Language of document : ECLI:EU:C:2020:191

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

11. März 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 5 Nr. 3 – Übergabe, die von der Bedingung abhängig gemacht wird, dass der Betroffene zur Verbüßung der gegen ihn im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird – Zeitpunkt der Rücküberstellung – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 3 Abs. 3 – Geltungsbereich – Art. 8 – Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion – Art. 25 – Vollstreckung einer Sanktion im Rahmen von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI“

In der Rechtssache C‑314/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 1. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2018, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen

SF

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer sowie des Richters D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von SF, vertreten durch T. E. Korff und T. O. M. Dieben, advocaten,

–        des Openbaar Ministerie, vertreten durch K. van der Schaft, L. Lunshof und N. Bakkenes als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, C. S. Schillemans und A. M. de Ree als Bevollmächtigte,

–        Irlands, vertreten durch G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von L. Dempsey, BL,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von D. Blundell, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) sowie von Art. 1 Buchst. a und b, Art. 3 Abs. 3 und 4, Art. 8 Abs. 2 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) jeweils in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584 bzw. Rahmenbeschluss 2008/909).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden, der vom Judge of the Canterbury Crown Court (Richter beim Crown Court von Canterbury, Vereinigtes Königreich) zur Strafverfolgung von SF, einem niederländischen Staatsangehörigen, erlassen wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss 2002/584

3        In den Erwägungsgründen 5 und 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ,Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

4        Art. 1 des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

5        In den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 werden die Gründe genannt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.

6        Art. 5 („Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

3.      Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“

 Rahmenbeschluss 2008/909

7        Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 lautet:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Urteil‘ eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird;

b)      ‚Sanktion‘ jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist;

c)      ‚Ausstellungsstaat‘ den Mitgliedstaat, in dem ein Urteil ergangen ist;

d)      ‚Vollstreckungsstaat‘ den Mitgliedstaat, dem ein Urteil zum Zwecke seiner Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird.“

8        Art. 3 dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)      Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

(2)      Dieser Rahmenbeschluss gilt, wenn sich die verurteilte Person im Ausstellungsstaat oder im Vollstreckungsstaat aufhält.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses. Der Umstand, dass zusätzlich zu der Sanktion eine Geldbuße oder Geldstrafe und/oder eine Einziehungsentscheidung verhängt worden ist, die noch nicht gezahlt, eingezogen oder vollstreckt wurde, steht einer Übermittlung des Urteils nicht entgegen. Die Anerkennung und Vollstreckung dieser Geldbußen oder Geldstrafen und Einziehungsentscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat richten sich nach den Rechtsakten, die zwischen den Mitgliedstaaten anwendbar sind, insbesondere dem Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen [(ABl. 2005, L 76, S. 16)] und dem Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen [(ABl. 2006, L 328, S. 59)].

(4)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union.“

9        Art. 8 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor:

„(1)      Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein gemäß Artikel 4 und im Verfahren gemäß Artikel 5 übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.

(2)      Ist die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats eine Anpassung dieser Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet. Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein.

(4)      Die angepasste Sanktion darf nach Art oder Dauer die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen.“

10      Art. 25 („Vollstreckung von Sanktionen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls“) dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“

 Niederländisches Recht

11      Art. 6 Abs. 1 der Overleveringswet (Übergabegesetz) (Stb. 2004, Nr. 195, im Folgenden: OLW), mit der der Rahmenbeschluss 2002/584 in niederländisches Recht umgesetzt wurde, sieht vor:

„Die Übergabe eines niederländischen Staatsangehörigen kann zugelassen werden, wenn um sie für die Zwecke gegen diesen gerichteter strafrechtlicher Ermittlungen ersucht wird und wenn nach Auffassung der vollstreckenden Justizbehörde gewährleistet ist, dass die betreffende Person, falls sie wegen Handlungen, in Bezug auf die eine Übergabe zulässig ist, im Ausstellungsmitgliedstaat zu einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, diese Strafe in den Niederlanden verbüßen kann.“

