Language of document : ECLI:EU:C:2024:33

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C563/22

SN,

LN, vertreten durch SN,

gegen

Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad [Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien])

(Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asyl – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen, unter denen Drittstaatsangehörige oder Staatenlose Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling haben – Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in Anspruch genommen haben – Art. 12 Abs. 1 Buchst. a – Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling – Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA – Voraussetzungen, unter denen ipso facto Anspruch auf den Schutz der Richtlinie 2011/95 besteht – Bedeutung der Wendung „[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“ – Bedeutung von Elementen, die die allgemeinen Lebensbedingungen im Gazastreifen betreffen – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Lebensbedingungen, die als „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ anzusehen sind – Schwelle – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 40 – Folgeantrag auf internationalen Schutz – Verpflichtung zur erneuten Prüfung von diese allgemeine Lage betreffenden Elementen, die bereits geprüft wurden – Art. 19 Abs. 2 der Charta – Grundsatz der Nichtzurückweisung)






I.      Einleitung

1.        Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, im Folgenden: UNRWA) wurde nach dem israelisch-arabischen Konflikt von 1948 eingerichtet, um direkte Nothilfe- und Wiederaufbauprogramme für bei ihm registrierte Staatenlose palästinensischer Herkunft durchzuführen(2). Sein Einsatzgebiet umfasst den Libanon, Syrien, Jordanien, das Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem) und den Gazastreifen. Das Mandat des UNRWA wurde sukzessive verlängert und besteht aktuell noch bis zum 30. Juni 2026(3).

2.        SN und LN, die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, sind Staatenlose palästinensischer Herkunft, die im Gazastreifen gelebt haben und beim UNRWA registriert sind. Sie beantragen zum zweiten Mal in Bulgarien Asyl, nachdem ihre Erstanträge auf internationalen Schutz von den Behörden dieses Mitgliedstaats abgelehnt wurden. Sie machen geltend, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft nach der lex specialis in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU(4) zuerkannt werden müsse. Nach dieser Bestimmung sind Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben, von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen. Der Ausschluss greift jedoch nicht mehr, wenn dieser Schutz oder Beistand „nicht länger gewährt“ wird.

3.        Der vorliegende Fall wirft – insbesondere im Licht der Ereignisse, die sich seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 im Gazastreifen zugetragen haben – eine offensichtlich wichtige und sensible Frage auf: Kann angesichts der allgemein in dieser Region herrschenden Lebensbedingungen davon ausgegangen werden, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird, ohne dass die Betroffenen nachweisen müssen, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen von diesen Lebensbedingungen spezifisch betroffen sind?

4.        Der Ausgangsrechtsstreit geht auf die Zeit vor diesen Ereignissen zurück. Die Klage von SN und LN und die Gesichtspunkte, auf die sich der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) in seinem Vorabentscheidungsersuchen stützt, betreffen nämlich die Situation im Gazastreifen in der Zeit bis zu der Vorlageentscheidung, die am 9. August 2022 erging. Gleichwohl wird, wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen ausführen werde, bei jeder Beurteilung, die dieses Gericht oder die zuständigen nationalen Behörden vorzunehmen haben werden, die aktuelle Lage in dieser Region, über die verschiedene Organe und Vertreter der Vereinten Nationen ernste Besorgnis geäußert haben, berücksichtigt werden müssen(5).

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

1.      Die Genfer Flüchtlingskonvention(6)

5.        Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention bestimmt:

„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genießen.

Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Personen endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.“

6.        In Anbetracht seiner Tätigkeit ist das UNRWA als „Organisation oder … Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge“ im Sinne von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen.

2.      Einschlägige Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

a)      Vor dem 7. Oktober 2023 verabschiedete Resolutionen

7.        Seit der Gründung des UNRWA haben die Generalversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zahlreiche Resolutionen zum UNRWA oder zur Situation in seinem Einsatzgebiet verabschiedet. In der Resolution Nr. 74/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2019 heißt es:

Die Generalversammlung,

im Bewusstsein der zunehmenden Bedürfnisse der Palästinaflüchtlinge in allen Einsatzgebieten, namentlich in der Arabischen Republik Syrien, Jordanien, Libanon und dem besetzten palästinensischen Gebiet,

mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis über die besonders schwierige Lage der unter der Besatzung lebenden Palästinaflüchtlinge, namentlich im Hinblick auf ihre Sicherheit, ihr Wohlergehen und ihre sozioökonomischen Lebensbedingungen,

insbesondere mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis über die ernste humanitäre und sozioökonomische Lage der Palästinaflüchtlinge im Gazastreifen und unterstreichend, wie wichtig Nothilfe und humanitäre Hilfe und dringende Wiederaufbaubemühungen sind,

3. bekräftigt, dass die Arbeit des [UNRWA] fortgesetzt werden muss und dass sein ungehinderter Betrieb und seine Erbringung von Diensten, einschließlich Nothilfe, für das Wohlergehen, den Schutz und die menschliche Entwicklung der Palästinaflüchtlinge und für die Stabilität der Region wichtig sind, solange es keine gerechte Lösung der Frage der Palästinaflüchtlinge gibt;

4. ruft alle Geber auf, sich weiter verstärkt zu bemühen, den voraussichtlichen Bedarf des [UNRWA], auch im Hinblick auf den Anstieg der Ausgaben und des Bedarfs infolge der Konflikte und der Instabilität in der Region und der ernsten sozioökonomischen und humanitären Lage, insbesondere im besetzten palästinensischen Gebiet, sowie den Bedarf zu decken, der im Rahmen der jüngsten Appelle und Pläne betreffend Nothilfe, Wiederherstellung und Wiederaufbau für den Gazastreifen … genannt ist;“

…“

b)      Seit dem 7. Oktober 2023 verabschiedete Resolutionen

8.        Die Ereignisse im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 haben die Generalversammlung der Vereinten Nationen veranlasst, am 26. Oktober 2023 eine Resolution mit dem Titel „Schutz von Zivilpersonen und Wahrung rechtlicher und humanitärer Verpflichtungen“ anzunehmen, in der sie „einen sofortigen, dauerhaften und anhaltenden humanitären Waffenstillstand, der zu einer Einstellung der Feindseligkeiten [im Gazastreifen] führt“, fordert(7). Sie weist u. a. auf die „starke Verschlechterung der Lage“ hin, beklagt „die zahlreichen Opfer unter der Zivilbevölkerung und die umfangreichen Zerstörungen“ und bringt tiefe Besorgnis „über die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen und deren enorme Folgen für die Zivilbevölkerung, die größtenteils aus Kindern besteht“ zum Ausdruck.

9.        Auf diese Resolution folgte am 15. November 2023 die Resolution 2712 (2023) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, in der u. a. dringend längere humanitäre Pausen im Gazastreifen gefordert wurden(8).

10.      Am 12. Dezember 2023 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution mit dem Titel „Schutz von Zivilpersonen und Wahrung rechtlicher und humanitärer Verpflichtungen“ an(9). Darin verlangte sie eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen und die Gewährleistung humanitären Zugangs zu diesem Gebiet. Sie verlangte außerdem erneut, dass die Konfliktparteien ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere im Hinblick auf den Schutz von Zivilpersonen, nachkommen und dass alle Geiseln sofort und bedingungslos freigelassen werden.

11.      Am 22. Dezember 2023 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 2720 (2023)(10), in der er auf alle seine einschlägigen Resolutionen, insbesondere die Resolution 2712 (2023) hinweist. Er drückt u. a. seine tiefe Besorgnis „über die rasche Verschlechterung der ohnehin katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen und ihre schwerwiegenden Folgen für die Zivilbevölkerung“ aus, hebt die „[dringende] Notwendigkeit des uneingeschränkten, raschen, sicheren und ungehinderten humanitären Zugangs zum und im gesamten Gazastreifen“ hervor und nimmt die „besorgniserregenden Berichte der Führungsverantwortlichen der Vereinten Nationen und humanitärer Organisationen diesbezüglich“ zur Kenntnis. Er gibt ferner erneut „seiner großen Besorgnis über die unverhältnismäßig starken Auswirkungen des Konflikts auf das Leben und das Wohlergehen der Kinder, Frauen und anderer schutzbedürftiger Zivilpersonen“ Ausdruck.

B.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2011/95

12.      Art. 12 („Ausschluss“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er

a)      den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie;

…“.

2.      Richtlinie 2013/32(11)

13.      Art. 40 („Folgeanträge“) der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)      Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

…“

C.      Nationales Recht

14.      Die Richtlinie 2011/95 und die Richtlinie 2013/32 wurden durch den Zakon za ubezhishteto i bezhantsite (Asyl- und Flüchtlingsgesetz, im Folgenden: ZUB) in bulgarisches Recht umgesetzt.

15.      In den Art. 8 und 9 ZUB sind im Wesentlichen die in der Richtlinie 2011/95 genannten Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes übernommen worden. Art. 12 Abs. 1 ZUB entspricht inhaltlich Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie.

16.      In Art. 75 Abs. 2 ZUB heißt es:

„Bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sind alle maßgeblichen Tatsachen zu berücksichtigen …, die die persönliche Situation des Antragstellers oder die Lage in seinem Herkunftsland … betreffen“.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17.      Die 1995 geborene SN und ihr Kind LN sind Staatenlose palästinensischer Herkunft. Sie verließen den Gazastreifen im Juli 2018 und hielten sich 45 Tage lang in Ägypten und sieben Monate lang in der Türkei auf. Sie reisten mit KN, dem Ehemann von SN und Vater von LN, unrechtmäßig durch Griechenland in das bulgarische Hoheitsgebiet ein.

18.      Am 22. März 2019 stellten SN und LN bei der Darzhavna agentsia za bezhantsite (Staatliche Agentur für Flüchtlinge, Bulgarien, im Folgenden: DAB) Anträge auf internationalen Schutz. Sie stützten ihren Anspruch auf mehrere Elemente, u. a. auf das Fehlen menschenwürdiger Lebensbedingungen und die Instabilität im Gazastreifen sowie auf die fast ununterbrochen andauernden bewaffneten Konflikte durch israelische Militäraktionen und die Spannungen zwischen Fatah und Hamas. SN wies außerdem darauf hin, dass das Leben von KN durch mehrere Bombenangriffe gefährdet gewesen sei, während er bei der Arbeit gewesen sei, und dass ihr Haus in der Nähe eines Polizeireviers liege, das oft Ziel von Raketen sei.

19.      SN und LN erwähnten in ihren Anträgen nicht, dass sie beim UNRWA registriert waren.

20.      Mit Bescheid vom 5. Juli 2019 lehnte der Predsedatel der DAB (Vorsitzender der DAB) die Anträge von SN und LN auf internationalen Schutz ab. Er stellte fest, dass SN und LN nicht gezwungen gewesen seien, den Gazastreifen wegen der tatsächlichen Gefahr von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Todesstrafe oder Hinrichtung oder einer sonstigen ernsthaften Bedrohung zu verlassen. Sie seien auch im Fall einer Rückkehr in den Gazastreifen nicht solchen Bedrohungen ausgesetzt, da sie nicht nachgewiesen hätten, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen seien. Darüber hinaus habe der Gerichtshof zwar im Urteil Elgafaji(12) bestätigt, dass unter bestimmten Umständen der einen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreichen könne, dass Personen, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragten, nicht nachweisen müssten, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen seien, aber die Lage in dieser Region sei – anders als in dem Fall, in dem dieses Urteil ergangen sei – zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht als bewaffneter Konflikt einzustufen gewesen. Schließlich wies der Vorsitzende der DAB darauf hin, dass SN und LN in Ägypten oder in der Türkei hätten bleiben können und dass sie nur deshalb nach Bulgarien eingereist seien, um in den Genuss besserer wirtschaftlicher Bedingungen zu kommen.

21.      Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wurde dieser Bescheid rechtskräftig.

