Language of document : ECLI:EU:C:2009:193

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

26. März 2009(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG und 56 EG – Satzungen privatisierter Unternehmen – Kriterien für die Ausübung bestimmter Sonderrechte des Staates“

In der Rechtssache C‑326/07

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 13. Juli 2007,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter J. N. Cunha Rodrigues und J. Klučka, der Richterin P. Lindh (Berichterstatterin) sowie des Richters A. Arabadjiev,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 2008,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. November 2008

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften festzustellen, dass die Italienische Republik durch das Einfügen von Bestimmungen in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 10. Juni 2004 zur Festlegung von Kriterien für die Ausübung der Sonderrechte im Sinne des Art. 2 des Decreto-legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994, mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994 (Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri, definizione dei criteri di esercizio dei poteri speciali, di cui all’art. 2 del decreto-legge 31 maggio 1994, n. 332, convertito, con modificazioni, dalla legge 30 luglio 1994, n. 474) (GURI Nr. 139 vom 16. Juni 2004, S. 26, im Folgenden: Dekret von 2004) gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 56 EG verstoßen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Das Decreto-legge Nr. 332/1994

2        Das Decreto-legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994 mit Bestimmungen über die Beschleunigung der Verfahren zum Verkauf von staatlichen und öffentlichen Beteiligungen an Aktiengesellschaften (Decreto-legge n. 332, norme per l’accelerazione delle procedure di dismissione di partecipazioni dello Stato e degli enti pubblici in società per azioni) (GURI Nr. 126 vom 1. Juni 1994, S. 38) wurde mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994 (GURI Nr. 177 vom 30. Juli 1994, S. 5). Dieses Decreto-legge wurde später durch das Gesetz Nr. 350 mit Bestimmungen für die Erstellung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts (Haushaltsgesetz 2004) (Legge n. 350, disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato [Legge finanziaria 2004]) vom 24. Dezember 2003 geändert (GURI Nr. 196, Supplemento ordinario, vom 27. Dezember 2003, im Folgenden: Finanzgesetz Nr. 350/2003). Dieses Decreto-legge in der umgewandelten und geänderten Fassung (im Folgenden: Decreto‑legge Nr. 332/1994) sieht vor, dass der Staat bei bestimmten Gesellschaften über Sonderrechte verfügt (im Folgenden: Sonderrechte).

3        Art. 2 Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 332/1994 bestimmt:

„Durch Dekret des Präsidenten des Ministerrats, erlassen auf Vorschlag des Wirtschafts- und Finanzministers im Benehmen mit dem Minister für Produktionstätigkeiten und den zuständigen Fachministern und nach vorheriger Unterrichtung der zuständigen Parlamentsausschüsse, werden unter den unmittelbar oder mittelbar vom Staat kontrollierten Gesellschaften, die auf den Gebieten der Verteidigung, des Verkehrs, der Telekommunikation, der Energiequellen und sonstiger öffentlicher Dienstleistungen tätig sind, diejenigen bestimmt, in deren Satzung vor jedem Rechtsakt, der zu einem Verlust der Kontrolle führt, durch Beschluss einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung eine Bestimmung einzufügen ist, durch die dem Wirtschafts- und Finanzminister eines oder mehrere der nachstehenden Sonderrechte eingeräumt werden, die im Einklang mit dem Minister für Produktionstätigkeiten ausgeübt werden. …“

4        Diese Sonderrechte, die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis d aufgeführt sind, sind folgende:

a)      ein Einspruch dagegen, dass Investoren bedeutende Beteiligungen an diesen Gesellschaften in Höhe von mindestens 5 % der Stimmrechte oder des vom Wirtschafts- und Finanzminister durch Dekret festgelegten Mindestprozentsatzes erwerben. Für die Einlegung ihres Einspruchs verfügen die Behörden über eine Frist von 10 Tagen ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, die die Verwaltungsratsmitglieder der betreffenden Gesellschaft zum Zeitpunkt der Anmeldung zur Eintragung im Aktionärsverzeichnis abgeben müssen, während der Erwerber über eine Frist von 60 Tagen für die gerichtliche Anfechtung der Entscheidung der Behörden verfügt;

b)      ein Einspruch dagegen, dass Anteilseigner, die über 5 % der Stimmrechte oder einen vom Wirtschafts- und Finanzminister durch Dekret festgelegten geringeren Prozentsatz verfügen, Vereinbarungen oder Absprachen treffen. Die Fristen von 10 bzw. 60 Tagen im Sinne von Buchst. a gelten für den Einspruch der Behörden bzw. die Klagen der Aktionäre, die an der betreffenden Vereinbarung oder Absprache beteiligt sind;

c)      ein Vetorecht im Hinblick auf Beschlüsse über die Auflösung der Gesellschaft, den Übergang des Betriebs, den Zusammenschluss, die Aufspaltung, die Verlagerung des Geschäftssitzes ins Ausland, die Änderung des Gesellschaftszwecks oder der Gesellschaftssatzung, durch die die Sonderrechte aufgehoben oder geändert werden. Für die Anfechtung einer Entscheidung über das Vetorecht gilt eine Frist von 60 Tagen;

d)      die Ernennung eines Verwaltungsratsmitglieds ohne Stimmrecht.