12      Art. 28 Abs. 2 dieses Gesetzes bestimmt:

„Stellt die Rechtbank [(Gericht)] fest, … dass die Übergabe nicht zugelassen werden kann …, lehnt sie diese mit ihrer Entscheidung ab.“

13      In Art. 2:2 Abs. 1 der Wet wederzijdse erkenning en tenuitvoerlegging vrijheidsbenemende en voorwaardelijke sancties (Gesetz über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Freiheits- und Bewährungsstrafen) (Stb. 2012, Nr. 333, im Folgenden: WETS), mit der der Rahmenbeschluss 2008/909 in niederländisches Recht umgesetzt wurde, heißt es:

„Der Minister ist zuständig, eine vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelte gerichtliche Entscheidung zur Vollstreckung in den Niederlanden anzuerkennen.“

14      In Art. 2:11 dieses Gesetzes heißt es:

„(1)      „Sofern der Minister nicht bereits selbst der Ansicht ist, dass Gründe für eine Versagung der Anerkennung der justiziellen Entscheidung vorliegen, übermittelt er diese und die Bescheinigung dem Generalanwalt bei der zuständigen Staatsanwaltschaft.

(2)      Der Generalanwalt legt die justizielle Entscheidung unverzüglich der Sonderkammer des Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden [(Berufungsgericht Arnheim-Leeuwarden, Niederlande)] vor …

(3)      Die Sonderkammer des Gerechtshof [(Berufungsgericht)] prüft,

c)      zu welcher Anpassung der verhängten freiheitsentziehenden Sanktion Abs. 4, Abs. 5 oder Abs. 6 Anlass gibt.

(4)      Geht die Dauer der verhängten freiheitsentziehenden Sanktion über die Höchststrafe hinaus, mit der entsprechende Handlungen nach niederländischem Recht bedroht sind, wird die Dauer der freiheitsentziehenden Sanktion auf diese Höchststrafe herabgesetzt.

(5)      Erfolgt die Übergabe der verurteilten Person gegen Erteilung der Garantie einer Rücküberstellung nach Art. 6 Abs. 1 der [OLW], ist Abs. 4 nicht anwendbar, sondern es ist vielmehr zu prüfen, ob die verhängte freiheitsentziehende Sanktion mit der Sanktion vereinbar ist, mit der die betreffende Handlung in den Niederlanden bedroht wäre. Soweit erforderlich, wird die Sanktion entsprechend angepasst, wobei im Ausstellungsmitgliedstaat bestehende Auffassungen über die Schwere der Tat zu berücksichtigen sind.

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Am 3. März 2017 erließ der Judge of the Canterbury Crown Court (Richter beim Crown Court von Canterbury) gegen den niederländischen Staatsangehörigen SF einen Europäischen Haftbefehl, der auf seine Übergabe zur Strafverfolgung wegen des abgestimmten Vorgehens („conspiracy“) zur Einfuhr von 4 kg Heroin und 14 kg Kokain in das Vereinigte Königreich gerichtet war.

16      Am 30. März 2017 ersuchte der Officier van justitie (Staatsanwaltschaft, Niederlande) die ausstellende Justizbehörde um Erteilung der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 6 Abs. 1 OLW vorgesehenen Garantie.

17      Mit Schreiben vom 20. April 2017 teilte das Home Office (Innenministerium, Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: Innenministerium des Vereinigten Königreichs) Folgendes mit:

„…

Für den Fall, dass gegen SF eine Freiheitsstrafe im Vereinigten Königreich verhängt wird, verpflichtet sich das Vereinigte Königreich, SF gemäß Section 153C des Extradition Act 2003 (im Folgenden: Auslieferungsgesetz von 2003) in die Niederlande rückzuüberstellen, sobald dies vernünftigerweise möglich ist, nachdem das zur Verurteilung führende Verfahren im Vereinigten Königreich und jedes andere Verfahren in Bezug auf die Straftat, wegen der die Übergabe beantragt worden ist, abgeschlossen sind.