22.      Am 21. August 2020 stellten SN und LN erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie wiesen nach, dass sie beim UNRWA registriert waren, und machten geltend, dass die lex specialis in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 daher auf sie anwendbar sei. Nach dieser Bestimmung sei ihnen die Flüchtlingseigenschaft ipso facto zuzuerkennen, da davon auszugehen sei, dass ihnen der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ worden sei.

23.      Das Intervyuirasht organ na DAB (Anhörungsstelle der DAB) erklärte die Folgeanträge von SN und LN für zulässig.

24.      Zur Begründung ihres Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft legten SN und LN mehrere Dokumente vor, die ihrer Ansicht nach belegten, dass das UNRWA zur maßgeblichen Zeit (im Jahr 2020) im Gazastreifen unter sehr schlechten Bedingungen tätig gewesen sei.

25.      Insbesondere trug SN vor, dass sich die Lage im Gazastreifen in den letzten Jahren, vor allem seit der Corona-Pandemie, verschlechtert habe. Die Arbeitslosigkeit sei besonders hoch gewesen, und diejenigen, die gearbeitet hätten, seien nicht bezahlt worden. Es sei eine Ausgangssperre verhängt worden, die Schulen seien geschlossen geblieben, und die Hamas habe Personen daran gehindert, ihre Häuser zu verlassen, und wiederholt Angriffe auf Israel ausgeführt. Die Hälfte des Hauses, in dem sie als Familie gelebt hätten, sei aufgrund seiner Nähe zu einem Polizeirevier durch Raketen zerstört worden, und im Jahr 2014 sei das Dach so stark beschädigt worden, dass sie über einen Zeitraum von zwei Jahren nicht dort hätten wohnen können.

26.      Mit Bescheid vom 14. Mai 2021 lehnte der Zamestnik-predsedatel der DAB (Stellvertretender Vorsitzender der DAB) die Folgeanträge von SN und LN ab. Er führte aus, dass die DAB, da es sich bei diesen Anträgen um „Folgeanträge“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 handele, nicht verpflichtet sei, alle ihnen zugrunde liegenden Elemente zu prüfen. Die Prüfung der Frage, ob SN und LN die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei, könne sich darauf beschränken, erstens festzustellen, ob „neue Elemente“ vorlägen, zweitens die Relevanz dieser Elemente im Hinblick auf die persönliche Situation von SN und LN oder die Situation in ihrem Herkunftsland zu bewerten, und drittens festzustellen, ob diese Elemente hinreichend nachgewiesen seien.

27.      Der Stellvertretende Vorsitzende der DAB wies darauf hin, dass die Registrierung von SN und LN beim UNRWA zwar als „neues Element“ vorgetragen worden sei, für die persönliche Situation von SN und LN aber unerheblich sei. Erstens seien SN und LN in der Vergangenheit tatsächlich in den Genuss des Schutzes oder Beistands des UNRWA gekommen, und der einzige Grund dafür, dass sie ihn nicht mehr in Anspruch nehmen könnten, sei, dass sie das Einsatzgebiet dieser Organisation freiwillig verlassen hätten. Zweitens gebe es keinen Grund zu der Annahme, dass SN und LN nicht wieder in den Genuss des Schutzes oder Beistands des UNRWA kommen könnten, wenn sie in den Gazastreifen zurückkehrten. Außerdem belege das Vorbringen von SN und LN zur allgemeinen Situation im Gazastreifen nicht, dass sie persönlich verfolgt würden oder anderen ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt seien. Das Fehlen solcher Bedrohungen bedeute, dass sie die Voraussetzungen für die Gewährung des internationalen Schutzes nicht erfüllten.

28.      SN und LN fochten diesen Bescheid vor dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt), dem vorlegenden Gericht, an. SN machte insbesondere geltend, ihre Rückkehr in den Gazastreifen (gemeinsam mit LN) würde gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen, wonach die Mitgliedstaaten davon absehen müssten, eine Person in einen Staat zu schicken, in dem für sie die ernsthafte Gefahr der Todesstrafe oder Hinrichtung, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bestehe.

29.      Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, wie Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, der Folgeanträge betrifft, unter diesen Umständen auszulegen ist. Es führt aus, SN und LN hätten ihre Folgeanträge auf den Nachweis ihrer Registrierung beim UNRWA gestützt, einen Umstand, den sie im Rahmen ihrer früheren Anträge nicht offengelegt hätten. Allerdings könne keines der von SN und LN im Hinblick auf die Gründe, aus denen sie den Gazastreifen verlassen hätten, angeführten Elemente als „neu“ angesehen werden, da alle diese Elemente bereits im Rahmen des ihre früheren Anträge betreffenden Verfahrens geprüft worden seien.

30.      Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob davon auszugehen sei, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA SN und LN angesichts der allgemeinen Lage im Gazastreifen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ worden sei. In diesem Zusammenhang führt es aus, dass die allgemeine Lage, die sich in den letzten Jahren verschlechtert habe, die Fähigkeit des UNRWA, Staatenlosen palästinensischer Herkunft im Gazastreifen tatsächlich Schutz oder Beistand zu leisten, unbestreitbar beeinträchtigt habe. Zudem verfüge das UNRWA nicht über ausreichende Mittel und befinde sich in finanziellen Schwierigkeiten.

31.      Insoweit verweist das vorlegende Gericht auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. April 2018 zur Lage im Gazastreifen(13), in der festgestellt werde, dass diese Region unter einer „beispiellosen humanitären Krise …, die sich immer weiter zuspitzt“, leide. Außerdem verweist es auf ein Dokument mit dem Titel „UNHCR Position on Returns to Gaza“ vom März 2022(14), in dem der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) darauf hingewiesen habe, dass Zivilisten, die aus dem Gazastreifen flüchteten, nicht unter Zwang in dieses Gebiet zurückgeführt werden sollten, da Beweise für schwerwiegende Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und für eine anhaltende Instabilität vorlägen.

32.      In Anbetracht dieser Umstände fragt das vorlegende Gericht, ob es davon ausgehen müsse, dass sich SN und LN in einer Situation „extremer materieller Not“ im Sinne des Urteils in der Rechtssache Jawo(15) befänden, wenn sie gezwungen würden, in den Gazastreifen zurückzukehren. Nach diesem Urteil müssten SN und LN nachweisen, dass ihre Rückkehr in den Gazastreifen sie in eine Situation brächte, die es ihnen nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und dass dies ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar sei. Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Wohlergehen und die Sicherheit von LN (die ein Kind ist), sicherlich gefährdet wären, wenn sie gezwungen wäre, in den Gazastreifen zurückzukehren. Der Grund, aus dem SN und LN den Gazastreifen verlassen hätten, hänge jedoch nicht mit einer ernsthaften Bedrohung ihrer persönlichen Sicherheit, sondern nur mit der allgemeinen Situation in diesem Gebiet zusammen.

33.      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Folgt aus Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, dass im Fall der Zulassung zur Prüfung eines von einem staatenlosen Antragsteller palästinensischer Herkunft gestellten Folgeantrags auf internationalen Schutz, der aufgrund seiner Registrierung beim UNRWA gestellt wurde, dass die in der Bestimmung vorgesehene Verpflichtung der zuständigen Behörden, alle Elemente, die den weiteren Angaben im Rahmen des Folgeantrags zugrunde liegen, zu berücksichtigen und zu prüfen, unter den Umständen der Rechtssache auch die Verpflichtung umfasst, die Gründe, aus denen die Person das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, neben den neuen Elementen oder Umständen, die Gegenstand des Folgeantrags sind, zu prüfen, wenn man sie in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 auslegt? Hängt die Erfüllung der genannten Verpflichtung von dem Umstand ab, dass die Gründe, aus denen die Person das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, bereits im Rahmen des Verfahrens über den ersten Antrag auf internationalen Schutz geprüft wurden, das mit einem bestandskräftigen ablehnenden Bescheid beendet wurde, in dem der Antragsteller seine Registrierung beim UNRWA allerdings weder geltend gemacht noch nachgewiesen hat?

2.      Folgt aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, dass die in der Bestimmung enthaltene Wendung „[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“ auf eine staatenlose Person palästinensischer Herkunft anwendbar ist, die beim UNRWA registriert war und die in Gaza-Stadt mit Nahrungsmitteln, Gesundheitsdiensten und Bildungsleistungen vom UNRWA unterstützt wurde, ohne dass Anhaltspunkte für eine persönliche Bedrohung dieser Person vorliegen, die Gaza-Stadt freiwillig und rechtmäßig verlassen hat, wenn man die in der Rechtssache vorliegenden Informationen berücksichtigt:

–        Bewertung der allgemeinen Lage zum Zeitpunkt des Verlassens als eine noch nie dagewesene humanitäre Krise, verbunden mit einem Mangel an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Gesundheitsdiensten, Arzneimitteln sowie mit Problemen der Wasser- und der Stromversorgung, mit der Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur, Arbeitslosigkeit,

–        Schwierigkeiten des UNRWA, die Gewährleistung von Unterstützung und Dienstleistungen, auch in Form von Nahrungsmitteln und Gesundheitsdiensten, in Gaza aufrechtzuerhalten, die auf ein erhebliches Defizit im Haushalt des UNRWA und auf den ständigen Zuwachs der auf die Unterstützung durch das Hilfswerk angewiesenen Personen zurückzuführen sind, wobei die allgemeine Lage in Gaza die Tätigkeit des UNRWA untergräbt?

Ist diese Frage allein deshalb anders zu beantworten, weil der Antragsteller eine schutzbedürftige Person im Sinne von Art. 20 Abs. 3 dieser Richtlinie ist, nämlich ein minderjähriges Kind?

3.      Ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass ein Antragsteller, der internationalen Schutz begehrt und ein beim UNRWA registrierter palästinensischer Flüchtling ist, in das von ihm verlassene Einsatzgebiet des UNRWA, konkret nach Gaza-Stadt, zurückkehren kann, wenn zum Zeitpunkt der Verhandlung vor Gericht über seine Klage gegen einen ablehnenden Bescheid

–        keine gesicherten Informationen darüber vorliegen, dass diese Person die Unterstützung durch das UNRWA in Bezug auf Nahrungsmittel, Gesundheitsdienste, Arzneimittel und medizinische Versorgung, Bildung in Anspruch nehmen könnte,

–        die Informationen über die allgemeine Lage in Gaza-Stadt und über das UNRWA in der Position des UNHCR zur Rückkehr in den Gazastreifen vom März 2022 als Gründe für das Verlassen des Einsatzgebiets des UNRWA und für die Nicht-Rückkehr bewertet wurden,

–        einschließlich des Umstands, dass sich der Antragsteller im Fall einer Rückkehr dort unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten kann?

Fällt die persönliche Situation einer Person, die internationalen Schutz beantragt, angesichts der Lage im Gazastreifen zum genannten Zeitpunkt und soweit die Person auf die Unterstützung des UNRWA für Nahrungsmittel, Gesundheitsdienste, Arzneimittel und medizinische Versorgung angewiesen ist, im Hinblick auf die Anwendung und Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Bezug auf diesen Antragsteller in den Anwendungsbereich der in Nr. 4 des Tenors des Urteils vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218) gegebenen Auslegung betreffend extreme materielle Not nach Art. 4 der Charta?

Ist die Frage nach der Rückkehr nach Gaza-Stadt auf der Grundlage der Informationen über die allgemeine Lage in Gaza-Stadt und über das UNRWA allein deshalb, weil die Person, die Schutz beantragt, ein minderjähriges Kind ist, unter Berücksichtigung der Wahrung des Kindeswohls sowie der Gewährleistung seines Wohlergehens und seiner sozialen Entwicklung, seines Schutzes und seiner Sicherheit anders zu beantworten?

