URTEIL DES GERICHTS (Zweite erweiterte Kammer)
15. September 1998 (1)
„Staatliche Beihilfen - Nichtigkeitsklage - Fristen - Individuell
betroffene Personen - Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden
Kapitalgebers - Einleitung des Verfahrens nach
Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages“
In der Rechtssache T-11/95
BP Chemicals Limited, Gesellschaft englischen Rechts mit Sitz in London,
Prozeßbevollmächtigte: Barrister James Flynn, Bar of England and Wales, und
Solicitor Alec Burnside, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Loesch
und Wolter, 11, rue Goethe, Luxemburg,
unterstützt durch
Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch Lindsey Nicoll,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Kenneth Parker,
QC, und Barrister Rhodri Thompson, Bar of England and Wales,
Zustellungsanschrift: Britische Botschaft, 14, boulevard Roosevelt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Jean-Paul Keppenne und Paul Nemitz, Juristischer Dienst, sodann durch Paul Nemitz
und Nicholas Khan, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst,
Luxemburg-Kirchberg,
unterstützt durch
Italienische Republik, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des
Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten,
Beistand: Avvocato dello Stato Maurizio Fiorilli, Zustellungsanschrift: Italienische
Botschaft, 5, rue Marie-Adélaïde, Luxemburg,
und
ENI SpA, Gesellschaft italienischen Rechts mit Sitz in Rom,
EniChem SpA, Gesellschaft italienischen Rechts mit Sitz in Mailand,
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Mario Siragusa, Rom, und Giuseppe
Scassellati-Sforzolini, Bologna, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte
Elvinger und Hoss, 15, côte d'Eich, Luxemburg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 27. Juli 1994
betreffend Beihilfen der italienischen Behörden an EniChem SpA (ABl. C 330,
S. 7)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten C. W. Bellamy sowie der Richter C. P. Briët,
R. García-Valdecasas, A. Kalogeropoulos und A. Potocki,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23.
September 1997 und 17. März 1998,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
- 1.
- Die ENI SpA (nachstehend: ENI) ist eine Holdinggesellschaft, die im Juli 1992
durch Umwandlung der Ente Nazionale Idrocarburi, eines öffentlichen italienischen
Unternehmens, in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf Aktien
entstanden ist. Bis November 1995 war das italienische Finanzministerium
Alleinaktionär von ENI. Die EniChem SpA (nachstehend: EniChem) ist eine
nahezu 100%ige Tochtergesellschaft von ENI, die eine breite Palette chemischer
Erzeugnisse herstellt und vertreibt. EniChem ist aus der Gesellschaft Enimont SpA
(nachstehend: Enimont) hervorgegangen, einem im Mai 1989 gemeinsam von der
Ente Nazionale Idrocarburi und der Montedison SpA gegründeten Unternehmen.
- 2.
- Am 1. Oktober 1992 führte ENI dem Kapital von EniChem erstmals 1 000
Milliarden LIT zu, im Dezember 1993 weitere 794 Milliarden LIT. Diese beiden
Kapitalzufuhren (nachstehend: die ersten beiden Kapitaleinlagen) wurden der
Kommission nicht vorher gemäß Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag angezeigt.
- 3.
- Am 16. Februar 1994 beschloß die Kommission die Einleitung eines Verfahrens
nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages bezüglich dieser ersten beiden
Kapitaleinlagen. Mit Schreiben vom 16. März 1994 unterrichtete sie die italienische
Regierung von ihrer Entscheidung und setzte ihr eine Frist zur Äußerung.
- 4.
- Bei einer Zusammenkunft am 15. April 1994 zwischen der Generaldirektion IV der
Kommission, ENI und EniChem legte der Präsident von EniChem einen
Umstrukturierungsplan vor, der im Zeitraum von 1994 bis 1997 durchgeführt
werden sollte. Dieser Plan sah eine weitere Kapitalzufuhr von ENI für EniChem
in Höhe von 3 000 Milliarden LIT vor (nachstehend: dritte Kapitaleinlage).
- 5.
- Mit Schreiben vom 18. Mai 1994 antwortete die italienische Regierung offiziell auf
das Schreiben der Kommission vom 16. März 1994. Dieser Antwort waren Auszüge
aus dem Umstrukturierungsplan, in denen die dritte Kapitaleinlage erwähnt war,
beigefügt.
- 6.
- Am 2. Juni 1994 veröffentlichte die Kommission im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften den Wortlaut ihres Schreibens vom 16. März 1994 an die
italienische Regierung in Form einer Mitteilung „an die übrigen Mitgliedstaaten
und anderen Beteiligten über Beihilfen, die Italien der Enichem SpA zu gewähren
beschlossen hat“ (ABl. C 151, S. 3), und forderte sie zur Stellungnahme binnendreißig Tagen auf. Diese Mitteilung enthielt keinen Hinweis auf die dritte
Kapitaleinlage.
- 7.
- Mit Schreiben vom 6. Juni 1994 wies die italienische Regierung die Kommission
darauf hin, daß der Umstrukturierungsplan für EniChem sowie ihre Erklärungen
vom 18. Mai 1994 nicht nur die Kapitaleinlagen beträfen, die Gegenstand der durch
Schreiben der Kommission vom 16. März 1994 eingeleiteten Untersuchung seien,
sondern auch die dritte Kapitaleinlage, und brachte die Hoffnung zum Ausdruck,
daß die Untersuchung bezüglich dieser Kapitaleinlage rasch beendet werden könne.
- 8.
- Im Anschluß an Erörterungen innerhalb einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der
Industrie und des Department of Trade and Industry (nachstehend: DTI)
übermittelte die Regierung des Vereinigten Königreichs der Kommission am 1. Juli
1994 als Antwort auf die Mitteilung vom 2. Juni 1994 eine Stellungnahme, in der
sie Zweifel bezüglich der Rechtfertigung der ersten beiden Kapitaleinlagen äußerte.
Das Vereinigte Königreich wies die Kommission ferner auf Presseartikel über die
dritte Kapitaleinlage hin und forderte insbesondere, diese getrennt und eingehend
zu untersuchen.
- 9.
- Am 27. Juli 1994 veröffentlichte die Kommission eine Pressemitteilung
(nachstehend: Pressemitteilung der Kommission) über ihren Beschluß vom selben
Tag, das nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages eingeleitete Verfahren über die
ersten beiden Kapitaleinlagen zu beenden, die damit gewährte Beihilfe zu
genehmigen und festzustellen, daß die dritte Kapitaleinlage keine staatliche Beihilfe
darstelle.
- 10.
- Die dritte Kapitaleinlage erfolgte in Tranchen zwischen August und Oktober 1994.
- 11.
- Am 1. August 1994 kündigte das amerikanische Unternehmen Union Carbide
Corporation (nachstehend: UCC) in einer Pressemitteilung ihre Absicht an,
gemeinsam mit EniChem ein Unternehmen für die Erzeugung und den Vertrieb
von Polyäthylen in Europa zu gründen.
- 12.
- Die Klägerin erfuhr aus der Pressemitteilung von UCC, daß die Kommission die
Kapitalzufuhr für EniChem gebilligt hatte. Sie setzte sich mit dem DTI in
Verbindung, das über die Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs bei den
Europäischen Gemeinschaften eine Kopie der englischen Fassung der
Pressemitteilung der Kommission erhielt. Diese Kopie wurde der Klägerin am 3.
August 1994 übersandt.
- 13.
- Die von der Kommission am 27. Juli 1994 erlassene Entscheidung (nachstehend:
streitige Entscheidung) wurde der italienischen Regierung mit Schreiben vom 9.
August 1994 mitgeteilt.
- 14.
- Die Kommission stellte in Nummer 4 der streitigen Entscheidung fest, daß die
dritte Kapitaleinlage in Höhe von 3 000 Milliarden LIT keine staatliche Beihilfe imSinne des Artikels 92 Absatz 1 des Vertrages darstelle, weil sie auch ein privater,
marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber vorgenommen hätte.
- 15.
- In Nummer 5 der streitigen Entscheidung heißt es, daß die ersten beiden
Kapitaleinlagen von insgesamt 1 794 Milliarden LIT überhaupt keinen Ertrag
brächten und kein vergleichbarer privater Kapitalgeber einen ähnlichen Betrag
investiert hätte, ohne vorher einen umfassenden Umstrukturierungsplan zu sehen.
Diese Kapitaleinlagen seien daher als Beihilfe zu betrachten, die Verluste decke,
die hauptsächlich durch Betriebs- und Werksstillegungen entstanden seien; diese
sind in der streitigen Entscheidung auch dargestellt. In Nummer 6 der streitigen
Entscheidung stellt die Kommission allerdings fest, daß dank der umfassenden
Betriebsstillegungen und entsprechenden Kapazitätsschnitten die ersten beiden
Kapitaleinlagen gemäß Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c des Vertrages mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar seien.
- 16.
- In einer Sitzung vom 11. November 1994 überreichte die Kommission den
britischen Behörden und der Klägerin ein Schriftstück, das sie in ihren Schriftsätzen
als vollständige Fassung der streitigen Entscheidung bezeichnet.
- 17.
- Die streitige Entscheidung wurde im Amtsblatt vom 26. November 1994
veröffentlicht (Mitteilung der Kommission gemäß Artikel 93 Absatz 2 des EG-Vertrags an die übrigen Mitgliedstaaten und anderen Beteiligten - Italienische
Beihilfen an Enichem SpA; ABl. C 330, S. 7).
Verfahren
- 18.
- Mit Klageschrift, die am 20. Januar 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen
hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
- 19.
- Mit Beschlüssen vom 13. Oktober 1995 hat das Gericht (Zweite erweiterte
Kammer) das Vereinigte Königreich als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge
der Klägerin und die Italienische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der
Anträge der Kommission zugelassen. Mit Beschluß vom 19. Oktober 1995 sind ENI
und EniChem als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission
zugelassen worden.
- 20.
- Mit Beschluß vom 26. Juni 1996 (Slg. 1996, II-599) hat das Gericht (Zweite
erweiterte Kammer) einen auf Artikel 35 § 2 der Verfahrensordnung gestützten
Antrag von ENI und EniChem auf Gewährung einer Ausnahme hinsichtlich der
Übersetzung der Anlagen zu ihren Streithilfeschriftsätze in die Verfahrenssprache
zurückgewiesen.
- 21.
- Das Gericht (Zweite erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters die
mündliche Verhandlung eröffnet. Im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen sind die
Kommission, die Italienische Republik, ENI und EniChem aufgefordert worden,schriftlich auf bestimmte Fragen zu antworten und bestimmte Schriftstücke vor der
Sitzung vorzulegen. Das Gericht hat die Kommission insbesondere aufgefordert,
die Berechnungen in ihren Akten zu der Frage vorzulegen, ob die dritte
Kapitaleinlage für einen marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber annehmbar
gewesen wäre.
- 22.
- Die Kommission, ENI und EniChem haben am 30. Juni 1997 diese Fragen
beantwortet und bestimmte Schriftstücke vorgelegt. Die Kommission hat
insbesondere eine Ertragsberechnung für die dritte Kapitaleinlage vom 1. Juli 1994
(nachstehend: Tabelle QI/1) vorgelegt. Die Italienische Republik hat sich am 30.
Juli 1997 geäußert.
- 23.
- Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 18. September 1997 mündlich verhandelt
und Fragen des Gerichts beantwortet. Am Ende der Sitzung hat das Gericht die
mündliche Verhandlung jedoch noch nicht geschlossen.
- 24.
- Mit Schreiben vom 26. September 1997 hat die Klägerin beantragt, ihr eine
schriftliche Stellungnahme zu den Berechnungen in der Tabelle QI/1 zu gestatten.
- 25.
