetracht des Umstands verbleibt, dass die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament(41) sowie bei den Kommunalwahlen in den Richtlinien 93/109 bzw. 94/80 festgelegt sind.

64.      Das auf eine wörtliche Auslegung von Art. 22 AEUV gestützte Vorbringen der Tschechischen Republik, wonach diese Richtlinien den in dieser Bestimmung genannten Gleichheitsgrundsatz einschränkten, ist von vornherein aus dem von der Kommission zu Recht angeführten Grund der Normenhierarchie zurückzuweisen, wonach das abgeleitete Recht ein vom Vertrag anerkanntes Recht nicht einschränken kann(42).

65.      Diese Richtlinien legen somit nur einen Mindestrahmen fest, in dem der Gleichheitsgrundsatz für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts konkretisiert wird(43).

66.      Vor allem aber zeigen die Entstehungsgeschichte von Art. 22 AEUV und die Entwicklung des Rechtsrahmens, in den der Inhalt dieser Bestimmung eingebettet ist, seit dem Vertrag von Lissabon sehr deutlich, dass diese Bestimmung unter Berücksichtigung der beiden Säulen, auf denen sie beruht, nämlich der Unionsbürgerschaft und der repräsentativen Demokratie, ausgelegt werden muss.

67.      Was als Erstes die Unionsbürgerschaft betrifft, beruft sich die Kommission zu Recht auf die Anwendung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV, wonach die Unionsbürgerschaft(44) neben anderen Rechten auch das Recht verleiht, im Wohnsitzmitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen auszuüben wie die Angehörigen dieses Staates.

68.      Dieser Zusammenhang mit den Bürgerrechten ist seit dem am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht im Primärrecht enthalten(45). Von Anfang an knüpft er an das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(46), und an den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit an, der Bestandteil jeder Freizügigkeit ist.

69.      Dieser Zusammenhang hat jedoch infolge der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Änderungen, die auf dem Willen der Mitgliedstaaten beruhen, der insbesondere darauf abzielt, der Unionsbürgerschaft einen herausragenden Platz einzuräumen, eine besondere Dimension erhalten. Zum einen wurde der EU-Vertrag nämlich um einen Titel II („Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“) ergänzt, der Art. 9 enthält, in dem es heißt: „Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“ Die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte sind in den Art. 20 bis 24 AEUV niedergelegt, die den Art. 17 bis 21 EG entsprechen. Die Rechte der „mobilen“ Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen sind in Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV festgelegt.

70.      Zum anderen ist jedes dieser Rechte auch in Titel V („Bürgerrechte“) der Charta(47) enthalten. Die Rechte der „mobilen“ Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen sind in den Art. 39(48) und 40(49) in allgemeiner Form verankert.

71.      Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon müssen die in Art. 22 AEUV verankerten Wahlrechte der Unionsbürger folglich als Grundrechte und als Ausdruck des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der zum grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten gehört, analysiert werden(50).

72.      Ihre Wiederholung im EU-Vertrag und in der Charta soll auch Verbindungen zu anderen dort genannten Rechten oder Grundsätzen wie der Gleichheit und der Demokratie herstellen, bei denen es sich um Werte handelt, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind und auf die sich die Union gründet(51).

73.      Was als Zweites die demokratischen Grundsätze betrifft, bestimmt Art. 10 Abs. 1 EUV seit dem Vertrag von Lissabon, dass „[d]ie Arbeitsweise der Union… auf der repräsentativen Demokratie [beruht]“(52), und Art. 10 Abs. 2 und 3 EUV erkennt das Recht der europäischen Bürgerinnen und Bürger an, unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten zu sein und am demokratischen Leben der Union teilzunehmen.

74.      Somit wird aufgrund der im Vertrag von Lissabon zumindest für die Wahlen zum Europäischen Parlament vorgenommenen Verknüpfung des mit der Unionsbürgerschaft verbundenen aktiven und passiven Wahlrechts mit den demokratischen Grundsätzen innerhalb der Union das Ziel, eine tatsächliche Repräsentativität der „mobilen“ Unionsbürger zu gewährleisten, klar zum Ausdruck gebracht.

75.      Die Kommission macht zu Recht geltend, dass diese Repräsentativität die logische Folge der Integration der „mobilen“ Unionsbürger in ihrem Wohnsitzstaat ist, wie in den Erwägungsgründen der Richtlinien 93/109 und 94/80 hervorgehoben wird(53).  Insbesondere auf lokaler Ebene sollen die politischen Rechte, die diesen Bürgern zuerkannt werden, die soziale Eingliederung dieser Bürger fördern, die sich für einen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat entschieden haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch auf das in diesen Erwägungsgründen genannte Ziel hinzuweisen, „jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden“.

76.      Meines Erachtens kann die Kommission daher auf der Grundlage von Art. 22 AEUV, der in den Kontext der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und der in den Verträgen verankerten demokratischen Grundsätze gestellt wird, zu Recht geltend machen, dass die Gewährleistung gleicher Wahlrechte für Unionsbürger – ohne dass es einer als Hinweis dienenden oder gar erschöpfenden Liste von Kriterien bedarf – in der allgemeinen Verpflichtung zum Ausdruck kommen muss, nicht durch verschiedene Faktoren von der Teilnahme an Wahlen abzuschrecken(54).

77.      Art. 22 AEUV ist mit anderen Worten dahin zu verstehen, dass jedes auf der Staatsangehörigkeit beruhende und über den durch die Richtlinien 93/109 und 94/80 festgelegten Rahmen hinausgehende Hindernis für die Ausübung des Wahlrechts eine Diskriminierung im Anwendungsbereich der Verträge darstellt(55), die verboten ist.

78.      Da die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen anhand dieser spezifischen Nichtdiskriminierungsregeln des AEU-Vertrags zu prüfen sind, ist Art. 18 AEUV, auf den sich die Tschechische Republik beruft, nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht anwendbar(56). Darüber hinaus braucht für die Zwecke der Umsetzung der Bestimmungen von Art. 22 AEUV nicht nach einem besonderen „Status“ gesucht zu werden, da sich die Gleichberechtigung in Bezug auf Wahlen aus dem Unionsbürgerstatus ergibt(57).

79.      Unter diesen Umständen ist nunmehr die Analyse der Kommission zu prüfen, wonach die Unmöglichkeit, Mitglied einer politischen Partei zu sein, die Ausübung dieser Rechte beeinträchtigen kann.

80.      Im vorliegenden Fall sind sich die Beteiligten darüber einig, dass die Chancen, ein Wahlamt auf lokaler oder auf europäischer Ebene zu erringen, vom Grad der Teilhabe am demokratischen Leben des Mitgliedstaats abhängen, in dem die „mobilen“ Unionsbürger kandidieren, sei es innerhalb einer Partei oder als unabhängige Kandidaten.

81.      Gleichwohl bin ich – ebenso wie die Kommission, die sich auf die von der Republik Polen nicht beanstandeten Leitlinien der Venedig-Kommission(58) stützt – der Auffassung, dass der Zugang zu den Mitteln, über die die politischen Parteien verfügen, ein wesentliches Element zur Förderung der Kandidaturen(59) bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament darstellt.

82.      Darüber hinaus kommt der Rolle der politischen Parteien bei der Ausübung der politischen Rechte in den Mitgliedstaaten, wie die Kommission unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geltend gemacht hat, entscheidende Bedeutung zu(60). Auf der Ebene der Union wird diese Rolle in Art. 10 Abs. 4 EUV(61), dem Art. 12 Abs. 2 der Charta entspricht, eindeutig anerkannt(62).

83.      Zwischen diesem Artikel der Charta und ihren Art. 39 und 40 besteht nämlich eine offenkundige Verbindung(63). Unter diesen Umständen und aus den bereits dargelegten Gründen(64) sowie unter strikter Einhaltung des in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatzes der der begrenzten Einzelermächtigung muss jeder Mitgliedstaat diesen Bestimmungen Rechnung tragen, um die Ausübung der durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte zu gewährleisten.

84.      Daher teile ich die Auffassung der Kommission, dass ihre auf Art. 22 AEUV gestützte Klage im Hinblick auf das in Art. 12 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Vereinigungsfreiheit in Verbindung mit Art. 11 der Charta(65), der sich auf die Freiheit der Meinungsäußerung bezieht, beurteilt werden muss. Diese Freiheiten sind aufgrund ihrer überragenden Rolle bei der Beteiligung der Bürger an der Demokratie besonders geschützt(66). In Art. 12 Abs. 2 der Charta wird diese Verbindung in Bezug auf die europäischen politischen Parteien zum Ausdruck gebracht.

85.      Dieses Recht auf Vereinigungsfreiheit entspricht dem in Art. 11 Abs. 1 EMRK garantierten Recht, so dass ihm gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Letzterem zuzuerkennen ist(67).

