Language of document : ECLI:EU:T:2019:448

Rechtssache T20/17

Ungarn

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 27. Juni 2019

„Staatliche Beihilfen – Ungarische Steuer auf Umsätze aus der Verbreitung von Werbung – Progression der Steuersätze – Abzug der vorgetragenen Verluste in Höhe von 50 % von der Steuerbemessungsgrundlage für Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erzielt haben – Beschluss, mit dem die Beihilfemaßnahmen für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt werden und die Rückforderung der Beihilfen angeordnet wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Voraussetzung der Selektivität“

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung einer steuerlichen Vergünstigung für bestimmte Unternehmen durch staatliche Stellen – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 71-73)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sachliche Abgrenzung – Kriterien – Ermittlung der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung – Differenzierung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, die nicht aus der Natur und der Struktur der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung gerechtfertigt ist – Natur und Struktur einer Steuerregelung – Begriff

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 74-77)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sektorspezifische Steuer auf den Umsatz der Werbungsverbreiter – Ermittlung der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung – Progressive Besteuerungsstruktur – Einbeziehung – Festlegung eines unvollständigen oder hypothetischen Bezugssystems für die Besteuerung durch die Kommission – Unzulässigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 78-83)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Sektorspezifische Steuer auf den Umsatz der Werbungsverbreiter – Natur der Steuer – Vom betreffenden Staat angeführtes Ziel, eine sektorspezifische Besteuerung unter Berücksichtigung einer Umverteilungslogik einzuführen – Ziel, das mit der progressiven Besteuerungsstruktur im Einklang steht – Zulässigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 84-90)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Sektorspezifische progressive Steuer auf den Umsatz der Werbungsverbreiter – Struktur der Steuer – Grundsatz einer progressiven Besteuerungsstruktur – Diskriminierungsfreie Differenzierung, die mit dem verfolgten Ziel der steuerlichen Umverteilung gerechtfertigt wird – Keine Selektivität

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 91-105)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Sektorspezifische progressive Steuer auf den Umsatz der Werbungsverbreiter – Struktur der Steuer – Prüfung der konkret gewählten progressiven Besteuerungsstruktur – Vereinbarkeit mit der Substanz des verfolgten Ziels der steuerlichen Umverteilung – Keine diskriminierende Behandlung der Steuerpflichtigen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden – Keine Selektivität

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 107-111)

7.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektivität der Maßnahme – Sektorspezifische Steuer auf den Umsatz der Werbungsverbreiter – Mechanismus der Abzugsfähigkeit der Verluste, der für das erste Steuerjahr eine Minderung der Steuerbemessungsgrundlage vornimmt – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Vereinbarkeit mit dem verfolgten Ziel der steuerlichen Umverteilung – Keine Diskriminierung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 117-124)

Zusammenfassung

Mit seinem Urteil Ungarn/Kommission (T‑20/17) vom 27. Juni 2019 hat das Gericht den Beschluss der Kommission für nichtig erklärt, mit dem die von Ungarn eingeführte progressive Steuer auf den Umsatz aus der Verbreitung von Werbung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt worden ist(1).

Am 15. August 2014 trat in Ungarn das Gesetz über die Werbesteuer in Kraft, mit dem eine Steuer mit progressiv gestaffelten Sätzen auf mit der Verbreitung von Werbung erzielte Einkünfte eingeführt wurde. Diese auf den Nettoumsatz von in Ungarn tätigen Werbungsverbreitern (Zeitungen, audiovisuelle Medien, Anzeigendienste) erhobene Steuer umfasste sechs vom Umsatz abhängige progressive Steuertarife sowie die Möglichkeit für die Steuerpflichtigen, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, aus den vorangegangenen Geschäftsjahren vorgetragene Verluste in Höhe von 50 % von der Steuerbemessungsgrundlage abzuziehen. Da die Kommission der Ansicht war, dass sowohl die Progression der Steuer als auch die Minderung der Steuerbemessungsgrundlage wegen der Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste Elemente einer staatlichen Beihilfe umfassten, übermittelte sie am 12. März 2015(2) Ungarn ihren Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens hinsichtlich dieser Maßnahmen zusammen mit einer Anordnung ihrer Aussetzung(3). In ihrem Beschluss vom 4. November 2016 führte sie u. a. aus, dass die Maßnahme sowohl wegen ihrer progressiven Besteuerungsstruktur als auch der von ihr vorgesehenen Möglichkeit des Abzugs von Verlusten eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstelle, und ordnete die unverzügliche und tatsächliche Rückforderung der gezahlten Beihilfen bei ihren Begünstigten an.