- Mit Schreiben vom 26. September 1997 haben die Bevollmächtigten der
Kommission dem Gericht mitgeteilt, daß die Berechnungen in der auf den 1. Juli
1994 datierten Tabelle QI/1 nicht vor Erlaß der streitigen Entscheidung vom 27.
Juli 1994 durchgeführt worden seien, sondern die Rekonstruktion einer Arbeit bei
der Vorbereitung der Entscheidung darstellten.
- 26.
- Mit Schreiben vom 13. Oktober 1997 hat das Gericht die Kommission um
Mitteilung ersucht, ob die Berechnungen in der Tabelle QI/1 weiterhin zur Stützung
der Aussage in der streitigen Entscheidung herangezogen würden, wonach die dritte
Kapitaleinlage auch von einem marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber
vorgenommen worden wäre. Andernfalls solle die Kommission anhand der
Begründung der streitigen Entscheidung und ihrer Schriftsätze die Berechnungen
oder sonstigen Gesichtspunkte angeben, die ihre Schlußfolgerung in dieser Hinsicht
rechtfertigen.
- 27.
- Mit Schreiben vom 16. Oktober 1997 hat die Kommission dem Gericht mitgeteilt,
daß die als Anlagen Q I/2 und Q I/4 ihrer Stellungnahme vom 30. Juni 1997
beigefügten Schriftstücke (nachstehend: Tabellen QI/2 und QI/4) Kopien der
Originale seien, die sich bei Erlaß ihrer Entscheidung in den Akten befundenhätten, daß aber das Schriftstück in Anlage Q I/3 (nachstehend: Tabelle QI/3) nach
Erlaß der streitigen Entscheidung um des besseren Verständnisses willen auf der
Grundlage einer damals vorhandenen Tabelle rekonstruiert worden sei.
- 28.
- Mit einer Stellungnahme vom 11. November 1997 hat die Kommission auf die
Frage des Gerichts vom 13. Oktober 1997 geantwortet und Berechnungen vorgelegt
(nachstehend: Tabelle A und Tabelle B), die im Vergleich zu den Berechnungen
in der Tabelle QI/1 bestimmte neue Elemente enthalten.
- 29.
- Mit Schreiben vom 24. November 1997 hat das Gericht die Klägerin und die
Streithelfer aufgefordert, sich zu den Schreiben und Stellungnahmen der
Kommission vom 30. Juni 1997, 26. September 1997, 16. Oktober 1997 und 11.
November 1997 zu äußern.
- 30.
- Am 19. Januar 1998 haben die Klägerin, das Vereinigte Königreich, ENI und
EniChem ihre jeweiligen Stellungnahmen eingereicht.
- 31.
- Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 17. März 1998 mündlich verhandelt und
Fragen des Gerichts beantwortet. Am Ende der Sitzung ist die mündliche
Verhandlung geschlossen worden.
Anträge der Beteiligten
- 32.
- Die Klägerin beantragt,
- die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären;
- die Kommission in die Kosten zu verurteilen;
- der Italienischen Republik, ENI und EniChem die durch ihre Streithilfe
verursachten Kosten aufzuerlegen.
- 33.
- Das Vereinigte Königreich beantragt,
- die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären.
- 34.
- Die Kommission beantragt,
- die Klage abzuweisen;
- die Klägerin in die Kosten zu verurteilen;
- dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.
- 35.
- ENI und EniChem beantragen,
- die Klage als unzulässig abzuweisen;
- hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;
- die Kosten von ENI und EniChem der Klägerin aufzuerlegen.
- 36.
- Die Italienische Republik schließt sich den Anträgen der Kommission an.
Zur Zulässigkeit
- 37.
- Die Kommission, die Italienische Republik, ENI und EniChem machen geltend, die
Klage sei unzulässig, weil die Klägerin wegen Fristablaufs mit ihrem Vorbringen
ausgeschlossen und weil sie von der streitigen Entscheidung nicht im Sinne von
Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages individuell betroffen sei.
Zur Klagefrist
Vorbringen der Beteiligten
- 38.
- Die Kommission macht geltend, die am 20. Januar 1995 eingereichte Klage sei nach
Ablauf der Frist des Artikels 173 Absatz 5 des Vertrages erhoben worden. Die
Klagefrist habe nämlich am 3. August 1994 zu laufen begonnen, an dem Tag, an
dem die Klägerin bei Lektüre der Pressemitteilung von der streitigen Entscheidung
erfahren habe.
- 39.
- Sowohl aus dem Wortlaut des Artikels 173 Absatz 5 des Vertrages als auch aus der
Rechtsprechung des Gerichtshofes ergebe sich, daß mit dem Eintritt des ersten in
dieser Vorschrift genannten Ereignisses, nämlich der Bekanntgabe der betreffenden
Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder der Erlangung der Kenntnis von
dieser Handlung durch den Kläger, die Klagefrist zu laufen beginne (vgl.
insbesondere Urteile des Gerichtshofes vom 5. März 1986 in der Rechtssache 59/84,
Tezi/Kommission, Slg. 1986, 887, Randnrn. 9 bis 12, und vom 23. Mai 1989 in der
Rechtssache 378/87, Top Hit Holzvertrieb/Kommission, Slg. 1989, 1359, Randnrn.
12 bis 15).
- 40.
- Im vorliegenden Fall habe die Pressemitteilung der Kommission der Klägerin
genaue Kenntnis von Inhalt und Gründen der betreffenden Entscheidung
verschafft, so daß sie ihr Klagerecht habe ausüben können. Selbst wenn die
Klägerin am 3. August 1994 keine ausreichende Kenntnis von Inhalt und Gründen
der streitigen Entscheidung erlangt hätte, hätte die Klagefrist nur mit ihrer
Mitteilung, d. h. am 11. November 1994, zu laufen begonnen, soweit die Klägerin
innerhalb einer vernünftigen Frist bei der Kommission den vollständigen Wortlaut
der Entscheidung angefordert hätte. Diese Voraussetzung liege allerdings im
vorliegenden Fall nicht vor.
- 41.
- Unzutreffend sei die Behauptung der Klägerin, der Wortlaut der streitigen
Entscheidung sei ihr in der Sitzung vom 11. November 1994 mit der strengen
Auflage ausgehändigt worden, vor ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt keinen
Gebrauch von ihr zu machen, wobei allerdings einzuräumen sei, daß die Sitzung
vertraulich gewesen sei und ihre Beamten das Schriftstück bis zu seiner
Veröffentlichung unter Verschluß gehalten hätten, weil sie zu Unrecht geglaubt
hätten, sein Bekanntwerden vor diesem Zeitpunkt verhindern zu müssen.
- 42.
- Die Italienische Republik, ENI und EniChem schließen sich diesem Vorbringen der
Kommission an.
- 43.
- ENI und EniChem weisen darauf hin, daß nach Artikel 191 Absatz 3 des Vertrages
die Veröffentlichung der streitigen Entscheidung keine Voraussetzung für ihr
Inkrafttreten gewesen sei. Unter diesen Umständen habe die Klägerin, wie die
Generalanwälte Reischl und Mancini in ihren Schlußanträgen zu den Urteilen des
Gerichtshofes vom 5. März 1980 in der Rechtssache 76/79 (Könecke/Kommission,
Slg. 1980, 665) und vom 22. September 1988 in den Rechtssachen 358/85 und 51/86
(Frankreich/Parlament, Slg. 1988, 4821) dargelegt hätten, mit der Erhebung ihrer
Klage nicht bis zur Veröffentlichung der streitigen Entscheidung warten dürfen.
Dies gelte erst recht für die dritte Kapitaleinlage, da die Entscheidungen der
Kommission, mit denen das Fehlen einer staatlichen Beihilfe nach Artikel 93
Absatz 3 des Vertrages festgestellt werde, nie veröffentlicht würden.
- 44.
- Die Klägerin macht mit Unterstützung des Vereinigten Königreichs geltend, daß
die Klagefrist nach Artikel 173 Absatz 5 des Vertrages mit dem Zeitpunkt der
Veröffentlichung der streitigen Entscheidung im Amtsblatt, d. h. am 26. November
1994, zu laufen begonnen habe. Das Kriterium der Kenntnisnahme von der
streitigen Entscheidung sei sekundär und nur bei fehlender Veröffentlichung oder
Mitteilung der Entscheidung anwendbar (Urteil Könecke/Kommission, und Urteil
des Gerichtshofes vom 6. Juli 1988 in der Rechtssache 236/86, Dillinger
Hüttenwerke/Kommission, Slg. 1988, 3761, Randnr. 14).
- 45.
- Weder die Pressemitteilung der Kommission noch die Aushändigung einer
vertraulichen Kopie der streitigen Entscheidung in der Sitzung vom 11. November
1994 stellten eine Mitteilung dar. Außerdem sei die streitige Entscheidung ihr in
der Sitzung vom 11. November 1994 mit der strikten Auflage übergeben worden,
von ihr bis zu ihrer Veröffentlichung keinen Gebrauch zu machen, so daß folglich
die Frist nicht vom Zeitpunkt dieser Sitzung an habe laufen können. Auf jeden Fall
habe die Pressemitteilung der Kommission ihr keine vollständige Kenntnis der
betreffenden Entscheidung verschafft. Außerdem habe sie mit Sorgfalt jede nur
mögliche Anstrengung unternommen, um eine Kopie der streitigen Entscheidung
zu erhalten.
Würdigung durch das Gericht
- 46.
- Gemäß Artikel 173 Absatz 5 des Vertrages sind die in diesem Artikel vorgesehenen
Klagen innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu erheben, die je nach Lage des
Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den
Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an läuft, zu dem der
Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.
- 47.
- Schon dem Wortlaut dieser Bestimmung ist zu entnehmen, daß das Kriterium des
Zeitpunkts der Kenntniserlangung von der Entscheidung als Beginn der Klagefristgegenüber den Zeitpunkten der Bekanntgabe und der Mitteilung der Entscheidung
subsidiär ist (Urteil des Gerichtshofes vom 10. März 1998 in der Rechtssache
C-122/95, Deutschland/Rat, Slg. 1998, I-973, Randnr. 35; vgl. auch - zu staatlichen
Beihilfen - Schlußanträge von Generalanwalt Capotorti zum Urteil des
Gerichtshofes vom 17. September 1980 in der Rechtssache 730/79, Philip
Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671, 2693, 2699).
- 48.
- Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung am 26. November 1994 bekanntgegeben
worden. Sollte sie nicht vorher der Klägerin mitgeteilt worden sein, wäre somit
festzustellen, daß die am 20. Januar 1995 eingereichte Klage innerhalb der Frist des
Artikels 173 Absatz 5 des Vertrages erhoben worden ist.
- 49.
- Dies gilt hier um so mehr, als nach ständiger Praxis die Entscheidungen der
Kommission über den Abschluß eines Verfahrens zur Untersuchung von Beihilfen
nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften veröffentlicht werden (vgl. insbesondere Schreiben der Kommission
vom 27. Juni 1989 an die Mitgliedstaaten, von der Kommission veröffentlicht in
Droit de la concurrence dans les Communautés européennes, Band IIA, Règles
applicables aux aides d'État, 1995, S. 107, sowie den 20. Bericht über die
Wettbewerbspolitik, 1990, Nr. 170).
- 50.
