Language of document : ECLI:EU:C:2020:191

Rechtssache C314/18

SF

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

 Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 11. März 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 5 Nr. 3 – Übergabe, die von der Bedingung abhängig gemacht wird, dass der Betroffene zur Verbüßung der gegen ihn im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird – Zeitpunkt der Rücküberstellung – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 3 Abs. 3 – Geltungsbereich – Art. 8 – Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion – Art. 25 – Vollstreckung einer Sanktion im Rahmen von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI“

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Übergabe eines Staatsangehörigen oder Einwohners des Vollstreckungsmitgliedstaats für die Zwecke der Strafverfolgung – Vom Ausstellungsmitgliedstaat zu gewährende Garantien – Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe – Zeitpunkt der Rücküberstellung – Rechtskräftige Verurteilung – Ausnahme

(Rahmenbeschlüsse des Rates 2002/584 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299, Art. 1 Abs. 3 und Art. 5 Nr. 3, und 2008/909 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299, Art. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 4 und Art. 25)

(vgl. Rn. 44, 48-54, 56, 59-62, Tenor 1)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen – Vollstreckung von Sanktionen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls – Vollstreckung im Fall der Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat dieses Haftbefehls zur Verbüßung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe – Anpassung der Dauer der Sanktion durch den Vollstreckungsmitgliedstaat – Voraussetzungen

(Rahmenbeschlüsse des Rates 2002/584 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299, Art. 5 Nr. 3, und 2008/909 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299, Art. 8 Abs. 2 und Art. 25)

(vgl. Rn. 65-68, Tenor 2)

Zusammenfassung

Im Urteil SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsmitgliedstaat) (C‑314/18) vom 11. März 2020 hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat eines Europäischen Haftbefehls die Übergabe eines seiner Staatsangehörigen oder Einwohner, gegen den ein solcher Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, von der Bedingung abhängig macht, dass ihm diese Person zur Verbüßung der gegen ihn im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung rücküberstellt wird, der Ausstellungsmitgliedstaat die Rücküberstellung grundsätzlich vornehmen muss, sobald diese Verurteilung rechtskräftig geworden ist. Anders verhält es sich nur, wenn konkrete Gründe in Bezug auf die Achtung der Verteidigungsrechte oder die geordnete Rechtspflege die Anwesenheit dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat unabdingbar machen, bis in anderen Verfahrensabschnitten im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, rechtskräftig entschieden worden ist. Zum anderen hat der Gerichtshof entschieden, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung die Dauer dieser Sanktion nur unter den in Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909(1) vorgesehenen strengen Voraussetzungen anpassen darf.

Dieses Urteil ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden betrifft, der von einem britischen Richter für die Zwecke der Strafverfolgung eines niederländischen Staatsangehörigen erlassen wurde. In den Niederlanden hatte die Staatsanwaltschaft von der ausstellenden Justizbehörde verlangt, die in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584(2) vorgesehene Garantie zu gewähren, die in der vor seiner Übergabe gemachten Zusage bestand, den Betroffenen im Fall seiner Verurteilung zur Verbüßung der eventuell gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in den Vollstreckungsmitgliedstaat rückzuüberstellen(3). Das Innenministerium des Vereinigten Königreichs antwortete darauf, dass der Betroffene, sollte er im Vereinigten Königreich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, in die Niederlande rücküberstellt würde, sobald das Strafverfahren oder jedes andere Verfahren, das die Straftat betreffe, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen sei, abgeschlossen sei. Des Weiteren gestatte eine Übergabe nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 den Niederlanden nicht, die Dauer der eventuell im Vereinigten Königreich verhängten Sanktion abzuändern.

Als Erstes hat der Gerichtshof, was den Zeitpunkt betrifft, zu dem die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, dessen Vollstreckung von der Gewährung einer Garantie im Sinne von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 abhängig gemacht worden ist, zur Verbüßung der gegen sie im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme der Sicherung in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt werden muss, zunächst festgestellt, dass dieser Zeitpunkt in dieser Bestimmung nicht präzisiert wird. Er hat jedoch die Bedeutung hervorgehoben, die der Unionsgesetzgeber sowohl in dieser Bestimmung als auch im Rahmenbeschluss 2008/909 den Resozialisierungschancen des Staatsangehörigen oder Einwohners des Vollstreckungsmitgliedstaats beigemessen hat und die in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass er die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung, die gegen ihn im Ausstellungsmitgliedstaat nach seiner in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgten Übergabe verhängt wird, im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßen kann. Der Gerichtshof hat die Bedeutung unterstrichen, die in einer solchen Situation die Tatsache hat, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Übergabe vornimmt, sobald die in Rede stehende Verurteilung rechtskräftig geworden ist. Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass zu diesem Zeitpunkt, sollte sich herausstellen, dass die Anwesenheit des Betroffenen im Ausstellungsmitgliedstaat wegen anderer Verfahrensschritte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betrifft, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, erforderlich ist, das Ziel, die Resozialisierung des Verurteilten zu erleichtern, sowohl mit der Effektivität der Strafverfolgung als auch mit der Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen abgewogen werden müsste.

Als Zweites hat der Gerichtshof in Bezug auf die in Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehene Möglichkeit der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Sanktion anzupassen, darauf hingewiesen, dass sie von dieser Bestimmung eng eingegrenzt wird, und klargestellt, dass dieser Art. 8 die einzigen Ausnahmen von der grundsätzlichen Pflicht vorsieht, das übermittelte Urteil anzuerkennen und die Sanktion in Bezug auf Art und Dauer so zu vollstrecken, wie es dem im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen Urteil entspricht. Der Gerichtshof hat daher die Auslegung von Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909(4) zurückgewiesen, wonach im Fall einer an den Ausstellungsmitgliedstaat gegen eine Rücküberstellungsgarantie übergebenen Person eine Anpassung der Strafe durch den Vollstreckungsmitgliedstaat außerhalb der von Art. 8 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fälle zulässig sei.


1      Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299. Insbesondere heißt es in Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909: „Ist die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats eine Anpassung dieser Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet. Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein.“


2      Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299.


3      Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299 lautet: „Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“


4      In dieser Bestimmung heißt es: „Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“