Language of document : ECLI:EU:C:2003:319

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

L. A. GEELHOED

vom 3. Juni 2003(1)

Rechtssache C-129/00

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung - Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge - Ungerechtfertigte Bereicherung - Beweislastverteilung aufgrund nationaler Rechtsprechung und Verwaltungspraxis - Beweis, dass der Steuerpflichtige den zu Unrecht gezahlten Betrag nicht auf seine Kunden abgewälzt hat“

I - Einleitung

1.
    In diesem Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 226 EG beantragt die Kommission die Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428 vom 29. Dezember 1990 in ihrer Rechtsordnung beibehalten hat, der nach der Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung und die Gerichte eine Beweisregelung bezüglich der Abwälzung der unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben enthält, die die Ausübung des Rechts auf Erstattung dieser Abgaben für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich macht oder zumindest übermäßig erschwert. Ihrer Auffassung nach widerspricht diese Praxis den Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof im Bereich der Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge aufgestellt hat.

2.
    Damit wird zugleich die grundsätzlichere Frage nach den Folgen aufgeworfen, die eine nationale Rechtsprechung nach sich zieht, die sich nicht an die primären und sekundären Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in deren Auslegung durch den Gerichtshof hält.

3.
    Ich möchte darauf hinweisen, dass dieses Problem in zwei anderen Rechtssachen, die derzeit beim Gerichtshof anhängig sind, wenn auch unter anderem Blickwinkel, zur Diskussion steht. Es geht um die Rechtssachen Kühne & Heitz(2) und Köbler(3). In der erstgenannten Rechtssache hat das vorlegende Gericht die Frage gestellt, ob ein nationales Verwaltungsorgan verpflichtet ist, eine Entscheidung zurückzunehmen, die rechtmäßig erlassen und formell rechtskräftig geworden ist, wenn sich aus einem späteren Urteil des Gerichtshofes ergibt, dass Entscheidung und Urteil auf einer falschen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhten. Die zweite Rechtssache betrifft die Frage, ob ein Mitgliedstaat für den Schaden haftbar ist, den ein Rechtsuchender infolge eines gemeinschaftsrechtswidrigen Urteils eines höchsten nationalen Gerichts erlitten hat. Der vorliegende Fall betrifft die Frage, ob eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende nationale Rechtspraxis zu der Feststellung führen kann, dass ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag im Sinne von Artikel 226 EG verletzt hat.

II - Die maßgeblichen italienischen Rechtsvorschriften

4.
    Das Gesetz Nr. 428/1990 vom 29. Dezember 1990 mit Vorschriften zur Erfüllung von Verpflichtungen, die sich aus der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften ergeben (Gemeinschaftsgesetz für 1990, GURI Nr. 10 vom 12. Januar 1991) ist am 27. Januar 1991 in Kraft getreten.

5.
    Artikel 29 des Gesetzes Nr. 428/1990 enthält Vorschriften über die „Erstattung von Abgaben, die für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärt worden sind“. Die Absätze 1 und 2 lauten wie folgt:

„1.    Die in Artikel 91 des Testo Unico der Zollrechtsbestimmungen vorgesehene Ausschlussfrist von fünf Jahren, die durch Dekret Nr. 43 des Präsidenten der Republik vom 23. Januar 1973 genehmigt wurde, gilt für alle Anträge und Klagen auf Erstattung von Beträgen, die für Zollvorgänge gezahlt wurden. Ab dem neunzigsten Tag nach Inkrafttreten dieses Gesetzes verkürzen sich diese Frist und die in Artikel 84 des Testo Unico vorgesehene Verjährungsfrist auf drei Jahre.

2.    Die Einfuhrzölle, die Produktionssteuern, die Verbrauchsteuern, der Zuschlag auf Zucker und die staatlichen Gebühren, die nach mit den Gemeinschaftsnormen unvereinbaren nationalen Vorschriften erhoben worden sind, werden erstattet, es sei denn, dass die Belastung auf andere Personen abgewälzt worden ist.“

III - Die Vorgeschichte des Rechtsstreits

6.
    Die Regelung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 ist an die Stelle des Artikels 10 des Decreto-legge Nr. 430 vom 10. Juli 1982(4) getreten; dieser bestimmte:

„Wer ... zu Unrecht Einfuhrzölle, Produktionssteuern, Verbrauchsteuern oder staatliche Abgaben entrichtet hat, hat - soweit es sich nicht um eine irrtümliche Zahlung handelt - keinen Anspruch auf Erstattung der gezahlten Beträge, wenn die entsprechende Belastung in irgendeiner Weise auf andere Personen abgewälzt worden ist.

Vorbehaltlich eines urkundlichen Nachweises des Gegenteils wird die Abwälzung der Belastung in allen Fällen vermutet, in denen die Waren, in Bezug auf die die Zahlung erfolgt ist - auch nach Verarbeitung, Umwandlung, Einbau, Zusammensetzung oder Anpassung - veräußert worden sind.

...“

7.
    Diese Vorschrift war in den 80er Jahren Gegenstand zweier Urteile des Gerichtshofes. Im Urteil San Giorgio vom 9. November 1983 ist entschieden worden, dass ein Mitgliedstaat die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben nicht von dem Beweis abhängig machen darf, dass diese Abgaben nicht auf andere Personen abgewälzt wurden, wenn dieser Beweis nach Vorschriften geführt werden muss, die die Ausübung dieses Rechts praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren(5). Nach dem Urteil San Giorgio leitete die Kommission gegen die Italienische Republik ein Vertragsverletzungsverfahren ein, das zum Urteil vom 24. März 1988(6) führte. Die Rügen der Kommission konzentrierten sich auf das Erfordernis, dass nur ein Schriftbeweis zulässig war, um zu belegen, dass die zu Unrecht gezahlten nationalen Abgaben nicht auf Dritte abgewälzt worden waren. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die betreffende Beweisregel dem Gemeinschaftsrecht widersprach.

8.
    Auch Artikel 29 des Gesetzes Nr. 428/1990 ist bereits Gegenstand der Gemeinschaftsrechtsprechung gewesen. Zu Artikel 29 Absätze 1 und 2 wurden Vorabentscheidungsfragen vorgelegt, die zu den Urteilen Aprile(7), Dilexport(8) und Grundig Italiana(9) geführt haben. Alle drei Urteile beziehen sich auf die in Artikel 29 Absatz 1 geregelte Ausschlussfrist.

9.
    Insbesondere das Urteil Dilexport ist für die Durchführung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990, der im Mittelpunkt des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens steht, von Bedeutung. Nach der Feststellung, dass sich die italienische Regierung und das vorlegende Gericht nicht einig waren über die richtige Auslegung dieser Vorschrift durch die italienischen Gerichte, hat der Gerichtshof zur Verteilung der Beweislast ausgeführt:

„52    Wenn, wie das nationale Gericht meint, eine Vermutung für die Abwälzung rechtswidrig verlangter oder zu Unrecht erhobener Abgaben auf Dritte besteht und die Erstattung der Abgabe davon abhängt, dass der Antragsteller diese Vermutung widerlegt, sind die betreffenden Vorschriften als gemeinschaftsrechtswidrig anzusehen.

53    Wenn dagegen, wie die italienische Regierung geltend macht, die Verwaltung mit allen nach nationalem Recht allgemein zulässigen Beweismitteln nachzuweisen hat, dass die Abgabe auf andere Personen abgewälzt worden ist, sind die betreffenden Vorschriften nicht als gemeinschaftsrechtswidrig anzusehen.“

Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verwehrt, die Erstattung gemeinschaftsrechtswidriger Zölle und Abgaben von einer Voraussetzung wie der fehlenden Abwälzung dieser Zölle oder Abgaben auf Dritte abhängig zu machen, deren Erfüllung der Antragsteller zu beweisen hat.

IV - Verfahren

10.
    Die Kommission gab am 17. September 1996 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Am 4. April 2000 hat sie Klage beim Gerichtshof eingereicht.

11.
    Die Klägerin beantragt,

a)    festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie in ihrer Rechtsordnung Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428 vom 29. Dezember 1990 beibehalten hat, der nach der Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung und die Gerichte eine Beweisregelung bezüglich der Abwälzung der unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben enthält, die die Ausübung des Rechts auf Erstattung dieser Abgaben für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich macht oder zumindest übermäßig erschwert, was mit den Rechtsgrundsätzen unvereinbar ist, die der Gerichtshof im Bereich der Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge aufgestellt hat;

b)    der Italienischen Republik die Verfahrenskosten aufzuerlegen.

12.
    Die Italienische Republik beantragt, die Klage abzuweisen und der Kommission die Verfahrenskosten aufzuerlegen.

13.
    Am 2. April 2003 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Auf Ersuchen des Gerichtshofes sind die Parteien auf die Frage eingegangen, inwieweit die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren auf Urteile nationaler Gerichte stützen kann. In dieser Sitzung hat die italienische Regierung eine Unzulässigkeitseinrede erhoben.

V - Klagegründe und wesentliche Argumente

A - Die Rügen der Kommission

14.
    Die Kommission beanstandet die Art und Weise, in der Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 in der italienischen Rechtsordnung von den nationalen Gerichten ausgelegt und von der Finanzverwaltung angewandt wird. Diese Rechtspraxis stehe nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Voraussetzungen, unter denen sich ein Mitgliedstaat weigern könne, dem Steuerpflichtigen Abgaben zu erstatten, die unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhoben worden seien.

15.
    Die Kommission weist insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes hin, wonach Beweisregeln, die eine Erstattung der betreffenden Abgabe praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten, unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht seien(10). Insbesondere gehe es dabei um die Vermutung, dass die Abgabe auf Dritte abgewälzt worden sei, und darum, dass dem Abgabenpflichtigen die Beweislast dafür auferlegt werde, dass eine Abwälzung nicht stattgefunden habe. Das Gemeinschaftsrecht verwehre es einem Mitgliedstaat, die Erstattung gemeinschaftsrechtswidriger Zölle und Abgaben einer Voraussetzung wie der fehlenden Abwälzung dieser Zölle oder Abgaben auf Dritte zu unterwerfen, deren Erfüllung der Antragsteller zu beweisen habe(11). Sie verweist ferner auf das Urteil Comateb u. a., in dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass die Frage der Abwälzung oder Nichtabwälzung eine Tatfrage sei, die in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts falle, das die Beweise frei würdigen könne. Der Gerichtshof habe jedoch hinzugefügt, dass im Fall indirekter Abgaben nicht vermutet werden dürfe, dass die Abwälzung erfolgt sei, und dass es dem Abgabenpflichtigen nicht obliege, im Wege eines negativen Beweises das Gegenteil nachzuweisen(12).

16.
    Die Beweislast bei der Anwendung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 liege grundsätzlich bei der Verwaltung, die belegen müsse, dass die betreffende Abgabe vom Antragsteller auf Dritte abgewälzt worden sei. Die italienische Rechtsprechung lasse es aber zu, dass der Beweis, den die Verwaltung gemäß Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 dafür erbringen müsse, dass die betreffende Abgabe vom Antragsteller auf Dritte abgewälzt worden sei, auf eine „tatsächliche Vermutung“ gestützt werde(13), wodurch die Aufgabe der Verwaltung beträchtlich erleichtert werde. Dieses System der Beweiserbringung auf der Grundlage einer Vermutung habe de facto zu einer Umkehrung der Beweislast geführt.

17.
    Die Art und Weise, wie das italienische Gesetz konkret von den italienischen Gerichten (insbesondere von der Corte suprema di cassazione) ausgelegt und von der italienischen Finanzverwaltung angewandt werde, laufe darauf hinaus, dass der Abgabenpflichtige den negativen Gegenbeweis erbringen müsse, dass er die rechtswidrige Abgabe nicht auf seine Kunden abgewälzt habe, wodurch die Erstattung der Abgabe äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht werde. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 428/1990 könne sich die italienische Verwaltung systematisch jedem Antrag auf Erstattung von entgegen dem Gemeinschaftsrecht für Zollvorgänge oder Verbrauchsteuern erhobenen Abgaben oder sonstigen Lasten erfolgreich widersetzen(14). Das stehe eindeutig im Widerspruch zu der von ihr angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofes.

