Language of document : ECLI:EU:C:2022:650

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. September 2022(1)

Rechtssache C162/21

Pesticide Action Network Europe u. a

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

„Landwirtschaft – Binnenmarkt – Gesundheitsschutz – Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 – Pflanzenschutzmittel – Neonicotinoide – Schutz von Bienen – Wirkstoffe, deren Verwendung die Kommission für bestimmte Anwendungen verboten hat – Art. 53 – Genehmigung des Inverkehrbringens durch den Mitgliedstaat für eine begrenzte und kontrollierte Verwendung aufgrund einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr – Verhältnismäßigkeit – Ausnahmefälle“






I.      Einleitung

1.        Die Verwendung von sogenannten Neonicotinoiden in Pflanzenschutzmitteln hat den Gerichtshof wiederholt beschäftigt. Diese Wirkstoffe sind einerseits für bestimmte Verwendungen besonders gut geeignet, andererseits besteht Grund zu der Annahme, dass sie insbesondere für Bienen schädlich sind. Zunächst untersuchte der Gerichtshof daher ein einzelstaatliches Verbot dieser Wirkstoffe(2) und anschließend erhebliche Einschränkungen ihrer Verwendung durch die Kommission.(3) Aufgrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens soll er erstmals klären, inwieweit ein Mitgliedstaat dennoch im Weg einer sogenannten Notfallzulassung von diesen Einschränkungen abweichen kann, um eine Gefahr für bestimmte landwirtschaftliche Kulturen durch den Einsatz von Neonicotinoiden abzuwehren.

2.        Die Rechtsgrundlage für eine solche Notfallzulassung ist Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung.(4) Diese Bestimmung verlangt eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit, so dass es notwendig ist, die Risiken der Verwendung eines Pflanzenschutzmittels gegen seine Vorteile abzuwägen, was Gegenstand einer Vorlagefrage ist. Die übrigen Fragen betreffen die Möglichkeit, Samen mit dem Pflanzenschutzmittel zu behandeln, in Verkehr zu bringen und auszusäen, die Möglichkeit, von Einschränkungen abzuweichen, die die Kommission bei der Genehmigung eines Wirkstoffs ausdrücklich festgelegt hat, sowie die notwendige Qualität der Gefahr, die mit der Notfallzulassung abgewehrt werden soll. Die Antworten auf diese Fragen verdeutlichen, dass bei der Abwägung bestimmte Grenzen beachtet werden müssen.

II.    Rechtlicher Rahmen

3.        Der achte Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung beschreibt die grundlegenden Ziele der Regelung:

„Mit dieser Verordnung soll ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt gewährleistet und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft sichergestellt werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Schutz gefährdeter Gruppen in der Bevölkerung gelten, insbesondere von Schwangeren, Säuglingen und Kindern. Das Vorsorgeprinzip sollte angewandt und mit dieser Verordnung sollte sichergestellt werden, dass die Industrie den Nachweis erbringt, dass Stoffe oder Produkte, die erzeugt oder in Verkehr gebracht werden, keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder keine unannehmbaren Auswirkungen auf die Umwelt haben.“

4.        Der 24. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung beschreibt die Voraussetzungen der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels:

„Die Bestimmungen für eine Zulassung müssen ein hohes Schutzniveau gewährleisten. Insbesondere sollte bei Erteilung einer Zulassung für Pflanzenschutzmittel das Ziel, die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen, Vorrang haben vor dem Ziel, die Pflanzenproduktion zu verbessern. Daher sollte, bevor ein Pflanzenschutzmittel in Verkehr gebracht wird, nachgewiesen werden, dass es einen offensichtlichen Vorteil für die Pflanzenerzeugung bringt und keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich der besonders gefährdeten Personengruppen, oder von Tieren sowie keine unzulässigen Folgen für die Umwelt hat.“

5.        Der 32. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung erläutert die Notfallbefugnisse der Mitgliedstaaten nach Art. 53:

„In Ausnahmefällen sollte es den Mitgliedstaaten erlaubt sein, Pflanzenschutzmittel zuzulassen, die nicht die Bedingungen der vorliegenden Verordnung erfüllen, soweit dies erforderlich ist, um eine Gefahr oder Bedrohung für die Pflanzenerzeugung oder die Ökosysteme abzuwenden, die mit anderen angemessenen Mitteln nicht beherrscht werden kann. Solche befristeten Zulassungen sollten auf Gemeinschaftsebene überprüft werden.“

6.        Art. 2 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung enthält eine Definition von Pflanzenschutzmitteln:

„Diese Verordnung gilt für Produkte in der dem Verwender gelieferten Form, die aus Wirkstoffen, Safenern oder Synergisten bestehen oder diese enthalten und für einen der nachstehenden Verwendungszwecke bestimmt sind:

a)      Pflanzen oder Pflanzenerzeugnisse vor Schadorganismen zu schützen oder deren Einwirkung vorzubeugen, soweit es nicht als Hauptzweck dieser Produkte erachtet wird, eher hygienischen Zwecken als dem Schutz von Pflanzen oder Pflanzenerzeugnissen zu dienen;

Diese Produkte werden als ‚Pflanzenschutzmittel‘ bezeichnet.“

7.        Von Interesse sind im Übrigen die Definitionen der Begriffe Schadorganismen und Umwelt durch Art. 3 der Pflanzenschutzverordnung:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚Schadorganismen‘ alle Arten, Stämme oder Biotypen von Pflanzen, Tieren oder Krankheitserregern, die für Pflanzen oder Pflanzenerzeugnisse schädlich sind;

13.      ‚Umwelt‘ Gewässer (einschließlich Grundwasser und Oberflächengewässer, Übergangs‑, Küsten- und Meeresgewässer), Sedimente, Boden, Luft, Land sowie wild lebende Arten von Pflanzen und Tieren und ihre gegenseitigen Beziehungen sowie die Beziehung zwischen ihnen und anderen lebenden Organismen“.

8.        Die Genehmigung von Wirkstoffen ist in Kapitel II Abschnitt 1 Unterabschnitte 1 und 2 der Pflanzenschutzverordnung (Art. 4 bis 13) geregelt.

9.        Art. 4 der Pflanzenschutzverordnung enthält die Genehmigungskriterien. Insbesondere schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und Tieren sowie unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt sind nach Art. 4 Abs. 2 und 3 auszuschließen.