Detaillierte Angaben über eine gegen SF verhängte Strafe werden bei seiner Rücküberstellung in die Niederlande übermittelt. Wir gehen davon aus, dass eine Rücküberstellung nach dem Rahmenbeschluss [2002/584] es den Niederlanden nicht erlaubt, die Dauer einer von einem Gericht des Vereinigten Königreichs verhängten Sanktion abzuändern.“

18      Auf die Anfrage, welche Verfahren unter den Ausdruck „jedes andere Verfahren“ im Sinne von Section 153C des Auslieferungsgesetzes von 2003 fallen, antwortete das Innenministerium des Vereinigten Königreichs mit E‑Mail vom 19. Februar 2018:

„Ich kann Ihnen mitteilen, dass der Ausdruck ‚andere Verfahren‘ Folgendes umfassen kann:

(a)      Prüfung einer Einziehungsmaßnahme;

(b)      Verfahren zur Bemessung der Freiheitsstrafe, die mangels Zahlung einer etwaigen Geldstrafe oder Geldbuße zu verbüßen ist;

(c)      Ausschöpfung aller gegebenen Rechtsmittel und

(d)      Ablauf jeder bei einer Einziehungsentscheidung oder einer Geldstrafe oder Geldbuße gesetzten Zahlungsfrist.“

19      Das vorlegende Gericht stellt eingangs fest, dass nach Ansicht von SF diese Garantie der Rücküberstellung sowohl die vom Rahmenbeschluss 2002/584 als auch vom Rahmenbeschluss 2008/909 aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt und die Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht Amsterdam, Niederlande) infolgedessen seine Übergabe an die zuständige Behörde des Vereinigten Königreichs ablehnen müsste. Dieses Gericht fragt sich in diesem Kontext, ob einige Passagen dieser Garantie mit den Rahmenbeschlüssen 2002/584 und 2008/909 vereinbar sind.

20      Was zum einen den Passus des Schreibens des Innenministeriums des Vereinigten Königreichs vom 20. April 2017 betrifft, wonach „[f]ür den Fall, dass gegen SF eine Freiheitsstrafe im Vereinigten Königreich verhängt wird, … sich das Vereinigte Königreich verpflichtet, SF … in die Niederlande rückzuüberstellen, sobald dies vernünftigerweise möglich ist, nachdem das zur Verurteilung führende Verfahren im Vereinigten Königreich und jedes andere Verfahren in Bezug auf die Straftat, wegen der die Übergabe beantragt worden ist, abgeschlossen sind“, wirft dieser nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Frage auf, zu welchem Zeitpunkt der Ausstellungsstaat die Person, deren Übergabe beantragt wird, zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellen muss.

21      Das vorlegende Gericht vertritt insoweit unter Berufung auf das Urteil vom 25. Januar 2017, van Vemde (C‑582/15, EU:C:2017:37), die Auffassung, dass eine solche Pflicht zur Rücküberstellung in den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht bestehen könne, solange eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme nicht rechtskräftig geworden sei.

22      Allerdings stellt sich dieses Gericht die Frage, ob der Mitgliedstaat, der einen Europäischen Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ausstellt, als Mitgliedstaat, in dem das Urteil später ergehen wird, im Rahmen der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Garantie die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat von der Voraussetzung abhängig machen darf, dass nicht nur die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung rechtskräftig geworden ist, sondern auch jedes andere Verfahren, das die Straftat betrifft, wegen der um die Übergabe ersucht worden ist, wie etwa ein Einziehungsverfahren, rechtskräftig abgeschlossen ist.

23      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lässt sich vertreten, dass das sowohl von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als auch vom Rahmenbeschluss 2008/909 verfolgte Ziel, die soziale Wiedereingliederung des Verurteilten zu erleichtern, die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat verlange, sobald die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung rechtskräftig geworden sei, ohne den Ausgang weiterer Verfahren abzuwarten, die die Straftat beträfen, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen worden sei.

