Language of document : ECLI:EU:C:2014:237

Rechtssache C‑288/12

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 95/46/EG – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und freier Datenverkehr – Art. 28 Abs. 1 – Nationale Kontrollstellen – Unabhängigkeit - Nationale Rechtsvorschriften, mit denen das Mandat der Kontrollstelle vor Ablauf beendet wird – Schaffung einer neuen Kontrollstelle und Ernennung einer anderen Person zum Präsidenten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. April 2014

1.        Vertragsverletzungsklage – Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof – Maßgebende Lage – Lage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist – Klage gegen eine nationale Regelung, die das Ende der Amtszeit der Kontrollstelle für den Datenschutz vor der zu dem in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegten Zeitpunkt nicht abgelaufenen Frist vorsieht – Zulässigkeit

(Art. 258 Abs. 2 AEUV; Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 1 und 2)

2.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Umsetzung der Richtlinien – Vertragsverletzung – Rechtfertigung nach der internen Rechtsordnung einschließlich Bestimmungen verfassungsrechtlicher Art – Unzulässigkeit

(Art. 258 AEUV; Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 1 und 2)

3.        Rechtsangleichung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46 – Nationale Kontrollstellen – Nationale Rechtsvorschriften, mit denen das Mandat der Kontrollstelle vor Ablauf beendet wird – Verstoß gegen das Unabhängigkeitserfordernis – Vertragsverletzung

(Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 1)

1.        Eine Vertragsverletzungsklage ist unzulässig, wenn die geltend gemachte Verletzung bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist keine rechtlichen Wirkungen mehr erzeugt. Dies ist nicht der Fall und die Klage ist daher zulässig, wenn die von der Kommission gerügte Vertragsverletzung darin liegt, dass ein Datenschutzbeauftragter sein Amt nicht bis zum Ablauf ausüben konnte und diese Zeit unstreitig zu dem in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war.

(vgl. Rn. 29-31)

2.        Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen seiner internen Rechtsordnung, auch nicht auf solche verfassungsrechtlicher Art, berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen.

(vgl. Rn. 35)

3.        Ein Mitgliedstaat verstößt dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, dass er das Mandat der Kontrollstelle für den Schutz personenbezogener Daten vorzeitig beendet hat.

Die Unabhängigkeit, mit der für die Überwachung der Verarbeitung personenbezogener Daten zuständige Kontrollstellen ausgestattet sein müssen, schließt nämlich jede Anordnung und jede sonstige wie auch immer geartete äußere Einflussnahme aus, sei sie unmittelbar oder mittelbar, an denen ihre Entscheidungen ausgerichtet werden könnten und durch die in Frage gestellt werden könnte, dass die genannten Kontrollstellen ihre Aufgabe erfüllen, zwischen dem Schutz des Rechts auf Privatsphäre und dem freien Verkehr personenbezogener Daten ein ausgewogenes Verhältnis herzustellen.

Jedoch reicht die funktionelle Unabhängigkeit für sich allein nicht aus, um die Kontrollstellen vor jeder äußeren Einflussnahme zu bewahren. Insoweit reicht bereits die bloße Gefahr einer politischen Einflussnahme der Aufsichtsbehörden auf die Entscheidungen der Kontrollstellen aus, um deren unabhängige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinträchtigen. Dürfte aber ein Mitgliedstaat das Mandat einer Kontrollstelle vor seinem ursprünglich vorgesehenen Ablauf beenden, ohne die von den anwendbaren Rechtsvorschriften zu diesem Zweck im Voraus festgelegten Grundsätze und Garantien zu beachten, könnte die Drohung einer solchen vorzeitigen Beendigung, die während der gesamten Ausübung des Mandats über dieser Stelle schwebte, zu einer Form des Gehorsams dieser Stelle gegenüber den politisch Verantwortlichen führen, die mit dem Unabhängigkeitsgebot nicht vereinbar wäre. Zudem könnte in einer solchen Situation nicht davon ausgegangen werden, dass die Kontrollstelle bei ihrer Tätigkeit in jedem Fall über jeden Verdacht der Parteilichkeit erhaben ist.

(Rn. 51-55, 62, Tenor 1)