10.      Art. 4 Abs. 7 der Pflanzenschutzverordnung erlaubt unter bestimmten Bedingungen, Wirkstoffe zu genehmigen, die nicht den allgemeinen Anforderungen genügen:

„Abweichend von Abs. 1 kann ein Wirkstoff für den Fall, dass er aufgrund von im Antrag enthaltenen dokumentierten Nachweisen zur Bekämpfung einer ernsten, nicht durch andere verfügbare Mittel einschließlich nichtchemischer Methoden abzuwehrenden Gefahr für die Pflanzengesundheit notwendig ist, für einen begrenzten Zeitraum genehmigt werden, der zur Bekämpfung dieser ernsthaften Gefahr notwendig ist, allerdings höchstens fünf Jahre beträgt, auch wenn er die in Anhang II Nummern 3.6.3, 3.6.4, 3.6.5 oder 3.8.2 genannten Kriterien nicht erfüllt; dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Verwendung des Wirkstoffs Risikominderungsmaßnahmen unterliegt, um sicherzustellen, dass die Exposition von Menschen und der Umwelt gegenüber diesem Wirkstoff so gering wie möglich gehalten wird. …

Die Mitgliedstaaten können Pflanzenschutzmittel mit gemäß diesem Absatz zugelassenen Wirkstoffen nur genehmigen, wenn dies zur Bekämpfung der ernsthaften Gefahr für die Pflanzengesundheit in ihrem Hoheitsgebiet notwendig ist.

Gleichzeitig arbeiten sie einen Plan für ein schrittweises Verbot aus, zur Kontrolle der ernsthaften Gefahr mit anderen Mitteln einschließlich nichtchemischer Methoden; diesen Plan übermitteln sie unverzüglich der Kommission.“

11.      Art. 6 der Pflanzenschutzverordnung erlaubt Bedingungen und Einschränkungen der Genehmigung:

„Die Genehmigung kann Bedingungen und Einschränkungen unterworfen werden, etwa hinsichtlich:

c)      Beschränkungen aufgrund der Beurteilung der Informationen nach Artikel 8 unter Berücksichtigung der jeweiligen landwirtschaftlichen, pflanzengesundheitlichen und ökologischen Bedingungen einschließlich der klimatischen Bedingungen,

e)       Art und Bedingungen der Anwendung,

h)      Festlegung von Gebieten, in denen die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln einschließlich Bodenbehandlungsmitteln, die den Wirkstoff enthalten, nicht oder nur unter spezifischen Bedingungen zugelassen werden darf,

j)      sonstiger spezifischer Bedingungen, die sich aus der Bewertung der im Rahmen dieser Verordnung bereitgestellten Informationen ergeben.“

12.      Der Inhalt einer Genehmigung von Wirkstoffen ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 der Pflanzenschutzverordnung:

„Auf der Grundlage des Überprüfungsberichts, anderer in Bezug auf den zu prüfenden Sachverhalt zu berücksichtigender Faktoren und des Vorsorgeprinzips, wenn die Bedingungen gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 relevant sind, wird nach dem in Art. 79 Abs. 3 genannten Regelungsverfahren eine Verordnung dahingehend erlassen, dass

a)      ein Wirkstoff gegebenenfalls vorbehaltlich der in Art. 6 genannten Bedingungen und Einschränkungen genehmigt wird;

b)      ein Wirkstoff nicht genehmigt wird oder

c)       die Bedingungen für die Genehmigung geändert werden.“

13.      Nach Art. 28 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung bedarf ein Pflanzenschutzmittel der Zulassung durch den betreffenden Mitgliedstaat:

„Ein Pflanzenschutzmittel darf nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn es in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der vorliegenden Verordnung zugelassen wurde.“

14.      Die Anforderungen an eine Zulassung ergeben sich aus Art. 29 der Pflanzenschutzverordnung:

„(1)      Unbeschadet des Art. 50 wird ein Pflanzenschutzmittel nur zugelassen, wenn es entsprechend den einheitlichen Grundsätzen gemäß Abs. 6 folgende Anforderungen erfüllt:

a)      Seine Wirkstoffe, Safener und Synergisten sind genehmigt;

b)      …“

15.      Nach Art. 49 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung verbieten die Mitgliedstaaten nicht das Inverkehrbringen und die Verwendung von Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, die in mindestens einem Mitgliedstaat für die Verwendung zugelassen sind. Art. 49 Abs. 2 sieht den Erlass von Maßnahmen vor, um erheblichen Bedenken zu begegnen, dass das behandelte Saatgut wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt.

16.      Unter der Überschrift „Notfallsituationen im Pflanzenschutz“ erlaubt Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung den Mitgliedstaaten, ausnahmsweise Pflanzenschutzmittel zuzulassen, die nicht den allgemeinen Anforderungen entsprechen:

„(1)      Abweichend von Art. 28 kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen für eine Dauer von höchstens 120 Tagen das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels für eine begrenzte und kontrollierte Verwendung zulassen, sofern sich eine solche Maßnahme angesichts einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr als notwendig erweist.

Der betroffene Mitgliedstaat informiert unverzüglich die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission über seine Maßnahmen und legt detaillierte Informationen zur Situation und zu den Maßnahmen für die Verbrauchersicherheit vor.

(2)      Die Kommission kann die Behörde um eine Stellungnahme oder um wissenschaftliche oder technische Unterstützung ersuchen.

Die Behörde übermittelt der Kommission ihre Stellungnahme oder die Ergebnisse ihrer Arbeit innerhalb von einem Monat nach dem Zeitpunkt des Ersuchens.

(3)      Gegebenenfalls wird eine Entscheidung nach dem in Art. 79 Abs. 3 genannten Regelungsverfahren darüber erlassen, wann und unter welchen Bedingungen der Mitgliedstaat

a)      die Dauer der Maßnahme ausdehnen oder die Maßnahme wiederholen darf bzw. dies nicht tun darf; oder

b)      die Maßnahme zurücknehmen oder abändern muss.

(4)      …“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

17.      Thiamethoxam und Clothianidin sind Insektizide aus der Gruppe der Neonicotinoide, die in der Landwirtschaft zur Behandlung des Saatguts verwendet werden. Sie waren ursprünglich in der Union genehmigt. Im Jahr 2018 hat die Kommission die Genehmigungen für Clothianidin(5) und Thiamethoxam(6) neu geregelt und dabei aufgrund der Risiken für Bienen sehr strenge Einschränkungen verhängt. Diese Regelungen verbieten seit dem 19. Dezember 2018 außerhalb dauerhaft errichteter Gewächshäuser die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die diese Wirkstoffe enthalten. Auch mit diesen Wirkstoffen behandeltes Saatgut darf nur innerhalb solcher Gewächshäuser eingesetzt werden. Soweit ersichtlich, sind diese eingeschränkten Genehmigungen im Jahr 2019 ersatzlos ausgelaufen.(7) Daher können Pflanzenschutzmittel auf der Grundlage dieser Wirkstoffe in der Union nach dem allgemeinen Zulassungsverfahren nicht mehr genehmigt werden.

18.      Im Herbst 2018 erteilte der belgische Staat gleichwohl sechs Zulassungen der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln auf der Basis der Wirkstoffe Clothianidin und Thiamethoxam für die Behandlung von Saatgut bestimmter Kulturen, einschließlich Zuckerrüben, das Inverkehrbringen dieses Saatguts und seine Aussaat im Freiland. Der Zulassungszeitraum umfasste im Wesentlichen das Frühjahr 2019. Schon vorher waren die betreffenden Produkte jedoch in Belgien seit vielen Jahren zugelassen und in Verwendung.