18.
    Die Kommission gliedert die Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione zur Auslegung und Anwendung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 in zwei Gruppen.

19.
    Bei der ersten Gruppe von Urteilen werde die Vermutung auf die Überzeugung des Gerichtes gestützt, wodurch die Vermutung die Natur eines Postulats erhalte (Annahme, die ohne Beweis zugrunde zu legen ist). Nach ihrem Verständnis gehe es bei dieser von der Corte suprema di cassazione eingesetzten Technik nicht wirklich um eine tatsächliche Vermutung, sondern eher um eine Rechtsvermutung, die auf eine offenkundige Tatsache - nämlich die Abwälzung der Abgaben auf die Kunden - gestützt werde, wodurch die Beweislast systematisch dem Abgabenpflichtigen zugeschoben werde.

20.
    Im Urteil Nr. 2844 vom 29. März 1996 stütze die Corte suprema di cassazione die Vermutung, dass die Abgabe vom Importeur über den Kaufpreis der Waren auf die Verbraucher abgewälzt worden sei, auf folgende Faktoren:

„a)    Der Importeur ist keine Privatperson, sondern ein Handels- oder Industrieunternehmen;

b)    das Unternehmen wird auf normale Weise betrieben und ist solvent; wenn das Unternehmen in Schwierigkeiten kommt, soll das die Vermutung rechtfertigen, dass unter den Gestehungskosten verkauft werden könne;

c)    die betreffenden Abgaben sind von allen italienischen Zollstellen erhoben worden, was zur Schaffung eines Vertrauensklimas bezüglich der Rechtmäßigkeit der Abgabe beigetragen hat;

d)    diese Situation hat über einen längeren Zeitraum bestanden, ohne in Frage gestellt worden zu sein.“

21.
    Im Urteil Nr. 9797 vom 18. November 1998 qualifiziere die Corte suprema di cassazione die Abwälzung der Abgaben als einen normalen wirtschaftlichen Vorgang, d. h. als Feststellung einer offenkundigen Tatsache, die keines Beweises bedürfe.

22.
    In der zweiten Gruppe von Urteilen werde die Vermutung mit einer Untersuchungsnorm verknüpft. Diese Urteile verpflichteten die Verwaltung, eine Reihe notwendiger Beweise vorzulegen. Damit sei sie von weiterer Beweisführungslast befreit, und nun sei der Rechtsuchende verpflichtet, bestimmte Buchhaltungsunterlagen vorzulegen. Wenn er dazu nicht in der Lage sei, werde daraus abgeleitet, dass die betreffenden Abgaben abgewälzt worden seien. Dieser „negative Gegenbeweis“ sei in Artikel 116 des Codice civile vorgesehen.

23.
    Es sei den Händlern in vielen Fällen nicht möglich oder jedenfalls sehr lästig, die betreffenden Bescheide wegen des Ablaufs der gesetzlichen Mindestaufbewahrungsfrist von zehn Jahren (Artikel 2220 des Codice civile) vorzulegen. Wegen der langen Dauer der Erstattungsverfahren stelle die Aufbewahrung der Bescheide länger als zehn Jahre u. a. wegen der hohen Aufbewahrungskosten eine übertriebene Belastung dar. Dies sei ein besonderes Hindernis für die Erstattung.

24.
    Die Kommission belegt das Vorstehende anhand einer Reihe von Urteilen von Instanzgerichten. Sie verweist insbesondere auf ein Urteil des Tribunale civile Genua vom 12. April 1995, dem zufolge es unbeschadet des Umstands, dass die Beweislast bezüglich der Abwälzung bei der Finanzverwaltung liege, es auch möglich sei, von einer tatsächlichen Vermutung aufgrund bekannter Tatsachen im Zusammenhang mit der Abwälzung auszugehen, auch wenn dies mit einem erheblichen Grad von Wahrscheinlichkeit geschehe. Dass die Abwälzung eine „tendenzielle Erscheinung“ sei, kann sich diesem Gericht zufolge auch aus zusätzlichen Faktoren ergeben. Zu diesem Punkt führe das Gericht die vier zuvor genannten(15) Faktoren an, die von der Corte suprema di cassazione als Kriterien herangezogen wurden. Hiervon ausgehend sei die Vermutung gerechtfertigt, dass die Abgabe in den Verkaufspreis einbezogen und daher vom Endverbraucher getragen worden sei. Es gehe hier um eine tatsächliche Vermutung, die dem Nachweis der unbekannten Tatsache der Abwälzung der Abgabenlast diene. Dies lasse auch die Möglichkeit eines Gegenbeweises unberührt, selbst wenn die Beweislast beim Importeur und nicht bei der Finanzverwaltung liege.

25.
    Dieser „Trend“ in der Rechtsprechung ist nach Ansicht der Kommission immer noch aktuell (im Jahr 2000), und es bestünden keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Rechtsprechung revidiert werde.

26.
    Die Kommission ergänzt, dass die angewandte Argumentation zu unlogischen Ergebnissen führe. Der Ausgangspunkt sei der, dass die Unternehmen in der Regel die indirekten Steuern abwälzten. Diese Prämisse beruhe darauf, dass der Abgabenpflichtige ein Handelsunternehmen sei, dass dieses nicht insolvent sei und dass die Abgabe eine bestimmte Zeit lang von der Verwaltung allgemein und regelmäßig erhoben worden sei. Keine dieser Tatsachen könne jedoch als Grundlage für die erwähnte Vermutung dienen. Ein Unternehmen, das die Abgaben nicht auf Dritte abwälze, begnüge sich mit einem geringeren Gewinn, müsse jedoch nicht notwendig in Schwierigkeiten geraten. Es sei sowohl in logischer als auch in rechtlicher Hinsicht willkürlich, aus der fehlenden Insolvenz auf eine Abwälzung zu schließen. Der moderne Marktbegriff mache es darüber hinaus schwierig, zwischen der Erhöhung der Preise und der Abwälzung der Abgabenlast einen Kausalzusammenhang herzustellen.

27.
    Weiter legt die Kommission dar, dass nicht allein die italienischen Gerichte, sondern auch die italienische Verwaltung Hindernisse für den Abgabenpflichtigen errichte, der die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben verlange. Sie führt hierzu zwei Rundschreiben vom 11. März 1994 und 12. April 1995 an, die das Finanzministerium anwende. Daraus ergebe sich, dass die Steuer- und Zolldienststellen eine Kopie der Buchhaltung vom Rechtsuchenden verlangen müssten, wodurch die Erstattung der Abgabe ersichtlich mit der Verwaltung zugunsten des Fiskus verknüpft werde. Beide Rundschreiben bedeuteten im Wesentlichen, dass die Abwälzung der Belastung auf Dritte feststehe, wenn diese Belastungen nicht (als rechtsgrundlose Zahlung) im Jahr der Zahlung an die Finanzverwaltung in die Bilanz aufgenommen worden seien. Die Nichtaufnahme dieses Postens belege, dass das Unternehmen diese Kosten als normale Ausgaben betrachte, weshalb sie notwendig abgewälzt worden seien.

28.
    Die Anwendung und Auslegung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 durch die italienische Rechtsprechung und Verwaltung führe daher zu demselben Ergebnis wie der frühere Artikel 19 des Decreto-legge Nr. 688/1982(16), weil die Beweislast dafür, dass nicht abgewälzt worden sei, vollständig beim Händler liege, der die Erstattung beantrage.

29.
    Die Kommission weist darauf hin, dass in allen Urteilen, in denen die Entscheidungen der italienischen Gerichte von der Corte suprema di cassazione bestätigt worden seien, die von ihr dargelegte Auslegungsrichtung eingeschlagen worden sei. Wenn die Gerichte bezüglich der Beweislast einen korrekten Standpunkt eingenommen hätten, seien ihre Entscheidungen von der Corte suprema di cassazione aufgehoben worden.

30.
    In ihrer Erwiderung räumt die Kommission allerdings ein, dass ihr ursprünglicher Standpunkt, wonach es sich um eine systematische Weigerung handele, zu Unrecht gezahlte Abgaben zu erstatten, in dieser Absolutheit unzutreffend gewesen sei. In bestimmten Fällen sei der Betrag tatsächlich dem Einzelnen erstattet worden. Die von der italienischen Regierung vorgelegten Statistiken(17) enthielten wahrscheinlich nur beschränkte Beträge im Vergleich zu der Anzahl von Verfahren, die bei den Gerichten anhängig gemacht worden seien. Außerdem seien Erstattungen nur an große Unternehmen erfolgt, die die Mittel besäßen, um ein Gerichtsverfahren einzuleiten. Wie dem auch sei, nur in einer geringen Zahl von Fällen sei man dazu übergegangen, zu Unrecht erhobene Abgaben zu erstatten. Den Schriftsätzen der italienischen Regierung selbst sei zu entnehmen, dass die Finanzverwaltung die betreffenden Abgaben nie außerhalb eines Verwaltungsstreitverfahrens erstattet habe. Die italienische Regierung habe darüber hinaus bei ihrer Aufzählung der „entlastenden“ Urteile in ihrer Klagebeantwortung nicht erwähnt, ob es sich um rechtskräftige Urteile handele oder ob Kassationsbeschwerde eingelegt worden sei.

31.
    Eine genaue quantitative Auswertung der Statistiken ändere - so die Kommission - ebenfalls nichts an der Bedeutung ihrer Beweisführung.

32.
    Abschließend - und zur Ergänzung - weist die Kommission noch auf zwei Punkte hin. Erstens könne nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Freiheiten nicht durch allgemeine Verbotsmaßnahmen behindert werden, die von dem Wunsch getragen seien, Rechtsmissbrauch zu bekämpfen. Zweitens verweist die Kommission auf zwei Entscheidungen des Rates(18) auf der Grundlage der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie, denen zu entnehmen sei, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber davon ausgehe, dass die Beweislast für ein Fehlverhalten des Abgabenpflichtigen bei der Verwaltung liege, der sich diese nicht durch Hinweis auf eine tatsächliche Vermutung entledigen könne.

B - Die Verteidigung der italienischen Regierung

33.
    Die italienische Regierung stellt fest, dass der Gegenstand des Verfahrens in dem Vorwurf bestehe, dass die Ausübung des Erstattungsrechts nach Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 in der Praxis unmöglich oder äußerst schwierig sei.

34.
    In erster Linie rügt sie die Darlegung der Kommission, dass sich die italienische Verwaltung systematisch Erstattungsversuchen widersetze. Diese Darlegung sei unzutreffend; ihre Auffassung begründet die italienische Regierung mit der Vorlage von Zahlen bezüglich des Umfangs der Erstattungen, die bereits während des vorgerichtlichen Verfahrens der Kommission vorgelegt worden seien. Nach diesen Zahlen habe die italienische Verwaltung gemäß Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 von 1992 bis 2000, Zinsen und Kosten ausgenommen, mehr als 120 Milliarden LIT erstattet.

35.
    Hilfsweise bringt sie vor, dass die Argumente, die die Kommission der gerichtlichen und der Verwaltungspraxis auf dem Gebiet des Beweises der Abwälzung im Sinne von Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 entnommen habe, nicht stichhaltig seien.

36.
    Sie stellt zunächst fest, dass die Kommission nicht in Abrede stelle, dass der Wortlaut des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 als solcher mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. In dieser Bestimmung werde keine Rechtsvermutung aufgestellt. Es sei im Gegenteil die Verwaltung, die für die Abwälzung beweispflichtig sei.