24      Nach Ansicht dieses Gerichts kann auch der Standpunkt vertreten werden, dass durch die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat, sobald die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung rechtskräftig geworden sei, das Ziel, das gemäß Art. 67 Abs. 1 und 3 AEUV darin bestehe, ein hohes Schutzniveau im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität sicherzustellen, in Frage gestellt werden könne. Wenn der Mitgliedstaat, in dem ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt worden sei, als Mitgliedstaat, in dem das Urteil später ergehen werde, ein Einziehungsverfahren in Abwesenheit des Betroffenen führen müsste, wäre dieser Mitgliedstaat mit praktischen und Beweisproblemen konfrontiert, die mit dieser Abwesenheit zusammenhingen und ihn dazu zwingen könnten, auf die Durchführung eines solches Verfahrens zu verzichten.

25      Was zum anderen den Passus des Schreibens des Innenministeriums des Vereinigten Königreichs vom 20. April 2017 betrifft, wonach „eine Rücküberstellung nach dem Rahmenbeschluss [2002/584] es den Niederlanden nicht erlaubt, die Dauer einer von einem Gericht des Vereinigten Königreichs verhängten Sanktion abzuändern“, ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass er die Frage aufwirft, ob der Vollstreckungsmitgliedstaat, nachdem er den Betroffenen gegen die in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Garantie übergeben hat, auf der Grundlage von Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die gegen den Betroffenen im Ausstellungsstaat verhängte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme der Sicherung über das hinaus anpassen darf, was nach Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gestattet ist.

26      Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass aus den parlamentarischen Vorarbeiten zum Erlass der WETS hervorgehe, dass nach Ansicht des niederländischen Gesetzgebers Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die Möglichkeit eröffne, die vor der Durchführung dieses Rahmenbeschlusses gegenüber niederländischen Staatsangehörigen angewandte Politik beizubehalten, der zufolge ausländische strafrechtliche Sanktionen in Sanktionen umgewandelt worden seien, die in den Niederlanden bei entsprechenden Straftaten in der Regel verhängt worden seien; diese Politik sei derzeit in Art. 2:11 Abs. 5 dieses Gesetzes verankert. Ziel sei es, eine Gleichbehandlung zwischen niederländischen Staatsangehörigen, die übergeben werden müssten und die auch in den Niederlanden hätten verurteilt werden können, und in den Niederlanden verurteilten niederländischen Staatsangehörigen zu erreichen. Das vorlegende Gericht ist nicht sicher, ob Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 so ausgelegt werden kann.

27      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht Amsterdam) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 1 Abs. 3 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowie Art. 1 Buchst. a und b, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 so auszulegen, dass der Ausstellungsmitgliedstaat als Ausstellungsstaat in einem Fall, in dem der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe eines eigenen Staatsangehörigen zur Strafverfolgung von der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Garantie abhängig gemacht hat, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der etwaigen im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird, die betreffende Person – nachdem die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme rechtskräftig geworden ist – erst dann tatsächlich rücküberstellen muss, wenn „jedes andere Verfahren in Bezug auf die Straftat, wegen der die Übergabe beantragt worden ist“ – wie ein Einziehungsverfahren –, rechtskräftig abgeschlossen ist?