19.      Insbesondere aus dem Vorbringen von SESVanderHave S. A., einer Streithelferin des belgischen Staats im Ausgangsverfahren, ergibt sich, dass die zugelassene Verwendung der Pflanzenschutzmittel der Bekämpfung von Blattläusen dient, die Viren übertragen, welche die betroffenen Kulturen, insbesondere Zuckerrüben, schädigen würden.

20.      Gegen diese Zulassungen erhoben zwei Vereinigungen zur Bekämpfung von Pestiziden und zur Förderung der Biodiversität sowie ein Imker (im Folgenden: die Kläger) Klage vor dem Conseil d’État (Staatsrat, Belgien). Sie tragen vor, zahlreiche wissenschaftliche Studien hätten gezeigt, dass die Verwendung dieser Neonicotinoide erhebliche Risiken für Bienen, Hummeln und andere blütenbesuchende Insekten mit sich brächten. Die Zulassung des Inverkehrbringens und der Verwendung von behandeltem Saatgut im Freiland sei mit Unionsrecht unvereinbar.

21.      Der belgische Staat ist hingegen der Auffassung, durch die Verwendungsbedingungen lasse sich ein unannehmbares Risiko für Bienen vermeiden. Da die betreffenden Kulturen vor der Blüte geerntet werden, könne jeglicher Kontakt zwischen Bienen und der Pflanze verhindert werden. Verschiedene Unternehmen sowie Interessenvertreter der belgischen Zuckerrübenlandwirtschaft und der Zuckererzeuger sind dem Rechtsstreit auf Seiten des belgischen Staates als Streithelfer beigetreten.

22.      Vor diesem Hintergrund hat der Conseil d’État (Staatsrat) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1)      Ist Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Zulassung für die Behandlung von Saatgut mit Pflanzenschutzmitteln, den Verkauf oder die Aussaat von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut zu erteilen?

2)      Kann, falls die erste Frage bejaht wird, Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung unter bestimmten Voraussetzungen auf Pflanzenschutzmittel angewandt werden, die Wirkstoffe enthalten, deren Inverkehrbringen oder Verwendung in der Europäischen Union eingeschränkt oder verboten ist?

3)      Erfassen die in Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung geforderten „bestimmten Umstände“ Situationen, in denen der Eintritt einer Gefahr nicht gewiss, sondern nur plausibel ist?

4)      Erfassen die in Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung geforderten „bestimmten Umstände“ Situationen, in denen das Auftreten einer Gefahr vorhersehbar, gewöhnlich und sogar zyklisch ist?

5)      Ist der in Art. 53 der Pflanzenschutzverordnung verwendete Ausdruck „anders nicht abzuwehrenden“ so auszulegen, dass er, angesichts des achten Erwägungsgrundes der Verordnung, der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt einerseits und der Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft andererseits gleiche Bedeutung beimisst?

23.      Die Kläger, das Königreich Belgien sowie die SESVanderHave S. A., eine Streithelferin im Ausgangsverfahren, und darüber hinaus Finnland, die Französische Republik, die Hellenische Republik und Ungarn sowie die Europäische Kommission haben zu diesen Vorlagefragen schriftlich Stellung genommen. An der Verhandlung vom 17. März 2022 haben sich die Kläger, Belgien, Griechenland, Frankreich und die Kommission beteiligt.

IV.    Rechtliche Würdigung

24.      Nach Art. 28 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung bedarf ein Pflanzenschutzmittel der Zulassung durch den betreffenden Mitgliedstaat. Diese Zulassung setzt gemäß Art. 29 u. a. voraus, dass die Kommission seine Wirkstoffe, Safener und Synergisten nach den Art. 4 bis 13 genehmigt hat.

25.      Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung erlaubt den Mitgliedstaaten jedoch, im Notfall andere Pflanzenschutzmittel zuzulassen.

26.      Die fünf Fragen des Vorabentscheidungsersuchens beziehen sich auf verschiedene Elemente, die bei einer solchen Notfallzulassung zu beachten sind. Ich werde mich zunächst mit der fünften Frage beschäftigen, deren Beantwortung die Funktionsweise dieser Bestimmung besonders deutlich macht. Anschließend untersuche ich die zweite, die dritte und die vierte Frage und abschließend die erste Frage.

A.      Fünfte Frage: Gewichtung der Interessen

27.      Mit der fünften Frage soll geklärt werden, wie bei der Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung die beiden Ziele des achten Erwägungsgrundes, nämlich die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt einerseits und die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft andererseits, zu gewichten sind.

28.      Diese Frage knüpft daran an, dass eine Notfallzulassung gemäß Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nur zulässig ist, sofern sie sich angesichts einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr als notwendig erweist. Nach dem 32. Erwägungsgrund können die Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen Pflanzenschutzmittel zulassen, soweit dies erforderlich ist, um eine Gefahr oder Bedrohung für die Pflanzenerzeugung oder die Ökosysteme abzuwenden, die mit anderen angemessenen Mitteln nicht beherrscht werden kann.

29.      Damit hat der Unionsgesetzgeber die Ausübung der Befugnis nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung von einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit abhängig gemacht.

30.      Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind belastende Maßnahmen nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere (gleichermaßen(8)) geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.(9)

31.      Im Rahmen von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung liegt die „Belastung“ nicht darin, die Freiheit oder die Gleichheit von Grundrechtsträgern einzuschränken, sondern darin, die Reichweite des Schutzes von Umwelt und Gesundheit zu reduzieren, den die allgemeinen Bestimmungen der Verordnung gewährleisten. Diese Ziele sind zwar in den Art. 35 und 37 der Charta der Grundrechte niedergelegt, und zumindest im Zusammenhang mit Art. 37 hat der Gerichtshof bereits von einem in den Verträgen geregelten „Recht“ im Sinne von Art. 52 Abs. 2 der Charta gesprochen,(10) doch tatsächlich dürften die Voraussetzungen einer Notfallzulassung keine Konkretisierung von Grundrechtsschranken im Sinne von Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta darstellen. Aber auch hier fördern die Prüfungsschritte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen.

32.      Bei der Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung ist es zunächst notwendig, die Gefahr oder Bedrohung für die Pflanzenerzeugung oder die Ökosysteme zu identifizieren, die abgewehrt werden soll. Darin liegt das Ziel der Maßnahme.

33.      Anschließend ist festzustellen, ob die Verwendung eines Pflanzenschutzmittels, die zugelassen werden soll, überhaupt geeignet ist, diese Gefahr abzuwehren.

34.      Steht die Eignung fest, so kann geprüft werden, ob die Zulassung des Pflanzenschutzmittels erforderlich ist. Gemäß dem Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung ist dabei zu untersuchen, ob die Gefahr nicht anders abzuwehren ist. Insofern könnte man etwa an andere Pflanzenschutzmittel auf der Basis von Wirkstoffen denken, deren entsprechende Verwendung die Kommission genehmigt hat, den Einsatz von Pflanzensorten, die gegenüber der Gefahr resistent sind, oder eine Umstellung der Produktion auf andere Erzeugnisse.