37.
    Die italienische Regierung möchte jedenfalls vorläufig die von der Kommission angeführte Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione nicht kommentieren. Sie weist jedoch darauf hin, dass nicht die Corte suprema di cassazione, sondern der Tatrichter letztlich über die Beweislastverteilung zu entscheiden habe. Das stehe auch im Einklang mit der Gemeinschaftsrechtsprechung(19). Zu den Beweismitteln, die der Tatrichter prüfen und bei seinem Urteil berücksichtigen könne, gehöre der Beweis aufgrund einer Vermutung.

38.
     Die einzige Möglichkeit für die Verwaltung, den Beweis für die Abwälzung zu führen, bestehe darin, dass die Buchhaltung des betreffenden Unternehmens geprüft werde. Das Vorbringen der Kommission, dass der Tatrichter aus der Nichtvorlage von Buchhaltungsunterlagen, die vom Abgabenpflichtigen mit dem Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungsfrist begründet werde, Argumente für die Verwaltung unter dem Gesichtspunkt des Artikels 116 des Codice civile ableiten könne, ist nach Meinung der italienischen Regierung unzutreffend(20).

39.
    Die zwei Entscheidungen des Tribunale Genua, die die Kommission in ihrer Klageschrift anführe, gäben nicht die Betrachtungsweise zahlreicher Instanzgerichte wieder. Es gebe viele Urteile, die zum entgegengesetzten Ergebnis kämen und die Verwaltung verpflichteten, den zu Unrecht gezahlten Betrag zu erstatten. In diesen Rechtssachen sei nicht die Rede von einer Vermutung der Abwälzung oder von einer Rechtsvermutung oder einer Vermutung aufgrund offenkundiger Tatsachen. Konkret werde in diesen Urteilen festgestellt, dass es der Verwaltung nicht gelungen sei, zu beweisen, dass die Abgabenlast vom Abgabenpflichtigen abgewälzt worden sei. Die italienische Regierung führt 17 Urteile zur Stützung ihrer Auffassung an, darunter ein Urteil der Corte d'appello Genua, das die Klage der Verwaltung abgewiesen habe, weil diese nicht bewiesen habe, dass die Abgabenlast abgewälzt worden sei, ohne dass hierbei von Vermutungen oder von der daraus folgenden Umkehr der Beweislast gesprochen würde.

40.
    Nach Auffassung der italienischen Regierung folgt die Rechtsprechung einer Richtung, die der von der Kommission in ihrer Klageschrift nahegelegten genau entgegengesetzt sei. Das werde durch den Umfang der bereits angeführten tatsächlichen Erstattungen durch die Verwaltung bestätigt.

41.
    Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 sei daher ihrer Meinung nach mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar und verpflichte die Verwaltung, zu beweisen, dass der Abgabenpflichtige, der auf Erstattung klage, die betreffende Abgabe auf Dritte abgewälzt habe. Dafür stehe ihr kein anderes Mittel als die Buchführung des Klägers zur Verfügung. Insbesondere aus den Aktivposten der Bilanz (Kreditoren) müsse sich ergeben, dass die betreffende Abgabe abgewälzt worden sei. Sobald Einzelne nicht anhand ihrer Buchführung belegen könnten, dass sie nicht abgewälzt hätten, könne die Verwaltung nur den Rechtsweg beschreiten, um diesen Beweis zu erbringen.

42.
    Dies sei auch die Bedeutung der zwei ministeriellen Rundschreiben vom 11. März 1994 und 12. April 1995. Entgegen der Darstellung der Kommission widerspreche die danach von der Verwaltung zu befolgende Handlungsweise nicht dem Gemeinschaftsrecht. Das Gesetz knüpfe an das Erstattungsrecht eine Voraussetzung, und die Verwaltung müsse nachweisen, dass diese Voraussetzung erfüllt sei, damit die Abgabe erstattet werde.

43.
    Schließlich zeigt sich die italienische Regierung erstaunt darüber, dass die Kommission auf die Entscheidungen 96/432/EG und 98/23/EG verweise. Es stehe nämlich fest, dass die Abwälzung „mit allen nach nationalem Recht allgemein zulässigen Beweismitteln“ nachgewiesen werden könne, also grundsätzlich auch mit Hilfe einer einfachen Vermutung(21).

VI - Beurteilung

44.
    In dieser Rechtssache macht die Kommission geltend, dass es infolge der Anwendung allgemein gültiger Beweisregeln in der italienischen Rechtsordnung Abgabenpflichtigen, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Abgaben gezahlt hätten, schwer, wenn nicht unmöglich gemacht werde, die zu Unrecht gezahlten Beträge erstattet zu erhalten. Die Kommission legt dar, dass die Art und Weise, in der jedenfalls ein beträchtlicher Teil der Gerichte diese Beweisregeln auslege und anwende, nicht mit den Grundsätzen vereinbar sei, die der Gerichtshof hierzu in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, und dass diese Situation der Italienischen Republik zugerechnet werden könne. Wie ich in meiner Einleitung ausgeführt habe, wirft dies die Vorfrage nach den Bedingungen auf, unter denen eine nationale Rechtsprechung, die nicht zu einem Ergebnis führt, das mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, Anlass für die Feststellung sein kann, dass ein Mitgliedstaat seinen Vertragspflichten nicht nachgekommen ist. Ich werde zunächst allgemein auf diese Frage zu sprechen kommen und mich dann der beanstandeten Rechtspraxis in Italien zuwenden. Zuvor muss jedoch kurz auf die Zulässigkeit der Klage eingegangen werden.

A - Zulässigkeit

45.
    In der mündlichen Verhandlung hat die italienische Regierung die Zulässigkeit des von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens in Zweifel gezogen. Ihrer Auffassung nach können (fehlerhafte) gerichtliche Urteile in individuellen Fällen nicht als Grundlage für ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 226 EG dienen. Ein solches Vorgehen ist ihrer Auffassung nach ausschließlich möglich, wenn es um eine gefestigte, einheitliche und konsolidierte Rechtsprechung nationaler Gerichte geht, deren Urteile nicht einer Berufung oder Kassation zugänglich sind und an die sich andere Gerichte zu halten haben. Dies werde in Italien als „diritto vivente“ bezeichnet. Da die Kommission aber nicht habe beweisen können, dass in der italienischen Rechtsordnung von einer solchen gefestigten und einheitlichen Rechtsprechung („diritto vivente“) in Bezug auf den Gegenstand dieses Verfahrens gesprochen werden könne, sei das von der Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren für unzulässig zu erklären.

46.
    Mit diesem Standpunkt scheint die italienische Regierung behaupten zu wollen, dass der Gegenstand des Verfahrens von der Kommission nur unzureichend abgegrenzt worden sei oder dass die Kommission ihre gegen die Italienische Republik gerichteten Rügen gegenüber der mit Gründen versehenen Stellungnahme geändert habe. Insoweit weise ich zunächst darauf hin, dass die Frage der Bedingungen, unter denen eine nationale Rechtsprechung Anlass für die Feststellung sein kann, dass ein Mitgliedstaat seine Vertragspflichten verletzt hat, vom Gerichtshof im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung gestellt worden ist, so dass von einer Änderung der Rügen durch die Kommission nicht gesprochen werden kann. Ganz abgesehen davon bin ich der Meinung, dass sich diese Frage eher auf die Begründetheit der Klage und nicht auf die Abgrenzung des Verfahrensgegenstands bezieht. Der Gegenstand der Beanstandung der Kommission ist in der mit Gründen versehenen Stellungnahme genau so umschrieben wie in der Klageschrift der Kommission, weshalb die italienische Regierung ausreichend Gelegenheit hatte, ihre Verteidigung vorzubereiten.

47.
    Die Berufung der italienischen Regierung auf die Unzulässigkeit des von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens ist daher zurückzuweisen.

B - Begründetheit

1. Verletzung von Vertragspflichten durch die nationale Rechtsprechung

a) Der Grundsatz

48.
    Die Frage, ob es möglich ist, dass die Kommission gegen einen Mitgliedstaat aus Anlass von gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Gerichtsurteilen ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, ist seit vielen Jahren in der Lehre behandelt und dann auch grundsätzlich bejaht worden(22). Auch das Europäische Parlament hat bereits 1967, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung bemerkt hat, Aufmerksamkeit für diese Problematik verlangt. Bis vor kurzem hat der Gerichtshof allerdings keine Gelegenheit gehabt, sich ausdrücklich zu dieser Frage zu äußern, aber wie oben bereits erwähnt, sind derzeit drei Rechtssachen, darunter die vorliegende, beim Gerichtshof anhängig, in denen die Frage nach den Folgen einer gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßenden nationalen Rechtsprechung in verschiedener Weise eine Rolle spielt.

49.
    In seinen Schlussanträgen in einer dieser Rechtssachen, Köbler, ist Generalanwalt Léger unlängst ganz ausführlich auf dieses Thema eingegangen(23). Obwohl diese Rechtssache die verwandte, aber doch anders gelagerte Frage der Verantwortung eines Mitgliedstaats für ein dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes Urteil eines höchsten nationalen Gerichts betrifft, ist seine Analyse auch für das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren von Bedeutung. Da ich seine Analyse unterschreibe, die ganz in feststehende, vom Gerichtshof entwickelte Grundsätze des Gemeinschaftsrechts eingebettet ist, werde ich mich nachstehend darauf beschränken, einige Aspekte zu berühren, soweit sie für das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren besonders relevant sind.

50.
    Vorab ist zu sagen, dass bezüglich der Erfüllung der Gemeinschaftsverpflichtungen die Mitgliedstaaten als Einheit zu betrachten sind. Der Mitgliedstaat als solcher hat dafür zu sorgen, dass das mit den maßgebenden Bestimmungen des Vertrages oder des abgeleiteten Rechts angestrebte Ziel in der nationalen Rechtsordnung erreicht wird. Die für die Mitgliedstaaten bestehenden Verpflichtungen gelten für die Mitgliedstaaten als solche, und die Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaats nach Artikel 226 gilt „unabhängig davon, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt“(24).

51.
    Dass die Verpflichtungen den Staat als solchen treffen, ist ferner vom Gerichtshof in seinem Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame(25) klar betont worden. In diesen Rechtssachen stand die Frage im Mittelpunkt, ob eine Verletzung des Vertrages durch den nationalen Gesetzgeber zur Verantwortung des Mitgliedstaats für einen dadurch verursachten Schaden führt. In seiner Antwort auf diese Frage hat sich der Gerichtshof in solch allgemeinen Wendungen geäußert, dass sich diese implizit auch auf die Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch die rechtsprechende Gewalt beziehen. Nachdem der Gerichtshof festgestellt hatte, dass der Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstünden, aus dem Wesen der mit dem Vertrag geschaffenen Rechtsordnung folge, hat er entschieden, dass dies für jeden Fall des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht „unabhängig davon gilt, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat“(26).

52.
    Zur näheren Begründung hat der Gerichtshof unter Berufung auf Generalanwalt Tesauro darauf hingewiesen, dass auch im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, ebenfalls als Einheit betrachtet wird, „ohne dass danach unterschieden wird, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist,“ und dass dies „umso mehr in der Gemeinschaftsrechtsordnung [gilt], als alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die vom Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Normen, die die Situation des Einzelnen unmittelbar regeln können, zu beachten haben“(27). Dass der Gerichtshof hier ausdrücklich die Legislative angeführt hat, ist auf die dieser Rechtssache zugrunde liegende Fallgestaltung zurückzuführen. Es macht ebenfalls deutlich, dass der Grundsatz ebenso für die rechtsprechende Gewalt gilt.