- Im vorliegenden Fall ist mit der streitigen Entscheidung nicht nur die Untersuchung
abgeschlossen worden, die nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages bezüglich der
ersten beiden Kapitaleinlagen eingeleitet worden war, sondern auch die
Voruntersuchung gemäß Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages bezüglich der dritten
Kapitaleinlage. Die Kommission hat indessen ihre Absicht, die streitige
Entscheidung zu den drei Kapitaleinlagen insgesamt zu veröffentlichen, nie in
Abrede gestellt. Sie bestreitet außerdem nicht, daß sie das Vereinigte Königreich
darüber informiert habe, daß die streitige Entscheidung veröffentlicht werde, was
sich im übrigen auch aus dem Telefax ergibt, das sie der Ständigen Vertretung des
Vereinigten Königreichs am 29. September 1994 übermittelt hat und in dem sie
bestätigte, daß die streitige Entscheidung in den nächsten Wochen veröffentlicht
werde.
- 51.
- Unter diesen Umständen konnte die Klägerin annehmen, daß die streitige
Entscheidung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht werde.
- 52.
- Aber auch wenn die Aushändigung des Schriftstücks, das die Kommission als
vollständigen Wortlaut der streitigen Entscheidung bezeichnet, in der Sitzung vom
11. November 1994 an die Klägerin als eine „Mitteilung“ im Sinne des Artikels 173
Absatz 5 des Vertrages betrachtet werden könnte, wäre ebenfalls anzunehmen, daß
die Klage fristgerecht erhoben worden ist. Unter diesen Umständen wäre nämlich
die Klagefrist erst am Montag, dem 23. Januar 1995, abgelaufen, wenn man die
Tatsache, daß die zweimonatige Klagefrist nach Artikel 173 Absatz 5 des Vertrages
um die mit Rücksicht auf die räumliche Entfernung gewährte zusätzliche
Verfahrensfrist von zehn Tagen für das Vereinigte Königreich nach Artikel 102 § 2der Verfahrensordnung zu verlängern ist, und Artikel 101 § 2 Absatz 1 der
Verfahrensordnung berücksichtigt, der Anwendung findet, wenn die Frist an einem
Samstag, Sonntag oder Feiertag endet.
- 53.
- Die Berufung auf die Verspätung der Klage ist daher zurückzuweisen.
Zur Frage, ob die Klägerin von der streitigen Entscheidung unmittelbar und individuell
betroffen ist
Vorbringen der Beteiligten
- 54.
- Die Kommission macht mit Unterstützung der Italienischen Republik, von ENI und
EniChem geltend, die Klage sei bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen nicht
zulässig, weil die Klägerin insoweit von der streitigen Entscheidung nicht individuell
im Sinne des Artikels 173 Absatz 4 des Vertrages betroffen sei.
- 55.
- Die Klägerin erfülle nämlich keine der von der Rechtsprechung insoweit
geforderten drei kumulativen Voraussetzungen; sie sei am Verwaltungsverfahren
nicht als Beschwerdeführerin oder betroffene Dritte beteiligt gewesen, die sich nach
Mitteilung der Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages
geäußert hätte, der Ablauf des Verfahrens sei durch ihre Äußerungen nicht
weitgehend bestimmt worden, und schließlich werde ihre Marktstellung durch die
betreffende Beihilfe nicht spürbar beeinträchtigt (Urteile des Gerichtshofes vom 20.
März 1985 in der Rechtssache 264/82, Timex/Rat und Kommission, Slg. 1985, 849,
und vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 169/84, Cofaz/Kommission, Slg. 1986,
391, Randnr. 25, sowie Schlußanträge von Generalanwalt VerLoren Van Themaat
zu diesem Urteil, 392, 405).
- 56.
- Hingegen sei die Klage aufgrund der Urteile des Gerichtshofes vom 19. Mai 1993
in der Rechtssache C-198/91 (Cook/Kommission, Slg. 1993, I-2487) und vom 15.
Juni 1993 in der Rechtssache C-225/91 (Matra/Kommission, Slg. 1993, I-3203)
durchaus zulässig, soweit sie die Beurteilung der dritten Kapitaleinlage betreffe.
- 57.
- ENI und EniChem halten - anders als die Kommission - die Klage auch für
unzulässig, soweit diese die Beurteilung der dritten Kapitaleinlage betrifft. Das
zitierte Urteil Cook/Kommission beanspruche nämlich keine Geltung für eineEntscheidung, mit der nach Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages das Fehlen einer
Beihilfe festgestellt werde. Denn die Nichtigerklärung einer solchen Entscheidung
führe anders als die Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Vereinbarkeit
einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt werde, nicht ohne weiteres
zur Einleitung einer formellen Untersuchung nach Artikel 93 Absatz 2 des
Vertrages. Die Kommission lasse nämlich eher eine zweite Untersuchung gemäß
Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages folgen, um festzustellen, ob die dritte
Kapitaleinlage, die jetzt als Beihilfe anzusehen sei, nicht doch mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar sei. Die Beteiligung betroffener Dritter wie derKlägerin sei in diesem Verfahrensabschnitt nicht vorgesehen. Erst wenn die
Kommission eine Untersuchung nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages einleite,
habe die Klägerin die Möglichkeit, sich zur dritten Kapitaleinlage zu äußern. Die
streitige Entscheidung betreffe folglich die Klägerin nicht unmittelbar.
- 58.
- Die Klage sei bezüglich der dritten Kapitaleinlage außerdem deshalb unzulässig,
weil sie nicht gegen eine Entscheidung nach den Artikeln 92 Absatz 1 und 93
Absatz 3 des Vertrages gerichtet sei. Da die streitige Entscheidung allein auf der
Grundlage der Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c und 93 Absatz 2 des Vertrages
erlassen worden sei und die Kommission ihre Untersuchung nie auf die dritte
Kapitaleinlage ausgedehnt habe, sei die Klage unzulässig, denn die Klägerin habe
in ihren Anträgen nicht die Nichtigerklärung der „eigenständigen“ Entscheidung
über die dritte Kapitaleinlage verlangt.
- 59.
- Die Italienische Republik hält die Klage bezüglich der dritten Kapitaleinlage
deshalb für unzulässig, weil die Klägerin nicht dargetan habe, daß ENI, ein
öffentliches Unternehmen, als öffentliche Einrichtung gehandelt und sich dabei auf
öffentliche oder soziale Interessen statt auf egoistische oder geschäftliche Interessen
gestützt habe.
- 60.
- Die Klägerin macht mit Unterstützung des Vereinigten Königreichs geltend, daß
sie durch die streitige Entscheidung insgesamt unmittelbar und individuell betroffen
sei.
- 61.
- Als Konkurrentin von EniChem habe sie, da eine Mitteilung über die Einleitung
eines Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages bezüglich der dritten
Kapitaleinlage nicht erfolgt sei, keine Gelegenheit zur Äußerung gehabt und könne
damit die Beurteilung der dritten Kapitaleinlage anfechten (Urteile des
Gerichtshofes vom 14. November 1984 in der Rechtssache 323/82,
Intermills/Kommission, Slg. 1984, 3809, Cook/Kommission, Randnrn. 23 bis 25, und
vom 24. März 1993 in der Rechtssache C-313/90, CIRFS u. a./Kommission, Slg.
1993, I-1125). Entgegen dem Vorbringen von ENI und EniChem sei das Urteil
Cook/Kommission sehr wohl auf den Fall anwendbar, daß eine Entscheidung, kein
Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages zu eröffnen, weil die betreffende
Maßnahme keine staatliche Beihilfe darstelle, ergangen sei.
- 62.
- Die Klage sei nach Maßgabe des Urteils Cook/Kommission auch bezüglich der
ersten beiden Kapitaleinlagen zulässig, die untrennbar mit der dritten
Kapitaleinlage verbunden seien. Die Kommission habe nämlich, indem sie das
Verfahren nicht mit einer neuen Mitteilung nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages
erweitert habe, den Betroffenen die Möglichkeit genommen, sich zur gesamten
Umstrukturierung von EniChem und zu deren Finanzierung zu äußern. Die dem
Urteil Cook/Kommission zugrunde liegende Argumentation gelte auch für eine
solche Sachlage, weil den Betroffenen, wenn sie die Entscheidung der Kommission
nicht beim Gericht anfechten könnten, die Verfahrensgarantien des Artikels 93
Absatz 2 des Vertrages vorenthalten würden.
- 63.
- Für den Fall, daß nach Auffassung des Gerichts die Zulässigkeit der Klage
bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen getrennt beurteilt werden müßte,
macht die Klägerin hilfsweise geltend, ein Unternehmen könne allein deshalb
individuell betroffen sein, weil sich die Beihilfe auf seine Marktstellung auswirke
(vgl. Urteil des Gerichts vom 27. April 1995 in der Rechtssache T-435/93, ASPEC
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1281, Randnr. 64, und in der Rechtssache T-442/93,
AAC u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1329, Randnr. 49).
- 64.
- Zwischen ihr und EniChem herrsche insbesondere auf den Märkten für Äthylen
und Polyäthylen, aber auch bei anderen Erzeugnissen ein handfester Wettbewerb.
EniChem sei der größte Äthylenhersteller in Europa mit einer Gesamtkapazität von
11 % gegenüber 7 % in ihrem Fall. Im übrigen habe die Kommission in ihrer
Mitteilung vom 2. Juni 1994 selbst erklärt, daß EniChem auf dem westeuropäischen
Markt für Olefine, der Produktgruppe, zu der Polyäthylen gehöre, die Stellung
eines Marktführers zukomme.
- 65.
- Sie habe 1993 hauptsächlich auf die Äthylen- und Polyäthylenumsätze
zurückzuführende betriebliche Verluste bei den in Europa verkauften Erzeugnissen
in Höhe von 95 Millionen UKL hinnehmen müssen. Im gleichen Jahr habe ihre
Muttergesellschaft einen Betrag von 200 Millionen UKL bereitstellen müssen, um
die grundlegende Umstrukturierung ihrer petrochemischen Aktivitäten in Europa
und insbesondere die endgültige Schließung der Äthylen- Krackanlagen in Baglan
Bay kostenmäßig abzudecken. Diese Schließung mit einer Kapazität von 360 kt
jährlich sei mit einer bereits 1988 angekündigten Erschließung einer neuen
Kapazität von 330 kt jährlich in einer rentableren Fabrik in Grangemouth
zusammengefallen.
- 66.
- Mithin sei ihre Marktstellung durch die ersten beiden Kapitaleinlagen bei
EniChem ernsthaft beeinträchtigt worden.
- 67.
- Außerdem habe sie aktiv am Verwaltungsverfahren teilgenommen und damit eine
mit der eines Beschwerdeführers vergleichbare Rolle im Sinne des Urteils Cofaz
gespielt. Am 24. Mai 1994 habe sie der Arbeitsgruppe aus Vertretern der Industrie
und des DTI eine Studie über die EniChem gewährten Beihilfen vorgelegt. In einer
Sitzung dieser Arbeitsgruppe vom 13. Juni 1994 habe sie diese Studie mit neuen
Zahlen und Argumenten ergänzt und anschließend das Ministerium angeschrieben,
um ergänzende Informationen zu liefern. Sie habe an den Erörterungen innerhalb
der Arbeitsgruppe über die Grundzüge der Feststellungen des Vereinigten
Königreichs teilgenommen und den Großteil der Fakten geliefert, insbesondere
aber auch Bemerkungen zu dem vom DTI verteilten Entwurf von Stellungnahmen
beigesteuert.
- 68.
- Sie habe gezögert, Äußerungen im eigenen Namen abzugeben, weil sie befürchtet
habe, die Geschäftsbeziehungen zu EniChem im Rahmen gemeinsamer
Unternehmen, die laufenden Verhandlungen über technologische Lizenzverträgesowie die Zusammenarbeit im Rahmen von Berufsverbänden, denen beide
Unternehmen angehört hätten, zu gefährden. Auch wenn ein Mitgliedstaat
gegenüber einem Berufsverband nicht „für Rechnung“ eines Unternehmens tätig
werde, so hätten die britischen Behörden doch sicherstellen wollen, daß die
Interessen der Klägerin von der Kommission in vollem Umfang berücksichtigt
würden. Es wäre übertrieben formalistisch, zu verlangen, daß sie die gleichen
Äußerungen im eigenen Namen hätte vortragen sollen.