35.      Schon bei dieser Prüfung unterschiedlicher Maßnahmen kann es notwendig werden, verschiedene rechtlich geschützte Interessen gegeneinander abzuwägen. Im 32. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass die Zulassung nur möglich ist, wenn die Gefahr mit anderen angemessenen Mitteln nicht beherrscht werden kann. Wenn die Wirksamkeit der anderen Mittel nicht offensichtlich gleichwertig oder besser ist, ist nämlich abzuwägen, ob die geringere Wirksamkeit angesichts der Risiken des zuzulassenden Pflanzenschutzmittels hinzunehmen ist.

36.      Wenn danach keine anderen angemessenen Mittel zur Abwehr der Gefahr existieren, ist schließlich abzuwägen, ob die mit dem Pflanzenschutzmittel verbundenen Risiken in einem angemessenen Verhältnis zum Schutz der Kulturen vor der Gefahr stehen. Es lässt sich nämlich kaum begründen, dass die Verwendung des Mittels im Sinne von Art. 53 Abs. 1 „notwendig“ oder im Sinne des 32. Erwägungsgrundes „angemessen“ ist, falls ihre Risiken von größerem Gewicht sind als die Vorteile.

37.      Die Abwägung ist im Licht des Vorsorgeprinzips vorzunehmen, da die Bestimmungen der Pflanzenschutzverordnung nach dem achten Erwägungsgrund sowie Art. 1 Abs. 4 insgesamt auf diesem Prinzip beruhen.(11) Dies erfordert erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der Anwendung der Wirkstoffe und Pflanzenschutzmittel auf die Gesundheit und die Umwelt(12) sowie zweitens eine umfassende Bewertung der Risiken auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung.(13)

38.      Dabei ist es entgegen der Auffassung der Kläger grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der jeweilige Antragsteller die notwendigen Informationen und Gutachten für eine Notfallzulassung vorlegt, denn diese Vorgehensweise ist auch bei den sonstigen Verfahren in der Pflanzenschutzverordnung vorgesehen.(14)

39.      Nach dem Grundsatz der guten Verwaltung, den die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Unionsrechts beachten müssen, sind die zuständigen Stellen allerdings gehalten, eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen und sicherzustellen, dass sie bei Erlass ihrer Entscheidung über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügen.(15) Das bedeutet insbesondere, dass sie Informationen des Antragstellers nicht einfach ungeprüft übernehmen dürfen, sondern sie kritisch würdigen und auch relevante Informationen aus anderen Quellen berücksichtigen müssen.

40.      Im Rahmen der Abwägung müssen die zuständigen Stellen den so bestimmten Risiken die ebenfalls auf der Grundlage der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse identifizierten Vorteile der fraglichen Verwendung gegenüberstellen.

41.      Für diese Abwägung ist dem achten Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung auf den ersten Blick zu entnehmen, dass die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt einerseits und die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft andererseits bei der Anwendung der Verordnung und daher insbesondere im Zusammenhang mit der Abwägung nach Art. 53 Abs. 1 abstrakt gleichrangig sind. Denn beide Ziele sollen „zugleich“ erreicht werden.

42.      Allerdings besagt der achte Erwägungsgrund ebenfalls, dass die zur Verwirklichung dieser Ziele zuzulassenden Stoffe und Produkte weder schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier noch unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt haben dürfen. Das müsse die Industrie nachweisen, also das Unternehmen, das den jeweiligen Zulassungsantrag stellt.

43.      Nichts anderes ergibt sich aus dem im vorliegenden Verfahren erörterten 24. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung. Danach sollte das Ziel, die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen, bei Erteilung einer Zulassung für Pflanzenschutzmittel Vorrang haben vor dem Ziel, die Pflanzenproduktion zu verbessern. Daher sollte, bevor ein Pflanzenschutzmittel in Verkehr gebracht wird, nachgewiesen werden, dass es einen offensichtlichen Vorteil für die Pflanzenerzeugung bringt und keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich der besonders gefährdeten Personengruppen, oder von Tieren sowie keine unannehmbaren(16) Folgen für die Umwelt hat.

44.      Die gleiche Zielsetzung, schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier und unannehmbare Folgen für die Umwelt auszuschließen, ergibt sich darüber hinaus aus dem zehnten Erwägungsgrund sowie Art. 4 Abs. 2 und 3, Art. 23 Abs. 2, Art. 27 Abs. 1, Art. 54 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung.

45.      Daran zeigt sich erstens, dass die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt einerseits und die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft andererseits im Rahmen der Abwägung bei der Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nicht abstrakt gleichrangig sind. Vielmehr muss auch diese Abwägung der Verhinderung schädlicher Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder von unannehmbaren Folgen für die Umwelt grundsätzlich Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen einräumen. Das kommt auch in der Überschrift von Art. 53 zum Ausdruck, da dort von einer Notfallsituation die Rede ist, sowie im 32. Erwägungsgrund, der die Anwendung auf Ausnahmefälle beschränkt.

46.      Zweitens kommt im Rahmen der Abwägung der Verhinderung schädlicher Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier bei der Anwendung der Pflanzenschutzverordnung ein deutlich größeres Gewicht zu als der Vermeidung nachteiliger Auswirkungen auf die Umwelt. Denn die Verordnung soll nur unannehmbare Folgen für die Umwelt ausschließen, aber alle schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier. Nach der Auffassung des Gesetzgebers sind somit auch annehmbare nachteilige Folgen für die Umwelt vorstellbar, die bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln akzeptiert werden können.

47.      Wenn die Verwendung eines Pflanzenschutzmittels mit schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier verbunden ist, darf eine Notfallzulassung nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung daher nur erteilt werden, wenn sie zur Abwehr besonders schwerwiegender Gefahren notwendig ist. Vorstellbar wären etwa konkrete Gefahren für die Ernährungssicherheit der Bevölkerung, die durch die Notfallzulassung abgewehrt werden sollen. Bloße wirtschaftliche Erwägungen sollten dagegen nicht ausreichen.

48.      Bei „lediglich“ nachteiligen Folgen für die Umwelt ist der Spielraum für eine Abwägung dagegen größer. Gewichtige wirtschaftliche Interessen können daher unter Umständen gegenüber geringfügigen Beeinträchtigungen der Umwelt überwiegen.

49.      Die Abgrenzung zwischen dem Schutz der Tiergesundheit und dem Schutz der Umwelt lässt sich dabei indirekt aus der Definition der Umwelt durch Art. 3 Nr. 13 der Pflanzenschutzverordnung ableiten. Danach sind insbesondere die wildlebenden Tierarten der Umwelt zuzurechnen. Da bestimmte wildlebende Tierarten nach Art. 3 Nr. 7 Schadorganismen sein können, die nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a durch Pflanzenschutzmittel abgewehrt werden sollen, z. B. die vorliegend bekämpften Blattläuse, wäre es auch widersprüchlich, jede schädliche Auswirkung auf ihre Gesundheit ausschließen zu müssen.

