Language of document : ECLI:EU:C:2022:808

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

20. Oktober 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 17 Abs. 1 – Haftung von Luftfahrtunternehmen im Fall des Todes oder einer Körperverletzung eines Fluggasts – Begriff ‚Körperverletzung‘ – Posttraumatische Belastungsstörung, die ein Fluggast bei der Notfallevakuierung eines Flugzeugs erlitten hat“

In der Rechtssache C‑111/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 28. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2021, in dem Verfahren

BT

gegen

Laudamotion GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von BT, vertreten durch Rechtsanwalt D. Heine,

–        der Laudamotion GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt C. Peitsch,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, K. Simonsson und G. Wilms als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. März 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und Art. 29 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), das in Bezug auf die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten ist.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BT und der Laudamotion GmbH, einem Luftfahrtunternehmen, über eine Schadenersatzklage, die BT wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erhoben hat, die sie bei einer Notfallevakuierung des Flugzeugs erlitten hat, mit dem sie befördert werden sollte.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        In den Erwägungsgründen 2, 3 und 5 des Übereinkommens von Montreal heißt es:

„[Die Vertragsstaaten erkennen an], dass es notwendig ist, das [am 12. Oktober 1929 in Warschau unterzeichnete Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Warschauer Abkommen)] und die damit zusammenhängenden Übereinkünfte zu modernisieren und zusammenzuführen;

[die Vertragsstaaten erkennen die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [an];

… gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel …, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

4        Art. 17 („Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“

5        Art. 29 („Grundsatz für Ansprüche“) des Übereinkommens sieht vor:

„Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind …“

 Unionsrecht

6        Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. 1997, L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) bestimmt:

„Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Übereinkommen von Montreal verwendeten Begriffen.“

7        Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung legt fest:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der [Union] für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        Am 1. März 2019 trat BT einen von Laudamotion durchgeführten Flug von London (Vereinigtes Königreich) nach Wien (Österreich) an.

9        Beim Start explodierte das linke Triebwerk des Flugzeugs, mit dem dieser Flug durchgeführt werden sollte, woraufhin die Fluggäste evakuiert wurden. BT verließ dieses Flugzeug über einen Notausstieg und wurde durch den Jetblast des rechten Triebwerks, das noch in Bewegung war, mehrere Meter durch die Luft geschleudert. In der Folge wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, deretwegen sie sich in ärztlicher Behandlung befindet.

10      BT erhob beim Bezirksgericht Schwechat (Österreich) Klage gegen Laudamotion auf Feststellung der Haftung dieses Luftfahrtunternehmens gemäß Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal sowie auf Ersatz der von ihr aufgewandten Heilungskosten von 4 353,60 Euro und Schmerzengeld von 2 500 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten. BT wies darauf hin, dass Laudamotion jedenfalls nach österreichischem Recht hafte, das ergänzend anwendbar sei.

11      Laudamotion hielt dem entgegen, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal nur Körperverletzungen im eigentlichen Sinne erfasse, nicht aber bloß psychische Beeinträchtigungen. Gemäß Art. 29 dieses Übereinkommens sei das österreichische Recht nicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.

12      Mit Urteil vom 12. November 2019 gab das Bezirksgericht Schwechat der Klage statt. Es war der Ansicht, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht unter Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal falle, da diese Bestimmung eine Haftung des Luftfahrtunternehmens nur für Körperverletzungen vorsehe. Laudamotion hafte jedoch nach österreichischem Recht, das auch bei bloß psychischen Schäden Schadenersatz vorsehe, wenn sie Krankheitswert aufwiesen.

13      Das von Laudamotion mit der Berufung befasste Landesgericht Korneuburg (Österreich) hob mit Urteil vom 7. April 2020 das Urteil des Erstgerichts auf und wies die Schadenersatzklage ab. Es war nicht nur wie das Bezirksgericht Schwechat der Auffassung, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal rein psychische Beeinträchtigungen nicht erfasse, sondern auch, dass Art. 29 dieses Übereinkommens die Anwendung des österreichischen Rechts ausschließe.

14      BT legte daraufhin beim Obersten Gerichtshof (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Revision gegen dieses Urteil ein.