5        Aus der Klageschrift geht hervor, dass eine Klausel über die Ausübung der Sonderrechte u. a. in die Satzungen der Gesellschaften des italienischen Rechts ENI, Telecom Italia, Enel und Finmeccanica, die in den Sektoren der Petrochemie sowie der Energie, der Telekommunikation, der Elektrizität und der Verteidigung tätig sind, eingefügt wurde.

6        Nach Art. 4 Abs. 230 des Finanzgesetzes Nr. 350/2003 bestimmt ein Ad‑hoc‑Dekret des Präsidenten des Ministerrats auf Vorschlag der Minister für Wirtschaft und Finanzen sowie für Produktionstätigkeiten, das binnen 90 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes erlassen werden muss, die Kriterien für die Ausübung der Sonderrechte durch Beschränkung des Gebrauchmachens von ihnen auf Fälle der Beeinträchtigung der vitalen Interessen des Staates.

 Das Dekret von 2004

7        Art. 1 Abs. 1 und 2 des Dekrets von 2004 bestimmt:

„1.      Die Sonderrechte nach Art. 2 des Decreto-legge Nr. [332/1994] werden nur bei Vorliegen entscheidender und unabdingbarer Gründe des Gemeinwohls, insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, das öffentliche Gesundheitswesen und die Verteidigung, sowie in einer Art und Weise, die im Hinblick auf den Schutz dieser Interessen geeignet und verhältnismäßig ist, einschließlich angemessener Fristen, und unbeschadet der Beachtung der Grundsätze der innerstaatlichen Rechtsordnung und des Gemeinschaftsrechts, darunter in erster Linie des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, ausgeübt.

2.      Unbeschadet der in Abs. 1 bezeichneten Zwecke werden die Sonderrechte im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, b und c des Decreto-legge Nr. [332/1994] ausgeübt, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:

a)      eine schwere tatsächliche Gefahr einer Unterbrechung der nationalen Grundversorgung mit Erdöl- und Energieerzeugnissen sowie damit verbundener oder abgeleiteter Dienstleistungen und ganz allgemein der Versorgung mit Rohstoffen, mit für die Gemeinschaft wesentlichen Gütern oder der Grundversorgung mit Telekommunikations- oder Transportdienstleistungen;

b)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die kontinuierliche Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit auf dem Gebiet der öffentlichen Dienstleistungen sowie für die Ausübung der der Gesellschaft übertragenen Aufgaben im Allgemeininteresse;

c)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die Sicherheit der Einrichtungen und Netze der staatlichen Grunddienstleistungen;

d)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die Landesverteidigung, die militärische Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit;

e)      Krisenfälle im Gesundheitswesen.“

 Vorverfahren

8        Die Kommission leitete durch die Übersendung eines Aufforderungsschreibens an die Italienische Republik am 6. Februar 2003 ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Art. 43 EG und 56 EG im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für die Ausübung der Sonderrechte ein. Die Italienische Republik änderte daraufhin ihre Regelung durch Erlass des Finanzgesetzes Nr. 350/2003 sowie des Dekrets von 2004. Die Kommission war jedoch der Ansicht, dass die auf diese Weise vorgenommenen Änderungen nicht ausreichend seien, und übersandte der Italienischen Republik am 22. Dezember 2004 ein ergänzendes Aufforderungsschreiben.

9        Nach dem Eingang der Antwort der italienischen Regierung vom 20. Mai 2005 richtete die Kommission in der Ansicht, sich dem Vorbringen in dieser Antwort nicht anschließen zu können, am 18. Oktober 2005 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Italienische Republik, die sich nur auf die in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 aufgestellten Kriterien bezog, und forderte die Italienische Republik auf, dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten ab deren Eingang nachzukommen. Als Antwort übersandte die Italienische Republik ein Schreiben, mit dem im Kern die Analyse der Kommission in Frage gestellt wurde.

10      Die Kommission hat in der Ansicht, dass die Lage weiterhin nicht zufriedenstellend sei, die vorliegende Klage erhoben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Parteien

11      Nach Ansicht der Kommission besteht der Verstoß der Italienischen Republik gegen die Art. 43 EG und 56 EG darin, dass das Dekret von 2004 die Kriterien für die Ausübung der Sonderrechte nicht ausreichend klar angebe. Diese Kriterien erlaubten es den Investoren nicht, zu erkennen, in welchen Situationen von diesen Befugnissen Gebrauch gemacht werde.

12      Die konkreten Situationen, die von dem Begriff „schwere tatsächliche Gefahr“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a bis d des Dekrets von 2004 erfasst werden könnten, seien potenziell zahlreich, unbestimmt und unbestimmbar. Diese mangelnde Genauigkeit bei der Festlegung der besonderen und objektiven Umstände, die den Rückgriff des Staates auf die Sonderrechte rechtfertigten, verleihe diesen Rechten einen willkürlichen Charakter in Anbetracht des Wertungsspielraums, über den die italienischen Behörden verfügten. Dies führe dazu, dass Investoren allgemein abgeschreckt würden, insbesondere diejenigen, die beabsichtigten, sich in Italien niederzulassen, um einen Einfluss auf die Verwaltung der von der in Rede stehenden Regelung betroffenen Unternehmen ausüben zu können.