Würdigung durch das Gericht
- Zur Zulässigkeit der Klage bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen
- 69.
- Gemäß Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages kann eine natürliche oder juristische
Person gegen eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung nur dann Klage
erheben, wenn diese Entscheidung sie unmittelbar und individuell betrifft. Da die
streitige Entscheidung an die Italienische Republik gerichtet ist, ist zu prüfen, ob
diese Voraussetzungen bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen bei der
Klägerin erfüllt sind.
- 70.
- Die Klägerin ist von der streitigen Entscheidung zweifellos unmittelbar betroffen,
da diese bereits gewährte Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar
erklärt (vgl. zuletzt Urteil des Gerichts vom 5. November 1997 in der Rechtssache
T-149/95, Ducros/Kommission, Slg. 1997, II-2031, Randnr. 32).
- 71.
- Nach ständiger Rechtsprechung kann im übrigen derjenige, der nicht Adressat einer
Entscheidung ist, nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein,
wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder
besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände
berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten
(Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juli 1963 in der Rechtssache 25/62,
Plaumann/Kommission, Slg. 1963, 213, 238; Urteil Ducros/Kommission,
Randnr. 33).
- 72.
- Nach der Rechtsprechung betrifft ferner im Bereich der Kontrolle staatlicher
Beihilfen eine Entscheidung, mit der ein Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 des
Vertrages abgeschlossen wird, Unternehmen dann individuell, wenn sie die
Beschwerde veranlaßt haben, die zur Einleitung dieses Verfahrens führte, und wenn
sie durch ihre Äußerungen den Verfahrensablauf weitgehend bestimmt haben,
sofern ihre Marktstellung durch die Beihilfe, die Gegenstand der angefochtenen
Entscheidung ist, spürbar beeinträchtigt wird (Urteil Cofaz/Kommission, Randnrn.
24 und 25). Daraus ergibt sich jedoch nicht, daß ein Unternehmen nicht in anderer
Weise, durch Darlegung besonderer Umstände, die es in ähnlicher Weise
individualisieren wie den Adressaten, den Nachweis erbringen könnte, daß es
individuell betroffen ist (Urteile ASPEC u. a./Kommission, Randnr. 64, und
Ducros/Kommission, Randnr. 34).
- 73.
- Im vorliegenden Fall hat die Klägerin keine Beschwerde bei der Kommission
eingereicht. Sie ist auch nach Veröffentlichung der Mitteilung vom 2. Juni 1994
nicht selbst bei der Kommission vorstellig geworden, um sich als Betroffene im
Sinne von Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages zu äußern. Daß die Klägerin Beteiligte
im Sinne dieser Vorschrift ist, reicht im übrigen für sich allein nicht aus, um sie in
ähnlicher Weise wie den Adressaten der Entscheidung zu individualisieren.
- 74.
- Auch die Beteiligung der Klägerin als Mitglied einer Arbeitsgruppe aus Vertretern
der Industrie und des DTI an der Vorbereitung der der Kommission am 1. Juli
1994 überreichten Stellungnahme des Vereinigten Königreichs kann sie nach
Auffassung des Gerichts nicht im Sinne der angeführten Rechtsprechung
individualisieren. Die Stellungnahme wurde nämlich vom Vereinigten Königreich
im eigenen Namen in seiner Eigenschaft als Mitgliedstaat eingereicht. Überdies gibt
sie lediglich den Standpunkt des Vereinigten Königreichs zu den vorgeschlagenen
Beihilfen im Rahmen der damaligen allgemeinen Lage der petrochemischen
Industrie Europas wieder, ohne auf die besondere Lage der Klägerin in irgendeiner
Weise einzugehen.
- 75.
- Überdies kann die bloße Beteiligung der Klägerin an einer von den Behörden des
Vereinigten Königreichs eingerichteten Arbeitsgruppe nicht mit der Ausübung des
Rechts zur Äußerung gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages innerhalb des dort
vorgesehenen Verfahrens gleichgesetzt werden. Erwägungen der Rechtssicherheit
und einer sachgemäßen Verwaltung machen es nämlich in diesem Rahmen
erforderlich, daß die Kommission die besondere Lage jedes Wirtschaftsteilnehmers,
der sich durch die Gewährung der geplanten Beihilfen verletzt fühlt, so gut wie
möglich in Erfahrung bringt. Im vorliegenden Fall waren der Kommission während
des Verwaltungsverfahrens weder die besonderen Einwände der Klägerin noch
deren etwaige Beteiligung an der Vorbereitung der Stellungnahme des Vereinigten
Königreichs bekannt.
- 76.
- Zu der Frage, ob die Klägerin durch Darlegung besonderer Umstände, die sie in
ähnlicher Weise individualisieren wie den Adressaten, in anderer Form den
Nachweis erbringen konnte, daß sie individuell betroffen ist, ist darauf hinzuweisen,
daß die bloße Eignung einer Maßnahme, die auf dem betroffenen Markt
bestehenden Wettbewerbsverhältnisse zu beeinflussen, nicht genügen kann, um
jeden Wirtschaftsteilnehmer, der zum Adressaten der Maßnahme in irgendeiner
Wettbewerbsbeziehung steht, als von dieser Maßnahme unmittelbar und individuell
betroffen anzusehen (Urteil des Gerichtshofes vom 10. Dezember 1969 in den
Rechtssachen 10/68 und 18/68, Eridania/Kommission, Slg. 1969, 459, Randnr. 7,
Urteil des Gerichts vom 22. Oktober 1996 in der Rechtssache T-266/94,
Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1399, Randnr. 47).
- 77.
- Das Gericht steht nämlich auf dem Standpunkt, daß in einem Fall wie dem
vorliegenden die Klägerin, wenn sie von ihrem Recht zur Äußerung im Verfahren
nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages keinen Gebrauch gemacht hat, dasBestehen einer besonderen Wettbewerbssituation nachweisen muß, die sie im
Hinblick auf die staatliche Beihilfe aus dem Kreis aller übrigen
Wirtschaftsteilnehmer heraushebt (Urteile ASPEC u. a./Kommission, Randnr. 70,
und Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, Randnr. 47).
- 78.
- Die Klägerin ist nicht nur Konkurrentin von EniChem auf den Äthylen- und
Polyäthylenmärkten, sondern beruft sich auch darauf, daß die Produktionskapazität
von EniChem bei Äthylen 11 % der Gesamtproduktionskapazität in Europa
gegenüber ihren eigenen 9 % beträgt. Sie verweist ferner auf die Erklärung der
Kommission in ihrer Mitteilung vom 2. Juni 1994, wonach EniChem auf dem
westeuropäischen Markt für Olefine die Stellung eines Marktführers einnehme.
Schließlich beruft sie sich auf hauptsächlich mit den Äthylen- undPolyäthylenumsätzen zusammenhängende betriebliche Verluste sowie auf die von
ihr durchgeführte Schließung der Äthylen-Krackanlagen in Baglan Bay.
- 79.
- Das Gericht ist der Auffassung, daß all dies keine besonderen Umstände sind, die
die Klägerin in ähnlicher Weise wie den Adressaten der streitigen Entscheidung
individualisieren könnten.
- 80.
- Aus den Akten geht nämlich hervor, daß seinerzeit etwa 20 Wirtschaftsteilnehmer
im Äthylensektor tätig waren, darunter EniChem und die Klägerin, die insgesamt
über etwa 50 Fabriken verfügten (vgl. z. B. die Tabelle auf S. 14 der
„Petrochemical Market Outlook“, Mai 1994, die die Klägerin bei der Kanzlei des
Gerichts hinterlegt hat, sowie die „1994 Olefins report product review“, die
EniChem als Anlage 4 zu ihrem Streithilfeschriftsatz vorgelegt hat). Zwar verfügte
EniChem damals danach sicherlich über die größte Produktionskapazität in Europa,
doch nach der auf Seite 16 der Klageschrift wiedergegebenen Tabelle hatten fünf
andere Produzenten eine höhere Kapazität als die erst an siebter Stelle rangierende
Klägerin. Was die betrieblichen Verluste der Klägerin im Jahre 1993 betrifft, so
erlebte die petrochemische Industrie, wie den Akten zu entnehmen ist, damals eine
Rezession, so daß die meisten der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer Verluste
hinnehmen mußten oder nur schwache Gewinne erzielten. Außerdem dürfte die
Schließung ihrer Äthylen-Krackanlagen in Baglan Bay nicht mit den ersten beiden
Kapitaleinlagen zusammenhängen, sondern eher auf ihre eigene, 1988
bekanntgegebene Entscheidung zurückzuführen sein, eine rentablere Fabrik in
Grangemouth bauen zu lassen.
- 81.
- Die Lage der Klägerin ist also eindeutig anders als die der drei Klägerinnen in der
Rechtssache ASPEC u. a., die fast alle entsprechenden Marktanteile besaßen (vgl.
Randnrn. 65 bis 71 des Urteils). Während in der Rechtssache ASPEC u. a. die
betreffende Beihilfe gerade die Produktionskapazität des Empfängers auf
Überschußmärkten erhöhen sollte, wurden im vorliegenden Fall die ersten beiden
Kapitaleinlagen im Zusammenhang mit Fabrikschließungen vorgenommen, die in
Nummer 5 der streitigen Entscheidung erwähnt werden.
- 82.
- Schließlich kann auch dem Vorbringen der Klägerin nicht gefolgt werden, daß ihre
Klage in Analogie zur Lösung des Urteils Cook/Kommission deshalb zulässig sei,
weil die Nichterwähnung der dritten Kapitaleinlage in der Mitteilung vom 2. Juni
1994 ihr die Möglichkeit genommen habe, sich zur gesamten Umstrukturierung von
EniChem zu äußern. In diesem Urteil ist der Gerichtshof nämlich davon
ausgegangen, daß die Nichteinleitung eines Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2
des Vertrages die Beteiligten im Sinne dieser Vorschrift um Verfahrensgarantien
bringe, auf die sie Anspruch hätten. Im vorliegenden Fall ist aber festzustellen, daß
die Kommission bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen das Verfahren nach
Artikel 93 Absatz 2 eingeleitet hat. Selbst wenn Zusammenhänge zwischen den drei
Kapitaleinlagen im Rahmen der Umstrukturierung von EniChem bestehen sollten
und die Mitteilung vom 2. Juni 1994 unvollständig wäre, hat allein die
Nichterwähnung der dritten Kapitaleinlage die Klägerin nicht um die Möglichkeit
einer Äußerung zu den ersten beiden Kapitaleinlagen im Rahmen des insoweit von
der Kommission eingeleiteten Verfahrens gebracht.
- 83.
- Bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen ist daher die Klage als unzulässig
abzuweisen.
- Zur Zulässigkeit der Klage bezüglich der dritten Kapitaleinlage
- 84.
- Die Beklagte hat im Hinblick auf die Urteile Cook/Kommission und
Matra/Kommission die Zulässigkeit der Klage bezüglich der dritten Kapitaleinlage
nicht in Zweifel gezogen.
- 85.
- Gemäß Artikel 37 Absatz 4 der EG-Satzung des Gerichtshofes, der gemäß Artikel
46 Absatz 1 dieser Satzung auch für das Verfahren vor dem Gericht gilt, können
mit den aufgrund des Beitritts als Streithelfer gestellten Anträgen nur die Anträge
einer Partei unterstützt werden. Außerdem muß der Streithelfer gemäß Artikel 116
§ 3 der Verfahrensordnung des Gerichts den Rechtsstreit in der Lage annehmen,
in der dieser sich zur Zeit des Beitritts befindet.