15      Der Oberste Gerichtshof hat Zweifel, ob der Begriff „körperlich verletzt“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal auch rein psychische Beeinträchtigungen erfasst und ob, falls dies zu verneinen ist, eine auf das nationale Recht gestützte Schadenersatzklage nach Art. 29 dieses Übereinkommens ausgeschlossen ist.

16      Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist eine durch einen Unfall verursachte psychische Beeinträchtigung eines Reisenden, die Krankheitswert erreicht, eine „Körperverletzung“ im Sinn von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal?

2.      Wenn Frage 1 verneint wird: Steht Art. 29 des genannten Übereinkommens einem Anspruch auf Schadenersatz entgegen, der nach dem anwendbaren nationalen Recht bestünde?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

17      Diese Frage ist so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die Krankheitswert erreicht, gemäß dieser Bestimmung Schadenersatz zu leisten ist.

18      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 für die Haftung von Luftfahrtunternehmen der Union für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal gelten.

19      Nach Art. 17 Abs. 1 dieses Übereinkommens hat der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.

20      Der in dieser Bestimmung genannte Begriff „Körperverletzung“ ist allerdings weder im Übereinkommen von Montreal noch in der Verordnung Nr. 2027/97 definiert, deren Art. 2 Abs. 2 vorsieht, dass die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Abs. 1 dieses Artikels definiert sind, den in diesem Übereinkommen verwendeten Begriffen entsprechen.

21      Dieser Begriff muss insbesondere angesichts des Gegenstands des Übereinkommens von Montreal, der in der Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr besteht, in der Union und ihren Mitgliedstaaten einheitlich und autonom ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2010, Walz, C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 21). Somit sind nicht die verschiedenen Bedeutungen zu berücksichtigen, die dieser Begriff in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten haben kann, sondern die Auslegungsregeln des allgemeinen Völkerrechts, an die die Union gebunden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Insoweit stellt Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331), der das Völkergewohnheitsrecht wiedergibt und dessen Bestimmungen Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung), klar, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen sieht Art. 32 dieses Übereinkommens vor, dass ergänzende Auslegungsmittel herangezogen werden können, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten für den betreffenden Vertrag und die Umstände des Vertragsabschlusses.

23      Zur gewöhnlichen Bedeutung des in Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal enthaltenen Begriffs „Körperverletzung“ ist im Einklang mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 25 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Verletzung“ die Veränderung eines Organs, eines Gewebes oder einer Zelle aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls bezeichnet, während sich der Begriff „körperlich“ auf den materiellen Teil eines belebten Wesens, also den menschlichen Körper, bezieht.

24      Auch wenn der Begriff „Körperverletzung“ in seiner gewöhnlichen Bedeutung nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er eine psychische Beeinträchtigung im Zusammenhang mit einer solchen Körperverletzung ausschließt, gilt etwas anderes, wenn es sich wie im vorliegenden Fall – wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt – um eine medizinisch nachgewiesene psychische Beeinträchtigung handelt, die keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung in der gewöhnlichen Bedeutung dieses Begriffs aufweist. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, die Unterscheidung zwischen Körperverletzungen und psychischen Beeinträchtigungen verschwimmen zu lassen.

25      Dass der Begriff „Körperverletzung“ im Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal verwendet wurde, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die Verfasser dieses Übereinkommens bei einem „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung die Haftung von Luftfahrtunternehmen ausschließen wollten, wenn dieser Unfall bei einem Fluggast psychische Beeinträchtigungen verursacht hat, die keinen Zusammenhang mit einer auf dieselbe Ursache zurückgehenden Körperverletzung aufweisen.