13      Da Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 die Ausübung der Sonderrechte, die im Decreto-legge Nr. 332/1994 vorgesehen seien, betreffe, umfasse die Bewertung der Verhältnismäßigkeit dieses Dekrets die Prüfung der Berechtigung dieser Rechte in bestimmten Situationen.

14      Die Kommission räumt ein, dass die Niederlassungsfreiheit und der freie Kapitalverkehr durch nationale Maßnahmen beschränkt werden könnten, die auf der Grundlage der Art. 46 EG und 58 EG oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt seien, jedoch nur, soweit keine gemeinschaftliche Harmonisierungsregelung bestehe, die Maßnahmen vorsehe, die notwendig seien, um den Schutz der grundlegenden Interessen des Staates zu gewährleisten.

15      In Bezug auf reglementierte Sektoren wie Energie, Erdgas und Telekommunikation könne das Ziel des Schutzes der grundlegenden Interessen des Staates durch den Erlass weniger beschränkender Maßnahmen, wie sie vom europäischen Gesetzgeber vorgesehen seien, erreicht werden. Die Kommission führt im Einzelnen die Richtlinien 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. L 176, S. 37), 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57) sowie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie) (ABl. L 108, S. 33) an. Diese Richtlinien sähen die Durchführung von Maßnahmen vor, die dazu bestimmt seien, die nationale Grundversorgung in den betreffenden Bereichen zu schützen. Die Italienische Republik gebe nicht an, weshalb der Schutz der nationalen Grundversorgung in den auf diese Weise reglementierten Wirtschaftssektoren nicht auf der Grundlage dieser Richtlinien gewährleistet werden könne.

16      In Bezug auf die nicht reglementierten Sektoren habe die Italienische Republik keine Rechtfertigung für die Anwendung der fraglichen Kriterien gegeben.

17      Ferner bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen der Notwendigkeit, die Energieversorgung zu gewährleisten und öffentliche Dienstleistungen zu erbringen, einerseits und der Kontrolle der Aktionäre und der Verwaltung eines Unternehmens andererseits.

18      Das Dekret von 2004 stelle somit ein Instrument dar, das über dasjenige hinausgehe, was für die Vertretung der öffentlichen Interessen, denen es diene, notwendig sei.

19      Die Italienische Republik führt erstens aus, ein großer Teil der Untersuchung der Kommission sei der angeblichen Rechtswidrigkeit der Sonderrechte gewidmet, deren Regelung im Decreto-legge Nr. 332/1994 festgelegt werde. Die mit der Klage und der mit Gründen versehenen Stellungnahme gerügte Vertragsverletzung beziehe sich nur auf das Dekret von 2004 und nicht auf das Decreto-legge Nr. 332/1994. Daher werde die angebliche Rechtswidrigkeit der Regelung der Sonderrechte, die sich aus diesem Decreto-legge ergebe, von der vorliegenden Klage nicht erfasst.

20      Dem wesentlichen Teil der von der Kommission mit ihrer Klage erhobenen Rügen könne daher nicht gefolgt werden. Das Gleiche gelte für die Rügen betreffend die Grenzen, die die Italienische Republik für den Erwerb von Aktien der betreffenden Gesellschaften gezogen habe und die das Eigentum an den Aktien, also die Struktur dieser Gesellschaften, beträfen. Die Kommission mache der Italienischen Republik hauptsächlich zum Vorwurf, dass sie Kontrollmaßnahmen in Bezug auf diese Struktur, nicht aber Maßnahmen eingeführt habe, die es erlaubten, spezielle Verwaltungsentscheidungen zu kontrollieren. Diese Rügen beträfen jedoch das Decreto-legge Nr. 332/1994 und nicht das Dekret von 2004.

21      Daher seien die auf die fehlende Verhältnismäßigkeit der Bestimmungen über die Sonderrechte gestützten Rügen zurückzuweisen, da dieser Teil der Klage in Wirklichkeit das Decreto‑legge Nr. 332/1994 betreffe.

22      Zweitens tritt die Italienische Republik der Analyse der Kommission entgegen, soweit sich diese im Wesentlichen auf ihre Rügen einer Verletzung von Art. 56 EG, der den freien Kapitalverkehr betreffe, beziehe, und fügt dabei hinzu, dass diese Rügen unterschiedslos auf eine Verletzung von Art. 43 EG, der die Niederlassungsfreiheit betreffe, gestützt werden könnten. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere dem Urteil vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, Slg. 2006, I‑7995), gehe hervor, dass es ausgeschlossen sei, dass eine Frage in den Bereich des freien Kapitalverkehrs falle, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit geprüft werden könne. Da sich die in Rede stehenden Maßnahmen auf Handlungen bezögen, die dazu bestimmt seien, einen bestimmten Einfluss auf die Verwaltung der betroffenen Gesellschaften auszuüben, seien die Art. 43 EG, 45 EG und 46 EG einschlägig. Dies sei wichtig, da diese Artikel weniger einschneidende Bestimmungen als die Art. 56 EG und 58 EG enthielten.

23      Drittens bestreitet die Italienische Republik die Begründetheit der Rüge betreffend den Ermessenscharakter, den die Bestimmungen des Dekrets von 2004 den der nationalen Verwaltung zugewiesenen Sonderrechten verliehen.