86.      Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft dar, weil es den Bürgern ermöglicht, in Bereichen von gemeinsamem Interesse gemeinsam zu handeln und dadurch zum ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen(68).

87.      Daher ist auch im Licht dieser Bestimmungen des EU-Vertrags und der Charta zu prüfen, ob, wie die Kommission geltend macht, die rechtliche Unmöglichkeit für „mobile“ Unionsbürger, Mitglied einer politischen Partei in der Tschechischen Republik zu sein, die Gleichheit der Bedingungen ihres passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament mit den für tschechische Staatsangehörige geltenden Bedingungen beeinträchtigt, insbesondere weil dadurch ihre Chancen, gewählt zu werden, erheblich verringert werden.

2.      Zum Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung des Wahlrechts

a)      Vorbringen der Parteien

1)      Kommission

88.      Konkret weist die Kommission auf drei Arten von Vorteilen hin, die die Mitgliedschaft in einer politischen Partei für die Kandidatur bei Wahlen biete.

89.      Erstens könnten die Kandidaten, die Mitglieder einer etablierten politischen Partei seien, von der Tradition, dem Ansehen und den sozioorganisatorischen Strukturen profitieren, die mit dieser Partei verbunden seien. Die Kommission betont, dass auch ohne Verbindung zu einer Einzelperson allein der Name der Partei ausreiche, um bestimmte politische Werte oder Ansätze zu kennzeichnen.

90.      Zweitens könnten diese Kandidaten den Wahlapparat und die Ressourcen der politischen Parteien nutzen. So unterstützten die Parteien die für die Wahlen nominierten Kandidaten durch ihre Erfahrung, ihre Infrastruktur und ihre besonderen operativen Verfahren (z. B. Netzwerke, Medien und Kommunikationssysteme).

91.      Drittens genössen politische Parteien, da sie anerkannte politische Akteure seien, nach nationalem Recht häufig besondere Vorrechte wie finanzielle Vorteile, eine steuerliche Sonderregelung und einen Zugang zu den Medien. In Bezug auf die Finanzierung in der Tschechischen Republik beruft sich die Kommission auf mehrere die Parteien betreffende Bestimmungen(69).

92.      Im Gegensatz zu Bürgern, die Mitglieder etablierter politischer Parteien seien, müssten „mobile“ Unionsbürger, die in der Tschechischen Republik gezwungen seien, sich als unabhängige Kandidaten zur Wahl zu stellen, folglich ihre eigene politische Identität schaffen und durchsetzen sowie ihre eigene Organisation aufbauen, um eine Wahlkampagne durchzuführen, und zwar ohne besonders privilegierten Zugang zu Finanzmitteln und Medien.

93.      Darüber hinaus weist die Kommission auf mehrere Schwierigkeiten für die unabhängigen Kandidaten in Bezug auf die Kandidatenlisten hin. Sie präzisiert, dass bei den Kommunalwahlen nur diese Kandidaten eine Liste mit Unterschriften der Wähler, die ihre Kandidatur unterstützten, einreichen müssten. Die Anzahl dieser Unterschriften sei von der Größe der Gemeinde abhängig, in der sich der Kandidat zur Wahl stelle(70).

94.      Es sei auch unbestreitbar, dass die unabhängigen Kandidaten, was ihre Aufnahme in die Liste einer politischen Partei betreffe, im Verhältnis zu den Kandidaten, die Mitglieder dieser Partei seien, eine schwache Position hätten, weil sie auf die Entscheidung dieser Partei über ihre Aufnahme in die Kandidatenliste und über ihren Listenplatz angewiesen seien, ohne auf diese Entscheidung irgendeinen Einfluss innerhalb dieser Partei nehmen zu können.

95.      Die Kommission macht ferner geltend, es müsse berücksichtigt werden, dass auf den Kandidatenlisten und Stimmzetteln angegeben sei, dass sich eine Person als unabhängiger Kandidat oder „parteilose Person“ über der Liste einer politischen Partei zur Wahl stelle. Unter diesen Umständen sei bei der Wahl von Prioritäten oder politischen Leitlinien die Glaubwürdigkeit der unabhängigen Kandidaten geringer als die eines Parteimitglieds, das sich gegenüber seinen Wählern auf seine aktive Rolle innerhalb seiner Partei berufen könne(71).

96.      Schließlich verweist die Kommission auf die Feststellung des Kancelář Veřejného ochránce práv (Tschechisches Amt des Beauftragten für Bürgerrechte), dass „mobile“ Unionsbürger bei Wahlen benachteiligt würden, sowie auf seine Stellungnahme zu ihrer unmittelbaren Diskriminierung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament durch die den politischen Parteien vorbehaltene Nominierung der Kandidaten(72).

97.      In ihrer Erwiderung weist die Kommission jedes auf die Wahlpraktiken gestützte Vorbringen zurück. Als Erstes weist sie darauf hin, dass die Ungleichbehandlung auf dem in Rede stehenden Gesetz beruhe, aus dem sich ergebe, dass es einem tschechischen Staatsangehörigen freistehe, ob er einer politischen Partei angehören und diese Partei bei den Wahlen vertreten oder unabhängig bleiben und gegebenenfalls ein Angebot einer politischen Partei annehmen wolle, ihn als „nicht parteiangehörigen“ Kandidaten in ihre Liste aufzunehmen, während ein „mobiler“ Unionsbürger diese Option nicht habe und sich nur als unabhängiger Kandidat zur Wahl stellen oder darauf hoffen könne, dass die politische Partei, deren Mitglied er gern geworden wäre, ihm anbiete, ihn als „nicht parteiangehörigen“ Kandidaten aufzustellen.

98.      Was als Zweites die Beweislast betrifft, hält die Kommission es im Fall einer Diskriminierung de jure wie der hier geltend gemachten zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Unionsrecht für nicht erforderlich, dem Gerichtshof statistische Daten über die Zahl der „mobilen“ Unionsbürger vorzulegen, die aufgrund einer solchen unmittelbaren Diskriminierung tatsächlich einen Nachteil erlitten hätten. Sie fügt hinzu, dass es praktisch unmöglich sei, die Fälle zu erfassen, in denen „mobile“ Unionsbürger aufgrund der Unmöglichkeit, Mitglied einer politischen Partei zu sein, davon abgehalten worden seien, bei den Wahlen zu kandidieren(73).

99.      Als Drittes hält die Kommission die von der Tschechischen Republik vorgelegten statistischen Daten(74) in Anbetracht des Vorliegens einer Diskriminierung de iure für irrelevant. Da diese Daten in keinem klaren und direkten Zusammenhang mit dieser Diskriminierung stünden, bestätigten sie eher ihren eigenen Standpunkt. Die Kommission stellt insoweit fest, dass sich diese Statistiken allgemein auf „Personen ohne politische Zugehörigkeit“ bezögen, ohne dass erkennbar sei, wie viele von ihnen „mobile“ Unionsbürger seien, um deren Situation es in der vorliegenden Klage gehe. Darüber hinaus stellt die Kommission aufgrund ihrer eingehenden Prüfung dieser Daten in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Wesentlichen fest, dass

–        sich fast zwei Drittel der Kandidaten im Rahmen einer politischen Partei zur Wahl gestellt hätten;

–        bei drei der vier Wahlen zum Europäischen Parlament der Anteil der gewählten Mitglieder bei unabhängigen Kandidaten geringer gewesen sei als bei solchen, die Mitglieder politischer Parteien gewesen seien, und

–        es sich bei den unabhängigen Kandidaten, die in das Europäische Parlament gewählt worden seien, sehr häufig um außergewöhnlich bekannte und beliebte Persönlichkeiten gehandelt habe(75).

100. Im Hinblick auf die Kommunalwahlen schließt sich die Kommission der Ansicht an, dass sich die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung leichter von ihrer Kenntnis der lokalen Persönlichkeiten leiten ließen. Dies zeige jedoch, dass gerade die „mobilen“ Bürger der Union in noch stärkerem Maße darauf angewiesen seien, Mitglied einer politischen Partei zu sein, um die Chance zu haben, gewählt zu werden.

2)      Tschechische Republik

101. Nach erneutem Hinweis darauf, dass die vorliegende Klage nicht die rechtlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Wahlrechts betreffe, hebt dieser Mitgliedstaat zunächst hervor, dass die Personen, die keiner politischen Partei angehörten, in vollem Umfang in den Genuss der Vorteile kommen könnten, die die Kommission in ihrer Klageschrift aufführe, nämlich durch ihre Aufnahme in die Kandidatenliste einer beliebigen Partei, und dass dies eine gängige Praxis in ihrem Hoheitsgebiet sei(76).