50.      Die Bedenken gegenüber Neonicotinoiden betreffen die Auswirkungen auf Bienen, einschließlich der in der Imkerei genutzten Honigbienen.(17) Bei Letzteren handelt es sich im Unterschied zu Wildbienen oder Hummeln nicht um wildlebende Tierarten, so dass zumindest insofern das stärkere Schutzziel des Schutzes der Tiergesundheit betroffen ist.

51.      Auf die fünfte Frage ist somit zu antworten, dass die Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung eine konkrete Abwägung im Licht des Vorsorgeprinzips erfordert, ob die Vorteile für die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft durch die fragliche Verwendung eines Pflanzenschutzmittels gegenüber den Risiken überwiegen, die mit der Verwendung des Mittels verbunden sind. Wenn die Verwendung eines Pflanzenschutzmittels mit schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier verbunden ist, darf eine Notfallzulassung nur erteilt werden, wenn sie zur Abwehr besonders schwerwiegender Gefahren notwendig ist. Bei „lediglich“ nachteiligen Folgen für die Umwelt ist der Spielraum für eine Abwägung dagegen größer.

B.      Zweite Frage: Wirkstoffe, deren Inverkehrbringen oder Verwendung eingeschränkt oder verboten sind

52.      Mit der zweiten Frage soll geklärt werden, ob die Mitgliedstaaten nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung Pflanzenschutzmittel zulassen dürfen, die Wirkstoffe enthalten, deren Inverkehrbringen oder Verwendung eingeschränkt oder verboten ist. Der Staatsrat stellt sie zwar nur für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht, doch es erscheint mir sinnvoll, sie auch unabhängig davon zu erörtern.

53.      Vor dem Hintergrund des Ausgangsfalls ist diese Frage dahin gehend zu präzisieren, ob die Mitgliedstaaten Pflanzenschutzmittel für Verwendungen zulassen dürfen, die den Einschränkungen widersprechen, die die Kommission im Zusammenhang mit der Genehmigung der eingesetzten Wirkstoffe festgelegt hat.

54.      Eine Maßnahme nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung kann abweichend von Art. 28 getroffen werden. Danach bedarf ein Pflanzenschutzmittel der Zulassung durch den betreffenden Mitgliedstaat. Diese Zulassung setzt gemäß Art. 29 Abs. 1 Buchst. a insbesondere voraus, dass seine Wirkstoffe genehmigt sind. Diese Genehmigung wiederum erteilt nach den Art. 13 und 79 die Kommission in Zusammenarbeit mit dem Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit.

55.      Folglich erlaubt Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung den Mitgliedstaaten gerade die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, deren Wirkstoffe die Kommission nicht genehmigt hat.

56.      Nach Meinung der Kläger gilt das aber nur für Wirkstoffe, über die die Kommission noch nicht entschieden hat. Pflanzenschutzmittel, die Wirkstoffe enthalten, deren Inverkehrbringen oder Verwendung die Kommission eingeschränkt oder verboten hat, dürften die Mitgliedstaaten dagegen nicht nach dieser Bestimmung zulassen. Damit wären die streitgegenständlichen belgischen Zulassungen nicht vereinbar. Die Kommissionsgenehmigungen der beiden streitgegenständlichen Neonicotinoide untersagen nämlich ausdrücklich die Verwendung von behandeltem Saatgut außerhalb von Gewächshäusern, während die belgischen Zulassungen gerade die Verwendung von behandeltem Saatgut im Freiland erlauben.

57.      Der Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 und Art. 28 der Pflanzenschutzverordnung würde die von den Klägern vertretene Auslegung zwar nicht erzwingen, aber zumindest zulassen. Die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Art. 53 Abs. 1 wäre auf nicht genehmigte Wirkstoffe beschränkt, während Wirkstoffe, die die Kommission mit einschränkenden Bedingungen genehmigt hat, nicht erfasst wären. Diese Einschränkungen könnte man auf der Grundlage von Art. 53 Abs. 1 nicht überwinden.

58.      Für diese Auslegung spricht, dass die Kommission die Risiken eines Wirkstoffs bereits beurteilt, wenn sie ihn genehmigt und dabei gemäß Art. 6 der Pflanzenschutzverordnung Bedingungen und Beschränkungen festlegt, die bestimmten Verwendungen entgegenstehen.

59.      Der 32. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung zeigt jedoch, dass Art. 53 Abs. 1 deutlich weiter reichen soll. Danach sollte es den Mitgliedstaaten nämlich erlaubt sein, Pflanzenschutzmittel zuzulassen, die die Bedingungen der Verordnung nicht erfüllen. Davon werden nicht nur Wirkstoffe erfasst, die die Kommission nicht genehmigt hat, sondern auch Verwendungen genehmigter Wirkstoffe, die die Kommission durch eine Beschränkung oder Bedingung der Genehmigung ausgeschlossen hat.(18)

60.      Folglich sollen die Mitgliedstaaten nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung entscheiden, ob die konkret vor Ort bestehenden Bedürfnisse des Pflanzenschutzes ausnahmsweise gegenüber den mit einem Pflanzenschutzmittel verbundenen Risiken überwiegen, die die Kommission zur Festlegung von Bedingungen oder Einschränkungen veranlasst haben, und daher eine Notfallzulassung rechtfertigen.

61.      In dieser Auslegung erlaubt Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung den Mitgliedstaaten zwar, bestimmte Risiken hinzunehmen, die die Kommission bewogen haben, die fragliche Verwendung auszuschließen. Mit diesen Risiken müssen sich die Mitgliedstaaten allerdings bei der Gewährung der Notfallzulassung auseinandersetzen, denn sie müssen ihre Entscheidung – wie gesagt – auf möglichst vollständige und verlässliche Informationen stützen.(19)

62.      Das Risiko einer Vernachlässigung der Bedenken der Kommission wird im Übrigen dadurch begrenzt, dass die Mitgliedstaaten bei Erlass einer Notfallzulassung der Aufsicht der Kommission unterliegen. Der betreffende Mitgliedstaat muss die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten nämlich nach Art. 53 Abs. 1 Unterabs. 2 der Pflanzenschutzverordnung informieren. Die Kommission kann die Notfallzulassung nach Art. 53 Abs. 2 und 3 überprüfen und gegebenenfalls einschränken oder sogar untersagen.

63.      Die Kläger tragen zwar vor, dass die Kommission diese Kontrollbefugnis sehr zurückhaltend ausübe, doch dies würde eher dagegen sprechen, dass die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung überschreiten – zumindest nach Meinung der Kommission. Falls die Kommission dabei die Pflanzenschutzverordnung und insbesondere Art. 53 verletzen sollte, könnten Umweltverbände im Übrigen nach den jüngsten Änderungen der Aarhusverordnung(20) zusätzlich oder alternativ zu Verfahren wie dem vorliegenden eine Überprüfung beantragen und gegebenenfalls die Unionsgerichte anrufen.

64.      Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung insbesondere abwägen müssen, ob die konkret vor Ort bestehenden Bedürfnisse des Pflanzenschutzes ausnahmsweise gegenüber den mit einem Pflanzenschutzmittel verbundenen Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt überwiegen und daher die Notfallzulassung einer Verwendung erlauben, die die Kommission bei der Genehmigung des betreffenden Wirkstoffs untersagt hat.