4.      Je nach Antwort auf die dritte Frage:

Ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 und insbesondere die in dieser Bestimmung enthaltene Wendung „genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie“ im vorliegenden Fall dahin auszulegen, dass

A)       in Bezug auf eine Person, die Schutz beantragt und bei der es sich um einen beim UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser handelt, der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 19 der Charta anwendbar ist, weil die Person im Fall der Rückkehr nach Gaza-Stadt dem Risiko einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, da sie in extreme materielle Not geraten könnte, und für die Gewährung subsidiären Schutzes in den Anwendungsbereich von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 fällt,

oder

B)       diese Vorschrift in Bezug auf eine Person, die Schutz beantragt und bei der es sich um einen beim UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser handelt, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie durch diesen Mitgliedstaat und die Gewährung von Rechts wegen der Flüchtlingseigenschaft an diese Person voraussetzt, sofern sie nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie fällt, entsprechend Nr. 2 des Tenors des Urteils vom 19. Dezember 2019, Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, EU:C:2012:826), ohne dass die für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 relevanten Umstände in Bezug auf diese Person berücksichtigt werden?

34.      Das Vorabentscheidungsersuchen vom 9. August 2022 ist am 22. August 2022 in das Register der Kanzlei eingetragen worden. Die bulgarische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

IV.    Würdigung

35.      Die Richtlinie 2011/95 legt die Voraussetzungen fest, die Asylbewerber erfüllen müssen, um in der Union internationalen Schutz zu erhalten. Sie ist im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks, der u. a. darin besteht, zu gewährleisten, dass alle Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, sowie unter Wahrung der Genfer Flüchtlingskonvention und der übrigen in Art. 78 Abs. 1 AEUV aufgeführten einschlägigen Verträge auszulegen. Dabei sind zudem, wie dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 zu entnehmen ist, die in der Charta anerkannten Rechte zu achten(16).

36.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, der inhaltlich Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, enthält eine Sonderregelung für Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache  SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)(17) ausgeführt habe, enthält diese Bestimmung sowohl eine Ausschlussklausel als auch eine Einschlussklausel.

37.      Zum einen sieht Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 nämlich vor, dass eine Person, die in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention fällt, von der Anerkennung als Flüchtling nach dieser Richtlinie ausgeschlossen ist, ebenso wie sie von der Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention ausgeschlossen ist. Obwohl dies weder in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 noch in Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention ausdrücklich so formuliert ist, gilt die dort enthaltene Ausschlussklausel in der Praxis nur für Staatenlose palästinensischer Herkunft und ganz konkret nur für solche, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben(18).

38.      Zum anderen fällt eine solche Person, wenn davon ausgegangen werden kann, dass dieser Schutz oder Beistand „nicht länger gewährt“ wird, nicht mehr unter diese Ausschlussklausel und genießt „ipso facto den Schutz“ der Richtlinie 2011/95 (ebenso wie sie ipso facto den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention genießt). Sie gelangt „ipso facto“ („as of right“)(19) in den Genuss dieser Regelung, ohne die für andere Asylbewerber geltenden Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Die Flüchtlingseigenschaft wird jedoch weder automatisch noch bedingungslos zuerkannt, da die zuständigen nationalen Behörden z. B. in jedem Einzelfall prüfen müssen, ob die betreffenden Personen unter einen der Ausschlussgründe in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie fallen(20), die Personen betreffen, bei denen schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass sie bestimmte Straftaten begangen, dazu angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

39.      Wie Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Bolbol(21) ausgeführt hat, entstand Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention vor einem besonderen Hintergrund. Er wurde kurz nach dem israelisch-arabischen Konflikt von 1948 entworfen, um u. a. einen Massenexodus aus dem geografischen Gebiet, das einstmals Palästina darstellte, zu verhindern und zugleich zu gewährleisten, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft – die von der internationalen Gemeinschaft als Flüchtlinge anerkannt worden sind(22) – weiterhin tatsächlichen Schutz oder Beistand genießen, bis ihre Lage gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist(23).

40.      Dementsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Zweck von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 auf der Erwägung beruht, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft die Möglichkeit haben müssen, vom UNRWA tatsächlich Schutz oder Beistand zu erhalten, und nicht darauf, dass ihnen nur der Bestand einer mit der Gewährung dieses Beistands oder Schutzes betrauten Organisation oder Institution gesichert ist(24).

41.      In diesem Zusammenhang betrifft die erste Frage des vorlegenden Gerichts ein spezifisches verfahrensrechtliches Problem, das darauf beruht, dass SN und LN im Ausgangsverfahren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zum zweiten Mal beantragen. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, zu klären, ob die zuständigen nationalen Behörden, wenn ein Staatenloser palästinensischer Herkunft nach der Ablehnung seines ersten Antrags einen solchen „Folgeantrag“ stellt, die tatsächlichen Elemente im Hinblick auf die Gründe, aus denen der Betroffene das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, auch dann erneut prüfen müssen, wenn sie sie im Verfahrens über den Erstantrag bereits geprüft haben. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die zuständigen nationalen Behörden diese Elemente in dem ersten Verfahren jedoch geprüft haben, um festzustellen, ob der Betroffene die allgemeinen Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, nicht aber, um festzustellen, ob die lex specialis in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 auf ihn anzuwenden ist (weil der Antragsteller nicht angegeben hatte, dass er beim UNRWA registriert war) (A).

42.      Die zweite und die dritte Frage, die ich zusammen prüfen werde, sind allgemeiner gefasst und heikel. Wie ich oben in der Einleitung ausgeführt habe, wird der Gerichtshof im Wesentlichen ersucht, zu klären, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA in Bezug auf Antragsteller, die diesen Schutz oder Beistand in Anspruch genommen und im Gazastreifen gelebt haben, angesichts der dort allgemein herrschenden Lebensbedingungen als im Sinne dieser Bestimmung „nicht länger gewährt“ angesehen werden kann, ohne dass die Antragsteller nachweisen müssten, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen von diesen Lebensbedingungen spezifisch betroffen sind (B).

43.      Die vierte Frage betrifft das Verhältnis – und mögliche Überschneidungen – zwischen den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Person ipso facto Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 hat, und den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ihr subsidiärer Schutz gewährt wird (C).

A.      Zur ersten Frage: Erforderlichkeit der erneuten Prüfung tatsächlicher Elemente, die bereits in einem früheren Verfahren geprüft wurden, das auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt wurde

44.      Wie ich bereits ausgeführt habe, handelt es sich bei den Anträgen von SN und LN auf internationalen Schutz im Ausgangsverfahren um „Folgeanträge“. Ein Folgeantrag ist in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert als ein „weitere[r] Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird“.

45.      Das vorlegende Gericht hat nicht die Frage aufgeworfen, ob die Richtlinie 2013/32, die die Verfahrensregeln enthält, die die zuständigen nationalen Behörden bei der Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz im Allgemeinen zu beachten haben, auf Staatenlose palästinensischer Herkunft anwendbar ist, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben. Bedenkt man, dass solche Personen gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 grundsätzlich von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sind, könnte man sich fragen, ob sie auch von der Anwendung (aller oder zumindest einiger) der Verfahrensvorschriften der Richtlinie 2013/32 ausgeschlossen sind. Insoweit möchte ich jedoch anmerken, dass es in dieser Richtlinie keine entsprechende Regelung gibt. Außerdem halte ich es für folgerichtig, dass die in dieser Richtlinie enthaltenen Verfahrensvorschriften auf solche Personen Anwendung finden. Denn obwohl diese Personen (gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95) nicht unter den gleichen materiellen Voraussetzungen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben wie andere Asylbewerber, sehe ich keinen Grund dafür, dass ihre Anträge wegen der unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen anderen Verfahrensvorschriften nach der Richtlinie 2013/32 unterliegen sollten.

46.      In ihren Erstanträgen auf internationalen Schutz (die von der DAB abgelehnt wurden) hatten SN und LN weder vorgetragen, dass sie beim UNRWA registriert seien, noch, dass sie unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 fielen. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die DAB die Erstanträge ablehnte, weil SN und LN die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen allgemeinen Kriterien, die sich aus der genannten Richtlinie und insbesondere aus deren Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 ergeben, nicht erfüllten. Die Ablehnung stützte sich daher nicht auf die lex specialis in diesem Art. 12 Abs. 1 Buchst. a.

47.      Die Folgeanträge von SN und LN unterscheiden sich von ihren Erstanträgen insoweit, als SN und LN in den Folgeanträgen geltend machen, dass sie beim UNRWA registriert seien und nach dieser Vorschrift Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass SN und LN beim UNRWA registriert sind, ein „neues Element“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 ist. Nach diesen Bestimmungen kann ein Element als „neu“ angesehen werden, wenn es nach dem Erlass der Entscheidung über den früheren Antrag des Antragstellers zutage tritt oder wenn der Antragsteller es erstmals im Rahmen seines Folgeantrags vorbringt(25). Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist es daher nicht erforderlich, dass das „neue Element“ erst nach der bestandskräftigen Entscheidung über die früheren Anträge der Betroffenen zutage getreten ist(26). Zwar waren SN und LN zum Zeitpunkt des ersten Antrags auf internationalen Schutz bereits beim UNRWA registriert, doch wurde diese Tatsache der DAB vor der Stellung der Folgeanträge weder offengelegt noch zugänglich gemacht. Dieses „neue Element“ führt zur Anwendung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 und eröffnet damit eine andere Rechtsgrundlage, auf die SN und LN ihren Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stützen können.

48.      Unter diesen Umständen fragt das vorlegende Gericht, ob die DAB verpflichtet war, bei der Prüfung der Folgeanträge von SN und LN in der Sache nicht nur den Umstand, dass sie beim UNRWA registriert waren (im Folgenden: neues Element), sondern auch die anderen aus den Akten ersichtlichen tatsächlichen Elemente, insbesondere diejenigen, die die Gründe betreffen, aus denen SN und LN den Gazastreifen verlassen haben, zu berücksichtigen, die bereits in dem früheren Verfahren geprüft worden waren. Diese Gründe beziehen sich auf die allgemeinen Lebensbedingungen, die im Gazastreifen vor der Ausreise von LN und SN aus diesem Gebiet herrschten.

49.      Das Gericht verweist auf Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, der seiner Ansicht nach eine Verpflichtung der nationalen Behörden begründet, in jedem Einzelfall sämtliche Elemente zu prüfen, die dem Folgeantrag zugrunde liegen.

50.      Diese Bestimmung enthält zwar eine solche Verpflichtung. Allerdings betrifft Art. 40 Abs. 1 nach meinem Verständnis nur zwei besondere Fälle. Der erste Fall liegt vor, wenn der Antragsteller vor einer bestandskräftigen Entscheidung über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat entweder neue Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt. Das könnte z. B. der Fall sein, wenn ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der zuständigen nationalen Behörden anhängig ist. Der zweite Fall liegt vor, wenn zwar bereits eine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist, das anwendbare nationale Recht aber die Wiederaufnahme des Verfahrens im Licht eines „neuen Elements“ zulässt(27).

51.      Wie die Kommission zu Recht vorträgt, scheint der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fall, in dem der Folgeantrag dazu führt, dass die zuständigen nationalen Behörden ein neues Asylverfahren unter Zugrundelegung einer anderen Rechtsgrundlage durchführen (hier: Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95), zu keiner dieser beiden Fallgruppen zu gehören. Das Argument, dass dieser spezifischen Bestimmung eine allgemeine Verpflichtung zur Prüfung sämtlicher einem Folgeantrag zugrunde liegenden Elemente zu entnehmen ist, überzeugt mich daher nicht.

52.      In diesem Zusammenhang fordert die bulgarische Regierung den Gerichtshof auf, seine Würdigung auf Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 statt auf deren Art. 40 Abs. 1 zu konzentrieren. Sie macht geltend, dass auf Fälle wie den vorliegenden, in denen ein neues Asylverfahren eingeleitet werde, nicht Art. 40 Abs. 1(28), sondern Art. 40 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie anwendbar sei. Nach den letzteren Absätzen sei es nicht erforderlich, die bereits im früheren Asylverfahren geprüften Elemente in dem neuen Verfahren erneut zu prüfen. Nur das „neue Element“ sei im Verfahren über den zweiten Antrag zu prüfen.