102. Sodann macht die Tschechische Republik geltend, dass der von der Kommission geltend gemachte Verstoß auf unbelegten Annahmen und Behauptungen beruhe(77). Darüber hinaus seien ihre bereits im Vorverfahren vorgebrachten Erläuterungen der lokalen Gegebenheiten von der Kommission nicht berücksichtigt worden, obwohl sie deren Behauptung widerlegten, dass die schwache Position der unabhängigen Bewerber unbestreitbar sei.

103. Sie führt verschiedene konkrete Belege dafür an, dass „Personen ohne politische Zugehörigkeit“ in der Tschechischen Republik regelmäßig als Spitzenkandidaten auf den Listen der wichtigsten politischen Parteien kandidierten, häufig gewählt würden und anschließend wichtige Ämter in den Organen bekleideten, in die sie gewählt worden seien(78). Dieser Mitgliedstaat folgert daraus, dass der Erfolg eines Kandidaten bei den Wahlen nicht von seiner Mitgliedschaft in einer politischen Partei abhänge, sondern vielmehr von Faktoren wie seinen Ansichten und seiner Persönlichkeit.

b)      Beurteilung

104. Nach der durch die Republik Polen unterstützten Ansicht der Tschechischen Republik legt die Kommission keine Beweise für die praktischen Auswirkungen der in Rede stehenden Rechtsvorschriften auf das passive Wahlrecht „mobiler“ Unionsbürger vor.

105. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung, wenn sie auf dem Erlass einer Maßnahme in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung beruht, deren Existenz und Anwendung nicht bestritten werden, durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden kann(79).

106. Im vorliegenden Fall beruht die Vertragsverletzung, die die Kommission der Tschechischen Republik vorwirft, auf dem Erlass einer gesetzgeberischen Maßnahme, deren Existenz und Anwendung dieser Mitgliedstaat nicht bestreitet und deren Bestimmungen Gegenstand einer rechtlichen Analyse in der Klageschrift sind.

107. Außerdem geht es darum, zu beurteilen, inwieweit die Regelung abschreckende Wirkung auf etwaige Kandidaturen bei Wahlen hat, was nicht quantifizierbar ist.

108. Daher kann die Tschechische Republik der Kommission nicht mit Erfolg vorwerfen, sie habe keine Beweise für die praktischen Auswirkungen des Gesetzes, das die Mitgliedschaft in einer politischen Partei tschechischen Staatsangehörigen vorbehalte, auf das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger vorgelegt.

109. Was das in Rede stehende tschechische Gesetz betrifft, das das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei tschechischen Staatsangehörigen vorbehält, ergibt sich die Ungleichbehandlung im Hinblick auf das Wahlrecht meines Erachtens aus der bloßen Feststellung, dass diese Staatsangehörigen, wenn sie bei den Kommunalwahlen oder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollen, die freie Wahl haben, als Mitglieder einer politischen Partei oder als unabhängige Kandidaten anzutreten, während den „mobilen“ Unionsbürgern nur die letztgenannte Möglichkeit zur Verfügung steht. Wie zuvor dargelegt, ermöglicht der Zugang zu politischen Parteien jedoch eine effektivere Ausübung der Wahlrechte, um am demokratischen Leben teilzunehmen.

110. Keine der von der Tschechischen Republik dargelegten Ausweichlösungen kann an dieser Beurteilung etwas ändern. Insbesondere kann nämlich der Umstand, dass „mobile“ Unionsbürger als Kandidaten in die Liste einer politischen Partei aufgenommen werden können, diese Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit nicht ausgleichen, weil sie dafür spezifische, von der Kommission dargelegte Kriterien erfüllen müssen.

111. Darüber hinaus bin ich mit der Kommission der Ansicht, dass selbst dann, wenn die vorliegende Klage auf der Grundlage detaillierter Zahlenangaben zu den gewählten Kandidaten, wie sie von der Tschechischen Republik vorgelegt wurden(80), beurteilt werden könnte, diese Angaben nicht geeignet wären, eine Gleichbehandlung der „mobilen“ Unionsbürger zu belegen. Zwar machen solche Statistiken bei den Kommunalwahlen besondere lokale Gegebenheiten deutlich. Daraus lassen sich jedoch für die Situation der „mobilen“ Unionsbürger, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist, keine relevanten Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen ergibt sich aus den angeführten Beispielen, dass es sich bei den Kandidaten, die ins Europäische Parlament gewählt wurden, ohne Mitglied einer Partei zu sein, überwiegend (oder ausschließlich) um tschechische Staatsangehörige handelt. Zum anderen ist den Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die im Fall der fehlenden Zugehörigkeit zu einer politischen Partei überwunden werden müssen, insbesondere den bei der Aufnahme in die Kandidatenlisten bestehenden Schwierigkeiten, die sich unmittelbar aus den Rechtsvorschriften(81) ergeben, die die von der Kommission angeführten Autoren als „diskriminierend“ einstufen.

112. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Kommission das Vorliegen einer Beschränkung der Ausübung der Wahlrechte zum Nachteil der „mobilen“ Unionsbürger, die sich in der gleichen Situation wie Inländer befinden, hinreichend nachgewiesen hat.

113. Daraus folgt, dass die Tschechische Republik dadurch, dass sie in Ausübung ihrer Zuständigkeit die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen erlassen hat, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, nämlich die des Art. 22 AEUV, der in Verbindung mit den Art. 12, 39 und 40 der Charta zu lesen ist, nicht beachtet hat.

3.      Zur Rechtfertigung der Beschränkung der Mitgliedschaft in einer politischen Partei

a)      Vorbringen der Parteien

1)      Kommission

114. Als Erstes ist die Kommission der Auffassung, dass das Vorbringen der Tschechischen Republik zurückzuweisen sei, wonach die den „mobilen“ Unionsbürgern untersagte Mitgliedschaft in einer politischen Partei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die nationalen politischen Angelegenheiten vor einer „Einmischung“ dieser Bürger zu schützen, die sich aus einer Mitgliedschaft in einer politischen Partei ergeben würde, in der wichtige Entscheidungen für die Wahlen des gesetzgebenden Organs getroffen würden(82).

115. Die Kommission ist der Ansicht, diese Rechtfertigung stehe in direktem Widerspruch zu dem Grundgedanken und dem Zweck der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft. Die darin verankerten politischen Rechte sollten gerade gewährleisten, dass sich die „mobilen“ Unionsbürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat integrieren und dort bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament eine aktive politische Rolle spielen könnten.

116. In diesem Zusammenhang weist die Kommission darauf hin, dass die Pflicht zur Gewährleistung der Gleichbehandlung, wie sie in Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV – die im Licht der Art. 11 und 12 der Charta, die die Teilnahme an politischen Parteien garantierten, ausgelegt werden müssten – vorgesehen sei, die Mitgliedstaaten keineswegs daran hindere, das passive Wahlrecht bei den Wahlen des gesetzgebenden Organs oder der regionalen Gebietskörperschaften den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats vorzubehalten.

117. Als Zweites weist die Kommission in Erwiderung auf das auf Art. 4 Abs. 2 EUV gestützte Argument des Schutzes der nationalen Identität, da die Funktionsweise und der freie Wettbewerb der politischen Parteien in der Ústava (Verfassung) verankert seien, darauf hin, dass diese Bestimmung im Einklang mit den anderen Bestimmungen der Verträge auszulegen sei, zu deren Einhaltung sich die Mitgliedstaaten durch den Beitritt zur Union verpflichtet hätten, einschließlich von Art. 22 AEUV, der nicht für die Wahlen des gesetzgebenden Organs gelte(83). Das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger könne daher nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der Achtung der nationalen Identität angesehen werden.

118. Was als Drittes den Einwand der Tschechischen Republik betrifft, die Kommission habe keine weniger einschränkende Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels genannt, bezweifelt dieses Organ, dass ein Mitgliedstaat eine nationale Maßnahme rechtfertigen könne, die von den Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV abweiche und eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sei. Darüber hinaus obliege es der Tschechischen Republik, die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen nachzuweisen(84).

119. Außerdem weist die Kommission darauf hin, dass die Tschechische Republik im Vorverfahren nicht nachgewiesen habe, dass – insbesondere unter den Umständen des vorliegenden Falles – ein spezifisches Allgemeininteresse an einem Verbot der Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei bestehe. Folglich sei weder das verfolgte Ziel noch die Notwendigkeit oder die Verhältnismäßigkeit dieses Verbots dargelegt worden.