53.
    Der Grundsatz, dass der Mitgliedstaat unter dem Blickwinkel der Gemeinschaft als Einheit betrachtet wird, liegt auch der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zugrunde, wonach sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts nicht auf nationale Vorschriften, Praktiken oder Situationen berufen kann(28). Dieser Aspekt ist auch im Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame erwähnt worden, in dem der Gerichtshof aufgrund des fundamentalen Belanges der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts festgestellt hat, dass „die Verpflichtung zum Ersatz der dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhängen [kann]“(29).

54.
    Ich verweise ferner auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Organen der Mitgliedstaaten, die Richtlinien durchzuführen haben und die bei Säumnis von Einzelnen dafür haftbar gemacht werden können. Für diese Situationen hat der Gerichtshof festgestellt, dass sich die Einzelnen auf die betreffende Richtlinie gegenüber dem Staat berufen können oder „gegenüber Organisationen oder Einrichtungen ..., die dem Staat oder seiner Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben. Hierzu gehören Gebietskörperschaften oder Einrichtungen, denen unabhängig von ihrer Rechtsform durch Hoheitsakt die Erbringung einer Dienstleistung im öffentlichen Interesse unter der Aufsicht des Staates übertragen worden ist ...“(30)

55.
    Obwohl diese Grundsätze jedes Mal in verschiedenen Kontexten entwickelt wurden, gehen sie alle von ein und demselben Grundgedanken aus, dass nämlich der Staat als Einheit für die Erfüllung der Gemeinschaftspflichten haftet und für jede Säumnis Verantwortung trägt, ungeachtet des Organs, das innerhalb der Staatsorganisation säumig geworden ist, einschließlich der rechtsprechenden Gewalt. Der Mitgliedstaat hat als eigenständige Einheit für die Verwirklichung des mit der betreffenden Gemeinschaftsregelung verfolgten Zieles in der nationalen Rechtsordnung zu sorgen. Das ist auch Ausfluss des in Artikel 10 EG verankerten Grundsatzes der Gemeinschaftstreue.

56.
    Ich ergänze insoweit, dass die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt der Feststellung einer Vertragsverletzung als Folge einer dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Rechtsprechung nicht im Wege steht. Die Unabhängigkeit bedeutet nämlich im Kern, dass die Gerichte Streitigkeiten ohne Beeinflussung von außen, insbesondere von anderen Staatsorganen, schlichten müssen. Im Übrigen aber funktioniert die rechtsprechende Gewalt als Teil des Staatsapparats innerhalb der Grenzen, die in der nationalen Verfassung und der nationalen Gesetzgebung vorgesehen sind. Wenn die nationale Gesetzgebung eine richterliche Auslegung zulässt, die auf gespanntem Fuß mit den Gemeinschaftspflichten steht, kann eine entsprechende Kurskorrektur mit Hilfe einer Änderung der betreffenden Gesetzgebung stattfinden. Unter dem Blickwinkel der Gemeinschaft betrachtet hat die nationale Rechtsordnung mit anderen Worten als Ganzes für die Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen und haben alle Staatsorgane die Verpflichtung, innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit, falls notwendig durch korrigierendes Auftreten gegenüber anderen Staatsorganen, aktiv dazu beizutragen. Ein solches Auftreten eines nationalen Gesetzgebers berührt die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt nicht.

57.
    Übrigens wird die vorstehend erwähnte Steuerung im Zusammenhang mit der Rechtsprechung, die nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, nur in außergewöhnlichen Fällen zutage treten. Gerade die nationalen Gerichte spielen bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in der nationalen Rechtsordnung im Wege der Überprüfung und Korrektur der Handlungen der nationalen Gesetzgebung und Verwaltung eine zentrale Rolle(31). Das ist eine Aufgabe, die Richter aller Instanzen der nationalen Gerichtsverfassung seit Inkrafttreten der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens erfüllt haben. Aufgrund dieser Zusammenarbeit haben nationale Gerichte einen unentbehrlichen Beitrag zur Entwicklung und Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts geleistet.

58.
    Im System der richterlichen Kontrolle sieht der EG-Vertrag eine besondere Rolle für die höchsten nationalen Gerichte vor. Ausgehend von ihrer Verantwortung für die Überwachung der einheitlichen Auslegung des Rechts einschließlich des Gemeinschaftsrechts innerhalb der nationalen Rechtsordnung erlegt ihnen Artikel 234 EG die Verpflichtung auf, Fragen nach der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen oder nach der Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane dem Gerichtshof vorzulegen. Die Möglichkeit, hiervon in Fällen, in denen es um einen „acte clair“ geht, abzuweichen, ist von strengen Voraussetzungen abhängig(32). Diese Verpflichtung der höchsten nationalen Gerichte bezweckt, Unterschiede in der Art und Weise der Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten dadurch zu verhindern, dass der Gerichtshof in die Lage versetzt wird, eine einheitliche und bindende Auslegung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften für die gesamte Gemeinschaft zu liefern. So wird erreicht, dass die Voraussetzungen, unter denen die Rechtsuchenden ihre Tätigkeiten ausüben, jedenfalls soweit sie vom Gemeinschaftsrecht festgelegt werden, möglichst gleich ausfallen.

59.
    Gerade in Verbindung mit dieser zentralen Funktion der höchsten nationalen Gerichte bei der richtigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts innerhalb der nationalen Rechtsordnung ist es äußerst wichtig, dass sie die Verpflichtungen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht für die Mitgliedstaaten ergeben, erkennen und wahren. Dies ändert nichts daran, dass auch die unteren nationalen Gerichte Verantwortung für die vollständige Durchführung und ordnungsgemäße Anwendung des Gemeinschaftsrechts tragen, auch wenn ihre Entscheidungen im nationalen Rechtssystem korrigiert werden können. Über die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung der dafür in Frage kommenden Bestimmungen des EG-Vertrags und des abgeleiteten Rechts, des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor entgegenstehendem nationalem Recht, der Verantwortung des Mitgliedstaats - unter bestimmten Voraussetzungen - für die Verletzung von Gemeinschaftspflichten und der Verpflichtung zur Auslegung des nationalen Rechts im Licht der maßgebenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts sorgen die nationalen Gerichte dafür, dass die Einzelnen die Rechte geltend machen können, die ihnen nach dem Gemeinschaftsrecht zustehen. Auf diese Weise bilden sie zugleich eine Garantie und eine Gegenkraft innerhalb eines Mitgliedstaats, falls andere Staatsorgane ihre Pflichten aus dem Vertrag nicht erfüllen.

60.
    Eine unrichtige Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte führt dazu, dass Einzelne nicht mehr in den Genuss ihrer aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Rechte kommen und dass mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Regelungen und Praktiken bestehen bleiben können. Dies kann sich wiederum auf die Stellung von natürlichen und juristischen Personen auf dem Binnenmarkt auswirken und so zu Verzerrungen im Wirtschaftsverkehr führen. Aus der Perspektive der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts kann daher auch nicht von einem Schutz des Mitgliedstaats vor einem Vertragsverletzungsverfahren die Rede sein, wenn die Verletzung von Gemeinschaftspflichten der fehlerhaften Auslegung oder Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch die nationalen Gerichte zuzuschreiben ist.

61.
    Dem Vorstehenden ist zu entnehmen, dass eine nationale Rechtsprechung, die nicht mit Bestimmungen oder Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts in Einklang zu bringen ist. Anlass für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Artikel 226 EG sein kann. Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht gesagt, dass jeder richterliche Irrtum hierfür ausreicht. Es ist daher weiter zu untersuchen, unter welchen Umständen eine solche Klage angebracht sein kann.

b) Die Voraussetzungen

62.
    Bei der Suche nach den Kriterien für eine etwaige Feststellung, dass eine nicht gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsprechung Anlass für die Annahme einer Vertragsverletzung durch den betreffenden Mitgliedstaat sein kann, können verschiedene Anknüpfungspunkte herangezogen werden.

63.
    Als erster Anknüpfungspunkt kann der Status der betreffenden gerichtlichen Entscheidungen betrachtet werden. Der Zweck des Artikels 234 EG gibt hierfür bereits einen Anhalt. Während diese Bestimmung eine Verweisungspflicht der höchsten nationalen Gerichte in den dort genannten Fällen vorsieht, verfügen untere Gerichte über eine Verweisungsbefugnis. Diese Struktur geht davon aus, dass einzelne Entscheidungen der unteren nationalen Gerichte, in denen Gemeinschaftsrecht unrichtig angewandt wird, noch innerhalb des nationalen Instanzenzugs korrigiert werden können. Doch auch wenn dies nicht geschieht, braucht eine einzelne unrichtige Entscheidung eines unteren Gerichts nicht zur Untergrabung der praktischen Wirksamkeit der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in dem Mitgliedstaat oder zu unerwünschten Folgen für das Wettbewerbsverhalten auf dem Binnenmarkt oder für den zwischenstaatlichen Handelsverkehr zu führen. Auf der anderen Seite des Spektrums ist die Wahrscheinlichkeit solcher Folgen bei widersprüchlichen nationalen Entscheidungen der höchsten nationalen Gerichte ganz klar zu bejahen, die nämlich innerhalb der nationalen Rechtsordnung von den unteren Gerichten als richtungweisend beachtet werden sollen. Auch im Fall einer Uneinigkeit innerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit können solche Wirkungen eintreten. Ferner ist nicht auszuschließen, dass, falls die unteren Gerichte in struktureller Weise bestimmte Teile des Gemeinschaftsrechts falsch auslegen und anwenden, dies die Rechtsuchenden möglicherweise entmutigt, entweder zu prozessieren oder Rechtsmittel einzulegen. Trotz des etwas niedrigeren Status einer solchen Rechtsprechung in der nationalen Rechtsordnung könnte in einer solchen Situation Anlass zur Feststellung einer Vertragsverletzung bestehen.

64.
    Von Bedeutung scheint mir ferner zu sein, ob die Verletzung der gemeinschaftlichen Pflichten durch die nationalen Gerichte eine strukturelle Erscheinung darstellt. Handelt es sich um einen inzidenten oder isolierten Fall, oder kann geradezu gesagt werden, dass es um einen Trend in der nationalen Rechtsprechung geht, der in dem betreffenden Punkt den gemeinschaftlichen Pflichten zuwiderläuft? Hierbei dürfte es auch eine Rolle spielen, ob es um eine neue Entwicklung geht oder um eine Rechtsprechung, die seit längerer Zeit beibehalten wird. Im ersten Fall kann man sich vorstellen, dass das nationale Rechtssystem Gelegenheit zur Selbstkorrektur erhält, bevor von einer Vertragsverletzung gesprochen werden kann. Wenn eine solche Entwicklung in der Berufungs- und/oder Kassationsinstanz bestätigt wird, wobei es auch eine Rolle spielen kann, ob das betreffende Rechtsproblem mit einem Vorlagebeschluss dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde oder nicht, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine strukturelle Erscheinung handelt.

65.
    Der dritte und in meinen Augen wichtigste Anknüpfungspunkt für die Möglichkeit der Feststellung einer Vertragsverletzung im Zusammenhang mit nationalen Gerichtsentscheidungen, die gemeinschaftsrechtliche Pflichten verletzen, ist bereits im ersten Punkt mit enthalten. Es handelt sich um die Wirkung dieser nationalen Entscheidungen auf die Verwirklichung des Zieles der betreffenden Gemeinschaftsregelung. Wenn nationale Urteile bewirken, dass die Wirtschaftsteilnehmer in dem betreffenden Mitgliedstaat unter anderen Voraussetzungen handeln müssen als die Wettbewerber oder (juristischen) Personen unter vergleichbaren Umständen anderswo in der Gemeinschaft, dann wird hier eindeutig die Einheit des Gemeinschaftsrechts angetastet, die praktische Wirksamkeit dieses Rechts untergraben und der Rechtsuchende um seine Rechte gebracht. Wird festgestellt, dass solche schädlichen Wirkungen infolge der betreffenden Rechtsprechung eingetreten sind, so ist die Feststellung einer Vertragsverletzung angezeigt.