C.      Dritte und vierte Frage: Auslegung des Begriffs „bestimmte Umstände“

65.      Die dritte und die vierte Frage beziehen sich darauf, dass ein Mitgliedstaat nach fast allen Sprachfassungen von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung unter „besonderen“ Umständen Maßnahmen treffen kann, sofern sich eine solche Maßnahme angesichts einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr als notwendig erweist. Nur in der deutschen Fassung wird insoweit der Begriff der „bestimmten“ Umstände verwendet.

66.      Der Staatsrat möchte erfahren, ob diese Umstände Situationen erfassen, in denen der Eintritt einer Gefahr nicht gewiss, sondern nur plausibel ist (dritte Frage) oder in denen das Auftreten einer Gefahr vorhersehbar, gewöhnlich und sogar zyklisch ist (vierte Frage).

1.      Dritte Frage: Plausibilität oder Gewissheit der Gefahr

67.      Mit der dritten Frage soll die Wahrscheinlichkeit der Gefahr präzisiert werden, die notwendig ist, um eine Notfallzulassung nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung zu rechtfertigen.

68.      Diese Frage erklärt sich daraus, dass zum Zeitpunkt der Verwendung des Pflanzenschutzmittels zur Behandlung von Saatgut im Herbst und Winter kaum beurteilt werden kann, wie groß die Gefahr einer Beeinträchtigung der Kulturen in der Anbauperiode im Frühjahr und Sommer des folgenden Jahres tatsächlich sein wird. In welchem Umfang Blattläuse auftreten, die die entsprechenden Viren verbreiten, ist möglicherweise weder bei der Behandlung des Saatguts noch bei der Aussaat mit Sicherheit vorhersehbar.

69.      Der Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung und insbesondere der in der Frage angesprochene Begriff „bestimmte Umstände“ helfen nicht wirklich, um diese Frage zu beantworten.

70.      Zwar zeigen der 32. Erwägungsgrund und die Überschrift von Art. 53, dass diese Umstände nur Ausnahmen bzw. Notfallsituationen umfassen sollen, aber eine Gefahr muss nicht „gewiss“ sein, um einen solchen Fall darzustellen. Auch bedarf es entgegen der Auffassung der Kläger keiner besonderen Dringlichkeit oder einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr, um einen solchen Fall anzunehmen.

71.      Die Lösung liegt vielmehr in der bereits angesprochenen Funktion von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung, in einem Notfall bzw. unter besonderen Umständen einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen zu fördern.(21)

72.      Aus diesem Blickwinkel kann auch die Abwendung einer lediglich plausiblen Gefahr verhältnismäßig sein, wenn keine anderen angemessenen Mittel zur Verfügung stehen. Abzuwarten, bis die Gefahr gewiss ist, würde dagegen – wie verschiedene Beteiligten vortragen – möglicherweise verhindern, dass man die Gefahr überhaupt noch mit dem fraglichen Pflanzenschutzmittel abwehren kann. In diesem Fall wäre eine Notfallzulassung nicht mehr oder zumindest nicht mehr im gleichen Ausmaß geeignet, ihr Ziel zu erreichen. Dann würde eine verzögerte Notfallzulassung keine weniger belastende alternative Vorgehensweise im Sinne des Prüfungsschritts der Erforderlichkeit(22) darstellen.

73.      Der Hinweis der Kläger auf die Praxis im Vereinigten Königreich(23) zeigt allerdings, dass es möglich sein kann, eine frühzeitig erteilte Notfallzulassung mit geeigneten Bedingungen zu versehen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Pflanzenschutzmittel nur eingesetzt wird, wenn es tatsächlich notwendig ist. Dort hatte man zwar im Herbst eine Notfallzulassung für Neonicotinoide erteilt, aber die weitere Entwicklung beobachtet und im Frühjahr auf die Verwendung verzichtet, da die Gefahr zu diesem Zeitpunkt weniger schwerwiegend erschien als ursprünglich erwartet.

74.      Entscheidend ist in der Regel jedoch die Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile: Eine plausible Gefahr hat zwar ein geringeres Gewicht als eine mit Sicherheit bestehende Gefahr. Aber die lediglich plausible Gefahr eines besonders hohen Schadens kann ähnlich schwer wiegen wie die mit Sicherheit bestehende Gefahr eines geringeren Schadens. Beide Varianten können daher nicht abstrakt in die Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung einbezogen oder von ihr ausgeschlossen werden. Ob eine lediglich plausible Gefahr ausreicht, um eine Notfallzulassung zu rechtfertigen, hängt vielmehr davon ab, ob sie gegenüber den Gefahren für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt überwiegt, die mit der Verwendung des Pflanzenschutzmittels verbunden sind.

75.      Im Übrigen kann bei den letztgenannten Gefahren die gleiche Frage auftreten, denn auch sie können plausibel oder gewiss sein. Inwieweit sie berücksichtigt werden müssen, ergibt sich aus der Rechtsprechung zum Vorsorgeprinzip. Es rechtfertigt den Erlass beschränkender Maßnahmen, wenn es sich als unmöglich erweist, das Vorliegen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unschlüssig sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die Umwelt jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintreten sollte.(24) Damit sind Gefahren gemeint, die zwar nicht gewiss sind, aber doch hinreichend dokumentiert erscheinen, d. h., es liegen ernsthafte und stichhaltige Anhaltspunkte vor.(25)

76.      Um die so bestimmten Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt mit der Gefahr für die Landwirtschaft, die mit der Notfallzulassung abgewehrt werden soll, vergleichen zu können, muss im Übrigen bei der Feststellung Letzterer die gleiche Beurteilungsmethode angewandt werden wie bei Ersterer. Das bedeutet praktisch, dass auch die Gefahr für die Landwirtschaft anhand der vorhandenen Studien beurteilt werden muss und eine Notfallzulassung nur erlauben kann, wenn ernsthafte und stichhaltige Anhaltspunkte vorliegen.

77.      Auf die dritte Frage ist somit zu antworten, dass die Zulassung der Verwendung eines Pflanzenschutzmittels nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nicht davon abhängt, ob der Eintritt der Gefahr, die abgewendet werden soll, gewiss oder plausibel ist, sondern davon, ob die Vorteile dieser Verwendung gegenüber den damit verbundenen Nachteilen überwiegen. Dabei müssen die Vor- und Nachteile der betreffenden Verwendung einschließlich des Grads der Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Gefahr hinreichend dokumentiert sein und somit aus ernsthaften und stichhaltigen Anhaltspunkten abgeleitet werden.

2.      Vierte Frage: vorhersehbare, gewöhnliche und zyklische Gefahr

78.      Auch die vierte Frage betrifft die Gefahr, die die Notfallzulassung rechtfertigen soll. Der Staatsrat möchte nämlich erfahren, ob dafür auch eine Gefahr ausreicht, die vorhersehbar, gewöhnlich und sogar zyklisch auftritt.

