Language of document : ECLI:EU:C:2024:31

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SZPUNAR

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C632/22

AB Volvo

gegen

Transsaqui SL,

Beteiligter:

Ministerio Fiscal

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof, Spanien])

(Vorlage zur Vorabentscheidung – Lkw-Kartell – Schadensersatzklage – Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks an die Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft – Verordnung [EG] Nr. 1393/2007)






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007(2) in einem Fall zu präzisieren, in dem ein Antragsteller beabsichtigt, ein verfahrenseinleitendes Schriftstück einer Tochtergesellschaft der Gesellschaft zuzustellen, gegen die er eine Schadensersatzklage zu erheben beabsichtigt.

2.        Die entscheidende Frage ist, ob vor dem Hintergrund des Urteils Sumal des Gerichtshofs(3), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die privatrechtliche Durchsetzung (private enforcement) im Kontext eines von der Europäischen Kommission mit einer Sanktion belegten Lkw-Kartells sowohl gegen die Muttergesellschaft als auch gegen ihre Tochtergesellschaften gerichtet sein kann, Schriftstücke, mit denen ein Verfahren gegen die Muttergesellschaft eingeleitet wird, ihrer Tochtergesellschaft zugestellt werden können.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3.        Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 hat folgenden Wortlaut:

„Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten sowie die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (‚acta jure imperii‘)“.

 Spanisches Recht

4.        Art. 24 der spanischen Verfassung lautet:

„(1)      Alle Personen haben bei der Wahrnehmung ihrer legitimen Rechte und Interessen das Recht auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte; in keinem Fall darf jemand ohne Verteidigung bleiben.

(2)      Ebenso haben alle das Recht auf einen vom Gesetz bestimmten ordentlichen Richter, auf Verteidigung und Beistand durch einen Rechtsanwalt, auf Information über die gegen sie erhobene Anklage, auf einen öffentlichen Prozess ohne ungebührliche Verzögerungen und mit allen Garantien, auf Verwendung von zur Sache gehörenden Beweismitteln für ihre Verteidigung, auf Nichtaussage gegen sich selbst, darauf, sich nicht schuldig zu bekennen, und auf die Vermutung der Unschuld“.

5.        Art. 155 („Zustellung von Mitteilungen an Parteien, die sich noch nicht auf das Verfahren eingelassen haben oder nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten sind. Wohnsitz oder Sitz.“) der Ley 1/2000, de Enjuiciamiento Civil (Gesetz 1/2000 über die Zivilprozessordnung) vom 7. Januar 2000(4) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet wie folgt:

„1.      Sind die Parteien nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten oder handelt es sich um die erste an den Beklagten gerichtete Aufforderung zur Einlassung oder Ladung, so ist die Mitteilung an den Wohnsitz bzw. den Sitz der Parteien zu senden.

3.      Für die Zwecke der Zustellung von Mitteilungen kann der Wohnsitz oder Sitz angegeben werden, der aus dem Einwohnermelderegister hervorgeht oder für andere Zwecke amtlich bekannt ist, oder derjenige, der in einem amtlichen Register oder in Veröffentlichungen von Berufskammern erscheint, wenn es sich um Unternehmen bzw. andere Einrichtungen oder Personen handelt, die einen Beruf ausüben, für den sie einer Kammer angehören müssen. Auch der Ort, an dem eine berufliche oder angestellte Tätigkeit nicht nur zeitweilig ausgeübt wird, kann für diese Zwecke als Wohnsitz oder Sitz angegeben werden.

Richtet sich die Klage gegen eine juristische Person, so kann auch der Wohnsitz der Person angegeben werden, die Verwalter, Geschäftsführer oder Bevollmächtigter eines Handelsunternehmens bzw. Vorsitzender, Mitglied oder geschäftsführendes Mitglied des Vorstands eines in einem amtlichen Register eingetragenen Vereins ist“.

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Verfahren und Vorlagefragen

6.        Im Jahr 2008 kaufte die Transsaqui SL zwei Volvo-Lkw.

7.        Am 19. Juli 2016 erließ die Kommission einen Beschluss in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992(5) (Sache AT.39824 – Lkw) (bekannt gegeben unter Aktenzeichen C[2016] 4673) (im Folgenden: Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016)(6). Die AB Volvo war eine der Adressatinnen dieses Beschlusses. In diesem Beschluss stellte die Kommission fest, dass sich mehrere Lkw-Hersteller, darunter Volvo, an einem Kartell in Form einer einzigen fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR‑Abkommens beteiligt hätten. Die Adressatinnen des Beschlusses hätten an einer Absprache teilgenommen und/oder seien dafür verantwortlich gewesen. Die Absprachen hätten Vereinbarungen und/oder abgestimmte Verhaltensweisen zu Preisen und Bruttopreiserhöhungen mit dem Ziel, die Bruttopreise im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu koordinieren, sowie zum Zeitplan und zur Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen EURO 3 bis EURO 6 umfasst. In Bezug auf Volvo wurde die Dauer der Zuwiderhandlung vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 festgestellt.