- 86.
- Die Streithelferin ist folglich nicht berechtigt, die Zulässigkeit der Klage bezüglich
der dritten Kapitaleinlage in Zweifel zu ziehen, und das Gericht kann von einer
Prüfung der von ihr vorgebrachten Unzulässigkeitsgründe absehen (Urteil des
Gerichts vom 27. November 1997 in der Rechtssache T-290/94,
Kaysersberg/Kommission, Slg. 1997, II-2137, Randnr. 76).
- 87.
- Gemäß Artikel 113 der Verfahrensordnung ist jedoch die Zulässigkeit der Klage
bezüglich der dritten Kapitaleinlage von Amts wegen zu prüfen (vgl. Urteil CIRFS
u. a./Kommission, Randnr. 23, Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 1996 in der
Rechtssache T-19/92, Leclerc/Kommission, Slg. 1996, II-1851, Randnr. 51).
- 88.
- Die Kommission ist in der streitigen Entscheidung zu der Auffassung gelangt, daß
die dritte Kapitaleinlage auch von einem marktwirtschaftlich handelndenKapitalgeber erbracht worden wäre und mithin nicht als staatliche Beihilfe zu
betrachten sei. Damit hat es die Kommission nach Abschluß der Vorprüfung der
dritten Kapitaleinlage gemäß Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages stillschweigend
abgelehnt, das Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 einzuleiten (vgl. Urteil des
Gerichtshofes vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-367/95 P,
Kommission/Sytraval und Brink's France, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 47).
- 89.
- Unter diesen Umständen kann die Einhaltung der Verfahrensgarantien, die gemäß
Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages den Beteiligten zugute kommen, nur in der
Weise gewährleistet werden, daß diese die Möglichkeit haben, die streitige
Entscheidung der Kommission beim Gerichtshof anzufechten (Urteil
Cook/Kommission, Randnr. 23, und Urteil Matra/Kommission, Randnr. 17). Dieser
Grundsatz gilt dann, wenn die Entscheidung deshalb getroffen wurde, weil die
Kommission eine Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar hält, wie
auch dann, wenn nach ihrer Auffassung eine Beihilfe überhaupt nicht vorliegt
(Urteil Kommission/Sytraval und Brink's France, Randnr. 47). Somit ist die
Klägerin als Beteiligte im Sinne von Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages durch die
streitige Entscheidung, soweit diese die dritte Kapitaleinlage betrifft, individuell
betroffen.
- 90.
- Insoweit ist die Klägerin durch die streitige Entscheidung auch unmittelbar
betroffen, da die dritte Kapitaleinlage nach Klageerhebung erfolgt ist (Urteil
Ducros/Kommission, Randnr. 32).
- 91.
- Zum Vorbringen von ENI und EniChem, daß die Klage deshalb unzulässig sei, weil
die Klägerin in ihren Anträgen nicht die Nichtigerklärung einer „eigenständigen“
Entscheidung über die dritte Kapitaleinlage nach den Artikeln 92 Absatz 1 und 93
Absatz 3 des Vertrages verlangt habe, die streitige Entscheidung aber allein auf der
Grundlage der Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c und 93 Absatz 2 des Vertrages
erlassen worden sei, genügt die Feststellung, daß die Anträge der Klägerin auf
Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung insgesamt, also einschließlich der
Feststellung der Kommission, daß die dritte Kapitaleinlage keine staatliche Beihilfe
sei, gerichtet sind.
- 92.
- Zurückzuweisen ist auch das Vorbringen der Italienischen Republik, die Klägerin
müsse, wenn ihre Klage bezüglich der dritten Kapitaleinlage zulässig sein solle,
nachweisen, daß ENI als öffentliche Einrichtung und nicht aufgrund geschäftlicher
Interessen gehandelt habe. Eine solche Erwägung betrifft nicht die Zulässigkeit der
Klage.
- 93.
- Die Klage ist somit bezüglich der dritten Kapitaleinlage für zulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
I - Zusammenfassung des Vorbringens der Beteiligten
- 94.
- Bezüglich der dritten Kapitaleinlage macht die Klägerin geltend, die Kommission
habe i) Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages dadurch verletzt, daß sie die
Zusammenhänge zwischen den drei Kapitaleinlagen verkannt habe, so daß die
dritte Kapitaleinlage nicht unabhängig von den ersten beiden habe beurteilt werden
können, sie habe ii) jedenfalls gegen Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages verstoßen,
weil ein privater, marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber die dritte
Kapitaleinlage nicht erbracht hätte, und sie habe folglich iii) die Rechte der
Klägerin als Betroffener dadurch verletzt, daß sie bezüglich der dritten
Kapitaleinlage das Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages nicht
eröffnet habe.
Vorbringen im schriftlichen Verfahren
- 95.
- Zu den Beziehungen der ersten beiden Kapitaleinlagen zur dritten Kapitaleinlage
macht die Klägerin erstens geltend, diese müsse als Teil eines einzigen
Umstrukturierungsverfahrens von EniChem betrachtet werden, in dessen Rahmen
die ersten beiden Kapitaleinlagen mit der dritten untrennbar zusammenhingen.
Unter diesen Umständen sei die Argumentation der Kommission, die ersten beiden
Kapitaleinlagen seien staatliche Beihilfen, die dritte hingegen nicht, gekünstelt. In
Wirklichkeit handele es sich um eine einzige staatliche Beihilfe in Höhe von
insgesamt 4 794 Milliarden LIT.
- 96.
- Die Klägerin verweist insbesondere darauf, daß die Kommission außerstande
gewesen sei, die ersten beiden Kapitaleinlagen nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe
c des Vertrages ohne Vorlage eines Umstrukturierungsplans zu genehmigen, der
die Lebensfähigkeit des Unternehmens binnen angemessener Frist dauerhaft
sicherstellen könne (vgl. Absatz 3.2.2 Ziffer i der Leitlinien für die Beurteilung von
staatlichen Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in
Schwierigkeiten vom 27. Juli 1994, ABl. C 368 vom 23. Dezember 1994, S. 12;
nachstehend: Leitlinien, und Urteil des Gerichtshofes vom 14. September 1994 in
den Rechtssachen C-278/92, C-279/92 und C-280/92, Spanien/Kommission, Slg.
1994, I-4103). Im vorliegenden Fall gebe es lediglich einen Umstrukturierungsplan,
der der Kommission auf ihr Aufforderungsschreiben vom 16. März 1994 übermittelt
worden sei und dessen wesentliches Element die dritte Kapitaleinlage sei. Die
Zusammenhänge zwischen den ersten beiden Kapitaleinlagen und der dritten
ergäben sich ebenfalls aus dem Schreiben der italienischen Regierung an die
Kommission vom 6. Juni 1994.
- 97.
- Zweitens habe die Kommission, selbst wenn die dritte Kapitaleinlage unabhängig
von den ersten beiden beurteilt werden könne, bei deren Beurteilung das sehr
strenge Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers nicht
ordnungsgemäß angewandt (Urteile des Gerichtshofes vom 21. März 1991 in der
Rechtssache C-303/88, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-1433; nachstehend: Urteil
ENI-Lanerossi, und in der Rechtssache C-305/89, Italien/Kommission, Slg. 1991,
I-1603; nachstehend: Urteil Alfa Romeo, sowie Urteil Hysata).
- 98.
- Kein marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber hätte 3 000 Milliarden LIT für
die Umstrukturierung von EniChem eingeschossen. Insbesondere hätte kein
privater Kapitalgeber den Umstrukturierungsplan von EniChem finanziert, ohne
diese Finanzierung an die Verwirklichung genauer Ziele innerhalb genauer Fristen
zu knüpfen. Eine dritte Kapitaleinlage hätte er nicht vorgenommen, ohne zuvor die
Alternative einer Liquidation von EniChem ins Auge zu fassen, und nie eine
Investition beschlossen, bei der der Gegenwartswert des zukünftigen Cash flow
gerade eben den Betrag der Investition erreiche, wie in der streitigen Entscheidung
angegeben; auf jeden Fall hätte er seine Entscheidung nicht aufgrund der weniger
pessimistischen der beiden finanziellen Vorhersagen getroffen, wie es die
Kommission in ihrer Klagebeantwortung vertreten habe.
- 99.
- Drittens habe die Kommission, indem sie bezüglich der dritten Kapitaleinlage nicht
das Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages eingeleitet habe, einen
Verfahrensfehler begangen, der sie um die ihr in dieser Bestimmung zugestandenen
Rechte gebracht habe (Urteil Cook/Kommission, Randnr. 23).Die Kommission
hätte nämlich entweder das bereits eingeleitete Verfahren auf die dritte
Kapitaleinlage ausdehnen oder aber ein neues Verfahren eröffnen müssen, um
dann in voller Kenntnis sämtlicher Umstände der Sache ihre Entscheidung treffen
zu können (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 20. März 1984 in der Rechtssache
84/82, Deutschland/Kommission, Slg. 1984, 1451, Randnr. 13, und Urteil
Cook/Kommission, Randnr. 29).
- 100.
- Das Vereinigte Königreich ergänzt, die Kommission hätte der Sichtweise der
italienischen Regierung folgen müssen, wonach eine notwendige und untrennbare
Verbindung zwischen den drei Kapitaleinlagen bestehe. Im übrigen hätten die
italienischen Behörden die drei Kapitaleinlagen gar nicht anders als ein Ganzes
darstellen können, weil rechtlich notwendige Voraussetzung für die Genehmigung
einer Umstrukturierungsbeihilfe sei, daß diese die Lebensfähigkeit des Empfängers
wiederherstelle, wie die Kommission selbst in Absatz 3.2.2 Ziffer i ihrer Leitlinien
hervorgehoben habe.
- 101.
- Die Kommission weist vorab darauf hin, daß ihre Entscheidungen im Rahmen der
vorsorglichen Kontrolle staatlicher Beihilfen gerichtlich nur beschränkt nachprüfbar
seien und daß ihr bei wirtschaftlichen und sozialen Beurteilungen im
Gemeinschaftskontext notwendig ein weites Ermessen zustehe (vgl. insbesondere
Urteile Philip Morris/Kommission, Randnr. 24, Matra/Kommission, Randnr. 24, und
Hytasa, Randnr. 51).
- 102.
- Die Kommission ist der Auffassung, daß zwischen den ersten beiden
Kapitaleinlagen und der dritten kein solcher Zusammenhang bestehe, daß alle drei
hätten zusammen behandelt werden müssen. Die ersten beiden Kapitaleinlagen
seien völlig unabhängig von der dritten gewürdigt worden, weil ihr Ziel im Kern
gewesen sei, die Verluste aus vergangenen Schließungen zu decken, und ihre
Wirkung in keiner Weise von dieser dritten Kapitaleinlage abhängig gewesen sei.
- 103.
- Das Kriterium des privaten Kapitalgebers habe auf die ersten beiden
Kapitaleinlagen anhand der Umstände angewandt werden müssen, die zum
Zeitpunkt ihrer Vornahme (1992 und 1993) gegolten hätten, die dritte
Kapitaleinlage hingegen im Hinblick auf die Lage beim Erlaß der streitigen
Entscheidung (1994). Die ersten beiden Kapitaleinlagen hätten keinen Ertrag
bringen sollen, da sie dazu bestimmt gewesen seien, bereits eingetretene Verluste
einschließlich derjenigen aufgrund bestimmter Umstrukturierungsmaßnahmen
außerhalb eines detaillierten Umstrukturierungsplans auszugleichen. Das Vorhaben
einer Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT hingegen baue auf einem
detaillierten und realistischen Umstrukturierungsplan für die Jahre 1994 bis 1997
auf, mit dem ab 1997 erneut eine vernünftige jährliche Rentabilität habe geschaffen
werden sollen. Daß Maßnahmen gleicher Art wie die bereits zuvor durchgeführten
im Rahmen eines Umstrukturierungsplans vorgeschlagen worden seien, schaffe
keinen solchen Zusammenhang zwischen den ersten beiden Kapitaleinlagen und
der dritten, daß damit die einen nicht mehr beurteilt werden könnten, ohne
zugleich das Verfahren auf die dritte auszudehnen.