53.      Ich stimme zwar mit der bulgarischen Regierung darin überein, dass Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 für die Frage, um die es im Ausgangsverfahren geht, erheblich ist, schließe mich aber nicht der von ihr vertretenen Auslegung an. Meines Erachtens dürfen sich die zuständigen nationalen Behörden nicht darauf beschränken, nur das „neue Element“ zu prüfen.

54.      Insoweit trifft zwar zu, dass Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie(29) bestimmt, dass nur das Vorliegen „neuer Elemente“ verhindern kann, dass Folgeanträge für unzulässig erklärt werden. Daher sind grundsätzlich(30) die „neuen Elemente“ im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit solcher Anträge die einzig maßgeblichen Elemente. Dies gilt jedoch nicht, wenn ein Folgeantrag in der Sache geprüft wird (nachdem er für zulässig erachtet wurde). Diese beiden Prüfungsschritte müssen klar unterschieden werden.

55.      Sobald nämlich die zuständigen nationalen Behörden einen Folgeantrag in der Sache prüfen, sieht Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vor, dass diese Behörden einen solchen Antrag nicht allein deshalb anders behandeln dürfen, weil er nicht von einem Erstantragsteller gestellt wurde. Nach dieser Bestimmung finden im Verfahrensstadium der „Prüfung der Begründetheit“ die in Kapitel II dieser Richtlinie aufgeführten Grundsätze und Garantien Anwendung. Dieses Kapitel verlangt u. a., dass eine Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft „einzeln, objektiv und unparteiisch“ und nur „nach angemessener Prüfung“(31) getroffen wird.

56.      Ich kann dem durchaus zustimmen, dass bestimmte Tatsachen, die die zuständigen nationalen Behörden bereits in einem früheren Asylverfahren geprüft haben, mit denen identisch sein können, die sie bei der Prüfung von Folgeanträgen der Betroffenen berücksichtigen müssen, selbst wenn die beiden Verfahren auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen. Beispielsweise können diese Personen, wie vorliegend der Fall, dieselben Gründe angeben, aus denen sie ihr Herkunftsland oder ihr Herkunftsgebiet verlassen haben. Meines Erachtens entbindet dies die Behörden jedoch nicht von der Verpflichtung, die Relevanz und Richtigkeit(32) dieser Tatsachen erneut zu prüfen. Diese Verpflichtung ist zu beachten, wenn, wie im Ausgangsverfahren, die Rechtsgrundlage für die Prüfung des Folgeantrags (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95) nicht mit der Rechtsgrundlage übereinstimmt, auf die das frühere Verfahren gestützt war. In diesem Fall sind die maßgeblichen Elemente – auch wenn sie schon im früheren Verfahren geprüft wurden – erneut zu prüfen, und zwar unter Berücksichtigung der besonderen Kriterien, die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 enthält.

57.      Wie ich oben in den Nrn. 36 bis 38 ausgeführt habe, enthält diese Bestimmung eine Sonderregelung über den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, deren Kriterien von den allgemeinen Kriterien, die sich insbesondere aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2011/95 ergeben, abweichen. Findet Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie Anwendung, brauchen die zuständigen nationalen Behörden nicht zu prüfen, ob die betreffende Person in Anbetracht der Gründe, die sie dazu veranlasst haben, ihr Herkunftsgebiet zu verlassen, „begründete Furcht vor Verfolgung“ hat, wie sie es nach den allgemeinen Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die u. a. in Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie vorgesehen sind, tun müssten. Das Erfordernis einer „begründeten Furcht vor Verfolgung“ ist unerheblich bei der Prüfung, die die zuständigen nationalen Behörden nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 vorzunehmen haben und die sich auf die Frage konzentriert, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird. Die Gründe, die die Person gehabt haben mag, um ihr Herkunftsgebiet zu verlassen, dürfen in diesem Zusammenhang nur anhand dieses Erfordernisses gewürdigt werden.

58.      Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Beweise dafür, dass eine Person im Einsatzgebiet des UNRWA unter schlechten materiellen Bedingungen gelebt und das betreffende Gebiet aufgrund dieser schlechten materiellen Bedingungen verlassen hat (wie es bei SN und LN im Ausgangsverfahren der Fall zu sein scheint), sowohl für die Beantwortung der Frage maßgeblich sein können, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA dieser Person „nicht länger gewährt“ wird, so dass ihr die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ipso facto zuerkannt werden muss, als auch für die Beantwortung der Frage, ob ihr diese Eigenschaft in Anwendung der allgemeinen Kriterien, die sich u. a. aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 dieser Richtlinie ergeben, zuerkannt werden muss. Die Beweise können von den zuständigen nationalen Behörden jedoch nicht in der gleichen Weise gewürdigt werden, sondern in Abhängigkeit davon, welche dieser beiden Rechtsgrundlagen einschlägig ist. In einem Verfahren, in dem die allgemeinen Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Richtlinie 2011/95 geprüft werden (und nicht Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie), betrachten die zuständigen nationalen Behörden die Beweise dafür, dass der Betroffene unter schlechten materiellen Bedingungen gelebt hat, aus einem anderen Blickwinkel als im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a, da sie sich u. a. auf die Frage konzentrieren müssen, ob die Verschlechterung der Lebensbedingungen, denen diese Person ausgesetzt war, als „Verfolgungshandlung“(33) angesehen werden kann, und nicht auf die Frage, ob die Beweise den Umstand belegen, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird.

59.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Prüfung eines Folgeantrags auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 anhand der besonderen rechtlichen Kriterien dieser Bestimmung die tatsächlichen Elemente erneut prüfen müssen, die sie bereits in einem früheren Verfahren geprüft haben, das nicht auf diese Bestimmung gestützt war, sondern auf die allgemeinen Kriterien, die nicht unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a fallende Personen erfüllen müssen, damit ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird.

B.      Zur zweiten und dritten Frage: Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA im Licht der allgemeinen Lebensbedingungen in einem Teil seines Einsatzgebiets

60.      Mit der zweiten und der dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen darum, zu klären, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA in Bezug auf Personen, die ihn in Anspruch genommen haben, in Anbetracht der allgemeinen Lebensbedingungen im Gazastreifen (der zum Einsatzgebiet dieser Organisation gehört) als „nicht mehr gewährt“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 anzusehen ist, ohne dass diese Personen nachweisen müssten, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen von diesen Lebensbedingungen spezifisch betroffen sind. Es fragt auch, ob die Antwort auf diese Frage anders ausfallen kann, wenn es sich bei den Antragstellern Personen um Kinder handelt.

61.      Ich erinnere daran, dass es für die Anwendbarkeit der Einschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 nach dessen ausdrücklichem Wortlaut ausreicht, dass der Schutz oder Beistand einer Organisation oder Institution wie des UNRWA „aus irgendeinem Grund“ nicht länger gewährt wird.

62.      Der Gerichtshof hat zur Bedeutung dieser Formulierung ausgeführt, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht nur dann nicht mehr gewährt wird, wenn diese Organisation nicht mehr besteht, sondern auch dann, wenn der Betroffene aus von seinem Willen unabhängigen Gründen gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen(34). So verhält es sich, wenn die persönliche Lage des Betroffenen sehr unsicher ist (erste Voraussetzung)(35) und es dem UNRWA unmöglich ist, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen dieser Person in seinem Einsatzgebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe, für „menschenwürdige“ Lebensbedingungen zu sorgen, in Einklang stehen(36) (zweite Voraussetzung).

63.      Um festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind und die Betroffenen daher ipso facto Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Richtlinie 2011/95 haben, müssen die zuständigen nationalen Behörden nicht nur die Gründe prüfen, die die Antragsteller veranlasst haben, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, sondern auch, ob es ihnen derzeit möglich ist, dorthin zurückzukehren. Darauf hat der Gerichtshof im Urteil Secretary of State for the Home Department (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)(37) sehr deutlich hingewiesen, in dem er festgestellt hat, dass diese Behörden prüfen müssen, ob es derzeit möglich ist, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die tatsächlichen Umstände zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Person das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, sondern auch zu dem Zeitpunkt, zu dem ihr Antrag geprüft wird(38).

64.      Daraus folgt, dass im Hinblick auf Personen, die im Gazastreifen leben, wo sich der Grad der Unsicherheit und die Lebensbedingungen – insbesondere seit den Ereignissen, die sich dort seit dem 7. Oktober 2023 zugetragen haben – rasch verändert haben, neben den Gründen, die die betreffenden Personen ursprünglich dazu veranlasst hatten, das Gebiet zu verlassen, genaue und aktuelle Informationen über die derzeit dort herrschende allgemeine Lage berücksichtigt werden müssen.

65.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass SN und LN vor dem Verlassen des Gazastreifens keiner individuellen Bedrohung ihrer Sicherheit ausgesetzt gewesen seien und dass sie dieses Gebiet freiwillig verlassen hätten. Es führt jedoch weiter aus, dass im Gazastreifen schon im Jahr 2018, als SN und LN dieses Gebiet verlassen hätten, eine „noch nie dagewesene humanitäre Krise, verbunden mit einem Mangel an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Gesundheitsdiensten, Arzneimitteln sowie mit Problemen der Wasser- und der Stromversorgung, mit der Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur, Arbeitslosigkeit“ geherrscht habe.

66.      Hinsichtlich der Zeit danach hebt das vorlegende Gericht die Schwierigkeiten des UNRWA hervor, die Dienstleistungen (auch in Form von Nahrungsmitteln und Gesundheitsdiensten) aufrechtzuerhalten. Selbst vor den Ereignissen, die sich seit dem 7. Oktober 2023 in diesem Gebiet zugetragen haben, sei nicht sicher gewesen, dass SN und LN im Fall einer Rückkehr in den Gazastreifen die von ihnen benötigten Nahrungsmittel, Arzneimittel, Gesundheitsdienstleistungen oder Bildung vom UNRWA hätten erhalten können. Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob von irgendeinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft verlangt werden könne, in dieses Gebiet zurückzukehren.

67.      Ich stimme der Kommission darin zu, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, eine eigene Tatsachenwürdigung hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen im Gazastreifen oder der persönlichen Situation der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vorzunehmen. Es ist nämlich zu beachten, dass Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nicht die Befugnis gibt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die Befugnis, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Im vorliegenden Fall ist es daher Sache des vorlegenden Gerichts (oder gegebenenfalls der zuständigen nationalen Behörden), insbesondere im Licht der derzeit herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen im Gazastreifen zu prüfen, ob SN und LN nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben. Der Gerichtshof ist jedoch befugt, zu präzisieren, welche rechtlichen Kriterien das vorlegende Gericht oder diese Behörden dabei anzuwenden haben und welche Umstände für diese Beurteilung maßgeblich sind.

68.      Insoweit ist die zentrale Frage zu beantworten, ob es für die Feststellung, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA einer Person, die ihn im Einsatzgebiet dieser Organisation oder in einem Teil davon in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird, genügt, dass sich diese Person auf die dort herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen beruft.

1.      Zur relativen Bedeutung der Elemente, die die allgemeinen Lebensbedingungen betreffen …

69.      Es sei angemerkt, dass in Fällen, in denen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 keine Anwendung findet und die zuständigen nationalen Behörden daher die in dieser Richtlinie vorgesehenen (und sich u. a. aus deren Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 ergebenden) allgemeinen Kriterien heranziehen, um zu entscheiden, ob die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, der Umstand, dass für eine Person die ernsthafte Gefahr besteht, einem ernsthaften Schaden wegen menschenunwürdiger Lebensbedingungen, Misshandlungen, willkürlicher Gewalt oder einem sonstigen ernsthaften Schaden ausgesetzt zu sein, wenn sie in ihr Herkunftsland oder Herkunftsgebiet zurückkehrt, für sich genommen nicht dazu führt, dass sie de facto Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.