8.        Am 12. Juli 2018 erhob Transsaqui beim Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia, Spanien) Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch den ihr auferlegten Aufschlag angesichts des im Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 festgestellten Lkw-Kartells entstanden sei. Der geforderte Betrag belief sich auf 24 420,69 EUR, was dem Betrag dieses Aufschlags entsprach. Als Rechtsgrundlage für ihre Klage berief sich Transsaqui auf die Art. 72 und 76 der Ley 15/2007 de Defensa de la Competencia (Gesetz 15/2007 über den Schutz des Wettbewerbs) vom 3. Juli 2007(7), den Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 und die Richtlinie 2014/104/EU(8).

9.        Obwohl sich der Sitz von Volvo in Göteborg (Schweden) befindet, gab Transsaqui als Anschrift von Volvo für die Zwecke der Zustellung der Aufforderung zur Einlassung die Anschrift der Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft in Spanien, Volvo Group España, S. A. U., in Madrid (Spanien) an.

10.      Nach Zulassung der Klage durch den Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) wurde per Einschreiben eine Abschrift der Klageschrift und der damit eingereichten Unterlagen an die Geschäftsadresse der Volvo Group España in Madrid gesandt. Die Annahme der Postsendung wurde jedoch mittels eines handschriftlichen Vermerks verweigert, in dem die Anschrift von Volvo in Schweden angegeben war. Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) gewährte Transsaqui daraufhin eine Anhörung zur Abgabe einer Stellungnahme zu dieser Frage. Transsaqui machte geltend, dass das Verhalten der Volvo Group España, das in der Weigerung bestanden habe, die Aufforderung zur Einlassung auf die gegen Volvo erhobenen Klage entgegenzunehmen, nur ein bösgläubiger Kunstgriff zur Verzögerung des Verfahrens sei, da Letztere 100 % des Gesellschaftskapitals der Ersteren halte, so dass beide ein einziges Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts darstellten.

11.      Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) ordnete mit Entscheidung vom 22. Mai 2019 die Zustellung an die Beklagte Volvo an der Geschäftsadresse ihrer Tochtergesellschaft Volvo Group España nach dem „Grundsatz der Unternehmenseinheit“ an. Zu diesem Zweck richtete es an die Madrider Gerichte einen Antrag auf justizielle Zusammenarbeit. So wurde über die Madrider Gerichte versucht, die Zustellung am 5. September 2019 an dieser Adresse vorzunehmen, aber ein Rechtsanwalt, der sich als „rechtlicher Vertreter von Volvo Group España“ ausgab, verweigerte die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks, wobei er darauf hinwies, dass die Zustellung am Sitz von Volvo in Schweden zu erfolgen habe. Ein zweiter Versuch der Madrider Gerichte, eine Zustellung am Geschäftssitz der Tochtergesellschaft in Madrid vorzunehmen, war erfolgreich. Sie wurde von einer Person akzeptiert, die angab, dass sie zur Rechtsabteilung gehöre.

12.      Da der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) der Ansicht war, dass die Zustellung ordnungsgemäß erfolgt sei, und Volvo, der die Schriftstücke zugestellt worden seien, nicht innerhalb der gesetzten Frist im Verfahren aufgetreten sei, wurde die Beklagte für säumig erklärt und das Verfahren fortgesetzt. Es wurde versucht, Volvo die entsprechende Entscheidung an die Geschäftsadresse ihrer Tochtergesellschaft Volvo Group España zuzustellen, doch diese verweigerte die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks erneut mit der Begründung, dass es sich nicht um die richtige Adresse handele. Am 26. Februar 2020 gab der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) der Klage von Transsaqui statt und verurteilte Volvo zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 24 420,69 EUR zuzüglich gesetzlicher Zinsen an Transsaqui sowie zur Zahlung der Kosten.

13.      Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) stellte Volvo dieses Urteil per Einschreiben zu, das an den Geschäftssitz der Tochtergesellschaft in Madrid gerichtet war und von einer dort anwesenden Person entgegengenommen wurde, die die Empfangsbestätigung am 10. März 2020 unterzeichnete. Da das Urteil rechtskräftig war, wurden die Kosten entsprechend dem Antrag von Transsaqui festgesetzt. Das Gericht stellte Volvo die entsprechende Mitteilung unter der Adresse in Madrid zur Stellungnahme zu, und die Empfangsbestätigung wurde unterzeichnet. Da die Beklagte die Kosten nicht innerhalb der angegebenen Frist beanstandete, stimmte das Gericht der Festsetzung dieser Kosten in Höhe von 8 310,64 EUR zu und stellt Volvo seine Entscheidung per Einschreiben an den Geschäftssitz der Tochtergesellschaft in Madrid zu, wo die Empfangsbestätigung unterzeichnet wurde. Auf Antrag von Transsaqui wurde das Urteil vollstreckt und ein Zahlungsbefehl gegen das Vermögen von Volvo durch gerichtliche Verfügungen erlassen, die am 17. März 2021 an der Geschäftsadresse der Tochtergesellschaft Volvo Group España in Madrid zugestellt wurden.