- 104.
- Sie sei davon ausgegangen, daß die ersten beiden Kapitaleinlagen und die sie
begleitende Umstrukturierung die Lebensfähigkeit von EniChem so weit
wiederhergestellt hätten, daß privates Kapital auf dem Kapitalmarkt wieder
zugänglich geworden sei, ohne allerdings diesem Unternehmen eine Rentabilität zu
verschaffen, die diesem Kapital langfristig Ertrag sichere. Eine
Umstrukturierungsbeihilfe sei bereits dann mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar,
wenn sie die Lebensfähigkeit des Empfängers so weit wiederherzustellen helfe, daß
dieser, gegebenenfalls aufgrund eines noch detaillierteren Umstrukturierungsplans,
auf dem Kapitalmarkt das Privatkapital finden könne, das für die
Wiederherstellung der Rentabilität notwendig sei. Dies sei das Ergebnis der ersten
beiden Kapitaleinlagen gewesen, da nach der dritten Kapitaleinlage in Höhe von
3 000 Milliarden LIT eine normale Rendite auf dem Markt habe erwartet werden
können.
- 105.
- Obwohl zu der Zeit, als die ersten beiden Kapitalzufuhren erfolgt seien, kein
detaillierter Umstrukturierungsplan für EniChem vorgelegen habe, sei ihr bekannt
gewesen, daß im Rahmen einer umfassenden Maßnahme zur Umstrukturierung der
öffentlichen Unternehmen Italiens, die auch mit ihr im Rahmen der Sache EFIM
(ABl. 1993, C 359) erörtert worden sei und zu der Vereinbarung Andreatta-Van
Miert geführt habe, ein Gesamtumstrukturierungsplan für den Konzern in Arbeit
gewesen sei. Eine allgemeine Erläuterung des Umstrukturierungs- und
Privatisierungsplans für EniChem sei durch das italienische Finanzministerium in
zwei amtlichen Dokumenten vom November 1992 und April 1993 veröffentlicht
worden. Im Laufe des Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages habe sich
gezeigt, daß die Kapitaleinlagen zur Finanzierung von
Umstrukturierungsmaßnahmen verwendet worden seien, um im Rahmen des
allgemeinen Vorgehens, wie es die italienische Regierung in den beiden genannten
Dokumenten beschrieben habe, erneut die Rentabilität anzustreben. Da dieseMaßnahmen einer kohärenten Richtung gefolgt seien, die schließlich in dem der
Kommission 1994 unterbreiteten Umstrukturierungsplan im Detail Ausdruck
gefunden habe, und die Durchführung eines Umstrukturierungsplans keine statische
Übung sei, sei sie davon ausgegangen, daß diese Maßnahmen im Sinne des Urteile
Hytasa, „mit einem Umstrukturierungsplan verbunden [waren], der dazu dient, die
Tätigkeit [von EniChem] zu verringern oder umzuorientieren“.
- 106.
- Die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit infolge einer Umstrukturierungsbeihilfe
müsse in dem Sinne verstanden werden, wie er in Absatz 3.2.2 Ziffer i der
Leitlinien erläutert sei, d. h., das Unternehmen müsse in der Lage sein, „alle
anfallenden Kosten, einschließlich Abschreibungen und Finanzierungskosten, selbst
zu tragen und eine Mindestverzinsung des eingesetzten Kapitals zu erwirtschaften“.
Dies sei bei EniChem nach den ersten beiden Kapitaleinlagen der Fall gewesen:
Sie habe auf dem Markt überleben können, so daß keine zusätzliche Beihilfe
notwendig gewesen sei.
- 107.
- Bezüglich des Verhaltens eines marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers sei
vorab darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof in Randnummer 21 des Urteils
ENI-Lanerossi anerkannt habe, daß bei der Anwendung des Kriteriums eines
privaten Kapitalgebers die besondere Situation einer Holdinggesellschaft
berücksichtigt werden dürfe. Allerdings habe sie sich, wie in ihren Schriftsätzen
vorgetragen (vgl. z. B. Gegenerwiderung, Abschnitt D.8), nicht auf das Urteil
ENI-Lanerossi zu stützen brauchen, da sie keinerlei Zweifel an der Rentabilität der
dritten Kapitaleinlage gehabt habe.
- 108.
- Der mit Schreiben der italienischen Regierung vom 18. Mai 1994 vorgelegte
Umstrukturierungsplan habe erschöpfende Informationen über alle Punkte und
insbesondere Finanzvorausschauen in Form von Einnahmerechnungen, Bilanzen
und Liquiditätsaufstellungen für die Jahre 1993 bis 1998 enthalten. Zu diesen
Finanzvorausschauen habe auch eine zweite und weniger pessimistische Fassung
gehört, der ein höheres Preisniveau bei Plastikstoffen und ein leicht erhöhtes
Produktionsniveau bei Polyäthylen zugrunde gelegen habe.
- 109.
- Sie habe Kohärenz, Schlüssigkeit und Machbarkeit des Umstrukturierungsplans
geprüft und sei zu dem Schluß gelangt, daß die beiden zu diesem Plan gehörenden
Fassungen der finanziellen Vorhersagen realistisch und vorsichtig seien. Sie habe
dann die Zahlen der finanziellen Vorhersagen untersucht, um festzustellen, ob der
Ertrag der Kapitalzufuhr von 3 000 Milliarden LIT diese für einen privaten
Kapitalgeber annehmbar mache, der unter Marktbedingungen handele.
- 110.
- Zum Zeitpunkt der dritten Kapitaleinlage habe sich ENI an einem Scheideweg
befunden, d. h. entweder neues Kapital zuführen und umstrukturieren oder aber
nichts tun und das Unternehmen in Konkurs gehen lassen. Obwohl auch ohne
Kapitalzufuhr von 3 000 Milliarden LIT und die anschließende Umstrukturierung
keine unmittelbare Gefahr eines Konkurses von EniChem bestanden habe, hätten
doch die Verluste von EniChem zu dieser Zeit die Eigenmittel binnen ein oderzwei Jahren aufgebraucht und damit neue Kapitalzufuhren oder aber die
Liquidation des Unternehmens notwendig gemacht.
- 111.
- Die Bewertung der Liquiditätszunahme infolge der Entscheidung für die
Umstrukturierung habe daher von einem Vergleich der finanziellen Entwicklung
von EniChem bei Liquidation mit den finanziellen Vorhersagen bei
Umstrukturierung ausgehen müssen. Diesen Vergleich habe sie auch durchgeführt.
- 112.
- Zu dem Zeitpunkt, als ENI beschlossen habe, zu investieren statt ihre
Tochtergesellschaft EniChem zu liquidieren, sei ihre Verschuldung niedriger als
ihre Aktiva in Höhe von 1 950 Milliarden LIT gewesen. Dieser Betrag sei so
errechnet worden, daß von dem Ende 1993 geschätzten Wert der Aktiva (2 952
Milliarden LIT) 1 001 Milliarden LIT als anteiliger Verlust für den Zeitraum
Januar bis Juli 1994 (oder 7/12) vom gesamten Verlust für 1994 abgezogen worden
seien. Dieser Betrag von 1 950 Milliarden LIT stelle somit die aktuelle Investition
von ENI bei EniChem dar. Obwohl Schätzungen schwierig seien, dürfe man wohl
annehmen, daß die Kosten einer Liquidation von EniChem letztlich doch über
diesem Betrag liegen würden.
- 113.
- Bei der Analyse der finanziellen Auswirkung der Entscheidung für die
Umstrukturierung habe man daher wohl aus Vorsicht davon ausgehen müssen, daß
die aktuelle Investition von ENI bei EniChem (1 950 Milliarden LIT) bereits auf
Null gestanden habe, weil eine Liquidation bestimmt zum Gesamtverlust des
aktuellen Kapitals sowie infolge der Liquidationskosten zu zusätzlichen Verlusten
geführt hätte.
- 114.
- Sie sei daher davon ausgegangen, daß die Entscheidung für die Liquidation die
verbliebene Investition von ENI bei ihrer Tochtergesellschaft EniChem völlig
vernichtet hätte. Die Analyse der Verzinsung der Kapitalzufuhr von
3 000 Milliarden LIT habe sich daher mit sämtlichen Zahlen der von EniChem
vorgelegten finanziellen Vorhersagen befaßt. So habe sie sämtliche ein- und
ausgehenden Ströme infolge der Durchführung des Umstrukturierungsplans
berücksichtigt, weil sie zu der Alternativlösung der Liquidation hinzugekommen
seien.
- 115.
- Die Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT habe daher für die Anwendung des
Kriteriums eines marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers die
Anfangsinvestition dargestellt. Da der Kapitalgeber Alleinaktionär von EniChem
gewesen sei, sei die Rendite der dritten Kapitaleinlage in Form der gesamten
Nettogewinnerwartung von EniChem zugunsten von ENI ausgedrückt worden.
- 116.
- Auf der Grundlage der weniger pessimistischen Vorhersage der Finanzlage von
EniChem sei die Nettogewinnerwartung für ENI für einen Zeitraum von zehn
Jahren mit einem jährlichen Zinssatz von 12 % bereinigt worden. Auf dieser
Grundlage habe der aktuelle Wert des zukünftigen Cash flow, wie in der streitigenEntscheidung angegeben, genau der Investition von 3 000 Milliarden LIT
entsprochen. Die Kapitalzufuhr sei daher für einen marktwirtschaftlich handelnden
Kapitalgeber unter normalen Marktbedingungen annehmbar gewesen und habe
daher keine staatliche Beihilfe dargestellt.
- 117.
- Was schließlich die Frage betreffe, ob sie das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2
des Vertrages habe einleiten müssen, so sei einzuräumen, daß sie, falls sie bei einer
ersten Prüfung der dritten Kapitalzufuhr Zweifel gehabt hätte, ob es sich um eine
Beihilfe handele, verpflichtet gewesen wäre, entweder eine formelle Untersuchung
einzuleiten oder aber die italienische Regierung um zusätzliche Informationen zu
bitten (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom 20. März 1984, Deutschland/Kommission,
vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-301/87, Frankreich/Kommission, Slg.
1990, I-307; nachstehend: Urteil Boussac, und vom 13. April 1994 in den
Rechtssachen C-324/90 und C-342/90, Deutschland und Pleuger
Worthington/Kommission, Slg. 1994, I-1173). Da sie aber solche Zweifel nicht
gehabt habe, sei sie weder verpflichtet noch berechtigt gewesen, das erwähnte
Verfahren einzuleiten.
- 118.
- Die Italienische Republik, ENI und EniChem unterstützen das Vorbringen der
Kommission. Die Italienische Republik weist ferner darauf hin, daß die
Umwandlung von ENI in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf Aktien
1992 im Rahmen eines großangelegten Privatisierungsprogramms erfolgt sei, zu
dem auch die endgültige Aufgabe der Verwendung öffentlicher Unternehmen als
allgemeines Instrument der Politik gehört habe. Seit dem 11. Juli 1992 unterliege
daher ENI den Vorschriften des italienischen Zivilgesetzbuchs über die
Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf Aktien, und sämtliche Möglichkeiten
der Einwirkung des Staates auf ENI seien abgeschafft worden. Die Gesellschaft
müsse nach den Kriterien wirtschaftlicher Wirksamkeit und Rentabilität handeln.