120. In ihrer Erwiderung hält die Kommission es darüber hinaus in Bezug auf den von der Tschechischen Republik geltend gemachten „fundamentalen Grundsatz der Gleichheit der Mitglieder einer politischen Partei“ für völlig falsch und widersprüchlich, die Festlegung der Teilnahme der Unionsbürger an den politischen Parteien auf einem Niveau, das ihren politischen Rechten nach dem Unionsrecht entspreche, z. B. durch eine Beschränkung ihrer Beteiligung an bestimmten Entscheidungen der politischen Partei, als unverhältnismäßige Diskriminierung und im Gegensatz dazu das absolute Verbot der Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei als verhältnismäßige Diskriminierung einzustufen.

2)      Tschechische Republik

121. Sie trägt die folgenden drei Argumente vor: „Erstens verfolgt die betreffende nationale Regelung das legitime Ziel, die Teilnahme an einer Schlüsselplattform für die politische Tätigkeit auf nationaler Ebene tschechischen Bürgern vorzubehalten, was in vollem Einklang mit Art. 4 Abs. 2 EUV steht. … Dies hat die Kommission im Übrigen in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme … im Wesentlichen anerkannt. Zweitens ist die Regelung, die es allein tschechischen Bürgern gestattet, Mitglied einer politischen Partei zu sein, eine zur Erreichung dieses Ziels geeignete Maßnahme, weil sie den Inhalt dieses Ziels unmittelbar verwirklicht. Drittens ist diese nationale Regelung verhältnismäßig. Sie tastet den Wesensgehalt der Wahlrechte nach Art. 22 AEUV nicht an, weil sie an den uneingeschränkten aktiven und passiven Wahlrechten mobiler Unionsbürger nichts ändert … und in der Praxis die uneingeschränkte Ausübung dieser Rechte ermöglicht … Damit steht die fragliche Regelung voll und ganz im Einklang mit der von der Kommission angeführten Rechtsprechung …“(85).

122. Die Tschechische Republik präzisiert, dass das angestrebte legitime Ziel durch eine weniger einschneidende Maßnahme nicht erreicht werden könne, weil es nicht denkbar sei, dass „mobile“ Unionsbürger einer politischen Partei angehören dürften, um nur an einem marginalen, auf die Kommunalwahlen oder die Wahlen zum Europäischen Parlament beschränkten Teil der politischen Tätigkeit teilzunehmen. Eine solche Regelung verstoße gegen den fundamentalen Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitglieder einer politischen Partei. Außerdem biete sie diesen Bürgern nicht die starke Position in der politischen Partei, die die Kommission zu Unrecht für erforderlich halte. Die Kommission habe selbst nicht angeben können, welche Maßnahme insoweit als weniger einschneidend angesehen werden könnte.

3)      Republik Polen als Streithelferin

123. Zu der von der Kommission in Betracht gezogenen Beschränkung des Tätigkeitsbereichs der „mobilen“ Unionsbürger in politischen Parteien macht die Republik Polen geltend, dass die „Mitgliedschaft“ in einer politischen Partei ein viel breiteres Spektrum von Tätigkeiten umfasse als diejenigen, die bestimmten Wahlen vorausgingen. Diese Tätigkeiten seien mit dem Einfluss auf die nationale Politik verbunden, einschließlich der Politikbereiche, die der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten vorbehalten blieben. Für einen Mitgliedstaat bestehe jedoch keinerlei Verpflichtung, es diesen Bürgern zu ermöglichen, über das System der Parteien Einfluss auf die Ergebnisse der nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen.

b)      Beurteilung

124. Das Vorbringen der Tschechischen Republik gibt Anlass, zu klären, unter welchen Voraussetzungen eine Beschränkung des in Art. 22 AEUV verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung gerechtfertigt sein könnte.

125. Dieser Mitgliedstaat beruft sich auf Art. 4 Abs. 2 EUV und macht im Wesentlichen geltend, dass das Unionsrecht, so wie die Kommission es auslege, zur Folge hätte, dass die „mobilen“ Unionsbürger auf einer anderen als der von den Mitgliedstaaten zugelassenen Ebene am öffentlichen Leben teilnähmen, und es ihnen insbesondere ermöglichen würde, unter Inanspruchnahme des Instruments der politischen Parteien Einfluss auf nationale Entscheidungen zu nehmen.

126. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt.

127. Die Organisation des nationalen politischen Lebens, zu der die politischen Parteien beitragen, ist zwar Bestandteil der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV. In dieser Hinsicht zeigt sich die Achtung dieser Identität darin, dass das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger auf die Wahlen zum Europäischen Parlament und auf die Kommunalwahlen beschränkt wird, ohne dass eine Harmonisierung der Wahlsysteme der Mitgliedstaaten angestrebt wird(86). Der Unionsgesetzgeber hat auch die Auswirkungen des erleichterten Zugangs zu diesen Wahlen auf das Gleichgewicht des politischen Lebens im Wohnsitzmitgliedstaat berücksichtigt, indem er vorsieht, dass die Mitgliedstaaten begrenzte(87) und vorübergehende Modifikationen zugunsten ihrer Staatsangehörigen beschließen können.

128. Zu der Frage, welchen Einfluss die Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in politischen Parteien aufgrund ihrer potenziellen Auswirkungen innerhalb dieser Parteien auf nationaler Ebene hat, stelle ich fest, dass diese Frage nach Ansicht aller Beteiligten in die Zuständigkeit der politischen Parteien fällt. Diese können ihre Organisation und die Modalitäten der Auswahl ihrer Kandidaten nämlich frei festlegen(88). Ich weise darauf hin, dass sich die Tschechische Republik darauf beschränkt, zu behaupten, dass es unmöglich sei, den Tätigkeitsbereich der Parteimitglieder, die „mobile“ Unionsbürger seien, auf bestimmte Wahlen zu beschränken, dass sie hierfür aber keine Nachweise vorlegt.

129. Ich teile daher die Auffassung der Kommission, dass eine Zulassung der Mitgliedschaft „mobiler“ Unionsbürger in einer politischen Partei, um die Wirksamkeit der Rechte dieser Unionsbürger bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu gewährleisten, die nationale Identität der Tschechischen Republik nicht beeinträchtigen kann.

130. Darüber hinaus ist Art. 4 Abs. 2 EUV selbst dann, wenn eine solche Beeinträchtigung erwiesen wäre, unter Berücksichtigung der ihm gleichrangigen Bestimmungen auszulegen(89).

131. Daher kann Art. 4 Abs. 2 EUV die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht entbinden, die durch die Charta bekräftigten Grundrechte(90) zu beachten, zu denen der Grundsatz der Demokratie und der in Art. 22 AEUV(91) niedergelegte Grundsatz der durch die Unionsbürgerschaft zuerkannten Gleichbehandlung hinsichtlich der Ausübung des passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gehören. Diese Grundsätze gehören zu den grundlegenden Werten der Union(92).

132. Darüber hinaus ist aufgrund des Vorbringens der Tschechischen Republik zur Verhältnismäßigkeit der beanstandeten nationalen Regelung hinzuzufügen, dass eine Rechtfertigung einer Einschränkung der durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte nur unter den in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen geprüft werden kann.

133. Die in den Art. 39 und 40 der Charta anerkannten Wahlrechte sind nämlich Gegenstand spezieller Bestimmungen im AEU-Vertrag, nämlich von Art. 22. Die einzigen Modifikationen der Ausübung dieser Rechte, die im abgeleiteten Recht, auf das dieser Artikel verweist(93), vorgesehen sind, betreffen lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen des aktiven oder passiven Wahlrechts(94).

134. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Klage der Kommission für begründet zu erachten.

VI.    Kosten

135. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Gerichtshof meines Erachtens den Anträgen der Kommission stattgeben sollte, ist die Tschechische Republik zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

136. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Republik Polen ihre eigenen Kosten.

VII. Ergebnis

137. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Tschechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, dass sie Unionsbürgern, die keine tschechischen Staatsangehörigen sind, aber ihren Wohnsitz in der Tschechischen Republik haben, das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung verwehrt.

2.      Die Tschechische Republik trägt die Kosten.

3.      Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.

VIII. Anhang I: Die von der Kommission vorgelegten Regeln für die Finanzierung der politischen Parteien

1.        Eine politische Partei, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament mindestens 1 % der Stimmen erhalten hat, erhält für jede Stimme 30 tschechische Kronen (CZK) (etwa 1,20 Euro) als Beitrag zu den Wahlkampfkosten (§ 65 des Gesetzes über die Wahlen zum Europäischen Parlament).

2.        Eine politische Partei, die bei den Wahlen zur Poslanecká sněmovna (Abgeordnetenkammer, Tschechische Republik) mindestens 1,5 % der Stimmen erhalten hat, erhält für jede Stimme 100 CZK (etwa 4 Euro) als Beitrag zu den  Wahlkampfkosten (§ 85 des Gesetzes Nr. 247/1995 über die Wahlen zum Parlament der Tschechischen Republik und zur Änderung und Ergänzung bestimmter Gesetze).