14.      In sukzessiven Schreiben – nach jedem Versuch der Zustellung einer gerichtlichen Mitteilung – an den Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) erläuterte Volvo Group España die Gründe für ihre Weigerung, die Zustellung der an Volvo – deren Sitz sich in Schweden befinde – gerichteten Schriftstücke und Mitteilungen entgegenzunehmen. Sie machte u. a. geltend, dass erstens Volvo Group España und Volvo zwar zur selben Unternehmensgruppe gehörten, aber jeweils eigene Rechtspersönlichkeit besäßen und Erstere nicht die Stellung eines Verwaltungsorgans Letzterer habe und auch nicht befugt sei, Zustellungen im Namen Letzterer entgegenzunehmen; zweitens müssten nach spanischem Verfahrensrecht Aufforderungen zur Einlassung am Sitz der Beklagten zugestellt werden, und verschiedene spanische Gerichte hätten in Verfahren im Zusammenhang mit dem Lkw-Kartell entschieden, dass die Zustellung ungeachtet der Verbindungen zwischen den Gesellschaften richtigerweise am Sitz der beklagten Muttergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat und nicht an der Geschäftsanschrift einer Tochtergesellschaft in Spanien zu erfolgen habe; drittens müsse die Zustellung, wenn die beklagte Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässig sei, gemäß der Verordnung Nr. 1393/2007 erfolgen; und viertens dürfe die Klägerin die Vorschriften über die Zustellung von Aufforderungen zur Einlassung nicht dadurch umgehen, dass sie alternative Anschriften verwende, die nicht die der Beklagten seien, da andernfalls Gründe für eine Überprüfung des Urteils im Wege der Wiederaufnahme bestünden.

15.      Am 15. Juni 2021 beantragte Volvo beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), dem vorlegenden Gericht, die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich des vom Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1, Valencia) in Abwesenheit der Beklagten erlassenen und rechtskräftig gewordenen Urteils, mit dem die Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz an Transsaqui wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht verurteilt worden war. Volvo machte geltend, dass sie diesen Antrag innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Monaten nach Kenntniserlangung von dem Wiederaufnahmegrund gestellt habe, da sie zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidungen über die Urteilsvollstreckung an der Geschäftsadresse ihrer Tochtergesellschaft in Spanien zugestellt worden seien, am 17. März 2021, „indirekt Kenntnis“ von dem gegen sie ergangenen Urteil erhalten habe.

16.      Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass es danach nicht zulässig ist, einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat am Geschäftssitz einer Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft eine Aufforderung zur Einlassung zuzustellen.

17.      Vor diesem Hintergrund hat der Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) mit Beschluss vom 7. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Oktober 2022, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann unter den Umständen der Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem LKW-Kartell, wie sie in der vorliegenden Entscheidung beschrieben sind, Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 101 AEUV dahin ausgelegt werden, dass die an eine Muttergesellschaft – gegen die eine Klage auf Ersatz des durch eine den Wettbewerb beschränkende Praxis entstandenen Schadens erhoben worden ist – gerichtete Aufforderung zur Einlassung als ordnungsgemäß erfolgt anzusehen ist, wenn sie am Sitz der im Mitgliedstaat des gerichtlichen Verfahrens niedergelassenen Tochtergesellschaft zugestellt wurde (oder versucht wurde, sie dort zuzustellen) und die Muttergesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, im Verfahren nicht aufgetreten ist und säumig wurde?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist diese Auslegung von Art. 47 der Charta in Anbetracht der Rechtsprechung des spanischen Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof) zur an in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaften gerichteten Aufforderung zur Einlassung in Rechtsstreitigkeiten betreffend das LKW-Kartell mit Art. 53 der Charta vereinbar?

18.      Volvo, Transsaqui, die tschechische und die spanische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Volvo, Transsaqui, die spanische Regierung und die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung vom 18. Oktober 2023 teilgenommen.

 Würdigung

 Erste Frage

19.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta die Zustellung von an eine in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft gerichteten Schriftstücken an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft erlauben.

 Vorbemerkungen

20.      Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung fällt das Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012(9). Gemäß den Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, grundsätzlich vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen(10). Sie können jedoch vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt werden, u. a. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden. In einem solchen Fall können Personen, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden, und zwar vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist(11).

21.      Transsaqui stammt aus Spanien. Die Lkw wurden in Spanien gekauft, wo der Schaden eingetreten ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die spanischen Gerichte nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 für die Entscheidung über eine Klage wegen außervertraglicher Haftung gegen eine in Schweden ansässige Gesellschaft zuständig, sofern das schädigende Ereignis an einem Ort eingetreten ist, für den sie zuständig sind.

 Zur Verordnung Nr. 1393/2007

22.      Während die Zuständigkeit der spanischen Gerichte zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens offenbar unstreitig ist, streiten sie darüber, ob das verfahrenseinleitende Schriftstück nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 von Spanien nach Schweden zuzustellen war.