79.      Hintergrund dieser Frage ist der Umstand, dass die Gefahr durch Blattläuse und Virenerkrankungen in Belgien, insbesondere nach dem Vorbringen von SESVanderHave, anscheinend vorhersehbar und gewöhnlich ist. Daher wurden ähnliche Zulassungen zur Abwendung der gleichen Gefahren bereits in der Vergangenheit erteilt und sie werden auch für die Zukunft erwartet.

80.      Allein aus dem Blickwinkel der Abwägung von Vor- und Nachteilen der Verwendung der betreffenden Wirkstoffe käme man zu dem Ergebnis, dass es nicht darauf ankommt, ob die Gefahr vorhersehbar, gewöhnlich und sogar zyklisch auftritt. Denn auch solche Gefahren können gegenüber den Gefahren überwiegen, die mit der Verwendung des betreffenden Pflanzenschutzmittels verbunden sind. Sie könnten somit bestimmte oder besondere Umstände im Sinne von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung darstellen.

81.      Die von der Kommission hervorgehobene Entstehungsgeschichte von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung bestätigt diese Einschätzung auf den ersten Blick. Der Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit des Parlaments konnte sich nämlich nicht mit dem Vorschlag durchsetzen, diese Befugnis ähnlich wie zuvor nach Art. 8 Abs. 4 und dem 18. Erwägungsgrund der früher geltenden Pflanzenschutzrichtlinie(26) von einer unvorhersehbaren Gefahr oder anderen Notfällen abhängig zu machen.(27)

82.      In diesem Punkt enthält der 32. Erwägungsgrund der Pflanzenschutzverordnung allerdings eine Klarstellung, die den Spielraum der Abwägung einschränkt. Danach soll die Anwendung von Art. 53 Abs. 1 nämlich nur „Ausnahmefälle“ erfassen. Auch vorhersehbare oder zyklische Gefahren können Ausnahmefälle darstellen, wenn sie selten auftreten, also nur ausnahmsweise. Eine gewöhnliche Gefahr, die also häufig auftritt, ist dagegen schon nach der Wortbedeutung kein Ausnahmefall. Und sie ist auch keine „Notfallsituation“, wie sie in der Überschrift von Art. 53 angesprochen wird.

83.      Darüber hinaus entspricht die Beschränkung auf seltene Ausnahme- bzw. Notfälle der Vorgabe von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung, die fragliche Verwendung „begrenzt“ zuzulassen. Wenn die Verwendung dagegen eine gewöhnliche Gefahr abwehren soll, muss sie praktisch dauerhaft, also unbegrenzt zugelassen werden.

84.      Der Vergleich mit der Pflanzenschutzrichtlinie unterstreicht die Bedeutung der Begriffe Ausnahme und Notfallsituation, denn sie waren in der Richtlinie noch nicht enthalten. Ihre Verwendung in der Pflanzenschutzverordnung ist daher als bewusste Einschränkung der Befugnis zur Zulassung nach Art. 53 zu sehen.

85.      Die Konsequenz dieser Auslegung ist nicht, dass gewöhnliche Gefahren zwangsläufig hinzunehmen sind. Falls auch bei intensiver Suche kein anderes Mittel gefunden wird, um die Gefahr abzuwenden, muss die Kommission derartige Gefahren bei der Entscheidung über die Zulassung von Wirkstoffen berücksichtigen und unter Umständen in Anwendung von Art. 6 der Pflanzenschutzverordnung Gebiete festlegen, in denen die Wirkstoffe aufgrund der dort gewöhnlich auftretenden Gefahren in weiterem Umfang verwendet werden dürfen als in anderen Gebieten der Union. Art. 6 Buchst. h zeigt, dass solche räumlich geltenden Einschränkungen von Wirkstoffzulassungen möglich sind. Falls die allgemeinen Genehmigungsvoraussetzungen dem entgegenstehen, sollte insoweit zumindest ein Rückgriff auf Art. 4 Abs. 7 der Pflanzenschutzverordnung möglich sein.

86.      Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, dass eine Notfallzulassung nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nur ausnahmsweise erteilt werden darf. Eine gewöhnliche Gefahr, die häufig auftritt, stellt keinen Ausnahmefall dar und reicht daher nicht aus.

D.      Erste Frage: mit Pflanzenschutzmitteln behandeltes Saatgut

87.      Die erste Frage soll klären, ob Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung einem Mitgliedstaat erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Zulassung für die Behandlung von Saatgut mit Pflanzenschutzmitteln sowie den Verkauf oder die Aussaat von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut zu erteilen.

88.      Da Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung den Mitgliedstaaten erlaubt, die Verwendung eines Pflanzenschutzmittels zuzulassen, schließt diese Befugnis schon nach ihrem Wortlaut die Erlaubnis ein, Saatgut mit dem zugelassenen Pflanzenschutzmittel zu behandeln, denn das wäre eine Verwendung des Mittels.

89.      Die Pflanzenschutzverordnung beruht im Übrigen auf der Annahme, dass Pflanzenschutzmittel in dieser Art und Weise verwendet werden, denn sie bezieht sich verschiedentlich auf die Behandlung von Saatgut und regelt in Art. 49 sogar das Inverkehrbringen desselben.

90.      Entgegen der Auffassung der Kläger spricht auch das Ziel von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nicht gegen eine Erstreckung auf die Behandlung von Samen, die naturgemäß deutlich früher geschieht als der eventuell später eintretende Befall mit Schadorganismen. Diese Regelung zielt nämlich – wie bereits dargelegt(28) – nicht ausschließlich darauf ab, unmittelbar bevorstehende Gefahren abzuwehren.

91.      Die Erlaubnis, mit Pflanzenschutzmitteln behandeltes Saatgut in Verkehr zu bringen oder auszusäen, findet zwar in Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung keine ausdrückliche Erwähnung, doch letztlich handelt es sich mittelbar ebenfalls um eine Verwendung des Pflanzenschutzmittels. Denn erst durch die Aussaat des behandelten Saatguts kann das Mittel seine Funktion erfüllen. Das Inverkehrbringen, also die Weitergabe an Landwirte, soll diese Aussaat ermöglichen.

92.      Für dieses Ergebnis spricht auch der von Frankreich und Belgien dargelegte Gedanke, dass behandeltes Saatgut selbst im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung als Pflanzenschutzmittel angesehen werden könnte.

93.      Der Mitgliedstaat muss aber sowohl das Inverkehrbringen als auch die Aussaat auf die Region seines Staatsgebiets beschränken, in der die abzuwehrende Gefahr auftritt. Denn eine weiter reichende Verwendung des behandelten Saatguts kann durch diese Gefahr nicht gerechtfertigt werden. Vielmehr erlaubt schon der Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nur eine Zulassung für eine begrenzte und kontrollierte Verwendung. Diese notwendige Begrenzung muss auch das Gebiet der möglichen Verwendung festlegen.