24      Viertens widerspricht die Italienische Republik dem Vorbringen der Kommission betreffend die in den reglementierten Sektoren anwendbaren Richtlinien. Diese Richtlinien seien nämlich nur dann einschlägig, wenn die Klage das Decreto-legge Nr. 332/1994 beträfe, das Strukturmaßnahmen vorsehe. Das Dekret von 2004 habe seinerseits keine Maßnahme dieser Art eingeführt, sondern stelle nur klar, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die in diesem Decreto-legge vorgesehenen Maßnahmen erlassen werden könnten. Auf alle Fälle hindere die Mitgliedstaaten nichts daran, in diesen wesentlichen Sektoren Maßnahmen zu erlassen, die sogar über die Bestimmungen dieser Richtlinien hinausgehende Eingriffsbefugnisse begründeten.

25      Ferner müsse das Subsidiaritätsprinzip Anwendung finden. Die nationale Gesetzgebung eigne sich nämlich besser als die Gemeinschaftsgesetzgebung für die Regelung von Situationen, die eine Gefahr für die vitalen Interessen des Staates aufwiesen und die nur dieser rechtzeitig und ordnungsgemäß beurteilen könne.

26      In den anderen Bereichen öffentlicher Dienstleistungen, die noch nicht harmonisiert worden seien, wie im Sektor der nationalen Verteidigung, sei ein Mitgliedstaat berechtigt, Maßnahmen zu erlassen, um Situationen zu begegnen, die das Allgemeininteresse schwer schädigen könnten.

27      Zu berücksichtigen sei allein das Klagevorbringen, wonach nicht vorhersehbar sei, in welchen konkreten Fällen es möglich sei, auf die Bestimmungen des Decreto-legge Nr. 332/1994 zurückzugreifen. Erst zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Investor auftrete, würden indessen alle besonderen Umstände erkennbar und könnten beurteilt werden. Daher könnten die Voraussetzungen für die Ausübung der Sonderrechte nicht genauer festgelegt werden, als dies im Dekret von 2004 geschehen sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

 Zum Klagegegenstand

28      Nach Ansicht der Italienischen Republik beanstandet die Kommission mit einem erheblichen Teil ihres Vorbringens in Wirklichkeit nicht die Kriterien im Dekret von 2004, sondern die Sonderrechte, die durch das Decreto-legge Nr. 332/1994 eingeführt worden seien, und beabsichtige, diese Rechte, die nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar seien, beurteilen zu lassen. Mit diesem Vorbringen werde somit der Gegenstand des Rechtsstreits erweitert, und es sei daher unzulässig.

29      Hierzu ist daran zu erinnern, dass der Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage durch die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage eingegrenzt wird (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 24. Juni 2004, Kommission/Niederlande, C‑350/02, Slg. 2004, I‑6213, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). Da in der vorliegenden Rechtssache diese beiden Akte nur die in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 aufgestellten Kriterien erfassen, hat die Kommission den Gegenstand des Rechtsstreits nicht erweitert, so dass die Klage zulässig ist.

30      Zwar trägt die Kommission Argumente vor, die die durch das Decreto‑legge Nr. 332/1994 eingeführten Sonderrechte kritisieren, sie stellt diese jedoch nicht in Frage und beanstandet nur die Kriterien, die ihre Umsetzung erlauben.

31      Da die gerügte Vertragsverletzung nur die in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 festgelegten Kriterien betrifft, braucht nur über die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht entschieden zu werden.

 Zur Anwendung der Art. 43 EG und 56 EG

32      Die Kommission ist der Ansicht, dass die von ihr gerügte Vertragsverletzung anhand von Art. 43 EG, der die Niederlassungsfreiheit betrifft, und von Art. 56 EG, der den freien Kapitalverkehr betrifft, zu prüfen sei.

33      Für die Beantwortung der Frage, ob eine nationale Regelung unter die eine oder unter die andere Verkehrsfreiheit fällt, ist nach gefestigter Rechtsprechung auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung abzustellen (vgl. Urteil vom 24. März 2007, Holböck, C‑157/05, Slg. 2007, I‑4051, Randnr. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      In den sachlichen Geltungsbereich der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit fallen nationale Vorschriften, die anzuwenden sind, wenn ein Angehöriger des betreffenden Mitgliedstaats am Kapital einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Beteiligung hält, die es ihm ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 13. April 2000, Baars, C‑251/98, Slg. 2000, I‑2787, Randnr. 22, und vom 23. Oktober 2007, Kommission/Deutschland, C‑112/05, Slg. 2007, I‑8995, Randnr. 13).

35      Von Art. 56 EG, der den freien Kapitalverkehr betrifft, werden insbesondere Direktinvestitionen erfasst, nämlich Investitionen jeder Art durch natürliche oder juristische Personen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die diese Mittel bereitstellen, und den Unternehmen, für die die Mittel zum Zweck einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind. Dieses Ziel setzt voraus, dass die Aktien ihrem Inhaber die Möglichkeit geben, sich aktiv an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder an deren Kontrolle zu beteiligen (vgl. Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Eine nationale Regelung, die nicht nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, sondern unabhängig vom Umfang der Beteiligung eines Aktionärs an einer Gesellschaft gilt, kann sowohl unter Art. 43 EG als auch unter Art. 56 EG fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil Holböck, Randnrn. 23 und 24). Entgegen der Ansicht der Italienischen Republik erlaubt das Urteil Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas nicht die Schlussfolgerung, dass in einem solchen Fall nur Art. 43 EG einschlägig sei. Wie nämlich aus Randnr. 32 dieses Urteils hervorgeht, betrifft es nur eine Situation, bei der eine Gesellschaft Beteiligungen hält, die ihr die Kontrolle über andere Gesellschaften einräumt (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Spanien, C‑207/07, Randnr. 36).