3.        Politische Parteien, die bei den letzten Wahlen zur Abgeordnetenkammer 3 % der Stimmen erhalten haben, erhalten zudem einen jährlichen Beitrag des Staates in Höhe von 6 000 000 CZK (etwa 245 430 Euro) für die Partei oder Bewegung, und gleichzeitig erhält die Partei oder Bewegung 200 000 CZK (etwa 8 180 Euro) pro Jahr für jede weiteren 0,1 % der Stimmen (§ 20 Abs. 6 des Parteiengesetzes).

4.        Erhält eine Partei oder eine Bewegung mehr als 5 % der Stimmen, wird der Beitrag nicht weiter erhöht und die Partei oder Bewegung erhält 10 000 000 CZK (etwa 409 000 EUR) (§ 20 Abs. 6 des Parteiengesetzes).

5.        Die politischen Parteien erhalten ferner einen Beitrag von 900 000 CZK (etwa 36 800 EUR) pro Jahr für das Mandat eines Abgeordneten oder Senators und von 250 000 CZK (etwa 10 200 EUR) pro Jahr für das Mandat eines Mitglieds des Regionalrats und eines Mitglieds des Prager Stadtrats) (§ 20 Abs. 7 des Parteiengesetzes).

6.        Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten die Parteien und politischen Bewegungen auch einen jährlichen Beitrag zur Unterstützung der Tätigkeiten eines politischen Instituts in Höhe von 10 % des Gesamtbetrags des der jeweiligen Partei oder Bewegung zustehenden Beitrags zu ihren Tätigkeiten (§ 20 Abs. 5 und 8 des Parteiengesetzes).

IX.    Anhang II: Angaben der Tschechischen Republik über die Zusammensetzung der Wahllisten und über die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen gewählten Kandidaten

1.        Die Wahlen zum Europäischen Parlament fanden in der Tschechischen Republik in den Jahren 2004, 2009, 2014 und 2019 statt.

1.      Der Anteil parteiloser Kandidaten in den Listen der politischen Parteien oder Wahlbündnisse war wie folgt:

a)      2004 gehörten 37,22 % der Kandidaten keiner politischen Partei an;

b)      2009 gehörten 38,28 % der Kandidaten keiner politischen Partei an;

c)      2014 gehörten 30,27 % der Kandidaten keiner politischen Partei an, und

d)      2019 gehörten 33,89 % der Kandidaten keiner politischen Partei an.

2.      Gewählt wurden:

a)      2004 sieben Kandidaten, die keiner politischen Partei angehörten, d. h. 29,17 % der in der Tschechischen Republik gewählten Personen;

b)      2009 ein Kandidat, der keiner politischen Partei angehörte, d. h. 4,55 % der in der Tschechischen Republik gewählten Personen;

c)      2014 acht Kandidaten, die keiner politischen Partei angehörten, d. h. 38,10 % der in der Tschechischen Republik gewählten Personen, und

d)      2019 vier Kandidaten, die keiner politischen Partei angehörten, d. h. 19,05 % der in der Tschechischen Republik gewählten Personen.

3.      Die keiner politischen Partei angehörenden Kandidaten standen häufig an der Spitze der Kandidatenlisten, auch bei den größeren politischen Parteien. Im Einzelnen:

a)      2004 handelte es sich um die drei Mitglieder des Europäischen Parlaments, die über die Liste der Partei Sdružení nezávislých a evropští demokraté (Vereinigung unabhängiger Kandidaten und europäischer Demokraten) (SNK) gewählt worden waren, darunter Herr Zieleniec als Spitzenkandidat und Frau Hybášková auf dem zweiten Listenplatz; oder auch um Herrn Remek auf dem zweiten Platz der Kandidatenliste der Partei Komunistická strana Čech a Moravy (kommunistische Partei Böhmens und Mährens) (KSČM);

b)      2009 handelte es sich um Herrn Remek auf dem zweiten Platz der Kandidatenliste der KSČM;

c)      2014 handelte es sich um Herrn Niedermayer, den Spitzenkandidaten der Partei TOP 09 a Starostové (Top 09 und Bürgermeister), und Herrn Pospíšil, der auf dieser Liste an zweiter Stelle stand, um Herrn Keller, den Spitzenkandidaten der Partei Česká strana sociálně demokratická (Tschechische Sozialdemokratische Partei) (ČSSD), der damals stärksten Regierungspartei in der Tschechischen Republik, oder auch um vier Abgeordnete, die über die Liste der Partei ANO gewählt wurden, der damals zweitstärksten Regierungspartei, darunter ihren Spitzenkandidaten Pavel Telička, der anschließend zum Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gewählt wurde, und

d)      2019 handelte es sich um drei gewählte Mitglieder des Europäischen Parlaments, die auf der Liste der ANO auf den ersten drei Plätzen standen, darunter deren Spitzenkandidatin, Frau Dita Charanzová, die anschließend zur Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments gewählt wurde.

4.      2004 wurde Herr Stros, ein deutscher Staatsangehöriger, in der Tschechischen Republik in das Europäische Parlament gewählt.

2.        Zu den Kommunalwahlen (Gemeinden, Dörfer und Städte), die in den Jahren 2006, 2010, 2014 und 2018 stattfanden.

1.      Der Anteil der parteilosen Kandidaten und Gewählten betrug:

a)      2006 79,85 % der Kandidaten und 84,51 % der gewählten Mitglieder;

b)      2010 81,25 % der Kandidaten und 86,15 % der gewählten Mitglieder;

c)      2014 84,13 % der Kandidaten und 88,30 % der gewählten Mitglieder und

d)      2018 84,97 % der Kandidaten und 89,96 % der gewählten Mitglieder.

2.      Der hohe Anteil der parteilosen Kandidaten und gewählten Mitglieder ist ein Phänomen, das auch auf den Listen der größeren politischen Parteien zu beobachten ist. Beispielsweise waren bei den Kommunalwahlen im Jahr 2018:

a)      auf den Kandidatenlisten der ČSSD, der ältesten tschechischen politischen Partei mit einer starken Verankerung in der Kommunalpolitik, 54,58 % der Kandidaten und 57,31 % der gewählten Mitglieder parteilos;

b)      auf den Kandidatenlisten der Partei Občanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei) (ODS), einer traditionellen konservativen politischen Partei mit starker Verankerung in der Kommunalpolitik, 59,47 % der Kandidaten und 52,93 % der gewählten Mitglieder parteilos, und

c)      auf den Kandidatenlisten der Partei Křesťanská a demokratická unie – Československá strana lidová (Christliche und Demokratische Union – Tschechoslowakische Volkspartei) (KDU-ČSL), einer traditionellen politischen Partei mit der höchsten Zahl von Kandidaten und gewählten Mitgliedern in der Kommunalpolitik, 73,62 % der Kandidaten und 72,49 % der gewählten Mitglieder parteilos.

3.      Was die tschechischen Großstädte betrifft, so wurde 2010 in Prag der parteilose Kandidat Bohuslav Svoboda zum Spitzenkandidaten der ODS gewählt, der damals stärksten Regierungspartei in der Tschechischen Republik; er wurde daraufhin Bürgermeister von Prag. 2014 wurde Adriana Krnáčová, die parteilose Spitzenkandidatin auf der Liste der ANO, Bürgermeisterin von Prag und Tomáš Macura, der parteilose Spitzenkandidat auf der Liste der ANO, wurde Bürgermeister von Ostrava, der drittgrößten Stadt der Tschechischen Republik.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Im Folgenden: „mobile“ Unionsbürger.


3      Die Kommission hat eine identische Klage gegen die Republik Polen erhoben (Rechtssache C‑814/21), die koordiniert behandelt wird. Am 12. September 2023 hat eine gemeinsame mündliche Verhandlung für diese beiden Rechtssachen stattgefunden.


4      Im Folgenden: Charta.


5      ABl. 1993, L 329, S. 34 und Sonderausgabe des Amtsblatts der Europäischen Union in tschechischer Sprache, Kapitel 20, Band 1, S. 7.


6      ABl. 1994, L 368, S. 38 und Sonderausgabe des Amtsblatts der Europäischen Union in tschechischer Sprache, Kapitel 20, Bd. 1, S. 12.


7      Im Folgenden: Parteiengesetz.


8      Im Folgenden: Gesetz über die Wahlen zu den Gemeinderäten.


9      Im Folgenden: Gesetz über die Wahlen zum Europäischen Parlament.


10      Im Folgenden: Mitgliedschaft in einer politischen Partei.


11      Die Tschechische Republik führt das Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, im Folgenden: Urteil Eman und Sevinger, EU:C:2006:545, Rn. 53), an.