66.
    Ein Einwand, der gegen die Feststellung einer Vertragsverletzung im Zusammenhang mit einer fehlerhaften nationalen Rechtsprechung erhoben werden könnte, ist der, dass die Möglichkeiten für einen Mitgliedstaat, die betreffende Vertragsverletzung gemäß Artikel 228 Absatz 1 EG abzustellen, beschränkt sind. Aufgrund dieser Argumentation soll der Erlass von Maßnahmen zur Durchführung des betreffenden Urteils des Gerichtshofes in der Unabhängigkeit der Gerichte eine prinzipielle Grenze finden. Wie ich bereits ausgeführt habe(33), ist es mit der Unabhängigkeit der Gerichte nicht unvereinbar, wenn der nationale Gesetzgeber korrigierend eingreift, um nationale Vorschriften, die entweder nicht im Einklang mit den gemeinschaftlichen Verpflichtungen ausgelegt und angewandt oder zu Unrecht nicht von der Anwendung ausgenommen werden, anzupassen oder zu präzisieren. Wenn dies nicht geschieht, kann in der Feststellung einer Vertragsverletzung im Zusammenhang mit einer rechtswidrigen Rechtsprechung auch die Grundlage für eine Haftungsklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat gefunden werden. Im Kern ist dies das Problem, um das es in der genannten Rechtssache Köbler geht.

67.
    Ich bin, wie dem Vorstehenden entnommen werden kann, der Meinung, dass die Feststellung, dass ein Mitgliedstaat seine Vertragspflichten verletzt hat, wenn sich die Säumnis aus der Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Pflichten durch die nationalen Gerichte ergibt, stets von verschiedenen Faktoren abhängig sein wird, darunter vom strukturellen Charakter der unzutreffenden nationalen Rechtsprechung, von der Wirkung und dem Status der betreffenden Entscheidungen innerhalb der nationalen Rechtsordnung und von der Auswirkung dieser Rechtsprechung auf die Verwirklichung der Ziele der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften. Auf diesem Hintergrund werde ich die Klage beurteilen, die die Kommission gegen die Italienische Republik im Zusammenhang mit den von den nationalen Gerichten angewandten Beweisregeln bezüglich der Abwälzung der Belastung durch die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Abgaben erhoben hat.

2.    Grundsätze bezüglich der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Abgaben

a) Erstattung, Abwälzung und ungerechtfertigte Bereicherung

68.
    Es entspricht einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass ein Einzelner, dem der Staat zu Unrecht eine Geldleistung auferlegt hat, berechtigt ist, den entrichteten Betrag zurückzufordern. Abgaben dürfen nur dann auferlegt werden, wenn sie auf eine geeignete Rechtsgrundlage gestützt sind. Fehlt diese, ist die Abgabe a fortiori unrechtmäßig und zu erstatten.

69.
    Dieser Grundsatz ist auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben hat, Ausfluss und Ergänzung von Rechten, die den Rechtsuchenden aufgrund der Gemeinschaftsbestimmungen zustehen, die solche Abgaben verbieten. Der Mitgliedstaat ist somit grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben zu erstatten(34).

70.
    Abgesehen von der offenkundigen Regel, dass das, was zu Unrecht gezahlt oder unrechtmäßig erhoben worden ist, so rasch wie möglich erstattet werden muss, ergibt sich diese Folge auch aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit, die Störung der Wettbewerbsverhältnisse, die die Erhebung einer rechtswidrigen Abgabe verursacht, zu beheben.

71.
    Von der Regel, dass zu Unrecht gezahlte Beträge zu erstatten sind, gilt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine einzige Ausnahme: Ein Mitgliedstaat kann den Antrag, eine unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgabe zu erstatten, nur zurückweisen, wenn feststeht, dass die Abgabe ganz zu Lasten eines anderen gegangen ist und die Erstattung an den Händler zu dessen ungerechtfertigter Bereicherung führen würde. Wenn nur ein Teil der Abgabenlast abgewälzt wurde, hat der Staat dem Händler den nicht abgewälzten Betrag zu erstatten(35).

72.
    Da es hier um eine Einschränkung eines aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten subjektiven Rechts geht, muss diese Ausnahme eng ausgelegt werden. Eine enge Auslegung ist insbesondere im Hinblick darauf geboten, dass der Abgabenpflichtige mit der bloßen Abwälzung einer Abgabe auf die Kunden die wirtschaftliche Belastung nicht notwendig neutralisiert hat. Insbesondere ist es schwierig, festzustellen, inwieweit eine völlige oder teilweise Abwälzung auf die Abnehmer stattgefunden hat. Das kann anhand einer Vielzahl von betriebswirtschaftlichen Beobachtungen belegt werden.

73.
    Zuerst ist zu prüfen, ob eine den Selbstkostenpreis erhöhende Abgabe tatsächlich über den Preis eines Produktes weitergeben wurde. Dass der Preis eines Produktes erhöht wurde, bedeutet nämlich nicht ohne weiteres, dass die Preiserhöhung unmittelbar mit der erhobenen Abgabe zusammenhängt, da wegen der Dynamik der Marktverhältnisse und Preise nicht von vornherein feststeht, welche Auswirkung eine Abgabe auf die Höhe eines Preises hat. Preise von Produkten sind nicht statisch. Im Allgemeinen passen die Erzeuger je nach den Marktverhältnissen ihre Preise regelmäßig an. Mit Ausnahme des Selbstkostenpreises wird der Unternehmer seine Preispolitik u. a. auf Faktoren wie die Erwartungen bezüglich der Marktentwicklung und die Positionierung eines bestimmten Produktes auf dem Markt stützen. Eine den Selbstkostenpreis erhöhende Abgabe ist nur eines der Elemente, die bei der Festlegung des Preises eine Rolle spielen.

74.
    In einer dynamischen Marktumgebung wird eine unmittelbare Verbindung zwischen einer den Selbstkostenpreis erhöhenden Abgabe und dem Preis somit häufig schwer zu belegen sein. Wenn dies aber möglich ist, bedeutet das noch nicht, dass damit die Sonderkosten der Abgabe für den Abgabenpflichtigen völlig kompensiert sind. Die Weitergabe der Abgabe ist mit anderen Worten etwas anderes als die Abwälzung des wirtschaftlichen Schadens, den der Unternehmer infolge der unrechtmäßig erhobenen Abgabe erleidet.

75.
    Das Ausmaß der Abwälzung hängt vor allem von der Preiselastizität der Nachfrage ab. Nur in dem - extremen - Fall, dass die Preiselastizität der Nachfrage null beträgt, wie dies bei primären Lebensbedürfnissen bisweilen der Fall ist, wird eine Abgabe mit Hilfe einer Preiserhöhung vollständig auf den Abnehmer abgewälzt werden können. In diesem Fall hat eine Erhöhung des Verkaufspreises nämlich keine Folgen für den Absatz. In allen übrigen Fällen wird es sich höchstens um eine teilweise Abwälzung handeln. Das bedeutet, dass die teilweise Abwälzung eher die Regel als die Ausnahme sein wird.

76.
    Bei weitaus den meisten Produkten ist die Nachfrage mehr oder weniger preiselastisch. Der Unternehmer kann dann die Abgabe zwar teilweise weitergeben, aber damit kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Abwälzung der wirtschaftlichen Belastung vorliegt. Der betroffene Unternehmer erleidet in dieser Situation infolge der zu Unrecht erhobenen Abgabe immer noch unabwendbar einen Schaden. Dieser Schaden wird in erster Linie durch eine Abnahme des Umsatzvolumens und damit des Gewinnes infolge der Preiserhöhung und zweitens durch den Teil der Abgabe, den er auf eigene Rechnung übernehmen musste, verursacht(36).

77.
    Eine andere Form des Schadens ergibt sich aus einer Einengung des geschäftlichen Spielraums, über den der Unternehmer verfügt, weil dieser Raum teilweise durch die Weitergabe der Abgabe „verbraucht“ worden ist. Hierdurch wird der Unternehmer in seinen Möglichkeiten zur Anpassung seiner Marktstrategie beschränkt. Denn er hätte, wenn die Preiserhöhung unter den gegebenen Marktverhältnissen geschäftlich reizvoll und möglich war, seinen Verkaufspreis auch erhöhen können, ohne dass die Abgabe erhoben worden wäre.

78.
    Diese Überlegungen führen mich zu der Schlussfolgerung, dass es nahezu unmöglich sein wird, den Umfang der Abwälzung der wirtschaftlichen Belastung als Folge der Abgabe nachzuweisen. Hierzu bedarf es einer gründlichen Analyse des Marktes, bei der zahlreiche Variablen zu berücksichtigen sind, wie die Struktur des betreffenden Marktes (wenige oder viele Anbieter) und das Vorhandensein von Substitutionsmöglichkeiten für das von der Abgabe betroffene Produkt. Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Marktverhältnisse ihrer Art nach dynamisch sind und die Preise in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage schwanken. Dies macht es besonders schwer, festzustellen, welchen Einfluss eine Abgabe auf die Höhe des Verkaufspreises hat. Um diese Wirkung festzustellen, müsste schließlich ermittelt werden, wie sich die Preise und der Absatz entwickelt hätten, wenn keine Abgabe erhoben worden wäre.

79.
    Dass die Kausalität zwischen Erstattung und Bereicherung im Fall der Abwälzung relativ ist, dürfte sich auch aus der spiegelbildlichen Situation ergeben, dass nämlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass der betreffende Marktteilnehmer den „Vorteil“ erstatteter Abgaben ebenso dadurch an den Endverbraucher weitergeben kann, dass er im Hinblick auf die Erhaltung oder Verstärkung seiner Marktposition die Erstattung nutzt, um eine Preissenkung durchzuführen.

80.
    Unter diesen Umständen ist klar, dass eine Rechtsvorschrift wie Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990, wenn sie als Kriterium für die Annahme einer ungerechtfertigten Bereicherung bei der Erstattung ausschließlich die Abwälzung der Abgabe verwendet, der wirtschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht wird.

81.
    Das Vorstehende hat auch Folgen für die Beweisführung. Diese wird auf die Feststellung einer Reihe wirtschaftlicher Indikatoren gerichtet werden müssen, aus denen letztlich abgeleitet werden kann, dass die Erstattung der betreffenden Abgabe tatsächlich zu einer Bereicherung führen würde. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Beweisführung nicht vom Erzeuger selbst durchgeführt werden kann. Ich stelle jedenfalls fest, dass die Beschränkung auf bloße Buchführungsprüfungen völlig unzureichend ist, um die Abwälzung und die sich vermeintlich daraus ergebende Bereicherung zu beweisen. Dies ist auch das Ergebnis, zu dem die Rechtsprechung des Gerichtshofes zwingt.