23.      Volvo macht geltend, dass die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks nach dieser Verordnung zu erfolgen gehabt habe und dass Transsaqui sich den Vorschriften über die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks nicht durch Verwendung alternativer Adressen entziehen könne, die in keiner Verbindung zu Volvo stünden. Transsaqui macht geltend, dass Volvo in verfahrensrechtlicher Hinsicht bösgläubig handele, dass Volvo und ihre spanische Tochtergesellschaft ein einziges Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts bildeten, obwohl sie jeweils eigene Rechtspersönlichkeit besäßen, und schließlich, dass sie ihre Klage nicht erheben könnte, wenn sie die Kosten für die Übersetzung ins Schwedische tragen müsste.

24.      Im Licht dieses Streits ist, bevor auf die beiden vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage ausdrücklich genannten Bestimmungen eingegangen wird(12), zu prüfen, ob sich die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 auf den vorliegenden Fall auswirken.

–       Geltungsbereich

25.      Das reibungslose Funktionieren eines Binnenmarkts erfordert einen gewissen Grad an Regulierung und Harmonisierung im Bereich des internationalen Zivilprozesses, weshalb der Unionsgesetzgeber(13) schrittweise einen Rahmen geschaffen hat, der die Koordinierung der Zivilverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(14) sowie die justizielle Zusammenarbeit vorsieht. Die Übermittlung von Schriftstücken zum Zweck der Zustellung zwischen Mitgliedstaaten fällt in die letztgenannte Kategorie. Zu diesem Zweck(15) sieht die Verordnung Nr. 1393/2007 einen entsprechenden Mechanismus für die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen zwischen den Mitgliedstaaten vor.

26.      Für die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke gibt es nach der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: (1) die unmittelbare Zustellung, d. h., die ersuchende Partei kann das Schriftstück dem Empfänger unmittelbar durch befugte Personen in dem Mitgliedstaat, in dem die Zustellung erfolgt, zustellen, und (2) die Übermittlung durch die zuständigen Behörden, d. h., die ersuchende Partei kann das Schriftstück an die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die Zustellung erfolgen soll, übermitteln. Anschließend stellen die zuständigen Behörden das Schriftstück dem Empfänger nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats zu.

27.      Die Verordnung Nr. 1393/2007 ist so zu verstehen, dass sie in erster Linie die Art und Weise der Übermittlung von Schriftstücken zum Zwecke der Zustellung regelt.

28.      Die Frage, ob und wann Schriftstücke zum Zweck der Zustellung übermittelt werden, ist zweifellos schwieriger. Nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 ist diese „in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist“(16). Dies wirft die Frage auf, welches Recht darüber entscheidet, ob Schriftstücke im Ausland zuzustellen sind: die Verordnung selbst oder das nationale Recht?

29.      Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 könnte nämlich dahin verstanden werden, dass der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 ausschließlich durch das nationale Recht bestimmt wird(17), was bedeuten würde, dass die Mitgliedstaaten darüber bestimmen, ob und wann Schriftstücke zum Zweck der Zustellung übermittelt werden.

30.      Der Gerichtshof hat bisher im entgegengesetzten Sinne entschieden.

31.      Im Urteil Alder(18) hatte er zu prüfen, ob mit dem Unionsrecht ein nationales Verfahrensrecht vereinbar ist, wonach gerichtliche Schriftstücke, die (von Mitgliedstaat A) an eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat B) gerichtet sind, zu den Akten genommen werden (die sich in Mitgliedstaat A befinden) und als tatsächlich zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) ansässig ist, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet.

32.      In seinem Urteil in der Rechtssache Alder(19) hat der Gerichtshof das Vorbringen zurückgewiesen, dass es dem nationalen Verfahrensrecht obliege, den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 zu bestimmen. Seiner Ansicht nach stand Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 dem betreffenden Zivilprozessrecht entgegen. Der Gerichtshof hat dies im Wesentlichen aus einer systematischen Lektüre der Erwägungsgründe und Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 abgeleitet, verbunden mit einem Umkehrschluss: Da nur in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung(20) sowie im achten Erwägungsgrund(21) auf Situationen verwiesen wird, in denen die Verordnung nicht anwendbar ist, gilt sie in allen anderen Fällen. Insbesondere ist der Gerichtshof ausdrücklich den Schlussanträgen des Generalanwalts Bot(22) gefolgt und hat entschieden, dass außer in den beiden oben genannten Fällen(23), „sobald der Empfänger eines gerichtlichen Schriftstücks im Ausland ansässig ist, die Zustellung dieses Schriftstücks zwangsläufig in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 [fällt] und … somit gemäß deren Art. 1 Abs. 1 auf dem Weg bewirkt werden [muss], den die Verordnung selbst dafür vorsieht“(24).

33.      Der Gerichtshof hat im Wesentlichen Folgendes entschieden: „Dem nationalen Gesetzgeber die Entscheidung zu überlassen, in welchen Fällen eine solche Notwendigkeit besteht, würde … eine einheitliche Anwendung der Verordnung Nr. 1393/2007 verhindern, da nicht ausgeschlossen ist, dass die Mitgliedstaaten insoweit voneinander abweichende Lösungen vorsehen“(25).