12      Zum Diskriminierungsverbot führt die Kommission die Urteile vom 5. Dezember 1989, Kommission/Italien (C‑3/88, EU:C:1989:606, Rn. 8), und vom 17. Juli 2008, Raccanelli (C‑94/07, EU:C:2008:425, Rn. 45), sowie den dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 an. Zur Veranschaulichung verweist sie auf das Urteil vom 16. Dezember 2004, My (C‑293/03, EU:C:2004:821, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), zu Art. 18 EG, jetzt Art. 21 AEUV. Hinsichtlich der Grundrechte bezieht sich die Kommission auf das Urteil vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, EU:C:1991:254, Rn. 43 und 44), und verweist auf die von ihr in der Klageschrift angeführten Urteile vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108), und vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland (C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 88). Zum Erfordernis der Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften mit der in Art. 12 der Charta verankerten Vereinigungsfreiheit verweist sie auf das Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476).


13      Vgl. u. a. Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 188 bis 190 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. entsprechend Urteil vom 30. September 2010, Kommission/Belgien (C‑132/09, EU:C:2010:562, Rn. 40 und 41).


15      Hervorhebung nur hier.


16      Dieses Argument wird in Beantwortung des Streithilfeschriftsatzes der Republik Polen vorgebracht.


17      Die Kommission bezieht sich insoweit auf das Urteil Eman und Sevinger.


18      Die Kommission verweist auf das Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108).


19      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.


20      Die Kommission verweist auf das Urteil des EGMR vom 30. Januar 1998, Vereinte Kommunistische Partei der Türkei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0130JUD001939292, § 44), und zur Bedeutung der politischen Parteien u. a. auf die Urteile vom 25. Mai 1998, Sozialistische Partei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0525JUD002123793, § 41), und vom 13. Februar 2003, Refah Partisi (Die Wohlfahrtspartei) u. a./Türkei (CE:ECHR:2003:0213JUD004134098, §§ 86 bis 89).


21      Im Folgenden: Leitlinien der Venedig-Kommission. Vgl. 2. Ausgabe dieser Leitlinien (Studie Nr. 881/2017). Die Kommission bezieht sich auf die Ausführungen in Nr. 1 (S. 5) sowie auf die Nrn. 17 und 18 (S. 9). In Bezug auf die durch die Parteien verkörperte Verbindung zwischen den Bürgern und den Trägern öffentlicher Ämter verweist dieses Organ auf Nr. 18 (S. 9).


22      Siehe Nrn. 51 und 52 der vorliegenden Schlussanträge.


23      Hierzu weist sie darauf hin, dass das auf Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 94/80 gestützte Vorbringen der Tschechischen Republik unbegründet sei. In Erwiderung auf den Streithilfeschriftsatz der Republik Polen macht die Kommission geltend, dass ein generelles Verbot, Mitglied einer politischen Partei zu sein, über die nach dem Sekundärrecht zulässigen Beschränkungen hinausgehe.


24      Rn. 53 dieses Urteils.


25      Sie verweist auf das Urteil des EGMR vom 27. April 1995, Piermont/Frankreich (CE:ECHR:1995:0427JUD001577389, § 64), wonach sich die Mitgliedstaaten der Union gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die Rechte aus den Verträgen geltend machten, nicht auf diese Bestimmung berufen könnten.


26      Siehe Fn. 33 der vorliegenden Schlussanträge. Die Kommission erläutert, durch diese Entscheidung sei die Klage der politischen Partei evropani.cz abgewiesen worden, die sich gegen die Entscheidung des Ministerstvo vnitra (Innenministerium, Tschechische Republik) gerichtet habe, die Eintragung einer Änderung der Satzung dieser politischen Partei abzulehnen, durch die die Mitgliedschaft von Unionsbürgern, die im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels für die Tschechische Republik seien, habe ermöglicht werden sollen.


27      Die Kommission verweist auf die in den Fn. 71 und 72 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Dokumente.


28      In ihrer Klagebeantwortung vertritt die Tschechische Republik zunächst die Auffassung, dass das Ziel der vorliegenden Klage politischer Natur sei, weil sie darauf abziele, eine stärkere Einbindung der „mobilen“ Unionsbürger in das europäische politische Leben, einschließlich ihres Wahlrechts bei nationalen oder regionalen Wahlen, zu gewährleisten. Als Beispiel führt sie den vierten Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft (1. Mai 2001 bis 30. April 2004) (KOM[2004] 695 endg.), S. 12, oder den Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Anwendung der Richtlinie 94/80/EG über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen vom 25. Januar 2018 (COM[2018] 44 final), S. 12 f., an.


29      In der Klagebeantwortung wird auf die Erwägungsgründe vier bis sechs der Richtlinie 93/109 und auf den fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80 verwiesen.


30      Die Tschechische Republik macht geltend, dass der Gerichtshof Art. 19 Abs. 2 EG in diesem Sinne ausgelegt habe, und führt das Urteil Eman und Sevinger (Rn. 53) an.


31      In ihrer Gegenerwiderung weist die Tschechische Republik darauf hin, dass Art. 22 AEUV aufgrund dieser Formulierung z. B. von Art. 59 AEUV zu unterscheiden sei, der auf den Erlass von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts „zur [schrittweisen] Liberalisierung“ einer bestimmten Art von Dienstleistungen Bezug nehme. Daraus folgert dieser Mitgliedstaat, dass die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit nicht unmittelbar vom Erlass einer abgeleiteten Regelung abhänge.


32      Nach Ansicht der Tschechischen Republik dient dieser Art. 4 Abs. 2 EUV mit anderen Worten nicht dazu, den Inhalt von Art. 22 AEUV einzuschränken, weil dieser nicht die von der Kommission behauptete Tragweite habe, was es den „Mitgliedstaaten [erlaube], die ihrer verfassungsmäßigen Struktur am besten angepassten Regeln aufzustellen“. Dieser Mitgliedstaat führt das Urteil Eman und Sevinger (Rn. 50) an.


33      In diesem Zusammenhang führt die Tschechische Republik als Beispiel das Urteil des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 10. Januar 2018, 6 As 84/2017-27, an. Sie erläutert in Beantwortung der Ausführungen der Kommission (siehe Nr. 48 der vorliegenden Schlussanträge), dass diese Rechtsprechung mangels einer Entscheidung des Ústavní soud (Verfassungsgericht) für die Auslegung des Unionsrechts maßgeblich sei.


34      Zur Unterstützung dieses Vorbringens macht die Republik Polen geltend, die von der Kommission vertretene Auslegung dieser Bestimmung stehe im Widerspruch zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, wie er in Art. 5 Abs. 2 EUV niedergelegt sei.


35      Siehe Nrn. 29 und 37 der vorliegenden Schlussanträge zur Zulässigkeit dieser Klage.


36      Siehe Fn. 30 der vorliegenden Schlussanträge.


37      Die Tschechische Republik führt das Urteil vom 12. Mai 1998, Martínez Sala (C‑85/96, EU:C:1998:217, Rn. 58, 59 und 63), an.


38      Die Tschechische Republik bezieht sich auf das Urteil vom 30. Mai 1989, Kommission/Griechenland (305/87, EU:C:1989:218, Rn. 28). Sie präzisiert, dass „[z]u diesen besonderen Bestimmungen … insbesondere die Bestimmungen über die Grundfreiheiten gehören, nämlich die Art. 34, 45, 49, 56 und 63 AEUV, aber auch andere Bestimmungen wie Art. 54 oder Art. 94 AEUV und schließlich auch Art. 22 AEUV“.


39      Nach Ansicht dieses Mitgliedstaats hat der Gerichtshof diesen Ansatz im Urteil vom 29. Juni 1999, Kommission/Belgien (C‑172/98, EU:C:1999:335, Rn. 12), verfolgt, indem er entschieden habe, dass das Staatsangehörigkeitserfordernis für die Anerkennung der Rechtspersönlichkeit von Vereinigungen die Grundfreiheiten des Binnenmarkts betreffe und daher unter das allgemeine Diskriminierungsverbot im Sinne von Art. 6 EG-Vertrag, jetzt Art. 18 AEUV, falle. Die Tschechische Republik weist darauf hin, dass die Niederlassungsfreiheit in dieser Rechtssache nicht als spezifische Bestimmung des Primärrechts im Bereich des Diskriminierungsverbots herangezogen worden sei.


40      Vgl. im Bereich des Wahlrechts, soweit es um die Bestimmung der Inhaber dieser Rechte geht, Urteile vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (Rn. 45 und 52), sowie vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42). Vgl. zu den mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten auch Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 52). Vgl. schließlich zu den Werten der Union Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 64 bis 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 12 des Akts vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (ABl. 1976, L 278, S. 5), in dem die gemeinsamen Grundsätze festgelegt werden, die auf das Verfahren der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl anwendbar sind, ergibt, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich dafür zuständig bleiben, das Wahlverfahren zu regeln. Vgl. Urteil vom 19 Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 67 bis 69).