37      Im vorliegenden Fall ist danach zu unterscheiden, ob die Kriterien auf die Befugnisse des Staates zum Einspruch gegen den Erwerb von Beteiligungen und den Abschluss von Gesellschaftervereinbarungen, die einem gewissen Anteil an den Stimmrechten entsprechen, oder auf die Möglichkeit, ein Veto gegen bestimmte Entscheidungen der Gesellschaft einzulegen, angewandt werden.

38      Was erstens die Einspruchsbefugnisse im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto-legge Nr. 332/1994 angeht, ergibt sich aus den Akten, dass der Prozentsatz von mindestens 5 % der Stimmrechte oder gegebenenfalls der vom zuständigen Minister festgesetzte niedrigere Mindestsatz es den Betroffenen erlauben muss, sich effektiv an der Verwaltung einer betroffenen Gesellschaft zu beteiligen, was unter Art. 56 EG fällt. Jedoch ist bei Gesellschaften, bei denen der Aktienbesitz im Allgemeinen sehr weit gestreut ist, nicht ausgeschlossen, dass die Inhaber von Anteilen, die diesen Prozentsätzen entsprechen, die Macht haben, die Verwaltung einer solchen Gesellschaft in bestimmter Weise zu beeinflussen und ihre Tätigkeiten zu bestimmen, was, wie die Italienische Republik ausführt, unter Art. 43 EG fällt. Da das Decreto‑legge Nr. 332/1994 zudem einen Mindestprozentsatz festlegt, ist diese Regelung auch auf Beteiligungen anwendbar, die diesen Prozentsatz übersteigen und eine offenkundige Kontrollmacht verleihen. Daher sind die Kriterien für die Ausübung dieser Einspruchsbefugnisse unter dem Gesichtspunkt dieser beiden Bestimmungen des Vertrags zu prüfen.

39      Was zweitens das Vetorecht im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332/1994 angeht, ist festzustellen, dass sich dieses Recht auf Entscheidungen im Rahmen der Verwaltung der Gesellschaft bezieht und daher nur Aktionäre betrifft, die einen sicheren Einfluss auf die betroffenen Gesellschaften ausüben können, so dass die Kriterien für die Ausübung dieses Rechts unter dem Blickwinkel von Art. 43 EG geprüft werden müssen. Selbst unterstellt, dass diese Kriterien beschränkende Auswirkungen auf den freien Kapitalverkehr hätten, wären sie im Übrigen die unvermeidliche Konsequenz einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und rechtfertigten keine eigenständige Prüfung im Hinblick auf Art. 56 EG (vgl. Urteil Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, Randnr. 33). Daher ist die Prüfung der Kriterien für die Ausübung des Vetorechts nur unter dem Blickwinkel von Art. 43 EG zu prüfen.

 Zu den in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 aufgeführten Kriterien, soweit sie sich auf die Ausübung der Einspruchsbefugnisse beziehen

–       Zur Verletzung der Verpflichtungen aus Art. 56 EG

40      Vorab ist festzustellen, dass die hier geprüften Kriterien die Umstände bestimmen, unter denen die Befugnisse des Staates, sich dem Erwerb bestimmter Beteiligungen oder dem Abschluss bestimmter Gesellschaftervereinbarungen in den betroffenen Gesellschaften zu widersetzen, ausgeübt werden können. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können solche Befugnisse dem durch Art. 56 EG gewährleisteten freien Kapitalverkehr zuwiderlaufen (vgl. insbesondere Urteile vom 13. Mai 2003, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑98/01, Slg. 2003, I‑4641, Randnr. 50, und Kommission/Spanien, Randnr. 58). Der Streitpunkt in der vorliegenden Rechtssache ist die Frage, ob diese Kriterien Voraussetzungen aufstellen, die es erlauben, die Ausübung solcher Befugnisse zu rechtfertigen.

41      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der freie Kapitalverkehr durch nationale Regelungen beschränkt werden kann, die aus den in Art. 58 EG genannten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, soweit keine gemeinschaftliche Harmonisierungsmaßnahme vorliegt, die bereits die zur Gewährleistung des Schutzes dieser Interessen erforderlichen Maßnahmen vorsieht (vgl. Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Fehlt eine solche Gemeinschaftsharmonisierung, ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, auf welchem Niveau sie den Schutz solcher legitimen Interessen sicherstellen wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Sie können dies jedoch nur in dem vom EG-Vertrag vorgesehenen Rahmen und insbesondere nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit tun, wonach die getroffenen Maßnahmen dazu geeignet sein müssen, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Im Übrigen ist selbst in den harmonisierten Bereichen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Fällen anwendbar, in denen der Gemeinschaftsgesetzgeber den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum belassen hat.