26      Aus den vorbereitenden Arbeiten, die zum Abschluss dieses Übereinkommens geführt haben, geht zwar hervor, dass keiner der Vorschläge, den Begriff „psychische Beeinträchtigung“ ausdrücklich in das Übereinkommen von Montreal aufzunehmen, umgesetzt wurde. Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus diesen Arbeiten aber auch, dass der Begriff „körperlich verletzt“ „auf der Grundlage [gewählt wurde], dass in einigen Staaten unter bestimmten Voraussetzungen Schadenersatz für psychische Verletzungen einklagbar ist, dass sich die Rechtsprechung in diesem Bereich entwickelt und dass nicht beabsichtigt ist, in diese Entwicklung, die von der Rechtsprechung in anderen Bereichen als dem internationalen Luftverkehr abhängt, einzugreifen“ (Protokoll der 6. Sitzung des Plenarausschusses vom 27. Mai 1999, Internationale Konferenz über das Luftverkehrsrecht, Montreal, 10. bis 28. Mai 1999, Bd. I, Protokolle, S. 243).

27      Ferner ist in Bezug auf die Ziele des Übereinkommens von Montreal darauf hinzuweisen, dass dazu gemäß den Erwägungsgründen 2 und 3 dieses Übereinkommens neben der Modernisierung und Zusammenführung des Warschauer Abkommens auch das Ziel „des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ insbesondere bei einem Unfall gehört, und zwar mittels einer Regelung der verschuldensunabhängigen Haftung von Luftfahrtunternehmen. Ein angemessener Schadenersatz, der auch eine Gleichbehandlung von Fluggästen erfordert, die infolge desselben Unfalls – physische oder psychische – Verletzungen desselben Schweregrades erlitten haben, würde aber in Frage gestellt, wenn Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen wäre, dass er Schadenersatz für durch einen solchen Unfall verursachte psychische Beeinträchtigungen ausschließt, wenn sie keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung aufweisen.

28      Ein Fluggast, der infolge eines Unfalls eine psychische Beeinträchtigung erlitten hat, kann sich nämlich je nach Schwere des daraus resultierenden Schadens in einer Lage befinden, die mit der eines Fluggastes vergleichbar ist, der eine Körperverletzung erlitten hat.

29      Demnach ist davon auszugehen, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal es zulässt, Schadenersatz für eine durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung verursachte psychische Beeinträchtigung zu leisten, die keinen Zusammenhang mit einer „Körperverletzung“ im Sinne dieser Bestimmung aufweist.

30      Allerdings muss die Notwendigkeit eines angemessenen Schadenersatzes, wie aus dem fünften Erwägungsgrund des Übereinkommens von Montreal hervorgeht, mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden, für einen „gerechten Interessenausgleich“ zwischen Luftfahrtunternehmen und Reisenden zu sorgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 36, und vom 12. Mai 2021, Altenrhein Luftfahrt, C‑70/20, EU:C:2021:379, Rn. 36).

31      Somit kann die Haftung des Luftfahrtunternehmens auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal nur dann ausgelöst werden, wenn der verletzte Fluggast u. a. mittels eines medizinischen Gutachtens und Belegen über eine ärztliche Behandlung rechtlich hinreichend nachweist, dass eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität vorliegt, die er infolge eines „Unfalls“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich insbesondere in Anbetracht ihrer psychosomatischen Wirkungen auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

32      Diese Auslegung ermöglicht es sowohl verletzten Fluggästen, nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs einen angemessenen Schadenersatz zu erlangen, als auch Luftfahrtunternehmen, sich gegen betrügerische Schadenersatzklagen zu schützen, durch die ihnen eine übermäßige, schwer feststell- und berechenbare Ersatzpflicht aufgebürdet würde, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit gefährden oder sogar zum Erliegen bringen könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 40).

33      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die keinen Zusammenhang mit einer „Körperverletzung“ im Sinne dieser Bestimmung aufweist, in gleicher Weise Schadenersatz zu leisten ist wie für eine solche Körperverletzung, sofern der Fluggast eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität nachweist, die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

 Zur zweiten Frage

34      Da das vorlegende Gericht die zweite Frage nur für den Fall einer Verneinung der ersten Frage gestellt hat und diese bejaht wurde, ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

35      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde,

ist dahin auszulegen, dass

für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die keinen Zusammenhang mit einer „Körperverletzung“ im Sinne dieser Bestimmung aufweist, in gleicher Weise Schadenersatz zu leisten ist wie für eine solche Körperverletzung, sofern der Fluggast eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität nachweist, die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.