70.      In Anwendung dieser allgemeinen Kriterien wird die Flüchtlingseigenschaft nur dann zuerkannt, wenn der Asylbewerber eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2011/95 hat. Eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ besteht nur dann, wenn die maßgeblichen Handlungen „Verfolgungshandlungen“ sind (wie in Art. 9 dieser Richtlinie definiert), von bestimmten Akteuren vorgenommen werden (die in Art. 6 der Richtlinie aufgeführt sind) und mit einem besonderen Grund zusammenhängen (wie in Art. 10 der Richtlinie 2011/95 beschrieben).

71.      Allerdings kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens, auch wenn sie nicht das Ausmaß einer „begründeten Furcht vor Verfolgung“ erreicht, einen Anspruch der Betroffenen auf subsidiären Schutz begründen, einer anderen Art des internationalen Schutzes(39) (dessen Voraussetzungen sich aus Art. 15 der Richtlinie ergeben). Sie kann auch ganz allgemein eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründen, solche Personen in Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht in ihr Herkunftsland oder Herkunftsgebiet zurückzuschicken. Dieser Grundsatz ist u. a. in Art. 3 EMRK(40) und in Art. 19 Abs. 2 der Charta verankert. Insbesondere darf nach der letzteren Bestimmung niemand „in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“.

72.      Wenn Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 Anwendung findet, ist eine andere Prüfung vorzunehmen.

73.      Wie ich bereits erläutert habe, macht diese Bestimmung den Anspruch von Staatenlosen palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft davon abhängig, dass ihnen dieser Schutz oder Beistand „nicht länger gewährt“ wird. Wie ich oben in Nr. 62 ausgeführt habe, besteht die Aufgabe des UNRWA darin, für die seinem Schutz oder Beistand unterstellten Personen „menschenwürdige Lebensbedingungen“ zu gewährleisten, indem es sich um ihre Grundbedürfnisse (wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden) kümmert. Da das Verbot in Art. 4 der Charta (wonach „[n]iemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden [darf]“, was Art. 3 EMRK entspricht) in einem engen Zusammenhang mit positiven Verpflichtungen zum Schutz der Menschenwürde steht(41), ist für mich – gelinde gesagt – eindeutig, dass die Aufgabe des UNRWA als „nicht länger“ erfüllt anzusehen ist, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass solche Personen bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNRWA (oder in einen Teil davon) einer mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Behandlung ausgesetzt wären, weil ihre Grundbedürfnisse (deren Befriedigung das UNRWA gewährleisten soll) nicht befriedigt werden können. Dies umfasst menschenunwürdige Lebensbedingungen, Misshandlungen, willkürliche Gewalt und auch einen sonstigen ernsthaften Schaden, sofern sie zu körperlichen oder seelischen Schmerzen oder Leiden von solcher Intensität oder Dauer führen, dass die sich aus dieser Bestimmung ergebende Schwelle erreicht wird(42), die derjenigen in Art. 19 Abs. 2 der Charta entspricht(43). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nicht nachgewiesen werden muss, dass der ernsthafte Schaden von bestimmten Akteuren zugefügt wird oder mit einem besonderen Grund zusammenhängt und damit eine „Verfolgung“ darstellt.

74.      Ist eine Person, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat, aufgrund der Tatsache, dass das UNRWA die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleistet(44), Misshandlungen ausgesetzt, die diese Schwelle erreichen, sind die beiden oben in Nr. 62 dargelegten Voraussetzungen demnach ohne Weiteres als erfüllt anzusehen. Konkret muss davon ausgegangen werden können, dass der Betroffene „gezwungen“ war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, und daher ipso facto Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 hat.

75.      Um es klar zu sagen: Die Gefahr, einer mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Behandlung ausgesetzt zu sein, führt, wie ich soeben erläutert habe, für sich genommen nicht dazu, dass jemand Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Europäischen Union hat. Diese Bestimmung spielt jedoch eine besondere Rolle in Bezug auf Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben, und die Frage, ob sie in der Union Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 haben. Insoweit weise ich nochmals darauf hin, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft, wie ich oben in Nr. 39 ausgeführt habe, von der internationalen Gemeinschaft bereits als Flüchtlinge anerkannt sind. Der Grund dafür, dass sie nach der Richtlinie 2011/95 von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen sind, liegt darin, dass sie vom UNRWA tatsächlich Schutz oder Beistand erhalten sollten, der ihre Grundbedürfnisse (wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden) befriedigt und ihnen menschenwürdige Lebensbedingungen gewährleistet. Dieser Ausschluss lässt sich nicht mehr rechtfertigen, wenn der Umstand, dass das UNRWA die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleistet, dazu führt, dass solche Personen einer mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Behandlung ausgesetzt sind.

76.      Dies vorausgeschickt, bin ich der Ansicht, dass die Frage, ob der Nachweis einer Verschlechterung der im Einsatzgebiet des UNRWA oder in einem Teil davon herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen ausreichen kann, um zu belegen, dass der Betroffene einer mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Behandlung ausgesetzt sein wird, wenn er dorthin zurückkehrt, und dass ihm somit der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a „nicht länger gewährt“ wird, eben vom Grad dieser Verschlechterung abhängt.

77.      Einerseits stimme ich dem zu, dass allein der Umstand, dass die allgemeinen Lebensbedingungen im Einsatzgebiet des UNRWA oder in einem Teil davon schlechter sind als die, in deren Genuss eine Person käme, wenn sie in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt würde, nicht für die Annahme ausreicht, dass sie gezwungen war, dieses Gebiet zu verlassen(45). Andererseits lässt sich meines Erachtens nicht ausschließen, dass diese allgemeinen Lebensbedingungen in bestimmten Situationen so unerträglich werden können, dass sie für jeden dort lebenden Staatenlosen palästinensischer Herkunft als „menschenunwürdig“ angesehen werden könnten (a). Zwischen diesen beiden Extremen richtet sich die Antwort auf die Frage, ob man annehmen kann, dass der Betroffene aufgrund der gleichen (wenngleich nicht ganz so schwierigen) allgemeinen Lebensbedingungen „gezwungen“ war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, wie ich darlegen werde, danach, ob er zu einer besonders schutzbedürftigen Gruppe gehört (b) oder ob er aufgrund seiner persönlichen Situation als besonders schutzbedürftig oder spezifisch betroffen anzusehen ist (c).

a)      Situationen, in denen die allgemeinen Lebensbedingungen für jeden „menschenunwürdig“ sind

78.      Ich möchte daran erinnern, dass der Gerichtshof u. a. in seinem Urteil Elgafaji im Zusammenhang mit der Frage, ob subsidiärer Schutz wegen willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gewährt werden kann, bereits festgestellt hat, dass es Situationen gibt, in denen der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung ihres Lebens ausgesetzt zu sein(46).

79.      Zudem hat der Gerichtshof in seinem Urteil Jawo bereits bestätigt (wenn auch noch immer nicht im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95)(47), dass es in bestimmten geografischen Gebieten in der Praxis so erhebliche Funktionsstörungen (oder systemische Schwachstellen) geben kann, dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass jede Person, die internationalen Schutz beantragt, bei einer Überstellung oder Rückkehr in diese Gebiete in einer mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Weise behandelt wird. Unter solchen Umständen kommt eine Überstellung oder Rückkehr des Asylbewerbers in solche geografische Gebiete aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen schlicht nicht in Frage(48), ohne dass diese Personen nachweisen müssten, dass sie einer besonders schutzbedürftigen Gruppe von Asylbewerbern angehören (z. B. weil sie Kinder sind) oder dass sie aufgrund ihrer persönlichen Situation besonders schutzbedürftig sind (z. B. wegen einer Erkrankung) oder dass sie – wiederum aufgrund ihrer persönlichen Situation – von diesen allgemeinen Lebensbedingungen spezifisch betroffen sind (z. B. weil sich ihr Haus in einem Gebiet befindet, bei dem eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass es Ziel von Gewalttaten wird).

80.      Nur eine besonders ernste Situation kann zu einem solch pauschalen Verbot führen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit selbst in Situationen nicht erreicht wird, die lediglich durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der allgemeinen Lebensverhältnisse gekennzeichnet sind(49). Vielmehr muss ein ernsthaftes Risiko bestehen, dass sich Personen, die in dieses Gebiet zurückkehren, aufgrund dieser erheblichen Funktionsstörungen (oder systemischen Schwachstellen) in einer Situation extremer materieller Not befinden, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist(50).

81.      Dieser Ansatz lässt sich meiner Ansicht nach auf den Kontext von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 übertragen. Erstens ist Art. 4 der Charta eine bereichsübergreifende Bestimmung, so dass die Auslegung dieser Bestimmung durch den Gerichtshof nicht auf ein bestimmtes Instrument des abgeleiteten Rechts beschränkt ist. Zweitens kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass es in einem Teil des Einsatzgebiets des UNRWA (im vorliegenden Fall im Gazastreifen) systemische Schwachstellen von solcher Schwere gibt (z. B. aufgrund eines bewaffneten Konflikts oder einer militärischen Blockade oder aufgrund einer, wie es das vorlegende Gericht formuliert, „noch nie dagewesenen humanitären Krise“), dass eine ernsthaftes Risiko besteht, dass sich jeder, der dorthin zurückgeschickt wird, allein aufgrund seiner dortigen Anwesenheit in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde – und damit mit Art. 4 der Charta – unvereinbar ist.

82.      In solchen Fällen reicht meines Erachtens der Nachweis solcher allgemeinen Lebensbedingungen aus, was bedeutet, dass von den Antragstellern nicht verlangt werden kann, zu beweisen, dass diese allgemeinen Lebensbedingungen für sie persönlich (z. B. wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit) „menschenunwürdig“ sind oder dass sie selbst aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen (z. B. der Tatsache, dass sich ihr Haus in einer Straße befindet, die regelmäßig mit Raketen beschossen wird, wie dies bei SN und LN der Fall zu sein scheint) von diesen Bedingungen spezifisch betroffen sind(51).

83.      Nachgewiesen werden muss jedoch außerdem, dass die allgemeinen Lebensbedingungen tatsächlich für praktisch jeden als „menschenunwürdig“ und daher mit Art. 4 der Charta unvereinbar angesehen werden können, und zwar in dem Sinne, dass sie so schwierig sein müssen, dass sie die Menschen unabhängig von ihrer persönlichen Situation oder Identität betreffen können. Ist das der Fall, kann erstens davon ausgegangen werden, dass die persönliche Lage jedes Antragstellers, der in dieses Gebiet zurückkehren müsste, sehr unsicher wäre (erste von mir oben in Nr. 62 genannte Voraussetzung), und zweitens, dass das UNRWA nicht in der Lage ist, sicherzustellen, dass die Lebensbedingungen einer solchen Person mit seiner Aufgabe in Einklang zu bringen sind, „menschenwürdige“ Lebensbedingungen zu gewährleisten, indem es die Befriedigung der Grundbedürfnisse solcher Personen sicherstellt (zweite Voraussetzung). Dementsprechend ist anzunehmen, dass der Schutz oder Beistand dieser Organisation einem solchen Antragsteller im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ wird.

b)      Situationen, in denen der Antragsteller nachweisen muss, dass er einer besonders schutzbedürftigen Gruppe angehört

84.      Ein differenzierterer Ansatz ist meines Erachtens in Situationen geboten, die den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Schweregrad nicht erreichen. Denn auch in Situationen, in denen die systemischen Schwachstellen nicht so gravierend sind, dass die allgemeinen Lebensbedingungen für praktisch jeden als „menschenunwürdig“ und daher mit Art. 4 der Charta unvereinbar anzusehen sind, können dennoch „menschenunwürdige Lebensbedingungen“ für bestimmte besonders schutzbedürftige Personengruppen (oder bestimmte besonders schutzbedürftige Personen, wie ich im folgenden Abschnitt darlegen werde) herrschen, die es diesen nicht ermöglichen, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

85.      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob sich der Umstand, dass es sich bei dem Antragsteller um ein Kind handelt, auf den Schweregrad auswirkt, der erreicht werden muss, damit die allgemeinen Lebensbedingungen im Gazastreifen als „menschenunwürdig“ anzusehen sind.