34.      Ich bin der Ansicht, dass die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 durch den Gerichtshof sowohl der reibungslosen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen als auch der Logik der Binnenmarktvorschriften voll entspricht(26).

35.      Es kann daher mit Sicherheit angenommen werden, dass es einen allgemeinen der Verordnung Nr. 1393/2007 zugrundeliegenden Grundsatz gibt, wonach Schriftstücke, die an einen Beklagten gerichtet sind, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat als dem, in dem das Verfahren anhängig gemacht wird, zwingend im Mitgliedstaat des Beklagten zugestellt werden müssen. Dieser Grundsatz steht im Übrigen im Einklang mit der Logik des gesamten Systems des Zivilprozessrechts der Union, in dem der Begriff des Wohnsitzes zentral ist.

36.      Am Rande möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Grundsatz nicht bedeutet, dass alle Aspekte der Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in einem grenzüberschreitenden Kontext von dieser Verordnung erfasst werden. Es gibt sicherlich Fälle, in denen es Sache des nationalen Rechts ist, bestimmte spezifische Aspekte der Zustellung zu bestimmen(27). Dies ändert jedoch nichts daran, dass das nationale Recht die Fälle nicht ändern kann, in denen die Zustellung des Schriftstücks an eine Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.

–       Auswirkungen auf den vorliegenden Fall

37.      Für den vorliegenden Fall implizieren die vorstehenden Ausführungen, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 Anwendung finden.

38.      Es ist unstreitig, dass Volvo ihren Sitz(28) in einem anderen Mitgliedstaat (Schweden) hat als dem, in dem sie verklagt wurde (Spanien). Außerdem steht fest, dass Volvo und ihre Tochtergesellschaften verschiedene juristische Personen sind. Ferner hat Volvo ihre Tochtergesellschaft nicht als ihre Bevollmächtigte in Spanien für die Zustellung von Schriftstücken benannt.

39.      Die Zustellung der in Rede stehenden gerichtlichen Schriftstücke hat daher nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 zu erfolgen. Um ein effizientes und zügiges Gerichtsverfahren und eine geordnete Rechtspflege zu gewährleisten, stellt die Verordnung den Grundsatz der direkten Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten Stellen auf.

40.      Wie die Kommission hervorgehoben hat, ist der Grundsatz, dass eine Person, die in Zivilsachen verklagt wird, Anspruch darauf hat, dass ihr das verfahrenseinleitende Schriftstück so rechtzeitig persönlich zugestellt wird, dass sie sich verteidigen kann, ein grundlegender Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Im vorliegenden Fall garantieren sowohl Art. 28 der Verordnung Nr. 1215/2012 als auch Art. 19 der Verordnung Nr. 1393/2007 die Rechte von Beklagten, die im Verfahren nicht aufgetreten sind. In einer solchen Situation muss das vorlegende Gericht das Verfahren aussetzen, bis festgestellt ist, dass das Schriftstück dem Beklagten gemäß der Verordnung Nr. 1393/2007 zugestellt wurde.

41.      Daraus folgt, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat (Schweden) ansässige Muttergesellschaft berechtigt ist, nicht zu erscheinen, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück am Sitz ihrer in einem anderen Mitgliedstaat (Spanien) ansässigen Tochtergesellschaft zugestellt worden ist. Ebenso kann eine (in Spanien ansässige) Tochtergesellschaft nicht verpflichtet sein, die Zustellung eines verfahrenseinleitenden Schriftstücks anzunehmen, das an ihre in einem anderen Mitgliedstaat (Schweden) ansässige Muttergesellschaft gerichtet ist.

 Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta

42.      Als nächstes werde ich prüfen, ob Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta diese vorläufige Feststellung in Frage stellen.

43.      Volvo macht geltend, dass Klagen auf Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens in vollem Umfang in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 fielen und dass deren Anwendung auf wettbewerbsrechtliche Rechtsbehelfe im Allgemeinen oder solche, die auf den Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 gestützt sind, nicht auf der Grundlage von Art. 47 der Charta und von Art. 101 AEUV ausgeschlossen werden könne.

44.      Die tschechische Regierung und die Kommission teilen im Wesentlichen diese Auffassung.

45.      Transsaqui leitet dagegen aus dem Urteil Sumal ab, dass der dort entwickelte Begriff „wirtschaftliche Einheit oder Unternehmen“ auch im verfahrensrechtlichen Bereich anwendbar sei, da der Gerichtshof in diesem Urteil festgestellt habe, dass eine Tochtergesellschaft im Rahmen eines Kartells verklagt werden könne.

46.      In Anbetracht dieses Urteils ist Transsaqui der Ansicht, eine Tochtergesellschaft müsse, da sie verklagt werden und mit ihrer Muttergesellschaft für einen im Rahmen eines Kartells verursachten Schaden gesamtschuldnerisch haften könne, weil sie ein einziges Unternehmen bildeten, Adressatin des dem Unternehmen zugestellten Schriftstücks sein können.

47.      Im vorliegenden Fall sei es aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht sinnvoll, die Zustellung in Schweden vorzunehmen, wenn der dem Verfahren zugrundeliegende Rechtsakt, nämlich der Verkauf von Lkw, in Spanien durchgeführt worden sei.