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, Kommission/Österreich (Indexierung von Familienleistungen) (C‑328/20, EU:C:2022:468, Rn. 57).


43      Vgl. Art. 22 a. E. AEUV sowie vierter und sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und vierter und fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80. Diese Richtlinien enthalten Einzelheiten zu den gemeinsamen Bedingungen für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts, die sich beispielsweise auf die Unionsbürgerschaft und die vom Wohnsitzmitgliedstaat festgelegte Wohnsitzdauer, die Modalitäten für die Eintragung in die Wählerverzeichnisse und die Kandidaturerklärung sowie die Fälle des Ausschlusses beziehen.


44      Zur Einstufung als „grundlegender Status“ vgl. u. a. Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistiques et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Vgl. erster bis dritter Erwägungsgrund der Richtlinien 93/109 und 94/80. Nach Shaw, J., „Sovereignty at the Boundaries of the Polity“, in: Walker, N., Sovereignty in Transition, Hart Publishing, London, 2003, S. 461 bis 500, insbesondere S. 471, machen die Bestimmungen zum Wahlrecht einen Großteil des Mehrwerts der Bestimmungen des Vertrags von Maastricht aus. Die Möglichkeit, an den Direktwahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen, besteht nämlich seit dem Akt vom 20. September 1976 (siehe Fn. 41 der vorliegenden Schlussanträge). Erst seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht ist dieses Recht im EG-Vertrag in Art. 8b, dann in Art. 19 EG und schließlich in Art. 22 AEUV geregelt. Vgl. für eine Darstellung der Entstehungsgeschichte Shaw, J., und Khadar, L., „Article 39“, in: Peers, S., Hervey, T., Kenner, J., und Ward, A., The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary, 2. Aufl., Hart Publishing, Oxford, 2021, S. 1085 bis 1112, insbesondere Nrn. 39.33 und 39.34 (S. 1093 und 1094). Dasselbe gilt seit diesem Vertrag für die Kommunalwahlen. Für einen ausführlichen historischen Rückblick vgl. Groenendijk, K., „Article 40“, The EU Charter of Fundamental Rights: The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary, a. a. O., S. 1113 bis 1123, insbesondere Nr. 40.17 (S. 1118). Vgl. in Bezug auf Art. 19 EG Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 66), und im selben Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42).


46      Vgl. dritter Erwägungsgrund der Richtlinien 93/109 und 94/80 sowie in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 50).


47      Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV sind die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig.


48      Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) (im Folgenden: Erläuterungen zur Charta) „[entspricht] Art. 39 Abs. 1 … dem Recht, das durch Artikel 20 Absatz 2 [AEUV] garantiert ist“, während Art. 22 AEUV die Rechtsgrundlage für die Festlegung der Einzelheiten für die Ausübung dieses Rechts bildet.


49      Nach den Erläuterungen zur Charta „[entspricht] dieser Artikel dem Recht, das durch Artikel 20 Absatz 2 [AEUV] garantiert ist“, während Art. 22 AEUV die Rechtsgrundlage für die Festlegung der Einzelheiten für die Ausübung dieses Rechts bildet. Vgl. Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 51).


50      Vgl. Urteil vom 20. September 2001, Grzelczyk (C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31).


51      Vgl. Art. 2 EUV. Vgl. hierzu Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 64 und 67 sowie die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 112), das sich auf die implizite Verbindung zwischen drei in Art. 2 EUV genannten Werten stützt, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte]. Zur Kontrollbefugnis der Organe vgl. Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 159).


52      Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 10 Abs. 1 EUV den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert. Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63).


53      Vgl. zehnter Erwägungsgrund und Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 93/109 sowie vierzehnter Erwägungsgrund und Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 94/80. Vgl. zur Bedeutung dieses Faktors auch Shaw, J., „Sovereignty at the Boundaries of the Polity“, a. a. O S. 478, der zufolge „Wahlrechte … die Migrationspraxis von Unionsbürgern begleitende Rechte [sind], die von der Union als schützendem Gemeinwesen geschaffen werden müssen, um eine stärkere Bindung der EU-Migranten an den Aufnahmestaat und an bestimmte Aspekte seiner politischen Kultur zu fördern und den Nachteil des Verlusts politischer Rechte zu begrenzen, den die Migrantin durch ihre Auswanderung aus ihrem Herkunftsstaat erleiden kann“ (frei übersetzt).


54      Nach ständiger Rechtsprechung verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung von Inländern und Ausländern nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. Vgl. Urteil vom 2. Februar 2023, Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland (C‑372/21, EU:C:2023:59, Rn. 29).


55      Vgl. in diesem Sinne sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80.


56      Vgl. Urteil vom 11. Juni 2020, TÜV Rheinland LGA Products und Allianz IARD (C‑581/18, EU:C:2020:453, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


57      Vgl. Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 48).


58      Vgl. insbesondere Nrn. 17 und 18 (S. 8 und 9).


59      Vgl. hierzu in Bezug auf die Finanzierung und den Zugang zu den Medien die Leitlinien der Venedig-Kommission, Nr. 185 (S. 54 und 55).


60      Siehe Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch Urteil des EGMR vom 8. Juli 2008, Yumak und Sadak/Türkei (CE:ECHR:2008:0708JUD001022603, § 107 und die dort angeführte Rechtsprechung). In seiner ständigen Rechtsprechung betont der EGMR, dass die politische Debatte, zu der die politischen Parteien beitragen, „zum Kernbereich des Begriffs der demokratischen Gesellschaft gehört“.


61      Diese Bestimmung betrifft die europäischen politischen Parteien. Im Wesentlichen übernimmt sie den Wortlaut von Art. 191 Abs. 1 EG.


62      Vgl. Erläuterungen zur Charta.


63      Zur Verbindung zwischen den Art. 39 und 40 der Charta und ihrem Art. 12 Abs. 2 hinsichtlich der Rolle der politischen Parteien vgl. Costa, O., „Article 39 – Droit de vote et d’éligibilité aux élections municipales et au Parlement européen“, in: Picod, F., Rizcallah, C., und Van Drooghenbroeck, S., Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne: commentaire article par article, 3. Aufl., Bruylant, Brüssel, 2023, S. 1043 bis 1068, insbesondere § 6 (S. 1048), und in demselben Werk Ducoulombier, P., „Article 12 – Liberté de réunion et d’association“, S. 313 bis 327, insbesondere § 6 (S. 317 f.). Vgl. auch Shaw, J., und Khadar, L., a. a. O., Nr. 39.04 (S. 1087), sowie Groenendijk, K., a. a. O., Nr. 40.26 (S. 1120).


64      Siehe Nr. 72 der vorliegenden Schlussanträge.


65      Dieser Artikel entspricht Art. 10 EMRK. Vgl. Erläuterungen zur Charta.


66      Vgl. hierzu auch Art. 3 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK sowie zur Anwendung dieser Bestimmung auf die Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments Urteil des EGMR vom 18. Februar 1999, Matthews/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1999:0218JUD002483394, § 44).


67      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 111 bis 114).


68      Vgl. Urteil des EGMR vom 30. Januar 1998, Vereinte Kommunistische Partei der Türkei u. a./Türkei (CE:ECHR:1998:0130JUD001939292, § 25). Darin wird klargestellt, dass „[d]ie politische Parteien … eine Form der Vereinigung dar[stellen], die für das reibungslose Funktionieren der Demokratie von wesentlicher Bedeutung ist. Angesichts der Bedeutung der Demokratie im System der [EMRK] kann kein Zweifel daran bestehen, dass die politischen Parteien unter Artikel 11 fallen.“ Zur Bedeutung der Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben in einem größeren Rahmen vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 17. Februar 2004, Gorzelik u. a./Polen (CE:ECHR:2004:0217JUD004415898, §§ 88, 90 und 92), sowie vom 8. Oktober 2009, Tebieti Mühafize Cemiyyeti und Israfilov/Aserbaidschan (CE:ECHR:2009:1008JUD003708303, §§ 52 und 53).


69      Es handelt sich um § 65 des Gesetzes über die Wahlen zum Europäischen Parlament und § 85 des Zákon č. 247/1995 Sb. o volbách do Parlamentu České republiky a o změně a doplnění některých dalších zákonů (Gesetz Nr. 247/1995 über die Wahlen zum Parlament der Tschechischen Republik und zur Änderung und Ergänzung bestimmter Gesetze) vom 27. September 1995 sowie um § 20 Abs. 5 bis 8 des Parteiengesetzes. Siehe zur detaillierten Darstellung des Inhalts dieser Bestimmungen Anhang I der vorliegenden Schlussanträge.