Der Staat habe weder dem Ente Nazionale Idrocarburi vor seiner Umwandlung in
eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf Aktien noch nach dieser
Umwandlung ENI Kapital zugeführt. Die betrieblichen Entscheidungen von ENI
seien nur ihr und nicht dem Staat zuzurechnen, der nur die Risiken eines Aktionärs
trage und nicht als öffentliche Einrichtung handele.
- 119.
- Die dritte Kapitaleinlage gehöre zu einem umfassenden und vom Verwaltungsrat
von ENI am 27. Januar 1994 beschlossenen Umstrukturierungsplan, der u. a. den
Abbau von Überkapazitäten, mit der die Politik der Rationalisierung der
Produktion und der Senkung der Fixkosten vervollständigt werden solle, die
Neuordnung der Tätigkeiten in den Bereichen, die enger mit den Haupttätigkeiten
des Aktionärs verbunden seien, einen spürbaren Abbau der Verschuldung und die
finanzielle Sanierung sowie die Rückgewinnung einer Gleichgewichtslage im Jahre
1997 und einer die angemessene Vergütung der Aktionäre sicherstellende
Rentabilität vorsehe. Dieser Plan werde zum Teil aus Eigenmitteln von EniChem,
die aus der Verringerung ihrer nichtstrategischen Tätigkeiten stammten, finanziert
und könne EniChem in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum eine erhöhte
Wettbewerbsfähigkeit zurückverschaffen, die positive Auswirkungen sowohlunmittelbarer (Gewinne) als auch mittelbarer Natur (Synergieeffekte) für die
Aktionäre hätten.
- 120.
- ENI und EniChem machen geltend, die Kommission habe zu dem Ergebnis
kommen können, daß keine der drei Kapitaleinlagen „aus staatlichen Mitteln“
erfolgt sei, weil ENI Eigenmittel verwendet habe, ohne den Ertrag oder den Wert
der Investition des Finanzministeriums in diese Gesellschaft zu schmälern. Ohne
diese Einlagen wäre ENI Gefahr gelaufen, ihrer erheblichen Investition bei
EniChem und der Synergieeffekte zwischen EniChem und ihren Tätigkeiten im
Energiebereich verlustig zu gehen; auch der Plan der italienischen Regierung zur
Privatisierung von ENI wäre in Gefahr geraten. Im übrigen sei ENI seinerzeit kein
öffentliches Unternehmen gewesen und damit den Weisungen der italienischen
Regierung nicht mehr unterworfen gewesen. Außerdem seien die ersten beiden
Kapitaleinlagen aufgrund eines Beschlusses erfolgt, den der Ente Nazionale
Idrocarburi und die Montedison SpA im Mai 1989 gefaßt hätten und mit dem dasKapital von Enimont um 2 000 Milliarden LIT für den Fall habe erhöht werden
sollen, daß dieser Betrag nicht durch Gewinne der Gesellschaft im Zeitraum 1989
bis 1991 erreicht würde.
- 121.
- Was die Beurteilung der dritten Kapitaleinlage durch einen marktwirtschaftlich
handelnden Kapitalgeber angehe, so sei die Politik der Kommission im Einklang
mit Artikel 222 des Vertrages und den Urteilen ENI-Lanerossi und Alfa Romeo
darauf ausgerichtet, den erheblichen Beurteilungsspielraum des Kapitalgebers und
die langfristigen Überlegungen von Unternehmen, die einen großen Konzern
beherrschten, zur Geltung zu bringen (vgl. Nrn. 27 bis 31 der Mitteilung der
Kommission an die Mitgliedstaaten : Anwendung der Artikel 92 und 93 EWG-Vertrag und des Artikels 5 der Kommissionsrichtlinie 80/723/EWG über öffentliche
Unternehmen in der verarbeitenden Industrie, ABl. 1993, C 307, S. 3; nachstehend:
Mitteilung über öffentliche Unternehmen). Im vorliegenden Fall habe sich die
Kommission davon überzeugen können, daß auch ohne Berücksichtigung solcher
Überlegungen eine angemessene Rendite zu erwarten sei. Da die normale Dauer
einer Investition zehn Jahre betrage, habe die Kommission die für die Zukunft
erwarteten Ergebnisse mit 12 % abgezinst. Dieser Satz sei eindeutig höher als die
Finanzierungskosten von ENI (das gewogene Mittel des von ihr zu entrichtenden
Zinssatzes bei langfristigen Schulden habe 1994 8,5 % betragen) und als der
Durchschnittsertrag bei Investitionen in der Chemieindustrie (1992: 9,3 %). Wenn,
wie durchaus berechtigt, ein niedrigerer Satz zugrunde gelegt worden wäre, hätte
der aktuelle Wert des zukünftigen Cash flow über der Anfangsinvestition gelegen.
- 122.
- Der Wert der Investition von ENI bei EniChem vor der dritten Kapitalanlage sei
vernünftigerweise mit 1 950 Milliarden LIT veranschlagt worden. Bei einer
Liquidation hätte indessen ENI angesichts der Folgen, die ein Ausfall von EniChem
für den ENI-Konzern gehabt hätte, die Schulden von EniChem
(8 676 Milliarden LIT) begleichen müssen. ENI habe nach Nummer 36 der
Mitteilung über öffentliche Unternehmen ebenfalls die denkbare Auswirkung derLiquidation von EniChem auf den ENI-Konzern einschließlich des Verlustes von
Synergieeffekten, der Beeinträchtigung des Rufes und der Kreditwürdigkeit (credit
rating) des Konzerns sowie des Abgleitens der Privatisierung von ENI
berücksichtigt. Auch hätten die von EniChem veräußerten Tätigkeiten günstigere
Preise erbracht, als wenn ihr Verkauf unter der Drohung einer Liquidation erfolgt
wäre (vgl. Nr. 20 der Mitteilung über öffentliche Unternehmen). ENI und EniChem
machen schließlich geltend, daß der Umstrukturierungsplan für 1994 bis 1997
offensichtlich erfolgreich gewesen sei, und erläutern im einzelnen die
Finanzstatistiken von EniChem, die belegen sollen, daß die für 1997 erwarteten
Ergebnisse bereits 1995 eingetreten seien.
Vorbringen nach Abschluß des schriftlichen Verfahrens
- 123.
- Im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen hat das Gericht die Kommission mit
Schreiben vom 21. Mai 1997 um Vorlage der Berechnungen in ihren Akten zu der
Frage gebeten, ob die dritte Kapitalanlage für einen marktwirtschaftlich handelnden
Kapitalgeber annehmbar gewesen wäre, insbesondere der Berechnungen des
aktuellen Nettowerts des zukünftigen Cash flow von EniChem in den beiden
(unterschiedlich pessimistischen) Fassungen, von denen sie in ihrer
Klagebeantwortung und ihrer Gegenerwiderung spreche. Das Vorbringen der
Beteiligten nach Abschluß des schriftlichen Verfahrens betrifft ausschließlich die
von der Kommission vorgelegten Berechnungen.
- Die Erklärungen der Kommission vom 30. Juni 1997
- 124.
- In der Anlage zu ihren Erklärungen vom 30. Juni 1997 hat die Kommission die
Tabellen QI/1, QI/2, QI/3 und QI/4 vorgelegt und bekräftigt, daß dies die vom
Gericht angeforderten Schriftstücke seien.
- 125.
- Nach ihren Erklärungen stellt die Tabelle QI/1, die das Datum des 1. Juli 1994
trägt, die Berechnung der Rendite der Kapitalzufuhr von 3 000 Milliarden LIT
durch die Kommission dar. „Der aktuelle Nettowert des zukünftigen Cash flow“
von EniChem sei in Zeile 5 der Tabelle mit der Überschrift „Kumulierter Wert der
Eigenmittel“ („Cumulated equity value“) dargestellt, aus der sich ergebe, daß im
Jahre 2005 der kumulierte Wert der Eigenmittel von EniChem 2 966
Milliarden LIT betrage.
- 126.
- Die Tabelle QI/2 zeige die Berechnung der Finanzierungskosten von ENI durch die
Kommission. Tabelle QI/3 enthalte ihre Berechnung der Durchschnittsrendite von
Eigenmitteln der wichtigsten Chemieunternehmen, die als Vergleichsgrundlage
gedient habe. Tabelle QI/4 enthalte die Vorhersagen zur Entwicklung der
Aktivitäten und der finanziellen Situation, die als Grundlage für die Berechnung
der Rendite der Kapitaleinlage herangezogen worden seien. Es handele sich um ein
am 13. April 1994 erstelltes Schriftstück mit dem Titel „Analisi di Sensitivitá
(Ipotesi Migliorative di Scenario)“, das die italienische Regierung während des
Verwaltungsverfahrens vorgelegt habe.
- Mündliche Verhandlung vom 23. September 1997
- 127.
- In der mündlichen Verhandlung vom 23. September 1997 haben die Klägerin und
das Vereinigte Königreich die Berechnungen in der Tabelle QI/1 in mehrfacher
Hinsicht beanstandet. Die Kommission habe insbesondere ihre Berechnungen auf
die Eigenfinanzierungskapazität im strengen Sinne und nicht auf Buchgewinne
stützen müssen. Zeile 4 mit der Überschrift „Aktualisierte Gesamtüberschüsse“
(„Cumulated discounted flow“) habe als Negativposten die ursprüngliche Investition
von 3 000 Milliarden LIT enthalten müssen; mithin betrage der aktuelle Nettowert
des Cash flow nicht negativ 34 Milliarden LIT, sondern negativ 3 034
Milliarden LIT. Zeile 5, in der die aktualisierten Gesamterträge der ursprünglichen
Investition von 3 000 Milliarden LIT hinzugerechnet seien, enthalte einen
grundlegenden Fehler, weil feststehe, daß der Betrag von 3 000 Milliarden LIT in
Wirklichkeit den Gläubigern von EniChem gezahlt worden sei, um deren Schulden
zu verringern und die Nettoerträge zu verbessern; folglich stehe dieser Betrag am
Ende der Investitionsdauer nicht zur Verfügung.
- 128.
- Die Kommission entgegnet hierauf insbesondere, daß Zeile 4 der Tabelle QI/1
zeige, wie hoch die Erträgnisse sein müßten, damit der Kapitalgeber nach
Abzinsung mit dem Satz von 12 % am Ende der normalen Investitionsdauer das
investierte Kapital zurückerhalte. Zeile 5 weise dann aus, daß die Erträgnisse so
hoch seien, daß der Kapitalgeber seine ursprüngliche Investition am Ende dieses
Zeitraums zurückerhalte (2 966 Milliarden LIT) und in der Zwischenzeit eine
Rendite von 12 % erzielt habe.
- 129.
- Auf die Fragen des Gerichts in der Verhandlung hat Herr Spagnolli, der für die
Angelegenheit zuständige Beamte der GD IV, bestätigt, daß er maßgeblich an der
Vorbereitung der Tabelle QI/1 beteiligt gewesen sei. Da EniChem bei der dritten
Kapitaleinlage über 1 950 Milliarden LIT Eigenmittel verfügt habe, beruhten die
Ergebnisse der Tabelle QI/1 auf 4 950 Milliarden LIT Eigenmitteln, die nach
Erbringung der Kapitaleinlage zur Verfügung gestanden hätten. Ein Aktionär
müsse aber, um entscheiden zu können, ob er 3 000 Milliarden LIT bei EniChem
investiere oder nicht, wissen, welchen Ertrag eine Einlage dieser Höhe bringe. Es
habe daher geprüft werden müssen, inwieweit die Einlage auf die Lage des
Unternehmens einwirke. Nun habe die dritte Kapitaleinlage den Konkurs von
EniChem verhindert, der die seinerzeit vorhandenen Eigenmittel von 1 950
Milliarden LIT hätte verschwinden lassen. Unter diesen Umständen seien die
Berechnungen der Tabelle QI/1 durchgeführt worden, ohne diese vorhandenen
Eigenmittel zu berücksichtigen.