48.      Transsaqui ist der Ansicht, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 101 AEUV dahin ausgelegt werden könne, dass eine wirksame Zustellung an eine Muttergesellschaft erfolgt ist, gegen die eine Klage auf Ersatz eines durch ein Kartell verursachten Schadens erhoben wurde, wenn die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks an der Anschrift ihrer Tochtergesellschaft vorgenommen wurde, die in dem Staat ansässig ist, in dem das Verfahren anhängig gemacht wurde, und die Muttergesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, im Verfahren nicht aufgetreten und säumig geblieben ist.

49.      Im Urteil Sumal hat der Gerichtshof entschieden, dass im Rahmen einer Schadensersatzklage, die auf das Vorliegen einer von der Kommission in einem Beschluss festgestellten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV gestützt wird, eine juristische Person, die in diesem Beschluss nicht als an einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Beteiligte bezeichnet wird, auf dieser Grundlage gleichwohl wegen der Zuwiderhandlung einer anderen rechtlichen Einheit haftbar gemacht werden kann, sofern beide Personen Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und somit ein Unternehmen bilden, das der Urheber der Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 101 AEUV ist(29). Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Bestimmung der zum Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV verursachten Schadens verpflichteten Einheit unmittelbar durch das Unionsrecht geregelt wird(30) und dass der Begriff „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 AEUV ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist(31).

50.      Meines Erachtens stellen Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta nicht den Grundsatz in Frage, der der Verordnung Nr. 1393/2007 zugrunde liegt, wonach Schriftstücke, die an einen Beklagten mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat gerichtet sind, in diesem Mitgliedstaat zuzustellen sind. Mit anderen Worten können und sollten im vorliegenden Fall die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 nicht außer Acht gelassen werden. Das Urteil Sumal enthält hierzu schlichtweg keinen Hinweis.

51.      Erstens konzentriert sich die Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Sumal ausschließlich auf Erwägungen des materiellen Rechts. Es ist hier üblich, eine gewisse Flexibilität vorzusehen, damit Opfer wettbewerbswidriger Verhaltensweisen geeignete Rechtsbehelfe einlegen können. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Einzelne weiß, an welche Stelle er sich wenden kann, um Schadensersatz zu begehren. In diesem Zusammenhang schließt der Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ aus, dass ein Beklagter z. B. Kapital von einer Muttergesellschaft an ihre Tochtergesellschaft überträgt und umgekehrt. Indem sich der Gerichtshof auf „dieselbe wirtschaftliche Einheit“ konzentriert hat, hat er die rechtliche Realität an die wirtschaftliche Realität angepasst. Bei den Vorschriften über die Art und Weise der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks sollte hingegen jede Unklarheit vermieden werden. Es handelt sich nämlich um einen grundlegenden Aspekt des Rechts auf Verteidigung in Zivilverfahren.

52.      Zweitens ist die Erfüllung aller Anforderungen an die korrekte Zustellung eines gerichtlichen Schriftstücks ein sensibles Thema, insbesondere wenn man bedenkt, welche verfahrensrechtlichen Wirkungen sich aus der Zustellung ergeben. Beispielsweise sind Zivilverfahren im Allgemeinen rechtlich und formal rechtshängig, sobald das verfahrenseinleitende Schriftstück zugestellt worden ist. Umgekehrt kann eine fehlende oder mangelhafte Zustellung einen Grund für die Versagung der Anerkennung(32) oder der Vollstreckung einer Entscheidung darstellen(33). Ganz allgemein ist die korrekte Zustellung eines gerichtlichen Schriftstücks eine Frage der Fairness des Verfahrens.

53.      Drittens könnte die Abschwächung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 durch die Zulassung der Zustellung eines Schriftstücks an eine andere (juristische) Person (hier eine Tochtergesellschaft) letztlich auf einen Mangel an gegenseitigem Vertrauen in die justizielle Zusammenarbeit hinauslaufen. Das gegenseitige Vertrauen impliziert und stützt sich auf die Annahme, dass verfahrensrechtliche Anforderungen – insbesondere diejenigen, die sich unmittelbar aus dem Unionsrecht (hier der Verordnung Nr. 1393/2007) ergeben – beachtet und erfüllt wurden, als das Verfahren eingeleitet wurde. Zum Anwendungsbereich der Bestimmungen dieser Verordnung eine kombinierte Lesart von Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta hinzuzufügen, würde meines Erachtens nicht der justiziellen Zusammenarbeit dienen, sondern einen kleinen, aber bedeutenden Schritt zu ihrer faktischen Abschaffung darstellen.