70      Die Kommission bezieht sich auf § 21 Abs. 4 und den Anhang des Gesetzes über die Wahlen zu den Gemeinderäten.


71      Die Kommission stützt sich auf die Auffassung von Antoš, M., „Politická participace cizinců v České republice“, Politologický časopis, Masarykova univerzita, Brno (Brünn), 2012, Nr. 2, S. 113 bis 127, insbesondere S. 123 und 124.


72      Sie verweist auf die Pressemitteilung des tschechischen Amts des Beauftragten für Bürgerrechte vom 23. Juli 2014 mit dem Titel „Občané EU žijící v ČR mají právo účastnit se politického života“ (In der Tschechischen Republik lebende EU-Bürger haben das Recht, am politischen Leben teilzunehmen), abrufbar unter folgender Internetadresse: https://www.ochrance.cz/aktualne/obcane-eu-zijici-v-cr-maji-pravo-ucastnit-se-politickeho-zivota, letzter Absatz.


73      Gleichwohl verweist die Kommission auf den Folgenabschätzungsbericht zu dem am 25. November 2021 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (Arbeitsdokument SWD[2021] 357 final). Sie merkt dazu an, dass bei der öffentlichen Anhörung, obwohl diese nur eine begrenzte öffentliche Resonanz gefunden habe, zumindest einer der Befragten angegeben habe, versucht zu haben, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in einem anderen Mitgliedstaat zu kandidieren, was aber an der Unmöglichkeit gescheitert sei, eine politische Partei zu gründen oder Mitglied einer bestehenden politischen Partei zu sein.


74      Siehe Anhang II der vorliegenden Schlussanträge.


75      Die Kommission weist darauf hin, dass die genannten Personen tschechische Staatsangehörige seien. Dazu gehörten beispielsweise der einzige tschechische Kosmonaut (Vladimír Remek), ein ehemaliger Außenminister (Josef Zieleniec), eine bekannte ehemalige tschechische Botschafterin in Katar und Kuwait (Jana Hybášková), ein langjähriges, aus den Medien bekanntes Mitglied des Verwaltungsrats der Česká národní banka (Tschechische Nationalbank) sowie der ehemalige Vizegouverneur dieser Bank (Luděk Niedermayer), ein ehemaliger Justizminister (Jiří Pospíšil) oder auch ein als Autorität geschätzter und aus den Medien bekannter Hochschullehrer (Jan Keller). In Bezug auf den in das Europäische Parlament gewählten deutschen Staatsangehörigen Franz Stros weist die Kommission darauf hin, dass es sich bei ihm um einen Literaten und ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger handele.


76      Die Republik Polen als Streithelferin weist darauf hin, dass Kandidaten, die keiner Partei „angehörten“ – einschließlich der „mobilen“ Unionsbürger –, eine vollständige Zugangsgarantie zu allen im tschechischen Recht vorgesehenen Formen der Kandidatur hätten und dass die Entscheidung, Kandidaten auf den Listen der politischen Parteien aufzustellen, in der Praxis allein von der gegenseitigen Bereitschaft zur Zusammenarbeit abhänge.


77      Sie weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Beweislast der Kommission hin und führt das Urteil vom 14. März 2019, Kommission/Tschechische Republik (C‑399/17, EU:C:2019:200, Rn. 51), an.


78      Siehe Anhang II der vorliegenden Schlussanträge. Die Tschechische Republik führt in ihrer Gegenerwiderung aus, dass es sinnlos sei, insoweit zwischen tschechischen und nicht tschechischen Bürgern zu unterscheiden, weil es häufig vorkomme, dass Wahlkandidaten „keine politische Zugehörigkeit“ hätten und ihr Status in keiner Weise je nach ihrer Staatsangehörigkeit unterschiedlich sei. Sie beanstandet die Art und Weise, in der die Kommission die Informationen über die Wahlerfolge bestimmter Bewerber relativiere (siehe Nr. 99 der vorliegenden Schlussanträge).


79      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 37).


80      Diese Zahlenangaben werden von der Republik Polen im gleichen Sinne interpretiert.


81      Siehe zu den rechtlichen Voraussetzungen für die Kommunalwahlen, auf die sich die Kommission beruft und die von der Tschechischen Republik nicht bestritten werden, u. a. Nr. 93 der vorliegenden Schlussanträge sowie die in Fn. 71 und 72 dieser Schlussanträge angeführten Dokumente.


82      In Erwiderung auf die von der Republik Polen vorgebrachten Argumente (siehe Nr. 123 der vorliegenden Schlussanträge) leitet die Kommission aus ihnen ab, dass diese Rechtfertigung sich auch auf den Fall erstrecken solle, in dem die „mobilen“ Unionsbürger aktiv an den Wahlen zu den internen Organen der politischen Parteien der Staatsangehörigen der Aufnahmemitgliedstaaten teilnähmen, was in unangemessener Weise in die den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Bereiche eingreifen würde.


83      Nach Ansicht der Kommission zeigt diese Einschränkung, dass sich die Achtung der nationalen Identität „in Art. 22 AEUV voll und ganz widerspiegelt“.


84      Die Kommission führt die Urteile vom 8. Mai 2003, ATRAL (C‑14/02, EU:C:2003:265, Rn. 69), vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 76 und 77), sowie vom 22. Dezember 2010, Sayn-Wittgenstein (C‑208/09, EU:C:2010:806, Rn. 81 und 90), an.


85      Es handelt sich um das Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108). Nach Ansicht der Tschechischen Republik legt die Kommission diese Randnummer aufgrund ihres Wortlauts, dessen letzten Teil sie hervorhebt, falsch aus, nämlich: „Zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, können Gründe des Allgemeininteresses nur dann herangezogen werden, wenn die fragliche Regelung diesen Rechten Rechnung trägt“.


86      Vgl. in diesem Sinne fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und vierter Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80. Vgl. auch Urteil Eman und Sevinger (Rn. 52 und 53).


87      Siehe Nr. 77 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. insoweit zur Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Ämtern auf Staatsangehörige und zur Teilnahme an Wahlen zu einer parlamentarischen Versammlung fünfter und zehnter Erwägungsgrund sowie Art. 5 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 94/80. Zu den Regelungen der Mitgliedstaaten innerhalb dieses Handlungsspielraums vgl. den in Fn. 73 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Folgenabschätzungsbericht, Punkt 1.3.6 (S. 20), und die Analyse von Blacher, P., „Article 40 – Droit de vote et d’éligibilité aux élections municipales“, in: Picod, F., Rizcallah, C., und Van Drooghenbroeck, S., a. a. O., S. 1069 bis 1088, insbesondere Nr. 16 (S. 1083 und 1084). Zu den Einschränkungen des aktiven und passiven Wahlrechts, speziell in Abhängigkeit vom Anteil „mobiler“ Unionsbürger im Wohnsitzmitgliedstaat und von der Dauer ihres Wohnsitzes, vgl. Art. 14 der Richtlinie 93/109 und Art. 12 der Richtlinie 94/80. Vgl. auch die Kommentare von Shaw, J. und Khadar, L., a. a. O., Nr. 39.74 (S. 1104) in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament sowie von Groenendijk, K., a. a. O., Nrn. 40.27 und 40.28 (S. 1121) in Bezug auf die Kommunalwahlen.


88      Vgl. hierzu Leitlinien der Venedig-Kommission, Nrn. 153 und 155 (S. 49 und 50). Vgl. zur Veranschaulichung auch den vom Programm Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft (2014-2020) der Kommission finanzierten Bericht von Alina Ostling mit dem Titel „Fair EU Synthesis report: Electoral Rights for Mobile EU Citizens – Challenges and Facilitators of Implementation“, Nr. 4.1.2 (S. 27).


89      Vgl. Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatsphäre von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).


90      Vgl. zweiter und fünfter Erwägungsgrund der Präambel der Charta.


91      Zur Tragweite dieses Artikels siehe Nrn. 74, 84 und 87 der vorliegenden Schlussanträge.


92      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 127), und vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat (C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 145). Vgl. Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatsphäre von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).


93      Entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik ist im Einklang mit Art. 52 Abs. 2 der Charta festzustellen, dass dieser Art. 22 im Unterschied zu anderen Artikeln des Vertrags, wie z. B. Art. 45 Abs. 3 und Art. 65 Abs. 2 AEUV, nicht vorsieht, dass die Mitgliedstaaten außerhalb der auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassenen Rechtsakte des abgeleiteten Rechts Maßnahmen erlassen können, die geeignet sind, das Wahlrecht der „mobilen“ Unionsbürger zu beeinträchtigen.


94      Vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Ab. 1 der Richtlinie 93/109 sowie Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 der Richtlinie 94/80. Siehe auch Nr. 127 der vorliegenden Schlussanträge.