44      Im vorliegenden Fall gehen die Standpunkte der Italienischen Republik und der Kommission in Bezug auf die Frage auseinander, ob die Kriterien, die auf die Ausübung der Befugnisse zum Einspruch gegen den Erwerb von Beteiligungen oder den Abschluss von Gesellschaftervereinbarungen, die mindestens 5 % der Stimmrechte oder in bestimmten Fällen einem geringeren Prozentsatz entsprechen, anwendbar sind, so beschaffen sind, dass diese Ausübung im rechten Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht, und daher mit der durch Art. 56 EG gewährleisteten Freiheit vereinbar ist.

45      Die streitigen Kriterien gelten für allgemeine Interessen, die insbesondere die Mindestversorgung mit Energie und für die Allgemeinheit wichtigen Gütern, die kontinuierliche Erbringung öffentlicher Dienstleistungen, die Sicherheit der Einrichtungen der staatlichen Grunddienstleistungen, den Schutz der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit sowie Krisenfälle im Gesundheitswesen betreffen. Die Verfolgung solcher Interessen kann unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bestimmte Beschränkungen der Ausübung der Grundfreiheiten rechtfertigen (vgl. insbesondere Urteil vom 14. Februar 2008, Kommission/Spanien, C‑274/06, Randnr. 38).

46      Wie in den Randnrn. 42 und 43 dieses Urteils ausgeführt worden ist, verlangt die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in erster Linie, dass die Maßnahmen geeignet sind, die verfolgten Ziele zu erreichen.

47      Die Anwendung der in Rede stehenden Kriterien, soweit sie sich auf die Ausübung der Einspruchsbefugnisse beziehen, ist jedoch nicht geeignet, die im vorliegenden Fall verfolgten Ziele zu erreichen, da es an einem Zusammenhang zwischen diesen Kriterien und diesen Befugnissen fehlt.

48      Wie nämlich der Gerichtshof entschieden hat, kann der bloße Erwerb einer Beteiligung von 10 % des Stammkapitals einer Gesellschaft, die im Bereich der Energie tätig ist, oder jeder andere Erwerb, der einen erheblichen Einfluss auf eine solche Gesellschaft verschafft, grundsätzlich nicht ohne Weiteres als tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Bedrohung der Versorgungssicherheit betrachtet werden (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Spanien, Randnrn. 38 und 51).

49      Die Italienische Republik hat in ihren Schriftsätzen weder einen Beweis erbracht noch auch nur einen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass die Anwendung der in Rede stehenden Kriterien für die Ausübung der Einspruchsbefugnisse es erlaubte, die verfolgten Ziele zu erreichen. In der mündlichen Verhandlung hat dieser Mitgliedstaat zwar einige Beispiele angeführt. So hat er die Möglichkeit erwähnt, dass ein ausländischer Wirtschaftsteilnehmer, der mit einer terroristischen Organisation verbunden sei, den Erwerb bedeutender Beteiligungen an inländischen Gesellschaften in einem strategischen Bereich anstrebe. Er hat auch die Möglichkeit erwähnt, dass eine ausländische Gesellschaft, die internationale Energieübertragungsnetze kontrolliere und die in der Vergangenheit von dieser Stellung Gebrauch gemacht habe, um schwerwiegende Versorgungsschwierigkeiten für Nachbarländer zu schaffen, Aktien einer inländischen Gesellschaft erwerbe. Das Bestehen von Präzedenzfällen dieser Art könne einen Einspruch gegen den Erwerb signifikanter Beteiligungen an den betreffenden inländischen Gesellschaften durch solche Investoren rechtfertigen.

50      Jedoch finden sich solche Erwägungen nicht im Dekret von 2004, das keinen spezifischen und objektiven Umstand anführt.

51      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellen Eingriffsbefugnisse eines Mitgliedstaats wie die Einspruchsbefugnisse, deren Ausübungsbedingungen die in Rede stehenden Kriterien festlegen und die keiner Bedingung unterliegen, abgesehen von einer allgemeinen Bezugnahme auf den Schutz der nationalen Interessen, die keinen Hinweis darauf enthält, unter welchen konkreten objektiven Umständen diese Befugnisse ausgeübt werden, eine schwerwiegende Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2002, Kommission/Frankreich, C‑483/99, Slg. 2002, I‑4781, Randnrn. 50 und 51).

52      Diese Erwägungen sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Selbst wenn nämlich die in Rede stehenden Kriterien für verschiedene Arten allgemeiner Interessen gelten, sind sie doch allgemein und ungenau formuliert. Zudem verstärkt das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen diesen Kriterien und den Sonderrechten, auf die sie sich beziehen, die Unsicherheit in Bezug auf die Umstände, unter denen die Sonderrechte ausgeübt werden können, und verleiht diesen Rechten im Hinblick auf den Wertungsspielraum, über den die nationalen Behörden bei ihrer Durchführung verfügen, einen Ermessenscharakter. Ein solcher Wertungsspielraum steht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen.

53      Im Übrigen kann der bloße Hinweis in Art. 1 Abs. 1 des Dekrets von 2004, dass die Sonderrechte nur im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ausgeübt werden dürfen, die Anwendung dieser Kriterien nicht mit diesem vereinbar machen. Der allgemeine und abstrakte Charakter der Kriterien kann nämlich nicht gewährleisten, dass die Ausübung der Sonderrechte den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts entsprechen würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien, C‑463/00, Slg. 2003, I‑4581, Randnrn. 63 und 64).