54.      Schließlich möchte ich auf die Frage der Übersetzung der Unterlagen eingehen, die in der mündlichen Verhandlung aufgeworfen wurde. Transsaqui hat geltend gemacht, die Zustellung eines Schriftstücks an Volvo in Schweden – gemäß der Verordnung Nr. 1393/2007 – wäre für ein kleines Unternehmen wie Transsaqui mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Insbesondere würde Volvo ihrer Ansicht nach die Entgegennahme von in spanischer Sprache abgefassten Dokumenten nicht akzeptieren. Meines Erachtens ist diese Frage aus den folgenden Gründen rein hypothetisch. Erstens ist im Ausgangsverfahren nicht einmal der Versuch unternommen worden, das verfahrenseinleitende Schriftstück in Schweden gemäß der Verordnung zuzustellen. Zweitens stellt das vorlegende Gericht keine auch nur implizite Frage nach der Auslegung der Verordnung Nr. 1393/2007. Unter diesen Umständen ist jede Erwägung, ob die Anwendung der Verordnung Transsaquis Zugang zu den Gerichten im Rahmen dieses besonderen Verfahrens hätte behindern können, rein hypothetischer Natur. Schließlich bin ich der Ansicht, dass diese Erwägungen unabhängig von dem rechtlichen Hauptproblem sind, das Gegenstand der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen ist.

55.      Zusammenfassend sehe ich keinen Raum für die Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta auf den vorliegenden Fall.

 Zur Richtlinie 2014/104

56.      Wenn Art. 101 AEUV auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, gilt dies folglich auch für die Bestimmungen der nachrangigen Richtlinie 2014/104.

57.      Der Vollständigkeit halber sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2014/104 an keinem Punkt die Frage der Zustellung einer Aufforderung zur Einlassung oder gerichtlicher Schriftstücke behandelt. Dementsprechend heißt es im elften Erwägungsgrund der Richtlinie in einer unmissverständlichen Formulierung, die einer juristischen Tautologie gleichkommt, dass in Ermangelung von unionsrechtlichen Vorschriften für Schadensersatzklagen die innerstaatlichen Vorschriften und Verfahren der Mitgliedstaaten gelten und dass diese Vorschriften und Verfahren dem Effektivitäts- und dem Äquivalenzgrundsatz entsprechen müssen.

58.      Da es jedoch das auf den in Rede stehenden Sachverhalt anwendbare Verfahrensrecht der Union in Form der Verordnung Nr. 1393/2007 gibt, gibt es insoweit keinen Raum für die nationale Verfahrensautonomie und den Effektivitäts- und dem Äquivalenzgrundsatz. Der Verweis auf das nationale Recht in der Richtlinie 2014/104 kann nicht zu einer Änderung der im Unionsrecht aufgestellten Grundsätze wie des in der Verordnung Nr. 1393/2007 enthaltenen allgemeinen Grundsatzes führen, wonach an einen Beklagten mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem das Verfahren anhängig gemacht wird, gerichtete Schriftstücke zwingend im Mitgliedstaat des Beklagten zugestellt werden müssen.

 Schlussbemerkungen

59.      Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass dem Gerichtshof meines Wissens das Problem, um das es im Urteil Sumal geht, bereits bekannt war. In seinen Schlussanträgen in jener Rechtssache räumt nämlich Generalanwalt Pitruzzella, dessen Schlussanträgen der Gerichtshof im Wesentlichen gefolgt ist, ausdrücklich ein, dass, „[w]enn man [dem Geschädigten] die Möglichkeit einräumt, Klage gegen die Tochtergesellschaft mit Sitz in ihrem eigenen Mitgliedstaat zu erheben, … das die praktische Komplexität im Zusammenhang mit der Zustellung der Klage und der Vollstreckung eines etwaigen Urteils im Ausland [vermeidet]“(34). Dieser Aussage kann ich mich nur anschließen. Die Klägerinnen haben mit anderen Worten die Wahl, gegen die Muttergesellschaft, ihre Tochtergesellschaft oder beide vorzugehen. In Bezug auf das auf jeden dieser Fälle anwendbare Verfahrensrecht gibt es jedoch keine Wahl. Ein Kläger darf sich nicht eines Rosinenpickens in dem Sinne bedienen, dass er die Tochtergesellschaft verklagt und das verfahrenseinleitende Schriftstück der Muttergesellschaft zustellt oder umgekehrt. Der jeweilige Sachverhalt hat keinen Einfluss auf das Verfahren.

 Antwortvorschlag

60.      Mein Vorschlag für eine Antwort auf die erste Frage lautet daher, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 dahin auszulegen ist, dass er der Zustellung von an eine in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft gerichteten Schriftstücken an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft entgegensteht. Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta ändern nichts an dieser Feststellung.

 Zweite Frage

61.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob, falls die erste Frage bejaht wird, Art. 53 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, zu verlangen, dass die Zustellung eines verfahrenseinleitenden Schriftstücks am Sitz der Gesellschaft, an die dieses Schriftstück gerichtet ist, und nicht an die Anschrift einer Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft bewirkt wird.

62.      In Anbetracht der für die erste Frage vorgeschlagenen Antwort erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage. Diese Frage beruht auf der Prämisse, dass, wenn Art. 47 der Charta und Art. 101 AEUV die in der Verordnung Nr. 1393/2007 enthaltenen Vorschriften über die Zustellung von Schriftstücken änderten, die Rechtsprechung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof) als unionsrechtswidrig angesehen werden könnte. Zum einen erscheint die Antwort angesichts des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts offensichtlich. Zum anderen wäre es jedoch schwierig, diese Frage klar zu beantworten, ohne den Kontext des Urteils selbst oder die Gründe, die zu seinem Erlass geführt haben, genau zu kennen, insbesondere im Rahmen des Grundrechtsschutzes nach nationalem Recht.

