Language of document : ECLI:EU:C:2022:178

Rechtssache C519/20

Landkreis Gifhorn

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Hannover)

 Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. März 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2008/115/EG – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 16 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Spezielle Hafteinrichtung – Begriff – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Voraussetzungen – Art. 18 – Notlage – Begriff – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Spezielle Hafteinrichtung – Begriff – Besondere Abteilung einer gewöhnlichen Haftanstalt – Spezielle Gebäude, die von den Gebäuden zur Unterbringung von Strafgefangenen isoliert sind – Einbeziehung – Voraussetzungen – Kein Verschluss in einer Gefängnisumgebung – Wahrung der Grundrechte und der in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 und 52 Abs. 3; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, dritter Erwägungsgrund und Art. 15 Abs. 1, Art 16 und Art. 17)

(vgl. Rn. 35-38, 41-46, Tenor 1)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Spezielle Hafteinrichtung – Angemessener Ort der Haft und angemessene Haftbedingungen – Dem nationalen Gericht obliegende Beurteilung – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1)

(vgl. Rn. 48-56)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Notlagen – Inhaftierung oder Verlängerung der Haft in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Gerichtliche Kontrolle – Umfang – Überprüfung der Einhaltung der Voraussetzungen für die Inhaftierung oder die Verlängerung der Haft in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Einbeziehung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 18)

(vgl. Rn. 63-65, 67, Tenor 2)

4.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Verpflichtung, eine Haftmaßnahme grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung zu vollstrecken – Ausnahme – Vorübergehende Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Notlage – Inhaftierte Drittstaatsangehörige, die von Strafgefangenen getrennt sind – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 13 und 16, Art. 15, 16, 17 und 18 Abs. 1 und 2)

(vgl. Rn. 69, 71-74, 78-98)

5.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Nationale Regelung, nach der eine vorübergehende Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt getrennt von Strafgefangenen zulässig ist – Nichtbeachtung der in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen – Pflichten der nationalen Gerichte – Pflicht, jede dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet zu lassen

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1)

(vgl. Rn. 99, 100, 102, 103, Tenor 3)

Zusammenfassung

K, ein pakistanischer Staatsangehöriger, der sich illegal in Deutschland aufhält, wurde im August 2020 in der Abteilung Langenhagen (Deutschland) der Justizvollzugsanstalt Hannover (Deutschland) in Abschiebehaft genommen. Die ursprünglich bis Ende September 2020 angeordnete Haft wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Hannover (Deutschland) bis November 2020 verlängert. Dieses Gericht, das über die von K gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde zu entscheiden hat, stellt sich die Frage, ob dessen Inhaftierung im Hinblick auf die durch die Richtlinie 2008/115(1) vorgeschriebenen Anforderungen rechtmäßig ist. Es stellt fest, dass in der Abteilung Langenhagen während eines bestimmten Zeitraums der fraglichen Haft in unterschiedlichen Gebäuden zum einen Abschiebungsgefangene und zum anderen Strafgefangene untergebracht gewesen seien. Für die Strafgefangenen und die Abschiebungsgefangenen sei dort dasselbe Justizvollzugpersonal zuständig. Zudem habe diese Abteilung zwar eine eigene Leiterin, administrativ sei sie aber an die Justizvollzugsanstalt Hannover angebunden, die in ihrer Gesamtheit der Aufsicht der Justizministerin unterliege.

Angesichts dieser Umstände hat das Amtsgericht Hannover beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur Richtlinie 2008/115 zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der Gerichtshof wird ersucht, zu präzisieren, welche Voraussetzungen eine Hafteinrichtung erfüllen muss, um als für die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen bis zu deren Abschiebung geeignete richtlinienkonforme „spezielle Hafteinrichtung“ angesehen werden zu können, und welche Voraussetzungen und gerichtliche Kontrolle erforderlich sind, wenn ein Mitgliedstaat ausnahmsweise diese Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Haft nimmt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zu, erstens, dem Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stellt der Gerichtshof fest, dass die Haftbedingungen in einer solchen Einrichtung bestimmte Besonderheiten gegenüber den Bedingungen für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen in gewöhnlichen Haftanstalten aufweisen müssen. Die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Abschiebung dient nämlich nur dazu, die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten, und verfolgt keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung. Daher müssen die Haftbedingungen in einer solchen Einrichtung so ausgestaltet sein, dass sie so weit wie möglich verhindern, dass die Haft einem Verschluss in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist. Außerdem sind sowohl die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Rechte zu wahren.