94.      Daraus folgt im Übrigen, dass die Zulassung des Inverkehrbringens von behandeltem Saatgut nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung nicht die Wirkung der Unionsregelung des Inverkehrbringens von behandeltem Saatgut nach Art. 49 entfaltet. Art. 49 ermöglicht nämlich in der ganzen Union den freien Handel mit Saatgut, das mit einem nach Art. 28 zugelassenen Pflanzenschutzmittel behandelt wurde. Darin läge aber gerade keine begrenzte und kontrollierte Verwendung.

95.      Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass die Notfallzulassung eines Pflanzenschutzmittels nach Art. 53 Abs. 1 der Pflanzenschutzverordnung die Behandlung von Saatgut mit dem Pflanzenschutzmittel sowie den Verkauf oder die Aussaat von mit dem Pflanzenschutzmittel behandeltem Saatgut in dem von der Zulassung umfassten Gebiet einschließen kann.

V.      Ergebnis

96.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsverfahren wie folgt zu beantworten:

1)      Auf die fünfte Frage ist zu antworten, dass die Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln eine konkrete Abwägung im Licht des Vorsorgeprinzips erfordert, ob die Vorteile für die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft durch die fragliche Verwendung eines Pflanzenschutzmittels gegenüber den Risiken überwiegen, die mit der Verwendung des Mittels verbunden sind. Wenn die Verwendung eines Pflanzenschutzmittels mit schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier verbunden ist, darf eine Notfallzulassung nur erteilt werden, wenn sie zur Abwehr besonders schwerwiegender Gefahren notwendig ist. Bei „lediglich“ nachteiligen Folgen für die Umwelt, ist der Spielraum für eine Abwägung dagegen größer.

2)      Auf die zweite Frage ist zu antworten, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 insbesondere abwägen müssen, ob die konkret vor Ort bestehenden Bedürfnisse des Pflanzenschutzes ausnahmsweise gegenüber den mit einem Pflanzenschutzmittel verbundenen Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt überwiegen und daher die Notfallzulassung einer Verwendung erlauben, die die Kommission bei der Genehmigung des betreffenden Wirkstoffs untersagt hat.

3)      Auf die dritte Frage ist zu antworten, dass die Notfallzulassung der Verwendung eines Pflanzenschutzmittels nach Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 nicht davon abhängt, ob der Eintritt der Gefahr, die abgewendet werden soll, gewiss oder plausibel ist, sondern davon, ob die Vorteile dieser Verwendung gegenüber den damit verbundenen Nachteilen überwiegen. Dabei müssen die Vor- und Nachteile der betreffenden Verwendung einschließlich des Grads der Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Gefahr hinreichend dokumentiert sein und somit aus ernsthaften und stichhaltigen Anhaltspunkten abgeleitet werden.

4)      Auf die vierte Frage ist zu antworten, dass eine Notfallzulassung nach Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 nur ausnahmsweise erteilt werden darf. Eine gewöhnliche Gefahr, die häufig auftritt, stellt keinen Ausnahmefall dar und reicht daher nicht aus.

5)      Auf die erste Frage ist zu antworten, dass die Notfallzulassung eines Pflanzenschutzmittels nach Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 die Behandlung von Saatgut mit dem Pflanzenschutzmittel sowie den Verkauf oder die Aussaat von mit dem Pflanzenschutzmittel behandeltem Saatgut in dem von der Zulassung umfassten Gebiet einschließen kann.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Urteil vom 8. Oktober 2020, Union des industries de la protection des plantes (C‑514/19, EU:C:2020:803).


3      Urteil vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission (C‑499/18 P, EU:C:2021:367).


4      Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (ABl. 2009, L 309, S. 1).


5      Durchführungsverordnung (EU) 2018/784 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Clothianidin (ABl. 2018, L 132, S. 35).


6      Durchführungsverordnung (EU) 2018/785 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Thiamethoxam (ABl. 2018, L 132, S. 40).


7      Nrn. 121 und 140 des Anhangs der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 der Kommission vom 25. Mai 2011 zur Durchführung der [Pflanzenschutzverordnung] hinsichtlich der Liste zugelassener Wirkstoffe (ABl. 2011 L 153, S. 1) in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2021/2081 (ABl. 2021, L 426, S. 28).


8      Vgl. Urteile vom 23. Dezember 2015, Scotch Whisky Association u. a. (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 49), vom 26. September 2018, Van Gennip u. a. (C‑137/17, EU:C:2018:771, Rn. 64), und vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat (Uploadfilter) (C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 83).


9      Urteile vom 11. Juli 1989, Schräder HS Kraftfutter (265/87, EU:C:1989:303, Rn. 21), vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86), und vom 4. Juni 2020, Ungarn/Kommission (C‑456/18 P, EU:C:2020:421, Rn. 41).


10      Urteile vom 21. Dezember 2016, Associazione Italia Nostra Onlus (C‑444/15, EU:C:2016:978, Rn. 62), und vom 13. März 2019, Polen/Parlament und Rat (C‑128/17, EU:C:2019:194, Rn. 130).


11      Urteil vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 44).


12      Urteile vom 28. März 2019, Verlezza u. a. (C‑487/17 bis C‑489/17, EU:C:2019:270, Rn. 57), und vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission (C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 80).


13      Urteil vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 46).


14      Vgl. Urteil vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 77 ff.).


15      Urteile vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ (C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 44), und vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling (C‑396/20, EU:C:2021:867, Rn. 48).


16      Die deutsche Fassung verwendet hier zwar den Begriff „unzulässig“, doch dabei dürfte es sich um einen Übersetzungsfehler handeln.


17      Erwägungsgründe der Durchführungsverordnungen (EU) 2018/784 und 2018/785.


18      So im Ergebnis auch Urteil des Gerichts vom 17. Mai 2018, Bayer CropScience u. a./Kommission (T‑429/13 und T‑451/13, EU:T:2018:280, Rn. 463), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Bayer CropScience und Bayer/Kommission (C‑499/18 P, EU:C:2020:735, Nr. 183). Vgl. auch schon Urteil vom 17. Oktober 2013, Sumitomo Chemical (C‑210/12, EU:C:2013:665, Rn. 36), zur früher geltenden Regelung.


19      Siehe oben, Nr. 39.


20      Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft (ABl. 2006, L 264, S. 13) in der Fassung der Verordnung (EU) 2021/1767 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2021 (ABl. 2021, L 356, S. 1).


21      Siehe oben die Ausführungen zur fünften Frage, Nrn. 31 ff.


22      Siehe oben, Nrn. 34 und 35.


23      Rn. 53 des Schriftsatzes.


24      Urteile vom 23. September 2003, Kommission/Dänemark (C‑192/01, EU:C:2003:492, Rn. 52), vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich (C‑333/08, EU:C:2010:44, Rn. 93), vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 43), und vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission (C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 80).


25      Urteil vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission (C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 130). Siehe auch Urteil vom 9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a. (C‑236/01, EU:C:2003:431, Rn. 113).


26      Richtlinie 91/414/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (ABl. 1991, L 230, S. 1).


27      Bericht A6-0359/2007 vom 5. Dezember 2007 über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, Änderungsantrag 182 (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-6-2007-0359_DE.html).


28      Siehe oben, Nrn. 70 und 72.