2.      Ist Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, wenn er einen eigenen Staatsangehörigen aufgrund der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Garantie übergeben hat, als Vollstreckungsstaat bei der Anerkennung und Vollstreckung des gegen diese Person ergangenen Urteils – abweichend von Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 – prüfen darf, ob die gegen diese Person verhängte freiheitsentziehende Sanktion der Sanktion entspricht, die im Vollstreckungsstaat für die betreffende Tat verhängt worden wäre, und die verhängte freiheitsentziehende Sanktion, soweit erforderlich, entsprechend anpassen darf?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

28      Die niederländische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.

29      Zum einen stünden die gestellten Fragen mit dem Gegenstand des Rechtsstreits in keinem Zusammenhang. Im Ausgangsverfahren müsse das vorlegende Gericht prüfen, ob die von der ausstellenden Justizbehörde gegebene Garantie mit Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Einklang stehe. Diese Bestimmung stelle sowohl in Bezug auf den Zeitpunkt der Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat als auch in Bezug auf die nach der Rücküberstellung erfolgende Vollstreckung der gegen ihn im Ausstellungsstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung keine Anforderung auf. Der Gegenstand dieser Fragen entziehe sich somit der im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durchzuführenden Kontrolle und falle, was die zweite Frage betreffe, in den Geltungsbereich des Rahmenbeschlusses 2008/909.

30      Zum anderen seien die gestellten Fragen hypothetisch. Zum Zeitpunkt, zu dem das vorlegende Gericht seine Entscheidung über die Übergabe des Betroffenen, gegen den der Europäische Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen sei, an den Ausstellungsstaat fälle, stehe nicht mit Sicherheit fest, dass dieser verurteilt werde und daher in den Vollstreckungsmitgliedstaat rückzuüberstellen sei. Somit sei die Relevanz anderer Verfahren, die mit der Straftat in Zusammenhang stünden, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen sei, sowie die Anpassung der eventuell verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung nicht sicher.

31      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 24, und vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Daraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in den rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 25, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof die tatsächlichen und rechtlichen Angaben gemacht, die er für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen benötigt, und die Gründe erläutert, weshalb es die Auslegung der in den Vorlagefragen genannten Bestimmungen für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem es befasst ist, für erforderlich hält. Außerdem können, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Antworten des Gerichtshofs auf die Fragen zur Tragweite von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 eine unmittelbare Auswirkung darauf haben, wie das vorlegende Gericht mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl weiter zu verfahren hat, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Fragen mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in keinem Zusammenhang stehen. Ferner ist es zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in diesem Verfahrensstadium insbesondere unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung unmöglich, abzusehen, ob SF für die ihm vorgeworfenen Straftaten für schuldig befunden wird, und erst recht, ob eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel gegen ihn verhängt werden wird. Allerdings wohnt dieser hypothetische Charakter dem normalen Ablauf eines Strafverfahrens und insbesondere jeder nach Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gewährten Garantie inne. Folglich ist das Vorbringen der niederländischen Regierung, die gestellten Fragen seien hypothetisch, weil der Ausgang des Strafverfahrens unsicher sei, irrelevant.

34      Mithin ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

35      Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist vorab daran zu erinnern, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35, und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 45).

36      Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der auf dem Erstgenannten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36, und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 46).

37      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Rahmenbeschluss 2002/584, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 im Licht seines fünften Erwägungsgrundes ergibt, das auf dem am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommen beruhende multilaterale Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 39, und vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      In diesem Kontext ist der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 40, und vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Im Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit im strafrechtlichen Bereich bildet, in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern. Außerdem kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 dieses Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41, vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 28, und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 48).

40      Der Rahmenbeschluss 2002/584 nennt somit ausdrücklich die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a), sowie die vom Ausstellungsstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien (Art. 5). Auch wenn der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt, bedeutet dies jedoch keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des ausgestellten Haftbefehls (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 50, und vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 29 und 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Rahmenbeschluss 2002/584 erlaubt nämlich den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen, zu entscheiden, dass eine im Ausstellungsstaat verhängte Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckt werden muss. Dies gilt insbesondere für seinen Art. 4 Nr. 6 und seinen Art. 5 Nr. 3 (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 51 und 52, sowie vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese letztgenannte Bestimmung nennt als vom Ausstellungsstaat in besonderen Fällen zu gewährende Garantie u. a. die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Rücküberstellung der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist und die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist, zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat betrifft.