54      Schließlich ist der Umstand, dass die Ausübung der Sonderrechte gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis c des Decreto-legge Nr. 332/1994 der Nachprüfung durch die nationalen Gerichte unterworfen werden kann, zwar im Hinblick auf die Anwendung der Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr für den Schutz von Personen notwendig, er kann jedoch für sich allein nicht ausreichen, um der Unvereinbarkeit der Kriterien für die Anwendung der Sonderrechte mit diesen Bestimmungen abzuhelfen.

55      Daher ist festzustellen, dass die Italienische Republik durch den Erlass der Bestimmungen in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 EG verstoßen hat, soweit diese Bestimmungen auf die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto‑legge Nr. 332/1994 vorgesehenen Sonderrechte angewandt werden.

–       Zum Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 43 EG

56      Da die Ausübung der Einspruchsbefugnisse auch Beteiligungen betrifft, die ihren Inhabern die Möglichkeit verleihen, die Verwaltung der betroffenen Gesellschaften in gewisser Weise zu beeinflussen und deren Tätigkeiten zu bestimmen, und somit die Niederlassungsfreiheit beschränken kann, ist aus den gleichen Gründen, wie sie vorstehend im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der Kriterien in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 mit Art. 56 EG dargestellt worden sind, anzunehmen, dass diese Kriterien den italienischen Behörden einen unverhältnismäßigen Wertungsspielraum bei der Ausübung der Einspruchsbefugnisse verleihen.

57      Daher ist festzustellen, dass die Italienische Republik durch den Erlass der Bestimmungen in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat, soweit diese Bestimmungen auf die Sonderrechte in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto-legge Nr. 332/1994 angewandt werden.

 Zu den in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 aufgeführten Kriterien, soweit sie sich auf die Ausübung des Vetorechts beziehen

58      Wie in Randnr. 39 dieses Urteils ausgeführt, ist die Anwendung der in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 aufgeführten Kriterien auf das Vetorecht gegen bestimmte Entscheidungen allein unter dem Blickwinkel von Art. 43 EG zu prüfen.

59      Die Kommission vertritt die Ansicht, dass diese Kriterien, soweit sie auf dieses Vetorecht anwendbar seien, außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stünden und daher gegen Art. 43 EG verstießen. Die Italienische Republik tritt dieser Ansicht entgegen.

60      Was die betroffenen Gesellschaften angeht, so beziehen sich die Entscheidungen über ihre Auflösung, den Übergang des Betriebs, den Zusammenschluss, die Aufspaltung, die Verlagerung des Geschäftssitzes ins Ausland, die Änderung des Gesellschaftszwecks oder der Gesellschaftssatzung, durch die die Sonderrechte aufgehoben oder geändert werden, auf wichtige Gesichtspunkte der Verwaltung dieser Gesellschaften.

61      Es ist möglich, dass solche Entscheidungen, die den Fortbestand dieser Gesellschaften selbst betreffen können, insbesondere die kontinuierliche Erbringung öffentlicher Dienstleistungen oder die Aufrechterhaltung der nationalen Mindestversorgung mit für die Allgemeinheit wesentlichen Gütern berühren, die allgemeine Interessen im Sinne des Dekrets von 2004 darstellen.

62      Es besteht daher ein Zusammenhang zwischen dem besonderen Vetorecht und den im Dekret von 2004 festgelegten Kriterien.

63      Allerdings sind die Umstände, unter denen dieses Recht ausgeübt werden kann, unklar.

64      Der Gerichtshof hat in Bezug auf ein Widerspruchsrecht gegen bestimmte Entscheidungen über die Abtretung der Aktiva von im Erdölbereich tätigen Gesellschaften oder deren Verwendung als Sicherheit entschieden, dass das betreffende System, da die Ausübung dieses Rechts an keine Voraussetzungen geknüpft ist, die das dem Minister zustehende weite Ermessen hinsichtlich der Identitätskontrolle der Inhaber von Anteilen dieser Gesellschaften begrenzten, über das hinausgeht, was zur Erreichung des angeführten Ziels – eine Beeinträchtigung der Mindestversorgung mit Erdölprodukten für den Fall einer tatsächlichen Gefährdung zu verhindern – erforderlich ist. Weiter hat der Gerichtshof ausgeführt, dass mangels objektiver und genauer Kriterien in der Struktur des geschaffenen Systems die fragliche Regelung über das hinausgeht, was zur Erreichung des angegebenen Ziels erforderlich ist (vgl. Urteil Kommission/Frankreich, Randnrn. 52 und 53).

65      Es ist zu prüfen, ob auf den vorliegenden Fall vergleichbare Erwägungen angewandt werden können.

66      Das Dekret von 2004 enthält keine genauen Angaben dazu, unter welchen Umständen die Kriterien für die Ausübung des in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332/1994 vorgesehenen Vetorechts Anwendung finden können. Selbst wenn dieses Recht gemäß Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 nur in Fällen einer schweren tatsächlichen Gefahr oder bei Krisenfällen im Gesundheitswesen und unter Beachtung der in Art. 1 Abs. 1 dieses Dekrets genannten Voraussetzungen, insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit und der Verteidigung, ausgeübt werden kann, können die Investoren in Ermangelung von genauen Angaben über die konkreten Umstände, die die Ausübung des betreffenden Rechts erlauben, nicht erfahren, wann dieses Vetorecht Anwendung finden kann. Daher ist mit der Kommission davon auszugehen, dass die Situationen, die es erlauben, das Vetorecht auszuüben, potenziell zahlreich, unbestimmt und unbestimmbar sind und dass sie den italienischen Behörden einen weiten Wertungsspielraum lassen.