63.      Da ich die nationale Rechtsprechung, auf die sich das vorlegende Gericht in Bezug auf Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta beruft, nicht in Frage stelle, ist es nicht erforderlich, diese Rechtsprechung im Licht von Art. 53 der Charta zu würdigen und eine mögliche Abwägung der möglicherweise kollidierenden Grundrechte vorzunehmen. Mit anderen Worten nehmen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 meines Erachtens für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache eine erschöpfende Behandlung und Abwägung der etwaigen konkurrierenden Rechte und Interessen der verschiedenen Parteien vor.

 Ergebnis

64.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tribunal supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) wie folgt zu beantworten:

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates

ist dahin auszulegen, dass er der Zustellung von an eine in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft gerichteten Schriftstücken an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft entgegensteht.

Art. 101 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ändern nichts an dieser Feststellung.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. 2007, L 324, S. 79).


3      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal (C‑882/19, EU:C:2021:800) (Urteil Sumal).


4      BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575.


5      ABl. 1994, L 1, S. 3.


6      Eine Zusammenfassung dieses Beschlusses wurde im Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. April 2017 (ABl. 2017, C 108, S. 6) veröffentlicht.


7      BOE Nr. 159 vom 4. Juli 2007, S. 12946.


8      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1).


9      Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).


10      Vgl. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012.


11      Vgl. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012.


12      Nämlich Art. 47 der Charta und Art. 101 AEUV.


13      Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999.


14      Vgl. Verordnung Nr. 1215/2012 und Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).


15      Vgl. in diesem Sinne im Wesentlichen den zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1393/2007.


16      Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007. Hervorhebung von mir.


17      Vgl. insoweit z. B. Sujecki, B., in Gebauer, M., Wiedmann, T., Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl., C. H. Beck, München, 2021, Kapitel 38 (Europäische Zustellungsverordnung), Erwgr., Rn. 6.


18      Urteil vom 19. Dezember 2012 (C‑325/11, EU:C:2012:824) (Urteil Alder).


19      Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012 (C‑325/11, EU:C:2012:824, Rn. 26).


20      Nach dieser Bestimmung findet die Verordnung Nr. 1393/2007 keine Anwendung, wenn die Anschrift des Empfängers des Schriftstücks unbekannt ist.


21      In diesem Erwägungsgrund heißt es, dass die Verordnung nicht für die Zustellung eines Schriftstücks an den Bevollmächtigten einer Partei in dem Mitgliedstaat gelten sollte, in dem das Verfahren anhängig ist, unabhängig davon, wo die Partei ihren Wohnsitz hat.


22      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Alder (C‑325/11, EU:C:2012:583, Nr. 49).


23      D. h., in dem Fall, dass die Anschrift der Person, der das Schriftstück zugestellt werden soll, nicht bekannt ist, und in dem Fall, dass die Zustellung eines Schriftstücks an den Bevollmächtigten der Partei in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dem das Verfahren anhängig ist.


24      Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Alder (C‑325/11, EU:C:2012:824, Rn. 25).


25      Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Alder (C‑325/11, EU:C:2012:824, Rn. 27).


26      Es gibt jedoch Teile der Lehre, die die Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil Alder beanstanden. Vgl. z. B. Cornette, F., „Cour de justice de l’Union européenne. – 19 décembre 2012. Aff. C‑325/11. Note de doctrine“, Revue critique de droit international privé, 102(3) 2013, S. 700-709, S. 707, der aus dem „Schweigen“ der Verordnung zu der Frage, in welchen Fällen die zuzustellenden Schriftstücke in einen anderen Mitgliedstaat zu übermitteln sind, ableitet, dass dies Sache der Mitgliedstaaten sei.


27      Ich bin natürlich nicht in der Lage, an dieser Stelle alle erdenklichen Beispiele anzuführen. Aus diesem Grund beschränke ich mich auf einige willkürlich ausgewählte, aber dennoch anschauliche Fragestellungen: wer genau ein Schriftstück unterschreiben muss, wie eine Zustellung an Kinder zu handhaben ist oder wie Schriftstücke im Wohnsitzmitgliedstaat zugestellt werden.


28      In Ermangelung einer Bezugnahme auf den Begriff „Sitz/Wohnsitz“ in der Verordnung Nr. 1393/2007 kann man sich in dieser Hinsicht auf den in Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 enthaltenen Grundsatz stützen, wonach eine juristische Person ihren Wohnsitz an dem Ort hat, an dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung befindet.


29      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal (C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal (C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal (C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Vgl. Art. 45 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1215/2012.


33      Vgl. Art. 46 der Verordnung Nr. 1215/2012.


34      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache Sumal (C‑882/19, EU:C:2021:293, Nr. 68).