42      Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

 Zur ersten Frage

43      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 3 sowie mit Art. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der Person, die Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist und gegen die ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, von der Voraussetzung abhängig macht, dass ihm diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, rücküberstellt wird, der Ausstellungsstaat zu dieser Rücküberstellung erst dann verpflichtet ist, wenn nicht nur die Verurteilung des Betroffenen dort rechtskräftig geworden ist, sondern auch jeder andere Verfahrensschritt im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen ist.

44      In Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wird nicht der Zeitpunkt präzisiert, zu dem die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, dessen Vollstreckung von der Gewährung einer Garantie im Sinne dieser Bestimmung abhängig gemacht wird, zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt werden muss.

45      Der Wortlaut dieser Bestimmung sieht nämlich lediglich vor, dass die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, erfolgt, nachdem dem Betroffenen, der Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist, im Ausstellungsstaat angehört wurde.

46      Nach ständiger Rechtsprechung ist daher Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unter Berücksichtigung seines Zusammenhangs und der mit diesem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele auszulegen.

47      Als Erstes ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass mit dem Rahmenbeschluss 2002/584, wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, ein neues vereinfachtes und effizienteres System der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, eingeführt werden soll. Gemäß Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses soll nämlich der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person ermöglichen, damit in Anbetracht des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels die begangene Straftat nicht ungestraft bleibt und die betreffende Person entweder strafrechtlich verfolgt wird oder die gegen sie verhängte Freiheitsstrafe verbüßt (Urteil vom 6. Dezember 2018, IK [Vollstreckung einer zusätzlichen Strafe], C‑551/18 PPU, EU:C:2018:991, Rn. 39).

48      Allerdings hat der Unionsgesetzgeber in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auch der Möglichkeit, die Resozialisierungschancen der Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist, zu erhöhen, eine besondere Bedeutung beigemessen, indem ihr gestattet wird, auf dessen Staatsgebiet die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung zu verbüßen, die nach ihrer in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgten Übergabe im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 62, und vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 52).

49      Als Zweites sind die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu berücksichtigen. Art. 25 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor, dass diese Bestimmungen, soweit sie mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen u. a. dann gelten, wenn ein Mitgliedstaat gemäß Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Bedingung stellt, dass der Betroffene in diesen Mitgliedstaat rücküberstellt wird, um Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung zu verbüßen, die gegen ihn im Ausstellungsstaat verhängt wird.

50      Nach Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 besteht dessen Zweck darin, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassenes Urteil anerkennt und die von diesem Gericht verhängte Sanktion vollstreckt.

51      Das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene Zusammenspiel zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 soll somit dazu beitragen, das Ziel zu erreichen, die Resozialisierung des Betroffenen zu erleichtern. Diese Resozialisierung ist übrigens nicht nur im Interesse des Verurteilten, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 50, und vom 17. April 2018, B und Vomero, C‑316/16 und C‑424/16, EU:C:2018:256, Rn. 75).

52      Zudem ist festzustellen, dass nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dieser nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne dieses Rahmenbeschlusses gilt (Urteil vom 25. Januar 2017, van Vemde, C‑582/15, EU:C:2017:37, Rn. 23). Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2008/909 definiert „Urteil“ als eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird. Der Umstand, dass diese Bestimmung auf den „rechtskräftigen“ Charakter des betreffenden Urteils Bezug nimmt, unterstreicht die besondere Bedeutung der Unanfechtbarkeit dieses Urteils mit Ausnahme der mit einem Rechtsmittel angefochtenen Entscheidungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2017, van Vemde, C‑582/15, EU:C:2017:37, Rn. 23, 24 und 27).

53      Folglich kann, wenn die im Rahmen von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 handelnde vollstreckende Justizbehörde für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Bedingung gestellt hat, dass die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist und die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist, in diesen zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die gegen sie im Ausstellungsstaat verhängt wurde, rücküberstellt wird, die Rücküberstellung durch diesen letztgenannten Mitgliedstaat erst dann stattfinden, nachdem die Entscheidung, mit der diese Sanktion verhängt wird, im Sinne der in der vorherigen Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung rechtskräftig geworden ist.