86.      Ich möchte darauf hinweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass es bei der Beurteilung des Vorliegens einer „tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta“ in der Tat auf die besondere Schutzbedürftigkeit des betreffenden Asylbewerbers ankommt(52). Darüber hinaus hat der EGMR bestätigt, dass die Beurteilung des Mindestmaßes an Schwere, das die Misshandlung erreichen muss, um unter Art. 3 EMRK zu fallen, „naturgemäß relativ“ ist(53).

87.      In Bezug auf Kinder hat der EGMR in seiner Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 3 EMRK wiederholt betont, dass Kinder eine besonders schutzbedürftige Gruppe bilden und spezielle Bedürfnisse haben, die sich insbesondere unter dem Aspekt der Sicherheit und Gefahrenabwehr von denen Erwachsener unterscheiden(54). Diese Rechtsprechung wird in verschiedenen Instrumenten des Asylrechts der Union aufgegriffen, da die Mitgliedstaaten z. B. verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass die Lebensbedingungen von Kindern nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft(55) ebenso wie bis zu einer Entscheidung darüber, ob ihnen internationaler Schutz zu gewähren ist, ihren Bedürfnissen angemessen sind und ihre besondere Schutzbedürftigkeit widerspiegeln(56). Insoweit scheint allgemein anerkannt zu sein, dass Lebensverhältnisse, die für Erwachsene nicht als „menschenunwürdig“ anzusehen wären, gleichwohl für die Gruppe der Kinder so einzustufen sein könnten(57).

88.      In Anbetracht dieser Erwägungen liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass in bestimmten Situationen die allgemeinen Lebensbedingungen – auch wenn sie sich nicht in einem Maße verschlechtert haben, dass sie die ernsthafte Gefahr eines ernsthaften Schadens für praktisch jeden begründen – gleichwohl die ernsthafte Gefahr eines mit Art. 4 der Charta unvereinbaren ernsthaften Schadens für jedes Kind begründen können, da Kinder eine besonders schutzbedürftige Gruppe von Asylbewerbern darstellen.

89.      In solchen Fällen müssen Personen, die zu dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe (oder einer anderen besonders schutzbedürftigen Gruppe) gehören, meines Erachtens nicht nachweisen müssen, dass die allgemeinen Lebensbedingungen für sie persönlich „menschenunwürdig“ und daher mit Art. 4 der Charta unvereinbar sind, sofern zum einen nachgewiesen werden kann, dass diese allgemeinen Lebensbedingungen so schwierig sind, dass sie für jede dieser Gruppe angehörende Person als „menschenunwürdig“ anzusehen sind, und zum anderen, dass der Antragsteller aufgrund seiner maßgeblichen persönlichen Umstände (z. B. Alter, Geschlecht, Zustand oder Behinderung) als Mitglied dieser Gruppe einzustufen ist.

c)      Situationen, in denen der Betroffene nachweisen muss, dass er besonders schutzbedürftig oder aufgrund seiner persönlichen Situation von den allgemeinen Lebensbedingungen spezifisch betroffen ist

90.      Wie ich oben in Nr. 84 ausgeführt habe, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es auch bestimmte Situationen gibt, in denen die allgemeinen Lebensbedingungen nicht für praktisch jeden oder für eine oder mehrere besonders schutzbedürftige Personengruppen als „menschenunwürdig“ angesehen werden können und daher mit Art. 4 der Charta unvereinbar sind. Trotzdem können in solchen Situationen „menschenunwürdige Lebensbedingungen“ für bestimmte Personen vorliegen, die aufgrund ihrer persönlichen Situation als besonders schutzbedürftig anzusehen sind(58) oder die aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen (z. B. der Tatsache, dass sich ihr Haus in einer Straße befindet, die regelmäßig mit Raketen beschossen wird) von diesen allgemeinen Lebensbedingungen spezifisch betroffen sind. Wie Generalanwalt Wathelet ausgeführt hat, „stünde [es] in offenkundigem Widerspruch zum absoluten Charakter [von Art. 4 der Charta], wenn die Mitgliedstaaten die tatsächliche und erwiesene Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eines Asylbewerbers unter dem Vorwand außer Acht lassen könnten, dass sie sich nicht aus einer systemischen Schwachstelle … ergebe“(59).

91.      Der Gerichtshof hat diese Überlegungen bereits im Kontext von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 angestellt. Im Urteil SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft), das eine Person mit einer besonders schweren Erkrankung betraf, hat er nämlich festgestellt, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA als „nicht länger gewährt“ anzusehen ist, wenn diese Organisation den Zugang zu der besonderen medizinischen Versorgung und Behandlung nicht gewährleisten kann, ohne die für diese Person eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung besteht(60).

92.      In einem Fall wie dem, der dem Urteil SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) zugrunde lag, waren die allgemeinen Lebensbedingungen in einem Teil des Einsatzgebiets des UNRWA für sich genommen nicht so schwierig, dass eine mit Art. 4 der Charta unvereinbare Behandlung für jeden oder zumindest für eine bestimmte Gruppe von Personen anzunehmen war. Der Antragsteller konnte sich aber auf ganz persönliche Umstände berufen, aufgrund deren er besonders schutzbedürftig war und die allgemeinen Lebensbedingungen für ihn persönlich unerträglich und „menschenunwürdig“ (und daher mit dieser Bestimmung unvereinbar) waren.

2.       Aber Erforderlichkeit einer individuellen Prüfung jedes Einzelfalls

93.      In den vorstehenden Abschnitten habe ich drei mögliche Szenarien dargelegt, in denen davon ausgegangen werden kann, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird, weil diese Organisation nicht in der Lage ist, den Staatenlosen palästinensischer Herkunft, die ihren Schutz oder Beistand in Anspruch genommen haben, menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, indem sie im Wesentlichen sicherstellt, dass die Grundbedürfnisse dieser Personen – wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden – befriedigt werden.

94.      Meines Erachtens hängt die Bedeutung, die dabei einerseits den allgemeinen Lebensbedingungen im Einsatzgebiet des UNRWA oder in einem Teil davon und andererseits der persönlichen Situation der Betroffenen beizumessen ist, davon ab, welches dieser drei Szenarien vorliegt. In den ersten beiden Szenarien braucht nicht nachgewiesen zu werden, dass die allgemeinen Lebensbedingungen für den Betroffenen persönlich „menschenunwürdig“ sind, weil diese Bedingungen so schwierig sind, dass sie für jeden oder für eine besonders schutzbedürftige Gruppe, zu der der Betroffene gehört, als „menschenunwürdig“ und damit als mit Art. 4 der Charta unvereinbar eingestuft werden können. Im dritten Szenario muss die „Menschenunwürdigkeit“ der allgemeinen Lebensbedingungen jedoch individuell unter Berufung auf die besondere Schutzbedürftigkeit oder andere besondere Umstände des Betroffenen nachgewiesen werden.

95.      Dem möchte die folgende Bemerkung hinzufügen. Zwar sind die allgemeinen Lebensbedingungen, die in einem Teil des Einsatzgebiets des UNRWA herrschen, immer für die Frage maßgeblich, ob der Schutz oder Beistand dieser Organisation im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ wird, doch können sie nur im Rahmen einer individuellen Prüfung berücksichtigt werden. Darauf hat der Gerichtshof bereits im Urteil Abed El Karem El Kott u. a.  hingewiesen(61).  Er hat nämlich entschieden, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Prüfung, ob eine Person aus von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Gründen tatsächlich nicht mehr die Möglichkeit hatte, den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch zu nehmen, eine individuelle Prüfung aller maßgeblichen Umstände vornehmen müssen.

96.      In Anbetracht dieser Rechtsprechung teile ich daher die Auffassung der Kommission, dass die allgemeinen Elemente im Zusammenhang mit den allgemeinen Lebensbedingungen in dem betreffenden Gebiet, in dem das UNRWA tätig ist, oder in einem Teil davon (im vorliegenden Fall im Gazastreifen) immer in eine individuelle Prüfung einbezogen werden müssen. Selbst im ersten Szenario wird die Flüchtlingseigenschaft nicht automatisch jedem zuerkannt. Wie ich bereits oben in Nr. 83 ausgeführt habe, müssen die Betroffenen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, und eine Einzelfallprüfung ist erforderlich, und zwar nicht nur, um festzustellen, ob sie den Schutz oder Beistand des UNRWA in dem betreffenden Gebiet (oder in einem Teil davon) tatsächlich in Anspruch genommen haben, sondern auch, um zu klären, ob die allgemeinen Lebensbedingungen in diesem geografischen Gebiet zum Zeitpunkt der Prüfung für praktisch jeden als „menschenunwürdig“ angesehen werden können, so dass es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, allein aufgrund seiner dortigen Anwesenheit einen mit Art. 4 der Charta unvereinbaren Schaden zu erleiden, ohne dass er nachweisen muss, dass er im Fall einer Rückkehr spezifisch einem solchen Schaden ausgesetzt wäre.

97.      Die Erforderlichkeit einer solchen individuellen Prüfung ist hervorzuheben. Gäbe es dieses Erfordernis nicht, entspräche das mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 geschaffene System in gewisser Hinsicht dem mit der Richtlinie 2001/55/EG(62) eingeführten System, das im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen vorübergehenden Schutz (eine andere Form des Schutzes, der anderen Regeln folgt und weniger weit reicht als der Schutz durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus) gewährt, ohne dass die Vertriebenen individuell Anträge stellen müssten, die individuell geprüft würden. Diese Richtlinie soll nur in ganz bestimmten Situationen und erst nach einem förmlichen Beschluss des Rates der Europäischen Union Anwendung finden (ein solcher Beschluss wurde z. B. kürzlich für Vertriebene erlassen, die die Ukraine nach dem 24. Februar 2022 wegen der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte verlassen mussten)(63). Meiner Ansicht nach kann der mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 eingerichtete Mechanismus den mit der Richtlinie 2001/55 eingeführten nicht ersetzen.

98.      Ferner möchte ich daran erinnern, dass die zuständigen nationalen Behörden, wie ich bereits oben in Nr. 38 ausgeführt habe, vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 auch in jedem Einzelfall feststellen müssen, dass die betreffende Person nicht unter einen der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 und Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Ausschlussgründe fällt(64). Diese Bestimmungen sehen im Wesentlichen vor, dass einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft (auch wenn er den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat) die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er bestimmte Straftaten (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere nichtpolitische Straftaten außerhalb des Aufnahmelandes oder andere Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen) begangen, dazu angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat. Dies dürfte meines Erachtens die Begehung terroristischer Straftaten und jede Form der Beteiligung an oder Anstiftung zu solchen Taten umfassen (wie etwa, um das jüngste Beispiel zu nennen, die von der Hamas gegen Israel begangenen Taten).

99.      Daraus folgt, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Umstand, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ipso facto Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben, wenn der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, keinen bedingungslosen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling begründet(65).

C.      Zur vierten Frage: Verhältnis zwischen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 und den Bestimmungen über subsidiären Schutz

100. Nach meinem Verständnis geht es in der vierten Frage – deren Zweck und Bedeutung zugegebenermaßen auf Anhieb nicht ganz einfach zu entschlüsseln sind – um das Verhältnis zwischen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 (der die Möglichkeit eröffnet, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft unter bestimmten Voraussetzungen ipso facto Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben) und den Bestimmungen dieser Richtlinie, die den „subsidiären Schutz“ betreffen, bei dem es sich, wie ich bereits oben in Nr. 71 ausgeführt habe, um eine andere (und – im Verhältnis zur Flüchtlingseigenschaft – weniger umfassende(66)) Art des internationalen Schutzes handelt.

101. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung, der u. a. in Art. 19 Abs. 2 der Charta verankert ist, auf den Fall anwendbar ist, dass ein Staatenloser palästinensischer Herkunft zwar nicht gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, aber Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie. Der Anspruch auf subsidiären Schutz ergäbe sich daraus, dass der Betroffene bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNRWA in eine Situation „extremer materieller Not“ ähnlich der in oben in Nr. 81 beschriebenen Situation geriete.

102. Zweitens bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, klarzustellen, ob die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen der Prüfung, ob eine Person die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, nicht nur den Grundsatz der Nichtzurückweisung, sondern auch die Elemente berücksichtigen müssen, die für die Frage maßgeblich sind, ob die Person nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie Anspruch auf subsidiären Schutz hätte.

103. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)(67) ausgeführt habe, betrifft die Sonderregelung für Staatenlose palästinensischer Herkunft in der Richtlinie 2011/95 nur die Möglichkeit, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, nicht aber die Möglichkeit, ihnen subsidiären Schutz zu gewähren(68). Folglich können solche Personen ebenso wie andere Asylbewerber den subsidiären Schutzstatus nach Art. 18 dieser Richtlinie beantragen und sind nicht von diesem Status ausgeschlossen.

104. Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Person Anspruch auf subsidiären Schutz hat, ergeben sich aus Kapitel II und Kapitel V der Richtlinie 2011/95. Im Wesentlichen muss der Betroffene nachweisen, dass er einer tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist. „Ernsthafter Schaden“ ist in Art. 15 dieser Richtlinie definiert und umfasst „die Todesstrafe oder Hinrichtung“ (Art. 15 Buchst. a), „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung … im Herkunftsland“ (Art. 15 Buchst. b) und „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit [des Antragstellers] infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ (Art. 15 Buchst. c).

105. Unter Berücksichtigung dieser Elemente liegt für mich auf der Hand, dass der Schaden, dem ein Staatenloser palästinensischer Herkunft ausgesetzt wäre, wenn er in das betreffende Einsatzgebiet des UNRWA zurückkehrte, durchaus die Schwelle eines „ernsthaften Schadens“ nach Art. 15 der Richtlinie 2011/95 erreichen könnte, weil er z. B. ein Ausmaß annimmt, das als „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ (Art. 15 Buchst. b) einzustufen wäre, und zugleich so schwerwiegend ist, dass die Feststellung gerechtfertigt ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA diesem Betroffenen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie „nicht länger gewährt“ wird. Beide Regelungen (für die Zuerkennung der „Flüchtlingseigenschaft“ nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und für den „subsidiären Schutz“ nach Art. 15 Buchst. b) lassen es im Kern zu, ein ähnliches Ausmaß des Schadens zu berücksichtigen, nämlich eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“, die mit Art. 4 der Charta unvereinbar ist.

106. Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil Elgafaji(69)zu Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ausgeführt, dass es für die Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes bei einer bestimmten Person erfüllt sind, zwar grundsätzlich nicht ausreicht, dass eine mit der allgemeinen Situation in einem Land verbundene Gefahr besteht, dass es insoweit jedoch Ausnahmen gibt. In bestimmten Situationen kann nämlich der für einen bewaffneten Konflikt charakteristische Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreichen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht nachweisen müssen, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen sind. Insoweit ist der Gerichtshof im Wesentlichen dem Ansatz gefolgt, den ich im vorstehenden Abschnitt dargelegt habe. Je konkreter der Antragsteller nachweisen kann, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, desto geringer ist der Grad willkürlicher Gewalt, der erforderlich ist, damit er Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Folglich können beide Regelungen (für die Zuerkennung des Status eines „Flüchtlings“ nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 und für den Status des „subsidiären Schutzes“ nach Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie) herangezogen werden, wenn es um den Schutz Staatenloser palästinensischer Herkunft geht, die von willkürlicher Gewalt bedroht sind.

107. Ungeachtet dieser Ähnlichkeiten schließen sich die beiden Statusformen gegenseitig aus. Nicht nur kann eine Person nicht gleichzeitig beide Statusformen in Anspruch nehmen, sondern deren Zuerkennung muss auch stets unabhängig voneinander erfolgen. Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden für die Feststellung, ob einer Person gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, nicht prüfen müssen, ob sie die Voraussetzungen für die Gewährung „subsidiären Schutzes“ erfüllt.

108. Umgekehrt kann eine Person, bei der die Voraussetzungen dafür, dass der Schutz des UNRWA als „nicht länger gewährt“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 anzusehen ist, nicht vorliegen, z. B. weil die tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, der sie bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNRWA ausgesetzt wäre, in keinem Zusammenhang mit der Aufgabe dieser Organisation steht(70), noch stets „subsidiären Schutz“ beantragen und erhalten, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

109. Darüber hinaus steht fest, dass es den in Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzen würde, wenn von einer Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, verlangt würde, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren, wo sie „menschenunwürdigen Lebensbedingungen“ oder „extremer materieller Not“ ausgesetzt wäre. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Anwendung dieses Grundsatzes nicht auf Personen beschränkt ist, die Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben(71). Demzufolge gilt der Grundsatz der Nichtzurückweisung – und muss beachtet werden – unabhängig davon, welchen Status (Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus) der Betroffene möglicherweise erhalten kann.

V.      Ergebnis

110. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in Verbindung mit Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes

ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass bestimmte Elemente, auf die sich Staatenlose palästinensischer Herkunft berufen, um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 zu erreichen, von den zuständigen nationalen Behörden bereits im Rahmen eines früheren Antrags der Betroffenen geprüft wurden, der auf andere Bestimmungen dieser Richtlinie gestützt war, diese Behörden nicht von der Verpflichtung entbindet, diese Elemente im Zusammenhang mit der Frage, ob der Schutz oder Beistand im Sinne dieser Bestimmung „nicht länger gewährt“ wird, erneut zu prüfen.

2.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass es im Einsatzgebiet des UNRWA oder in einem Teil davon systemische Schwachstellen von solcher Schwere gibt, dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass sich jeder, der dorthin zurückgeschickt wird, in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde und damit mit Art. 4 der Charta unvereinbar ist. In einem solchen Fall ist es für den Nachweis, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne dieser Bestimmung „nicht länger gewährt“ wird, nicht erforderlich, dass die betreffende Person nachweist, dass die allgemeinen Lebensbedingungen in diesem Gebiet oder Gebietsteil für sie persönlich „menschenunwürdig“ sind, da die allgemeinen Lebensbedingungen für praktisch jeden als „menschenunwürdig“ angesehen werden können. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht jedoch auch in einem solchen Fall nicht bedingungslos. Die betreffende Person muss internationalen Schutz beantragen. Darüber hinaus ist weiterhin eine individuelle Prüfung erforderlich, um u. a. festzustellen, dass keiner der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe vorliegt. Ob diese Person Anspruch auf „subsidiären Schutz“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Richtlinie hat, ist für diese Prüfung unerheblich.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. Resolution 302(IV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 8. Dezember 1949. Gemäß den „Konsolidierten Anweisungen betreffend die Berechtigungsvoraussetzungen und die Registrierung“ (Consolidated Eligibility and Registration Instructions, im Folgenden: CERI) des UNRWA (abrufbar auf https://www.unrwa.org/sites/default/files/2010011995652.pdf) steht der Beistand oder Schutz des UNRWA Personen zur Verfügung, die nach den Kriterien des Hilfswerks Palästinaflüchtlinge sind (d. h. allen Personen, deren normaler Wohnort im Zeitraum zwischen 1. Juni 1946 und 15. Mai 1948 Palästina war und die infolge des Konflikts von 1948 ihr Heim und ihre Existenzgrundlage verloren haben, sowie deren Nachkommen in der männlichen Linie, einschließlich rechtmäßig adoptierter Kinder), sowie bestimmten anderen Personen, die als „Andere registrierte Personen“ bezeichnet werden. In diesem Dokument heißt es, dass „[a]lle Anträge auf Registrierung beim UNRWA … von den Mitarbeitern, die für die Prüfung der Berechtigungsvoraussetzungen und die Registrierung zuständig sind, eingehend geprüft und die Entscheidungen über das Vorliegen der Berechtigungsvoraussetzungen … von Fall zu Fall getroffen [werden].“


3      Vgl. Resolution Nr. 77/123 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 2022.


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, Berichtigung ABl. 2017, L 167, S. 58).


5      Über die alarmierende Zahl der Menschen aus der Zivilbevölkerung, die seit dem 7. Oktober 2023 ihr Leben gelassen haben, hinaus ist auch über sehr viele Todesfälle unter den in der Region tätigen Mitarbeitern des UNRWA berichtet worden. Am 27. Oktober 2023 erklärte António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, dass „das humanitäre System in Gaza vor einem vollständigen Zusammenbruch mit unvorstellbaren Folgen für mehr als zwei Millionen Zivilisten steht“ (vgl. „Erklärung des Generalsekretärs – zur humanitären Situation in Gaza“, abrufbar auf der Website der Vereinten Nationen). Philippe Lazzarini, der Generalkommissar des UNRWA, wandte sich am 30. Oktober 2023 an den UN-Sicherheitsrat und erklärte, dass „[d]as bestehende System zur Ermöglichung von Hilfslieferungen nach Gaza zum Scheitern verurteilt ist, wenn nicht der politische Wille besteht, die Menge an Hilfslieferungen auf einen Umfang zu erhöhen, der dem beispiellosen humanitären Bedarf entspricht“ (https://www.unrwa.org/newsroom/official-statements/un-security-council-emergency-briefing-situation-middle-east). Am 7. Dezember 2023 schrieb er an den Vorsitzenden der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass „die Fähigkeit des UNRWA, das Mandat der Vereinten Nationen in Gaza umzusetzen, … erheblich eingeschränkt ist, was unmittelbare und schwerwiegende Folgen für die humanitäre Hilfe der VN und das Leben der Zivilpersonen in Gaza hat“ und dass die humanitäre Lage in diesem Gebiet „unhaltbar“ sei (https://www.unrwa.org/resources/un-unrwa/letter-unrwa-commissioner-general-philippe-lazzarini-un-general-assembly). Am 29. Dezember 2023 wies er darauf hin, dass „die Lieferung dringend benötigter Hilfe weiterhin nur in geringen Mengen erfolgt und zahlreichen logistischen Hürden ausgesetzt ist“ (https://www.unrwa.org/newsroom/official-statements/gaza-strip-unrwa-calls-unimpeded-and-safe-access-deliver-much-needed). Die Ereignisse im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 haben ferner die Generalversammlung und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen veranlasst, Resolutionen zu verabschieden. Der Inhalt dieser Resolutionen wird unten in den Nrn. 8 bis 11 genauer dargestellt.


6      Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wurde am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet (United Nations Treaty Series, Bd. 189, Nr. 2545 [1954], S. 150) und trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).


7      A/RES/ES-10/21 abrufbar auf https://digitallibrary.un.org/record/4025940?ln=de.


8      S/RES/2712 (2023), abrufbar auf http://unscr.com/en/resolutions/doc/2712.


9      A/RES/ES-10/22, abrufbar auf https://digitallibrary.un.org/record/4031196?ln=en.


10      S/RES/2720 (2023), abrufbar auf https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_23/sr2720.pdf.


11      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


12      Urteil vom 17. Februar 2009 (C‑465/07, EU:C:2009:94).


13      ABl. 2019, C 390, S. 108.


14      Abrufbar auf https://www.refworld.org/docid/6239805f4.html.


15      Urteil vom 19. März 2019 (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92).


16      Vgl. Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      C‑294/22, EU:C:2023:388, Nrn. 19 bis 21. Vgl. auch Urteil vom 5. Oktober 2023, SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)  (C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 30 und 31).