82.
     Dies alles macht deutlich, dass die Abwälzung des durch eine Abgabe verursachten wirtschaftlichen Schadens nicht automatisch erfolgt und die Erstattung auch bei Weitergabe der Abgabe nicht immer zu einer Bereicherung führen wird. Zu diesem Punkt verweise ich auch gerne auf die Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in der Rechtssache Comateb u. a., in denen er ausgeführt hat: „Selbst wenn angenommen wird, dass der einzelne Wirtschaftsteilnehmer in einigen Fällen einen Gewinn aus der Erstattung einer ohne Rechtsgrund erhobenen Abgabe zieht, die er teilweise oder ganz auf die Abnehmer abgewälzt hat, erhebt sich ganz allgemein die Frage, ob in einem solchen Fall vernünftigerweise von einer ungerechtfertigten Bereicherung gesprochen werden kann. Ich möchte diese Frage schon aufgrund der allgemeinen Rechtstheorie verneinen. Ich glaube nämlich nicht, dass der Gewinn, den ein Einzelner aus der Erstattung einer ohne Rechtsgrund von der Verwaltung verlangten und erhobenen Abgabe zieht, als ungerechtfertigte Bereicherung bezeichnet werden kann. Ich glaube vor allem nicht, dass der Staat, der sich seinerseits ohne Zweifel ungerechtfertigt bereichert hat, indem er jahrelang ohne Rechtsgrund eine Abgabe erhoben hat, sodann einen derartigen Grundsatz geltend machen kann, um die Erstattung der zu Unrecht eingezogenen Beträge zu verweigern.“(37)

83.
    Die Frage, ob und inwieweit eine Bereicherung infolge der Erstattung der zu Unrecht gezahlten Abgabe vorliegt, wird daher im Licht der geschilderten wirtschaftlichen Grundsätze erst nach einer gründlichen wirtschaftlichen Untersuchung des betreffenden Marktes beantwortet werden können. Das bringt mich zu den Grundsätzen der Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben, die der Gerichtshof in seiner seit dem Urteil San Giorgio wiederholt bestätigten Rechtsprechung entwickelt hat.

b)    Grundsätze der Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben

84.
    Nationale Vorschriften, die die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben an Voraussetzungen knüpfen, müssen angesichts der vorstehenden Feststellungen hohe Anforderungen erfüllen. Es wird klar sein, dass man sich nicht mit der bloßen Voraussetzung begnügen kann, dass festgestellt worden ist, dass der betreffende Betrag nicht abgewälzt wurde. Die betreffenden Vorschriften werden eher darauf gerichtet sein, zu verhindern, dass die Erstattung tatsächlich zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Marktteilnehmers führt(38), d. h., dass er einen Vorteil genießt, auf den er als vernünftig handelnder Marktteilnehmer keinen Anspruch erheben darf.

85.
    Dass dieser letzte Aspekt im Mittelpunkt steht, ergibt sich auch aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zu diesem Gegenstand. Nach dieser Rechtsprechung hat das nationale Gericht „im Licht der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen, ob der Abgabenpflichtige die Abgabenlast ganz oder teilweise auf andere abgewälzt hat und ob die Erstattung an den Abgabenpflichtigen gegebenenfalls eine ungerechtfertigte Bereicherung darstellen würde“(39). Nur wenn feststeht, dass die Abgabe ganz oder teilweise zu Lasten eines anderen gegangen ist und die Erstattung an den Händler zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde, kann die Erstattung unterbleiben(40). Der Gerichtshof geht daher von einer zweistufigen Prüfung aus: Zunächst die Frage der Abwälzung und dann die Frage der ungerechtfertigten Bereicherung.

86.
    Die Vorschriften, anhand deren die ungerechtfertigte Bereicherung nachzuweisen ist, sind angesichts des Fehlens besonderer einschlägiger Gemeinschaftsvorschriften von den Mitgliedstaaten festzulegen. Zwar hat dies zur Folge, dass die Voraussetzungen, unter denen die Rechtsuchenden in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu Unrecht gezahlte Beträge zurückfordern können, voneinander abweichen, die betreffenden nationalen Vorschriften müssen aber nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes stets zwei Grundanforderungen erfüllen. Zum einen dürfen die Vorschriften nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei den entsprechenden innerstaatlichen Forderungen (Äquivalenzgrundsatz). Zum anderen dürfen diese Vorschriften die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz)(41).

87.
    Diese Rechtsprechung will den Rechtsuchenden wegen des Fehlens einschlägiger Gemeinschaftsvorschriften einen wirksamen Rechtsschutz bei der Ausübung der ihnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gegenüber der nationalen Verwaltung bieten oder, allgemeiner ausgedrückt, die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherstellen. Die Mitgliedstaaten müssen daher Behinderungen prozessualer Art, die diese Zielsetzung untergraben könnten, beseitigen.

88.
    Grundsätzlich müsste es für die Erstattung zu Unrecht erhobener Beträge ausreichen, dass der Berechtigte nachweist, dass er eine finanzielle Belastung tatsächlich gezahlt hat und dass die Abgabe rechtswidrig war. Da indessen als Ausnahme zugelassen ist, dass eine Erstattung unterbleiben kann, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde, was der Fall wäre, wenn die wirtschaftliche Belastung ganz oder teilweise auf Dritte abgewälzt wurde, stellt sich die Frage, wie und von wem nachgewiesen werden muss, dass die Erstattung tatsächlich zu einer Bereicherung führen würde.

89.
    Aufgrund der Ausführungen, die ich oben zu der Art und Weise gemacht habe, in der die Marktteilnehmer beschließen können, eine Abgabe in ihren Verkaufspreis einzurechnen oder nicht einzurechnen, und dazu, dass die Frage einer etwaigen Bereicherung bei der Erstattung davon abhängt, wird deutlich, dass es hier um eine schwierige Beweislast geht. Weil es in der Praxis besonders schwierig sein wird, dies nachzuweisen, ist erklärlich, dass eine nationale Verwaltung ihre Zuflucht dazu nimmt, mit einem Beweis der Bereicherung aufgrund einer Vermutung der Abwälzung zu arbeiten, und es demzufolge dem Abgabenpflichtigen überlassen bleibt, den negativen Gegenbeweis zu führen, dass er die Abgabe nicht weitergegeben hat. Eine solche Einstellung steht indessen nicht im Einklang mit den Grundsätzen, die der Gerichtshof in einer ganzen Reihe von Urteilen entwickelt und bestätigt hat.

90.
    Als Ausgangspunkt gilt, dass, wer eine zu Unrecht erhobene Abgabe an die nationale Finanzverwaltung abgeführt hat, Anspruch auf Erstattung dieses Betrages hat(42). Wenn sich eine nationale Verwaltung auf die Ausnahme des Eintritts einer Bereicherung berufen will, ist es eindeutig ihre Sache, nachzuweisen, dass die Erstattung diese Folge haben würde. Die Beweislast für eine ungerechtfertigte Bereicherung liegt mit anderen Worten ganz bei der nationalen Verwaltung(43).

91.
    Im vorliegenden Fall hat die nationale Verwaltung ihre gemeinschaftlichen Pflichten durch die Erhebung einer Abgabe verletzt, die mit den maßgebenden Vorschriften des Vertrages (Artikel 23 EG oder Artikel 90 EG) unvereinbar war. Wenn ein Abgabenpflichtiger, der infolge dieser Rechtswidrigkeit Anspruch auf Erstattung dessen hat, was er zu Unrecht gezahlt hat, doch in die Situation gebracht wird, dass er erst nachweisen muss, dass er nicht anderweitig einen Ausgleich gefunden hat, führt dies zu einer unannehmbaren Bevorzugung der Partei, der das Problem zuzuschreiben ist.

92.
    Im Urteil San Giorgio hat der Gerichtshof meines Erachtens diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht, als er erwogen hat: „In einer auf die Freiheit des Wettbewerbs gegründeten Marktwirtschaft bleibt bei der Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang eine einem Importeur auferlegte Abgabenlast tatsächlich auf die weiteren Wirtschaftsstufen abgewälzt werden konnte, eine Ungewissheit, die nicht systematisch zu Lasten desjenigen gehen darf, der zur Zahlung der gemeinschaftsrechtswidrigen Abgabe herangezogen wird.“(44)

93.
    Der Rechtsprechung des Gerichtshofes, die ich oben bereits zitiert habe, ist deutlich zu entnehmen, dass bewiesen werden muss, dass die Erstattung tatsächlich zu einer Bereicherung führen würde. Es kann daher nicht ausreichen, den Nachweis der Abwälzung zu führen und daraus den Schluss zu ziehen, dass die wirtschaftliche Last neutralisiert wurde, so dass eine Erstattung zu einer Bereicherung führen würde. Zu diesem Punkt hat der Gerichtshof auch anerkannt, dass ein Händler neben der direkten Auswirkung der Abgabe auch in anderer Hinsicht einen wirtschaftlichen Schaden erleiden kann, den das nationale Gericht bei seiner Beurteilung zu berücksichtigen hat.

94.
    So hat er in den Urteilen Comateb u. a. und Michaïlidis festgestellt, dass auch dann, wenn feststeht, dass die Last einer zu Unrecht gezahlten Abgabe ganz oder teilweise auf Dritte abgewälzt wurde, die Erstattung des so abgewälzten Betrages an den Händler nicht notwendig bedeutet, dass er ungerechtfertigt bereichert wird. Das nationale Gericht, das einen Erstattungsanspruch zu beurteilen hat, kann den Schaden berücksichtigen, den ein Marktteilnehmer dadurch erlitten haben kann, dass die rechtswidrige Abgabe zu einem Rückgang der Einfuhren aus(45) oder der Ausfuhren nach(46) anderen Mitgliedstaaten geführt hat.

95.
    Im Urteil Bianco und Girard hat der Gerichtshof außerdem zu Recht auf die Komplexität der wirtschaftlichen Realität hingewiesen, die bei der Prüfung der Frage, ob eine Bereicherung stattgefunden hat, zu untersuchen ist. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt: „Auch wenn indirekte Abgaben nach nationalem Recht dazu bestimmt sind, auf den Endverbraucher abgewälzt zu werden, und im Handel gewöhnlich auch ganz oder zum Teil abgewälzt werden, kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass die Abgabe tatsächlich in jedem Fall abgewälzt wird. Denn die tatsächliche völlige oder teilweise Abwälzung hängt bei jedem Handelsgeschäft von mehreren Faktoren ab, die es von anderen Fallkonstellationen unterscheidet.“ Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass „es je nach der Marktstruktur mehr oder weniger wahrscheinlich ist, dass eine Abwälzung vorgenommen wird. Jedoch ändern sich die zahlreichen Faktoren, die die kaufmännische Strategie bestimmen, von Fall zu Fall, so dass es praktisch unmöglich ist, ihren jeweiligen tatsächlichen Einfluss auf die Abwälzung zu bestimmen.“(47)

96.
    Bezüglich der Beweismittel hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass Beweisvorschriften, die es praktisch unmöglich oder äußerst schwierig machen, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen, mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind. Dies gilt insbesondere für Vermutungen oder für Beweisregeln, die die Beweislast dafür, dass die zu Unrecht gezahlte Abgabe nicht auf andere abgewälzt wurde, dem Abgabenpflichtigen auferlegen. Das Gleiche gilt für besondere Beschränkungen hinsichtlich der Form der zu erbringenden Beweise wie etwa den Ausschluss aller nicht schriftlichen Beweismittel(48). Auch hat der Gerichtshof mehrfach die Ansicht vertreten, dass bei indirekten Abgaben keine Vermutung bestehe, dass sie abgewälzt worden seien, und dass der Abgabenpflichtige nicht im Wege eines (negativen) Beweises das Gegenteil nachzuweisen habe(49).

97.
    Daraus, dass nicht von einer gesetzlichen Vermutung der Abwälzung ausgegangen werden kann, ergibt sich ferner, dass anhand eines jeden Einzelfalls beurteilt werden muss, ob eine Erstattung zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Händlers führen würde(50). Darüber hinaus ist es Sache der nationalen Verwaltung, nachzuweisen, inwieweit eine Bereicherung eintreten würde; in diesem Fall könnte man sich eventuell mit einer teilweisen Erstattung begnügen.

98.
    Diese Ausgangspunkte für die Beweisführung seitens der Verwaltung bedeuten übrigens nicht, dass eine Mitwirkung des Abgabenpflichtigen in keiner Weise verlangt werden könnte. Insbesondere könnte von ihm verlangt werden, dass er die für die Beurteilung seiner Situation benötigten Unterlagen vorlegt. Gleichwohl bleibt es Sache der Verwaltung, damit überzeugend nachzuweisen, dass es sich um eine Abwälzung gehandelt hat und dass deshalb eine Erstattung tatsächlich zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde(51). In keinem Fall darf die Mitwirkung des Abgabenpflichtigen zu einer Umkehr der Beweislast führen.