Was die Beurteilung des Ortes der Haft und der Haftbedingungen im vorliegenden Fall angeht, weist der Gerichtshof darauf hin, dass sie Sache des vorlegenden Gerichts ist. Gleichwohl stellt der Gerichtshof unter anderem klar, dass die verwaltungsmäßige Zuordnung des Ortes der Haft zu einer Behörde, die auch über Zuständigkeiten für Haftanstalten verfügt, nicht ausreicht, um auszuschließen, dass es sich um eine „spezielle Hafteinrichtung“ handelt. Das Gleiche gilt nur für den Umstand, dass in einem gesonderten Teil eines Komplexes, in dem Drittstaatsangehörige zum Zweck der Abschiebung inhaftiert werden, verurteilte Straftäter untergebracht sind, sofern insbesondere eine Trennung tatsächlich sichergestellt ist. Außerdem muss das vorlegende Gericht der Ausstattung der speziell zur Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen bestimmten Räumlichkeiten, den Regelungen über deren Haftbedingungen sowie der besonderen Qualifikation und den Aufgaben des Personals, das für die Einrichtung, in der diese Inhaftierung erfolgt, zuständig ist, besondere Aufmerksamkeit widmen.

Zweitens präzisiert der Gerichtshof, unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat vorübergehend eine Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt vorsehen kann und damit vom Grundsatz der Inhaftierung in einer speziellen Hafteinrichtung abweicht.

Zum einen kann eine solche Ausnahme nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt sein, solange vom betreffenden Mitgliedstaat vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, die schwere und unvorhergesehene Belastung der Kapazitäten seiner speziellen Hafteinrichtungen abzustellen, die aufgrund der außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, gegen die Abschiebehaft angeordnet wurde, aufgetreten ist und die weiterhin anhält. Insoweit kann eine regelmäßige Überprüfung der Lage erforderlich sein. Im Übrigen ist die Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt ausgeschlossen, wenn sich erweist, dass sie mit einer etwaigen Schutzbedürftigkeit des betreffenden Drittstaatsangehörigen unvereinbar ist. Jedenfalls ist sie auch dann ausgeschlossen, wenn ein Platz in einer speziellen Hafteinrichtung des betreffenden Mitgliedstaats zur Verfügung steht oder eine weniger intensive Zwangsmaßnahme in Betracht kommt. Schließlich müssen sich die Haftbedingungen so weit wie möglich von den Haftbedingungen unterscheiden, die für verurteilte Straftäter gelten.

Zum anderen kann nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 eine Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt ausnahmsweise aufgrund einer vollständigen, plötzlichen und momentanen Auslastung der Kapazitäten sämtlicher spezieller Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats gerechtfertigt sein, sofern der betreffende Drittstaatsangehörige von den gewöhnlichen Strafgefangenen getrennt ist und offensichtlich keine weniger intensive Zwangsmaßnahme ausreicht, um die Wirksamkeit seiner Rückkehr zu gewährleisten. Eine auf diese Bestimmung gestützte Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt kann nur für einen kurzen Zeitraum angeordnet werden und ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn die Auslastung der speziellen Hafteinrichtungen über einige Tage hinaus anhält oder sich systematisch oder in kurzen Abständen wiederholt. Schließlich müssen die durch die Charta und die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Grundrechte während der gesamten Dauer der Haft beachtet werden.

Sind die Voraussetzungen der vorgenannten Konstellationen nicht erfüllt und kann die betreffende nationale Regelung nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden, ist das nationale Gericht nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, diese Regelung unangewendet zu lassen.

Schließlich prüft der Gerichtshof drittens den Umfang der gerichtlichen Kontrolle, die einem nationalen Gericht obliegt, wenn es auf der Grundlage von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 über einen Antrag, die Haft eines Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt anzuordnen, oder einen Antrag auf Verlängerung dieser Haft zu entscheiden hat. Im Licht des von Art. 47 der Charta verbürgten Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz muss dieses Gericht die Beachtung der von Art. 18 vorgegebenen Voraussetzungen prüfen können. Hierzu muss es insbesondere über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände befinden können, und dabei darf diese Befugnis nicht nur auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde angeführten Umstände beschränkt sein.


1      Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).