18      Daher erstreckt sie sich nicht auf Personen, die berechtigt sind oder waren, den Schutz oder Beistand dieses Hilfswerks in Anspruch zu nehmen, ihn aber tatsächlich nicht in Anspruch genommen haben (vgl. Urteil vom 17. Juni 2010, Bolbol, C‑31/09, EU:C:2010:351, Rn. 51).


19      Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, EU:C:2012:826, Rn. 71, im Folgenden: Urteil Abed El Karem El Kott u. a.).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto C‑585/16, EU:C:2018:584 (Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston (C‑31/09, EU:C:2010:119, Nrn. 41 und 43).


22      Vgl. Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 13, Ziff. 2. Nach meinem Verständnis ist der gerade Umstand, dass Staatenlose palästinensischer Herkunft von der internationalen Gemeinschaft bereits als Flüchtlinge anerkannt worden sind, der Grund dafür, dass sie unter bestimmten Umständen ipso facto Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention (und der Richtlinie 2011/95) haben, ohne die allgemeinen Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft erfüllen zu müssen.


23      Vgl. auch Urteil Abed El Karem El Kott u. a., Rn. 62. Eine Lösung gibt es bis heute nicht.


24      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2023, SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)  (C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Zudem können die Mitgliedstaaten nach Art. 40 Abs. 4 dieser Richtlinie vorsehen, dass ein Folgeantrag nur dann weiter geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, das „neue Element“ im früheren Verfahren vorzubringen.


26      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Neue Elemente oder Erkenntnisse) (C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 50), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags) (C‑216/22, EU:C:2023:646, Nr. 34).


27      Zu den beiden Fallgruppen, die von Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 erfasst sind, vgl. Urteile vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 98), und vom 9. September 2021, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Folgeantrag auf internationalen Schutz) (C‑18/20, EU:C:2021:710, Rn. 23).


28      Hierfür verweist die bulgarische Regierung auf das Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Neue Elemente oder Erkenntnisse) (C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 50).


29      Nach dieser Bestimmung dürfen Folgeanträge nur dann für unzulässig erklärt werden, wenn keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie stellt auch klar, dass das „neue Element“ „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen [muss], dass der Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“.


30      Es lässt sich darüber streiten, inwieweit die Frage, ob ein „neues Element“ „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit bei[trägt]“, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, unabhängig von den anderen Elementen in der Akte geprüft werden kann, so dass die Behörden gegebenenfalls im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit auch andere Elemente berücksichtigen müssen.


31      Vgl. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2013/32.


32      Wurde eine Tatsache während des früheren Asylverfahrens als irrelevant angesehen, kann es sein, dass die zuständigen nationalen Behörden sie unberücksichtigt ließen, ohne zu prüfen, ob sie hinreichend nachgewiesen war. Es kann daher erforderlich sein, die Richtigkeit dieser Tatsache erneut zu prüfen.


33      „Verfolgungshandlungen“ sind in Art. 9 der Richtlinie 2011/95 definiert.


34      Vgl. Urteil vom 5. Oktober 2023, SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)  (C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 34 und 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie der Gerichtshof erläutert hat, kann eine bloße Abwesenheit vom Einsatzgebiet des UNRWA ohne einen Hinweis darauf, dass die betreffende Person gezwungen war, dieses Gebiet zu verlassen, oder eine freiwillige Entscheidung, dieses Gebiet zu verlassen, nicht als Wegfall des Schutzes oder des Beistands eingestuft werden.


35      Insoweit möchte ich ergänzen, dass sich, wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑294/22, EU:C:2023:388, Nr. 40), ausgeführt habe, der Begriff „sehr unsicher“ auf das tatsächliche Vorliegen der Gefahr dafür bezieht, dass die Bedrohungen für die Sicherheit der persönlichen Lage tatsächlich eintreten und die persönliche Sicherheit des Betroffenen beeinträchtigen werden, wenn er im Einsatzgebiet des UNRWA bleibt. Um als Bedrohung für die „Sicherheit der persönlichen Lage“ eingestuft werden zu können, müssen die Bedrohungen hinreichend schwerwiegend sein (mit anderen Worten müssen sie zu einem schwerwiegenden Schaden führen können).


36      Vgl. Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft)  (C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 44 und 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37      Urteil vom 3. März 2022 (C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 56 und 57). Dieses Urteil betraf die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12), die durch die Richtlinie 2011/95 aufgehoben und ersetzt wurde. Diese Bestimmung entspricht jedoch Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95.


38      Ebd., Rn. 58.


39      Vgl. Art. 2 Buchst. a, e und g der Richtlinie 2011/95.


40      Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950. Art. 4 der Charta hat gemäß deren Art. 52 Abs. 3 die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK.


41      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Achtung der Menschenwürde ist Gegenstand von Art. 1 der Charta. Wie Generalanwältin Trstenjak ausgeführt hat, ist „gemäß Art. 1 der Grundrechtecharta … die Würde des Menschen nicht nur ‚zu achten‘, sondern auch ‚zu schützen‘. Eine solche positive Schutzfunktion wohnt auch Art. 4 der Grundrechtecharta inne“ (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in den verbundenen Rechtssachen NS [C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:610, Nr. 112]).


42      Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) fällt eine Misshandlung nur dann unter Art. 3 EMRK (der Art. 4 der Charta entspricht), wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 1. Juni 2010, Gäfgen/Deutschland (CE:ECHR:2010:0601JUD002297805), § 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Art. 19 Abs. 2 der Charta setzt denselben Schweregrad des Schadens voraus wie ihr Art. 4. Auch wenn es nicht darauf ankommen mag, möchte ich anmerken, dass das vorlegende Gericht in der dritten Frage den Grundsatz der Nichtzurückweisung erwähnt und dabei ausdrücklich nicht nur auf Art. 19 Abs. 2 der Charta, sondern auch auf Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 Bezug nimmt. Die Kommission trägt vor, diese Bestimmung sei nicht anwendbar, wenn die zuständigen nationalen Behörden prüften, ob die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie erfüllt seien, weil sie sich in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 befinde und nur auf die Bestimmungen dieses Kapitels anwendbar sei, während sich Art. 12 Abs. 1 Buchst. a in Kapitel III der Richtlinie befinde. Für mich steht jedoch fest, dass Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 lediglich ein konkreter Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Nichtzurückweisung ist, den die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie zu beachten haben.


44      Ganz gleich, aus welchem Grund das UNRWA seine Aufgabe nicht erfüllt.


45      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2023, SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 45).


46      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2009  (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 43). Vgl. auch Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland (Begriff ernsthafte individuelle Bedrohung)  (C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 27 und 28), und zuletzt Urteil vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Begriff ernsthafter Schaden) (C‑125/22, EU:C:2023:843, Rn. 40 und 41).


47      Vgl. Urteil vom 19. März 2019 (C‑163/17, EU:C:2019:218). In diesem Urteil ging es um die Frage, ob Art. 4 der Charta der Überstellung eines Antragstellers in den für die Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat entgegenstehen kann, weil es dort systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen geben soll. Vgl. zu derselben Frage auch Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81 und 86 bis 94).


48      Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Jawo  (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85).


49      Ebd., Rn. 9[3].


50      Ebd., Rn. 92 und 93.


51      Vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Begriff ernsthafter Schaden) (C‑125/22, EU:C:2023:843, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 73).


53      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 25. April 1978, Tyrer/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1978:0425JUD000585672, § 30).


54      Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD00292171), § 99. Insoweit hat der EGMR darauf hingewiesen, dass Kinder spezielle Bedürfnisse haben, die u. a. mit ihrem Alter und ihrer Unselbstständigkeit, aber auch mit ihrem Status als Asylbewerber zusammenhängen.


55      Vgl. Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95, der vorsieht, dass Kinder (neben z. B. Behinderten, älteren Menschen und Schwangeren) „schutzbedürftige Personen“ sind. Nach Ansicht der Kommission ist diese Bestimmung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar. Sie weist darauf hin, dass Art. 20 Abs. 3 zu Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 gehöre. Dieses Kapitel („Inhalt des internationalen Schutzes“), zu dem Art. 12 Abs. 1 Buchst. a nicht gehöre, beziehe sich auf Garantien, die die Mitgliedstaaten vorsehen müssten, nachdem einer Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, und nicht vorher. Meines Erachtens bedeutet dies jedoch nicht, dass diese Bestimmung nicht als Indiz dafür herangezogen werden kann, dass Minderjährige allgemein als besonders schutzbedürftige Gruppe von Asylbewerbern anerkannt sind.


56      Vgl. insoweit Art. 21 der Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).


57      Ich möchte ergänzen, dass es im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt, dass „[b]ei der Umsetzung dieser Richtlinie … die Mitgliedstaaten … vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen [sollten]“ und dass die Mitgliedstaaten „[b]ei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, … insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen [sollten]“. Dieser Erwägungsgrund spiegelt den Inhalt von Art. 24 Abs. 2 der Charta wider, der bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen zu beachten ist.


58      Der Gerichtshof hat im Kern bestätigt, dass eine Situation, die nicht für alle eine extreme materielle Not darstellt, gleichwohl für einen Antragsteller als eine solche angesehen werden kann, der nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ihm eigen sind und die eine besondere Verletzbarkeit belegen (vgl. insoweit Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 95). Vgl. auch Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 73), das eine Asylbewerberin mit einer besonders schweren psychiatrischen Erkrankung, nämlich postpartaler Depression und wiederkehrenden Selbstmordtendenzen, betraf. Ich möchte auch daran erinnern, dass der EGMR insoweit im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK entschieden hat, dass die Frage, ob die Misshandlung, die die Person erlitten hat oder zu erleiden droht, das erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht, „von allen Umständen des Einzelfalls wie der Dauer der Misshandlung und ihren körperlichen oder seelischen Auswirkungen und in manchen Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers“ abhängt (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD002921712, § 118).


59      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Jawo (C‑163/17, EU:C:2018:613, Nr. 86).


60      Vgl. Urteil vom 5. Oktober 2023, SW (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 46 und 48 sowie Tenor).


61      Vgl. Rn. 64 dieses Urteils.


62      Richtlinie des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. 2001, L 212, S. 12).


63      Vgl. Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und der Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. 2022, L 71, S. 1).


64      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto (C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


65      Vgl. Urteil Abed El Karem El Kott u. a., Rn. 75.


66      Beispielsweise kann die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels kürzer sein (vgl. Art. 24 der Richtlinie 2011/95). Die Mitgliedstaaten können auch den Zugang zu Sozialhilfeleistungen beschränken (vgl. Art. 29 dieser Richtlinie).


67      C‑294/22, EU:C:2023:388, Nr. 29.


68      Vgl. Urteil in der Rechtssache Abed El Karem El Kott u. a., Rn. 68.


69      Urteil vom 17. Februar 2009  (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 36 bis 37 und 39).


70      Wie ich oben in Nr. 62 ausgeführt habe, ist die zweite Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Einschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, dass es dem UNRWA unmöglich sein muss, sicherzustellen, dass die Lebensbedingungen der betroffenen Person in seinem Einsatzgebiet mit seiner Aufgabe in Einklang stehen, „menschenwürdige“ Lebensbedingungen zu gewährleisten, indem es die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Personen, die unter seinen Schutz gestellt wurden, sicherstellt. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wäre gegen die betroffene Person nach den im Einsatzgebiet des UNRWA geltenden Gesetzen wegen einer Straftat die Todesstrafe verhängt worden, stünde dieser Schaden in keinem Zusammenhang mit der Aufgabe des UNRWA, könnte aber gleichwohl einen Anspruch dieser Person auf „subsidiären Schutz“ nach Art. 15 Buchst. a der Richtlinie begründen.


71      Denn nach dieser Vorschrift darf „[n]iemand … in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“ (Hervorhebung nur hier).