99.
    Dies alles führt dazu, dass die Mitgliedstaaten eine ergebnisbestimmte Verpflichtung haben, um bezüglich der Erstattung der unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben ihr Rechtssystem so auszugestalten, dass, wenn sie sich zur Abwehr eines Antrags auf Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben auf die Ausnahme einer ungerechtfertigten Bereicherung berufen wollen, folgende Voraussetzungen erfüllt sein müssen:

-    Die Beweislast liegt ganz bei der Verwaltung;

-    die Verwaltung hat nachzuweisen, dass die Erstattung tatsächlich zu einer Bereicherung führen würde;

-    der Beweis darf nicht auf eine Vermutung der Abwälzung gestützt werden;

-    vom Abgabenpflichtigen darf nicht verlangt werden, dass er den Gegenbeweis für die Nichtabwälzung der Abgabe erbringt;

-    vom Abgabenpflichtigen darf aber verlangt werden, dass er bei dem von der Verwaltung zu erbringenden Beweis mitwirkt.

100.
    Ich füge Folgendes hinzu:

-    Es darf zum Nachweis der Bereicherung nicht nur mit bloßen Buchführungsunterlagen gearbeitet werden;

-    die Bereicherung muss anhand einer gründlichen wirtschaftlichen Analyse des betreffenden Marktes nachgewiesen werden.

101.
    Damit komme ich zum eigentlichen Gegenstand des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens, der Frage nämlich, ob Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990, wie er von den nationalen Gerichten ausgelegt und von der italienischen Finanzverwaltung angewandt wird, die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt und ob die nationale Rechtspraxis solche Merkmale aufweist, dass sie Grund für die Feststellung sein kann, dass eine Verletzung der Pflichten der Italienischen Republik aus dem EG-Vertrag vorliegt.

3. Die italienische Rechtspraxis

102.
    Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 ist so abgefasst, dass er nicht als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen werden kann. Der Wortlaut ist absolut neutral und enthält keine Tatbestandmerkmale, die der Gerichtshof früher als Verletzung der Gemeinschaftsverpflichtungen betrachtet hat, wie etwa die Möglichkeit, von einer Vermutung der Abwälzung auszugehen, die Verpflichtung des Abgabenpflichtigen, die Nichtabwälzung durch Gegenbeweis zu belegen, oder eine Beschränkung hinsichtlich der Form des zu erbringenden Beweises.

103.
    Diese Bestimmung ist aber, wie die Kommission bemerkt und meines Erachtens überzeugend nachgewiesen hat, in ihrer Unbestimmtheit so weit formuliert, dass sie Raum für die Beibehaltung oder die Entwicklung einer Rechtspraxis gelassen hat, die nicht mit den Grundsätzen in Einklang steht, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung seit dem Urteil San Giorgio entwickelt hat.

104.
    Insbesondere hat die Kommission eine Reihe von Urteilen der Corte suprema di cassazione angeführt, aus denen sich ergibt, dass dieses höchste italienische Gericht es für zulässig hält, die Abwälzung aufgrund von Vermutungen anzunehmen. Sie verweist etwa auf ein Urteil, in dem von dem allgemein bekannten Umstand ausgegangen wird, dass die Unternehmen die betreffenden Abgaben systematisch auf ihre Kunden abwälzen(52). Sie hat ferner ein Urteil erwähnt, wonach nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Betrag nicht abgewälzt worden sei, berücksichtige man die vier früher genannten Faktoren, dass nämlich a) der Abgabenpflichtige ein Unternehmen sei, b) er nicht insolvent sei, was die Annahme rechtfertige, dass unter den Gestehungskosten verkauft worden sei, c) alle italienischen Zollstellen die betreffenden Abgaben auferlegten und d) diese Situation über längere Zeit unangefochten bestanden habe(53). Diese Faktoren seien im Wesentlichen in einem Urteil des Tribunale civile Genua übernommen worden(54).

105.
    Ferner hat die Kommission auf andere Verfahren hingewiesen, in denen vom Rechtsuchenden verlangt werde, dass er Buchführungsunterlagen vorlege, um so feststellen zu können, ob die Abgabe abgewälzt worden sei. Sei der Rechtsuchende hierzu nicht imstande, z. B. weil die gesetzlich vorgeschriebene Aufbewahrungsfrist von zehn Jahren abgelaufen sei, könne daraus abgeleitet werden, dass eine Abwälzung stattgefunden habe(55). Der Rechtsuchende habe dann nämlich nicht den (negativen) Gegenbeweis erbracht, dass nicht abgewälzt worden sei. Die Kommission hat in diesem Zusammenhang ein Urteil der Corte d'appello Turin angeführt, in dem diese Beweiskonstruktion nicht akzeptiert worden sei. Dieses Urteil sei aber von der Corte suprema di cassazione wegen der Beweisschwierigkeiten, denen die Verwaltung dann ausgesetzt wäre, aufgehoben worden.

106.
    Außer diesem Trend in der italienischen Rechtsprechung bereitet auch die von der italienischen Finanzverwaltung in einigen Verwaltungsrundschreiben niedergelegte Politik dem Abgabenpflichtigen Probleme bei der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge. Eine Erstattung soll nur in Frage kommen, wenn sich aus der Buchführung des betreffenden Unternehmens ergibt, dass die Abgabe nicht als Kosten-, sondern als Aktivposten behandelt worden ist. Ist das nicht geschehen, so wird angenommen, dass eine Abwälzung stattgefunden hat.

107.
    Auf die Rügen der Kommission hat die italienische Regierung vorgetragen, dass auch verschiedene Urteile italienischer Gerichte in die andere Richtung gingen. In diesen Rechtssachen sei nicht von einer Abwälzungsvermutung ausgegangen worden, sondern die betreffenden Gerichte hätten im konkreten Fall festgestellt, dass die Verwaltung den Beweis für die Abwälzung nicht erbracht habe, und den Erstattungsanspruch zugesprochen. In diesem Zusammenhang hat die italienische Regierung Statistiken vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass den Abgabenpflichtigen seit 1992 mehr als 120 Milliarden LIT erstattet wurden.

108.
    Die italienische Regierung hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Rolle der Corte suprema di cassazione im Bereich des Beweisrechts auf die Entwicklung allgemeiner Grundsätze beschränkt sei, während es Sache der Instanzgerichte sei, im Kontext der Tatsachenfeststellung die angeführten Beweismittel konkret zu würdigen.

109.
    Zu der von der Verwaltung verfolgten Politik führt die italienische Regierung aus, dass die Forderung nach der Vorlage von Buchführungsunterlagen gerechtfertigt sei, weil dies für sie das einzig denkbare Beweismittel für eine Abwälzung darstelle.

110.
    Auch wenn ein wichtiger Teil der italienischen Rechtspraxis durchaus den Gemeinschaftsgrundsätzen für die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben entspricht, so ändert dies doch nichts daran, dass ein beträchtlicher anderer Teil dieser Rechtspraxis nicht im Einklang mit diesen Grundsätzen handelt. Die mehrfach angeführten Beispiele aus der italienischen Rechtsprechung belegen auf jeden Fall eindeutig, dass innerhalb der italienischen Rechtspraxis Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 auszulegen ist(56).

111.
    Die Fälle, in denen es um die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben ging, bezogen sich laut Kommission auch vor allem auf große Unternehmen, die über die Mittel verfügen, um die Kosten der häufig langwierigen Erstattungsverfahren bestreiten zu können. Daraus würde sich ergeben, dass es vor allem kleine und mittlere Unternehmen sind, die bei den Versuchen, eine Erstattung durchzusetzen, weniger erfolgreich waren.

112.
    Dies alles lässt mich den Schluss ziehen, dass die Erreichung des in den Nummern 99 und 100 dieser Schlussanträge umschriebenen Ergebnisses in der italienischen Rechtsordnung nicht hinreichend sichergestellt ist. Die Kommission hat aufgezeigt, dass noch in vielen Fällen von einer Beweisführung aufgrund von Vermutungen ausgegangen wird und dass die von den verschiedenen Gerichten angewandte Vorgehensweise in vielen Fällen dazu führt, dass dem Abgabenpflichtigen die Last des Beweises auferlegt wird, dass er die betreffende Abgabe nicht abgewälzt hat. Auch wenn es Fälle gibt, in denen durchaus in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht zur Rückgabe des zu Unrecht Gezahlten übergegangen wird, so ist doch klar, dass dieser Ausgang nicht in allen Fällen gesichert ist. Weiter weise ich darauf hin, dass es hier um eine jahrelange Praxis geht(57). Außerdem stützt sich diese Praxis auf die Vermutung, dass die Abwälzung eine ungerechtfertigte Bereicherung impliziert, während diese Folge jetzt gerade gesondert nachgewiesen werden muss.

113.
    Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass es den Abgabenpflichtigen unnötig erschwert wird, ihre sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte auszuüben, und sehe daher die in Italien bestehende Rechtspraxis bei der Erstattung von gemeinschaftsrechtswidrigen Abgaben als einen Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz an, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofes näher beschrieben worden ist.

114.
    Im Anschluss an das, was ich in den Nummern 62 bis 67 dieser Schlussanträge ausgeführt habe, stelle ich ferner fest, dass die geschilderte Rechtspraxis in Italien struktureller Natur ist. Das ergibt sich vor allem daraus, dass die Beweisführung aufgrund von Vermutungen und die Schlussfolgerung der Abwälzung, falls der Abgabenpflichtige die geforderten Unterlagen nicht vorlegen kann, vom höchsten italienischen Gericht gebilligt wird. Selbst wenn die unteren Gerichte durchaus im Einklang mit den Gemeinschaftspflichten entscheiden, können die entsprechenden Urteile in der Kassationsinstanz aufgehoben werden. Der strukturelle Charakter ergibt sich auch aus der von der Verwaltung insoweit verfolgten Politik.

115.
    Darüber hinaus hat diese Praxis zur Folge, dass die praktische Wirksamkeit der betreffenden Vertragsbestimmungen und der vom Gerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze untergraben werden. Vor allem wenn es um finanzielle Ansprüche von Wirtschaftsteilnehmern geht, hat jede Verletzung ihrer auf dem Gemeinschaftsrecht beruhenden Rechte eine unmittelbare Auswirkung auf ihre Wettbewerbsstellung auf dem Binnenmarkt. Die Betroffenen müssen sicher sein, dass sie in gleicher Weise wie ihre Konkurrenten in anderen Mitgliedstaaten innerhalb der vom Gerichtshof gezogenen Grenzen mit der Erstattung von Abgaben rechnen können, die ein Mitgliedstaat ihnen unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht auferlegt hat. Das Erfordernis einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts beruht nämlich darauf, dass die Wirtschaftsteilnehmer so weit wie möglich gleiche Marktbedingungen vorfinden müssen, soweit diese von staatlicher Seite bestimmt werden.

116.
    Obwohl Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990, wie oben ausgeführt, prima facie mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, ermöglicht es diese Bestimmung doch wegen des Fehlens einer weiteren Normierung bezüglich der Beweisführung, dass bei der Anwendung in der Praxis das vom Gemeinschaftsrecht bezweckte Ergebnis nicht erreicht wird. Deshalb bin ich der Auffassung, dass die in der Italienischen Republik bestehende Rechtspraxis in Bezug auf die Anwendung des Artikels 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 von so struktureller Natur ist und so schädliche Folgen für die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts hat, dass festgestellt werden kann, dass die Italienische Republik durch die Beibehaltung dieser Bestimmung ihren Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag nicht nachgekommen ist.