Das Gericht, das nach dem Urteil vom 16. Mai 2019, Polen/Kommission(4), somit erneut zu prüfen hat, ob eine Umsatzsteuer mit einer progressiven Besteuerungsstruktur wegen dieses Umstands eine selektive Maßnahme ist, die eine staatliche Beihilfe darstellt, stellt im vorliegenden Fall fest, dass die Kommission mehrere Fehler begangen hat.

Zunächst stellt es fest, dass die Kommission bei der Prüfung der Selektivität dieser Steuer kein unvollständiges oder hypothetisches Bezugssystem für die Besteuerung heranziehen durfte. Die Kommission hatte nämlich eine „normale“ Regelung ermittelt, die einen von der Umsatzhöhe unabhängigen einheitlichen Steuersatz umfasste, während sie die tatsächlich vorhandenen Merkmale der gesetzlich vorgesehenen „normalen“ Steuerregelung hätte heranziehen müssen, d. h. die Werbesteuer als solche mit ihrer durch einen progressiven Einheitstarif sowie durch Steuerstufen gekennzeichneten Struktur. Unter Hinweis darauf, dass die Schlussfolgerung der Kommission aus anderen, das Vorliegen eines selektiven Vorteils zugunsten von Unternehmen mit geringem Umsatz nachweisenden Gründen gerechtfertigt sein könnte, hat das Gericht auch geprüft, ob die Kommission dargetan hat, dass die Struktur dieser Steuer, d. h. ihre Besteuerungsstruktur, im Widerspruch zu ihrer Natur, d. h. ihren Zielen, steht.

Insoweit stellt es zunächst fest, dass die Kommission ebenfalls einen Rechtsfehler begangen hat, indem sie geschlossen hat, dass das Ziel der Steuer nur darin bestanden habe, dem Haushalt Einnahmen zuzuführen, während es nach den Angaben der ungarischen Behörden darin bestanden habe, eine auf einer Umverteilungslogik beruhende Steuer auf den Umsatz von Werbungsverbreitern einzuführen. Sodann stellt es fest, dass die Kommission nicht dargetan hat, dass eine progressive Struktur der Steuer grundsätzlich im Widerspruch zu dem verfolgten Ziel steht. Insbesondere weist es darauf hin, dass keine Selektivität vorliegt, wenn sich die Besteuerungsunterschiede aus der nicht auf einer Ausnahme beruhenden Anwendung der „normalen“ Regelung ergeben, wenn vergleichbare Situationen gleichbehandelt werden und wenn diese Anpassungsmechanismen nicht im Widerspruch zu dem mit der betreffenden Steuer verfolgten Ziel stehen. Schließlich stellt es fest, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die konkret angewandte progressive Tarifstruktur so konzipiert ist, dass das mit dieser Steuer verfolgte Ziel weitgehend seiner Substanz beraubt wird.

Das Gericht kommt auch zu dem Ergebnis, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die Minderung der Steuerbemessungsgrundlage wegen der Abzugsfähigkeit von Verlusten eine Diskriminierung beinhaltet, die im Widerspruch zu dem mit dieser Steuer verfolgten Ziel steht und einen für eine staatliche Beihilfe charakteristischen selektiven Vorteil darstellt. Insoweit weist es insbesondere darauf hin, dass diese Minderung der Steuerbemessungsgrundlage auf objektiven, von der Auswahl der betroffenen Unternehmen unabhängigen Kriterien beruht.


1      Beschluss (EU) 2017/329 der Kommission vom 4. November 2016 über die Maßnahme SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) Ungarns bezüglich der Besteuerung von Werbeumsätzen (ABl. 2017, L 49, S. 36).


2      Beschluss vom 12. März 2015 über die staatliche Beihilfe SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) – Ungarn – Werbesteuer Aufforderung zur Stellungnahme nach Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, C 136, S. 7).


3      Anordnung gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags (jetzt Art. 108 AEUV) (ABl. 1999, L 83, S. 1).


4      Urteil des Gerichts vom 16. Mai 2019, Polen/Kommission (T‑836/16 und T‑624/17, EU:T:2019:338).