54      Zudem verlangt das Ziel, die Resozialisierung des Betroffenen zu erleichtern, das sowohl von Art. 5 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses als auch von den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909, die nach dessen Art. 25 anwendbar sind, verfolgt wird, dass, wenn die in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Garantie gegeben wird, die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat so schnell wie möglich erfolgt, nachdem die Entscheidung, mit der diese Sanktion verhängt wird, rechtskräftig geworden ist.

55      Diese Auslegung wird durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestätigt, wonach der Umstand, dass zusätzlich zu der Sanktion eine Geldbuße oder Geldstrafe und/oder eine Einziehungsentscheidung verhängt worden ist, die noch nicht gezahlt, eingezogen oder vollstreckt wurde, einer Übermittlung eines Urteils des Ausstellungsstaats an den Vollstreckungsmitgliedstaat im Sinne von Art. 1 Buchst. c und d dieses Rahmenbeschlusses nicht entgegensteht.

56      Falls sich herausstellen sollte, dass die Anwesenheit der Person, gegen die eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung im Ausstellungsstaat verhängt wurde, obwohl das Urteil, mit dem diese Strafe oder Maßregel verhängt wurde, nicht mehr mit einem Rechtsbehelf angefochten werden kann, in diesem Mitgliedstaat wegen anderer Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, wie z. B. die Festsetzung einer Strafe oder einer ergänzenden Maßnahme, erforderlich ist, muss allerdings das von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte Ziel, die Resozialisierung des Verurteilten zu erleichtern, sowohl mit der Effektivität der Strafverfolgung abgewogen werden, um eine vollständige und wirksame Verfolgung der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, zu gewährleisten, als auch mit der Beachtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen.

57      Im Übrigen berühren, wie aus Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hervorgeht, diese Rahmenbeschlüsse nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die in der Unionsrechtsordnung gewährleistet werden, zu achten.

58      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind nämlich die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts unter Beachtung der Grundrechte auszulegen und anzuwenden, zu denen die Achtung der Verteidigungsrechte gehört, die sich aus dem in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankerten Recht auf ein faires Verfahren ergeben (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 60).

59      Im Rahmen der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils erwähnten Abwägung ist es somit Sache der ausstellenden Justizbehörde, zu beurteilen, ob konkrete Gründe, die die Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen oder die geordnete Rechtspflege betreffen, seine Anwesenheit im Ausstellungsstaat unabdingbar machen, nachdem die Verurteilung rechtskräftig geworden ist und bis andere Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen sind.

60      Hingegen steht es der Justizbehörde des Ausstellungsstaats im Rahmen der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Garantie im Licht des Ziels, die Resozialisierung des Verurteilten zu erleichtern, nicht zu, die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat systematisch und automatisch auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem die anderen Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen sein werden.

61      In diesem Zusammenhang muss die ausstellende Justizbehörde bei der von ihr vorzunehmenden Abwägung die Möglichkeit berücksichtigen, Mechanismen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe, die es im Bereich des Strafrechts nach dem Unionsrecht gibt, in Gang zu setzen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:2016:630, Rn. 47). Hierzu ist u. a. festzustellen, dass sich, wie aus Art. 3 Abs. 3 Satz 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hervorgeht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Geldstrafen und Einziehungsentscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat insbesondere nach dem Rahmenbeschluss 2005/214 und dem Rahmenbeschluss 2006/783 richten. Des Weiteren sieht die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1), deren Ziel darin besteht, auf der Grundlage der Grundsätze des Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern und zu beschleunigen (Urteil vom 24. Oktober 2019, Gavanozov, C‑324/17, EU:C:2019:892, Rn. 35), in ihrem Art. 24 den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zum Zweck der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung vor, wobei die Anordnungsbehörde und die Vollstreckungsbehörde die praktischen Vorkehrungen für die Vernehmung vereinbaren.