VII - Ergebnis

117.
    Demgemäß schlage ich dem Gerichtshof vor,

a)    festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie in ihrer Rechtsordnung Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428 vom 29. Dezember 1990 beibehalten hat, der nach der Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung und die Gerichte eine Beweisregelung bezüglich der Abwälzung der unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben enthält, die die Ausübung des Rechts auf Erstattung dieser Abgaben für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich macht oder zumindest übermäßig erschwert, was mit den Rechtsgrundsätzen unvereinbar ist, die der Gerichtshof im Bereich der Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge aufgestellt hat;

b)    der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.


1: -     Originalsprache: Niederländisch.


2: -     Rechtssache C-453/00.


3: -     Rechtssache C-224/01. Generalanwalt Léger hat seine Schlussanträge in dieser Rechtssache am 8. April 2003 vorgetragen (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


4: -     Gesetz betreffend Vorschriften auf dem Gebiet der Produktionssteuern, des Umschlags von Erdölerzeugnissen, der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und der damit verbundenen Sanktionen (GURI Nr. 190 vom 13. Juli 1982).


5: -    Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82 (San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Randnr. 13).


6: -     Rechtssache 104/86 (Kommission/Italien, Slg. 1988, 1799).


7: -     Urteil vom 17. November 1998 in der Rechtssache C-228/96 (Slg. 1998, I-7141).


8: -     Urteil vom 9. Februar 1999 in der Rechtssache C-343/96 (Slg. 1999, I-579).


9: -     Urteil vom 24. September 2002 in der Rechtssache C-255/00 (Slg. 2000, I-8003).


10: -     Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 48).


11: -     Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 54).


12: -     Urteil vom 14. Januar 1997 in den Rechtssachen C-192/95 bis C-218/95 (Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Randnr. 25).


13: -     Die Kommission legt in ihrer Klageschrift dar, wie die Lehre von der „Vermutung“ im italienischen Beweisrecht gehandhabt wird. Um eine „tatsächliche Vermutung“ - die „presunzione semplice“ im Sinne von Artikel 2729 des Codice civile - handele es sich, wenn das Gericht anhand eines unmittelbaren Beweises, dem factum probans, aufgrund einer induktiven Begründung zum factum probandum gelange. Die italienische Rechtsprechung gehe davon aus, dass das factum probans mit absoluter Sicherheit feststehe und nicht auf Vermutungen beruhe. Eine „Rechtsvermutung“ - die „presunzione legale“ im Sinne von Artikel 2728 des Codice civile - setze keine rationale Begründung des Gerichts voraus, sondern knüpfe eine Rechtsfolge an eine bestimmte Tatsache. Davon zu unterscheiden sei der „Gegenbeweis“ - die „prova contraria“. Im Fall einer Rechtsvermutung könne der Gegenbeweis manchmal überhaupt nicht erbracht werden, und wo dies möglich sei, müsse der Gegner ihn erbringen. Es liege dann eine Umkehr der Beweislast vor. Bei einer tatsächlichen Vermutung passe der Gegenbeweis seiner Art nach weniger gut. Von der Vermutung zu unterscheiden sei die offenkundige Tatsache („fatto notorio“). Die offenkundige Tatsache sei eine vollständig akzeptierte Gegebenheit, die keines Beweises bedürfe.


14: -     In ihrer Erwiderung räumt die Kommission allerdings ein, dass diese Auffassung zu absolut sei. Vgl. unten, Nr. 30.


15: -     Vgl. Nr. 20 dieser Schlussanträge.


16: -     Diese Bestimmung war Gegenstand eines früheren Vertragsverletzungsverfahrens gegen Italien: Urteil vom 24. März 1988 (Kommission/Italien, zitiert in Fußnote 6).


17: -     Die italienische Regierung gibt an, dass im Zeitraum von 1992 bis zu den ersten Monaten des Jahres 2000 ein Betrag von mehr als 120 Milliarden LIT erstattet worden sei. Vgl. unten, Nr. 34.


18: -     Entscheidungen des Rates vom 8. Juli 1996 zur Ermächtigung der Niederlande, eine von Artikel 11 der Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Sechste MWSt.-Richtlinie) abweichende Maßnahme anzuwenden (96/432/EG, ABl. L 179), und vom 19. Dezember 1997 zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs, die Anwendung einer von Artikel 28e Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern abweichenden Maßnahmen zu verlängern (98/23/EG, ABl. L 8).


19: -     Sie verweist auf das Urteil Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnr. 25): „Somit [ist] die Frage der Abwälzung oder Nichtabwälzung einer indirekten Abgabe in jedem Einzelfall eine Tatfrage, die in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts [fällt], das in der Beweiswürdigung frei [ist].“


20: -     Die italienische Regierung verweist u. a. auf die Urteile der Corte suprema di cassazione vom 18. November 1994 und 22. April 1998. Wenn ein Abgabenpflichtiger nach Erhebung einer Klage auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben unter Berufung auf den Ablauf der gesetzlichen zehnjährigen Aufbewahrungsfrist Dokumente vernichte, sei dieses Verhalten nicht mit Artikel 88 des Codice civile zu vereinbaren, woraus das Gericht Beweisgründe gemäß Artikel 116 Absatz 2 des Codice civile ableiten könne.


21: -     Zu diesem Punkt verweist die italienische Regierung auf das Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 53) und auf die Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in dieser Rechtssache (Nrn. 47 bis 49).


22: -     Vgl. z. B. Von der Groeben, Thiesing, Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl., Nomos Verlag 1997, S. 4/518; Kapteyn und Verloren van Themaat, Introduction to the Law of the European Communities, 3. Aufl. (herausgegeben und bearbeitet von L.W. Gormley), London, Den Haag, Boston, S. 459; H. A. H. Audretsch, Supervision in European Community Law, North Holland, 2. Aufl. 1986, S. 100 bis 105.


23: -     Schlussanträge vom 8. April 2003 (zitiert in Fußnote 3).


24: -     Urteil vom 5. Mai 1970 in der Rechtssache 77/69 (Kommission/Belgien, Slg. 1970, 237, Randnr. 15). Das Versäumnis ging darauf zurück, dass Belgien sich nicht darauf berufen konnte, dass es trotz der Einbringung eines darauf gerichteten Gesetzesentwurfs wegen der Auflösung des nationalen Parlaments nicht imstande gewesen war, eine steuerliche Diskriminierung zu beseitigen. Vgl. auch Urteil vom 17. Mai 1972 in der Rechtssache 93/71 (Leonesio, Slg. 1972, 287, Randnrn. 22 und 23).


25: -     Urteil vom 5. März 1996 in den Rechtssachen C-46/93 und C-48/93 (Slg. 1996, I-1029).


26: -     Zitiert in Fußnote 25, Randnrn. 31 und 32.


27: -     Zitiert in Fußnote 25, Randnr. 34.


28: -     Vgl. u. a. Urteile vom 18. März 1999 in der Rechtssache C-166/97 (Kommission/Frankreich, Slg. 1999, I-1719, Randnr. 13), vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-274/98 (Kommission/Spanien, Slg. 2000, I-2823, Randnr. 19), und vom 26. Juni 2001 in der Rechtssache C-212/99 (Kommission/Italien, Slg. 2001, I-4923, Randnr. 34). Vgl. auch Urteil vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-62/00 (Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325, Randnr. 24).


29: -     Zitiert in Fußnote 25, Randnr. 33.


30: -     Urteile vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C-188/89 (Foster, Slg. 1990, I-3313, Randnr. 18) und vom 4. Dezember 1997 in den Rechtssachen C-253/96 bis 258/96 (Kampelmann u. a., Slg. 1997, I-6907, Randnr. 46).


31: -     Diesem Gegenstand widmet Generalanwalt Léger in seinen mehrfach erwähnten Schlussanträgen vom 8. April 2003 in der Rechtssache C-224/01 (Köbler, Nrn. 53 bis 76) eine ausführliche Betrachtung.


32: -     Vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81 (CILFIT, Slg. 1982, 3415, Randnrn. 14 bis 20).


33: -     Nr. 56 dieser Schlussanträge.


34: -     Vgl. Urteile San Giorgio (zitiert in Fußnote 5, Randnr. 12), Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnr. 23), Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 23) sowie die jüngeren Urteile vom 8. März 2001 in der Rechtssache C-410/98 (Metallgesellschaft u. a., Slg. 2001, I-1727, Randnr. 84) und vom 11. Juli 2002 (Marks & Spencer, zitiert in Fußnote 28, Randnr. 30).


35: -     Vgl. u. a. Urteil Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnrn. 27 und 28).


36: -     Vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 20. März 2003 in der Rechtssache C-147/01 (Weber's Wine World, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Nr. 48).


37: -     Nr. 21 seiner Schlussanträge zum Urteil Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12). Im gleichen Sinne auch Generalanwalt Mancini in seinen Schlussanträgen zum Urteil San Giorgio (zitiert in Fußnote 5, Nr. 7).


38: -     Vgl. erneut Generalanwalt Jacobs in seinen in Fußnote 36 zitierten Schlussanträgen, Nr. 45.


39: -     Vgl. u. a. Urteil Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnrn. 21 und 23).


40: -     Vgl. Urteil vom 21. September 2000 in den Rechtssachen C-441/98 und C-442/98 (Michaïlidis, Slg. 2000, I-7145, Randnr. 33).


41: -     Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 25).


42: -     Vgl. u. a. Urteile San Giorgio (zitiert in Fußnote 5, Randnr. 12) und Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnr. 20).


43: -     Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 53).


44: -     Zitiert in Fußnote 5, Randnr. 15.


45: -     Urteil Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnr. 30).


46: -     Urteil Michaïlidis (zitiert in Fußnote 40, Randnr. 35).


47: -     Urteil vom 25. Februar 1988 in den Rechtssachen 331/85, 376/85 und 378/85 (Bianco und Girard, Slg. 1988, 1099, Randnrn. 17 und 20).


48: -     Urteile San Giorgio (zitiert in Fußnote 5, Randnr. 14) und Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 48). Ein Beispiel für eine solche nationale Regelung, die den negativen Gegenbeweis des Abgabenpflichtigen regelte, war der Vorgänger des Gesetzes, das in der vorliegenden Rechtssache im Mittelpunkt steht. Diese Regelung wurde im Urteil in der Rechtssache 104/86 (Kommission/Italien, zitiert in Fußnote 6) vom Gerichtshof als vertragswidrig angesehen.


49: -     Urteil Bianco und Girard (zitiert in Fußnote 47, Randnr. 17) und Comateb u. a. (zitiert in Fußnote 12, Randnr. 25).


50: -     Vgl. Urteil Michaïlidis (zitiert in Fußnote 40, Randnr. 32).


51: -     Vgl. in diesem Sinne auch Generalanwalt Jacobs in seinen in Fußnote 36 zitierten Schlussanträgen (Nrn. 59 und 60).


52: -     Urteil Nr. 3006 des Ersten Senats der Corte suprema di cassazione vom 12. März 1993.


53: -     Urteil Nr. 2844 des Ersten Senats der Corte suprema di cassazione vom 28. März 1996.


54: -     Urteil vom 12. April 1995.


55: -     Urteile der Corte suprema di cassazione Nr. 9797 vom 18. November 1994 und Nr. 2369 vom 12. April 1984.


56: -     Im Urteil Dilexport (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 50) hat der Gerichtshof ebenfalls festgestellt, dass diese Meinungsverschiedenheit besteht, auch wenn es dabei um unterschiedliche Auffassungen der italienischen Regierung und des vorlegenden Gerichts ging.


57: -     Vgl. insoweit meine Schlussanträge zum Urteil vom 26. Juni 2001 in der Rechtssache C-212/99 (Kommission/Italien, Slg. 2001, I-4923), in denen ich darauf hingewiesen habe, dass die italienische Regierung eine ergebnisbestimmte Pflicht zur Beendigung einer diskriminierenden Behandlung von Fremdsprachenlektoren aus anderen Mitgliedstaaten hat, die bereits seit vielen Jahren bestand (Nr. 46 der Schlussanträge).