67      Die Italienische Republik macht jedoch geltend, dass in den betreffenden strategischen Bereichen das Subsidiaritätsprinzip anwendbar sei und dass die Mitgliedstaaten einen weiten Wertungsspielraum behalten müssten, denn sie seien am besten in der Lage, mit dringlichen Situationen umzugehen, die vitale Interessen des Staates beeinträchtigten. Die in den reglementierten Bereichen wie demjenigen der Energie eingeführten Richtlinien enthielten nur Mindestbestimmungen in Bezug auf die Wahrung der gemeinwirtschaftlichen Anforderungen.

68      Selbst wenn insoweit, wie in Randnr. 43 dieses Urteils ausgeführt, diese Richtlinien den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum insbesondere für den Erlass von Dringlichkeitsmaßnahmen belassen, müssen die von ihnen erlassenen Bestimmungen die vom Vertrag gezogenen Grenzen und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.

69      Der Gerichtshof hat u. a. bei Unternehmen, die in den Bereichen Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität tätig sind, anerkannt, dass das Ziel, im Krisenfall die Versorgung mit solchen Produkten oder die Erbringung solcher Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats sicherzustellen, einen Grund der öffentlichen Sicherheit darstellen und somit gegebenenfalls eine Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen kann (vgl. Urteil vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien, Randnr. 71).

70      Der Gerichtshof hat jedoch ebenfalls entschieden, dass die Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin frei nach ihren nationalen Bedürfnissen bestimmen können, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, doch sind diese Gründe im Gemeinschaftsrecht, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von einer Grundfreiheit rechtfertigen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Europäischen Gemeinschaft bestimmt werden kann. So können die öffentliche Ordnung und Sicherheit nur geltend gemacht werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. insbesondere Urteile vom 9. März 2000, Kommission/Belgien, C‑355/98, Slg. 2000, I‑1221, Randnr. 28, vom 14. März 2000, Église de scientologie, C‑54/99, Slg. 2000, I‑1335, Randnr. 17, und vom 17. Juli 2008, Kommission/Spanien, Randnr. 47).

71      Der Gerichtshof hat dieses Ergebnis auf eine Einspruchsregelung angewandt, die in Belgien im Bereich der Energie galt und die bestimmte Entscheidungen über die strategischen Aktiva inländischer Unternehmen, insbesondere der Energieversorgungsnetze, betraf, sowie auf spezielle damit zusammenhängende Verwaltungsentscheidungen, die sich auf diese Gesellschaften bezogen, wobei die staatlichen Eingriffe nur bei Beeinträchtigung der energiepolitischen Ziele vorgenommen werden konnten. Der Gerichtshof hat entschieden, dass diese Regelung auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Kriterien beruhte und dass die Kommission nicht dargetan hatte, dass zur Erreichung des verfolgten Ziels weniger einschneidende Maßnahmen hätten getroffen werden können (vgl. Urteil vom 4. Juni 2002, Kommission/Belgien, C‑503/99, Slg. 2002, I‑4809, Randnrn. 50 bis 53).

72      Im vorliegenden Fall enthält jedoch, wie bereits in Randnr. 66 dieses Urteils festgestellt worden ist, das Dekret von 2004 keine genauen Angaben über die konkreten Umstände, unter denen das Vetorecht ausgeübt werden kann, und die darin aufgeführten Kriterien beruhen daher nicht auf objektiven und nachprüfbaren Voraussetzungen.

73      Wie in den Randnrn. 53 und 54 dieses Urteils ausgeführt, können der Hinweis, dass das Vetorecht nur im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ausgeübt werden darf, und der Umstand, dass seine Ausübung der Nachprüfung durch die nationalen Gerichte unterworfen werden kann, das Dekret von 2004 nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar machen.

74      Daher ist festzustellen, dass die Italienische Republik durch den Erlass der Bestimmungen des Art. 1 Abs. 2 des Dekrets von 2004 gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat, soweit diese Bestimmungen auf die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332/1994 vorgesehene besondere Befugnis angewandt werden.

 Kosten

75      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Durch den Erlass der Bestimmungen des Art. 1 Abs. 2 des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 10. Juni 2004 zur Bestimmung der Kriterien für die Ausübung der in Art. 2 des Decreto‑legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994, mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994 (Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri, definizione dei criteri di esercizio dei poteri speciali, di cui all’art. 2 del decreto-legge 31 maggio 1994, n. 332, convertito, con modificazioni, dalla legge 30 luglio 1994, n. 474) vorgesehenen Sonderrechte hat die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus

–        den Art. 43 EG und 56 EG, soweit diese Bestimmungen auf die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b dieses Decreto‑legge in der durch das Gesetz Nr. 350 mit Bestimmungen für die Aufstellung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts (Finanzgesetz 2004) (Legge n. 350, disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato [Legge finanziaria 2004]) geänderten Fassung vorgesehenen Sonderrechte angewandt werden, und

–        aus Art. 43 EG, soweit diese Bestimmungen auf das in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c vorgesehene Sonderrecht angewandt werden,

verstoßen.

2.      Die Italienische Republik trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.