62      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 3 sowie mit Art. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der Person, die Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist und gegen die ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, von der Voraussetzung abhängig macht, dass ihm diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, rücküberstellt wird, der Ausstellungsstaat die Rücküberstellung vornehmen muss, sobald diese Verurteilung rechtskräftig geworden ist, es sei denn, dass konkrete Gründe, die die Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen oder die geordnete Rechtspflege betreffen, seine Anwesenheit in diesem Staat unabdingbar machen, bis andere Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen sind.

 Zur zweiten Frage

63      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass, wenn die Vollstreckung eines für die Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Bedingung abhängig gemacht wird, der Vollstreckungsmitgliedstaat für die Vollstreckung der gegen den Betroffenen im Ausstellungsstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung abweichend von Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die Dauer dieser Sanktion anpassen darf, damit sie der entspricht, die für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat verhängt worden wäre.

64      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats gestattet, die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion anzupassen, wenn deren Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats unvereinbar ist. Diese Behörde kann jedoch eine Anpassung dieser Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet, und die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein. In diesem Zusammenhang stellt Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 klar, dass die angepasste Sanktion nach u. a. der Dauer die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen darf.

65      Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht also strenge Voraussetzungen für die Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion durch die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats vor, die die einzigen Ausnahmen von der dieser Behörde gemäß Art. 8 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses obliegenden grundsätzlichen Verpflichtung darstellen, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und die Sanktion in Bezug auf Dauer und Art so zu vollstrecken, wie es dem im Ausstellungsstaat ergangenen Urteil entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 36).

66      Daraus folgt, dass der von der niederländischen Regierung vorgeschlagenen Auslegung, wonach Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 im Fall einer Person, die dem Ausstellungsstaat gegen eine Rücküberstellungsgarantie übergeben wurde, eine Anpassung der Strafe durch den Vollstreckungsmitgliedstaat außerhalb der von Art. 8 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fälle gestattet, nicht gefolgt werden kann, wenn dieser Bestimmung und insbesondere dem in ihrem Abs. 1 verankerten Grundsatz der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der Sanktion nicht jede praktische Wirksamkeit genommen werden soll.

67      Folglich darf der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht bloß wegen der Tatsache, dass der Ausstellungsstaat in der Garantie, die er nach Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gewährt, einen Vorbehalt hinsichtlich der Möglichkeit der Anpassung der eventuell im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion durch den Vollstreckungsmitgliedstaat äußert, der über die in Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannten Fälle hinausgeht, die Übergabe des Betroffenen verweigern.

68      Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass, wenn die Vollstreckung eines für die Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Bedingung abhängig gemacht wird, der Vollstreckungsmitgliedstaat für die Vollstreckung der gegen den Betroffenen im Ausstellungsstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung die Dauer dieser Verurteilung nur unter den in Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen strengen Voraussetzungen anpassen darf.

 Kosten

69      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 3 sowie mit Art. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union jeweils in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der Person, die Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder in diesem wohnhaft ist und gegen die ein Europäischer Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, von der Voraussetzung abhängig macht, dass ihm diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt wird, rücküberstellt wird, der Ausstellungsstaat die Rücküberstellung vornehmen muss, sobald diese Verurteilung rechtskräftig geworden ist, es sei denn, dass konkrete Gründe, die die Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen oder die geordnete Rechtspflege betreffen, seine Anwesenheit in diesem Staat unabdingbar machen, bis andere Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig abgeschlossen sind.

2.      Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn die Vollstreckung eines für die Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung vorgesehenen Bedingung abhängig gemacht wird, der Vollstreckungsmitgliedstaat für die Vollstreckung der gegen den Betroffenen im Ausstellungsstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung die Dauer dieser Verurteilung nur unter den in Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung vorgesehenen strengen Voraussetzungen anpassen darf.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.