- 130.
- Wenn man den Standpunkt der Klägerin übernehme, daß Zeile 4 der Tabelle QI/1
die dritte Kapitaleinlage in Höhe von 3 000 Milliarden LIT als Minusziffer hätte
enthalten müssen, müsse man diese Minusziffer durch den Restwert des
Unternehmens im Jahre 2005 als Plusziffer ausgleichen. Zeile 5 der Tabelle zeige
nämlich, daß die Eigenmittel von EniChem im Zeitraum von Juli 1994 bis 2005 jenach den Ergebnissen des Unternehmens zu- oder abnähmen. Am Anfang betrügen
nun diese Eigenmittel 3 000 Milliarden LIT und im Jahre 2005 immer noch
3 000 Milliarden LIT, da die Erträgnisse mit 12 % abgezinst worden seien.
- 131.
- ENI und EniChem machen insbesondere geltend, die Vorsichtigkeit der
Kommission zeige sich darin, daß sie in der Tabelle QI/1 die voraussichtlichen
Verluste von EniChem für die Jahre 1994 bis 1996 berücksichtigt habe, nachdem
sie diese Verluste zum Anlaß genommen habe, den Anfangswert der Eigenmittel
von EniChem im Juli 1994 aus der Berechnung herauszunehmen. Es handele sich
hier um eine Doppelrechnung, weil die Verluste von EniChem zweimal gerechnet
würden.
- 132.
- Um zu belegen, daß es mehrere mögliche Berechnungsweisen gebe, hätten sie die
aufgrund der dritten Kapitaleinlage zu erwartenden Cash-flow-Sätze selbst
berechnet. Nach diesen Berechnungen belaufe sich der aktuelle Wert des
zukünftigen Cash flow auf 7 195 Milliarden LIT.
- Die Schreiben der Kommission vom 26. September und 16. Oktober 1997
- 133.
- Mit Schreiben vom 26. September 1997 hat die Kommission dem Gericht mitgeteilt,
daß die Tabelle QI/1, obwohl sie als Teil ihrer Akten vorgelegt worden sei, in
Wirklichkeit bei Erlaß der streitigen Entscheidung nicht existiert habe. Obwohl die
Tabelle QI/1 das Datum des 1. Juli 1994 trage, sei sie eine Rekonstruktion des für
die Angelegenheit zuständigen Beamten, Herrn Spagnolli, anhand der
Berechnungen, die dieser seinerzeit durchgeführt habe. Sie könne nicht mit
Gewißheit sagen, ob die in der Tabelle QI/1 enthaltenen Berechnungen genau die
seien, die vor Erlaß der streitigen Entscheidung durchgeführt worden seien, jedoch
hätten Berechnungen dieser Art tatsächlich als Grundlage für die streitige
Entscheidung gedient. Die ursprünglichen Berechnungen seien auf einem Rechner
durchgeführt worden, der in der Zwischenzeit ausgetauscht worden sei, da die
Direktion für staatliche Beihilfen ihr Computersystem gewechselt habe; einen
Ausdruck habe man nicht finden können. Dieser Sachverhalt könne von Herrn
Spagnolli und dessen damaligem Abteilungsleiter, Herrn Feltkamp, bestätigt
werden, die beide an der Verhandlung vom 23. September 1997 teilgenommen
hätten.
- 134.
- Mit Schreiben vom 16. Oktober 1997 hat die Kommission dem Gericht bestätigt,
daß die Tabellen QI/2 und QI/4 Kopien der Originalstücke seien, die sich bei Erlaß
der streitigen Entscheidung in ihren Akten befunden hätten. Die Tabelle QI/3 sei
hingegen nicht die, die sich seinerzeit in ihren Akten befunden habe. Sie legt dem
Gericht ein Schriftstück vor, das die Originalfassung der Tabelle QI/3 sein soll,
erläutert aber, daß die dem Gericht am 30. Juni 1997 vorgelegte Tabelle QI/3 nach
Erlaß der streitigen Entscheidung der besseren Verständlichkeit halber auf dem
Computer neu erstellt worden sei.
- 135.
- Im selben Schreiben ergänzt die Kommission, daß dieser Sachverhalt durch Herrn
Spagnolli bescheinigt werden könne. Sein Abteilungsleiter, Herr Feltkamp, könne
bestätigen, daß Tabellen wie die Tabellen QI/2, QI/3 und QI/4 bei der
Vorbereitung der streitigen Entscheidung verwendet worden seien, auch wenn er
sich an den genauen Inhalt der verwendeten Tabellen nicht mehr erinnere. Ein
anderer Beamter der GD IV, Herr Owen, könne bezeugen, daß er im
Dienstzimmer von Herrn Spagnolli zugegen gewesen sei, als dieser auf Papier eine
Berechnung durchgeführt habe, um den aktuellen Wert des Cash flow bezüglich der
dritten Kapitaleinlage zu untersuchen. Den Ergebnissen nach habe nichts auf eine
staatliche Beihilfe gedeutet, auch wenn Herr Owen sich an die Zahlen nicht genau
erinnere.
- Die schriftliche Frage des Gerichts vom 13. Oktober 1997 und die Erklärungen
der Kommission vom 11. November 1997
- 136.
- Mit Schreiben vom 13. Oktober 1997 hat das Gericht die Kommission um
Mitteilung ersucht, ob die Berechnungen der Tabelle QI/1 weiterhin zur Stützung
der Aussage in der streitigen Entscheidung herangezogen würden, daß die dritte
Kapitaleinlage in Höhe von 3 000 Milliarden LIT auch von einem
marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber hätte vorgenommen werden können
und daß „insbesondere der Gegenwartswert des künftigen Cash flow ... genau
3 000 Milliarden LIT [erreicht]“. Andernfalls möge die Kommission auf der
Grundlage der Begründung der streitigen Entscheidung und ihrer Schriftsätze die
Berechnungen oder sonstigen Gesichtspunkte angeben, die ihre Schlußfolgerung in
dieser Hinsicht rechtfertigen könnten.
- 137.
- Mit ihrer Stellungnahme vom 11. November 1997 hat die Kommission zwei
Tabellen vorgelegt (Tabellen A und B) und erklärt, sie stütze sich weiterhin auf die
Berechnungen in der Tabelle QI/1, allerdings mit den in der Tabelle A
dargestellten Änderungen. Die Herren Spagnolli, Feltkamp und Owen könnten
bezeugen, daß ein Berechnungsbogen in der Art von Tabelle QI/1 von Herrn
Spagnolli auf dem Computer erstellt worden sei, daß er benutzt worden sei, um
den aktuellen Wert der Erträge der dritten Kapitaleinlage zu ermitteln, und daß
er in keiner Weise gezeigt habe, daß die Einlage eine staatliche Beihilfe sei.
- 138.
- Tabelle A sei das Ergebnis der Bemühungen, die zur Zeit des Erlasses der
streitigen Entscheidung angestellten Berechnungen aufgrund der Erinnerung der
betroffenen Personen in konkreterer Form zu rekonstruieren. Die neue Tabelle A
ergänze im wesentlichen zwei Gesichtspunkte, die Teil der seinerzeit
durchgeführten Berechnungen gewesen und aufgrund der Erinnerungen der
betroffenen Personen rekonstruiert worden seien.
- 139.
- Die Eigenmittel von EniChem am 31. Juli 1994 in Höhe von 1 950 Milliarden LITseien zunächst zum Ausgleich der Verluste von EniChem in den ersten drei Jahren
des Planes verwendet worden. Der Betrag von 1 950 Milliarden LIT sei nämlich inden Büchern von EniChem geblieben und habe, da die Entscheidung für die dritte
Kapitaleinlage getroffen worden sei, bei der Rechnung berücksichtigt werden
müssen.
- 140.
- Zweitens sei der Restwert von EniChem im Jahre 2005 mit einem aktuellen Wert
von 1 531 Milliarden LIT in die Berechnung aufgenommen worden. Dieser Wert
ergebe sich daraus, daß EniChem ihre Tätigkeit über die Vorhersagezeit hinaus
fortsetze. Obwohl sicher sei, daß nach der Praxis der Kommission im Bereich
staatlicher Beihilfen ein Restwert berechnet worden sei, erinnerten sich Herr
Feltkamp und Herr Spagnolli nicht mehr an die genaue Berechnung, wie sie zum
Zeitpunkt der streitigen Entscheidung durchgeführt worden sei. Üblicherweise
werde wohl die zwar einfache, aber gängige Methode verwendet, die
Bruttobetriebsspanne, d. h. den Unterschied zwischen den Betriebseinnahmen und
-ausgaben, mit einem Faktor zu multiplizieren, der je nach der besonderen
Situation des betreffenden Unternehmens und des Sektors unterschiedlich ausfalle.
Im Sektor der chemischen Produkte betrage die normale Spanne vier bis sechs, in
der Tabelle A sei der Faktor drei verwendet.
- 141.
- Die Hinzufügungen in Tabelle A seien in der Tabelle QI/1 nicht ausdrücklich
dargestellt gewesen, sondern hätten leicht den Zahlen dieser Tabelle und denen des
Umstrukturierungsplans entnommen werden können (Tabelle QI/4). Die
Doppelbuchung der Verluste und das Verschwinden der Eigenmittel seien auf eine
Nachlässigkeit des mit der Erstellung der Tabelle QI/1 betrauten Beamten
zurückzuführen und erst nach der Verhandlung entdeckt worden. Die drei Zeugen
könnten bestätigen, daß dieses Versehen nicht bei der Ausarbeitung der streitigen
Entscheidung vorgekommen sei. Auch in der Klagebeantwortung habe es keine
Doppelbuchung gegeben.
- 142.
- Allgemein weist die Kommission darauf hin, daß ihre Berechnung auf den
Nettoergebnissen von EniChem (nach Steuern) beruht habe. Sie legt dem Gericht
in Tabelle B eine Berechnung vor, die nach der von der Klägerin befürworteten
Methode DCF (discounted cash flow) erstellt sei und einen Cash flow zeige, der
die ursprüngliche Investition von 3 000 Milliarden LIT um nahezu 2 000
Milliarden LIT übersteige.
- 143.
- Der Schluß indessen, daß die Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT auch von
einem marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber hätte vorgenommen werden
können, beruhe nicht nur auf ihrer Berechnung des erwarteten Ertrags, sondern
auch, wie in ihren Schriftsätzen dargelegt, auf dem Wert und der Bedeutung der
Fortführung der Tätigkeiten von EniChem im Rahmen der Holdinggesellschaft ENI
für diese sowie auf anderen Gesichtspunkten, die in Nummer 4 der streitigen
Entscheidung angeführt seien.
- Schriftliche Erklärungen der Beteiligten nach dem Schreiben der Kommission
vom 17. November 1997
- 144.
- In ihren schriftlichen Erklärungen vom 19. Januar 1998 weist die Klägerin darauf
hin, daß die Kommission nicht erläutert habe, daß die Tabelle QI/1 unzutreffend
auf den 1. Juli 1994 datiert worden sei. Da jedoch die Tabelle QI/1 zwar fehlerhaft,
aber doch eher mit der Begründung in Nummer 4 der streitigen Entscheidung
vereinbar sei als die neue Tabelle A, stelle sie wahrscheinlich die seinerzeit
durchgeführte Arbeit dar, zumal die neue Tabelle A nachträglich angefertigt
worden sei, um die seinerzeit begangenen Fehler anszumerzen. Außerdem weiche
die Tabelle QI/3 in mehrfacher Hinsicht von dem Schriftstück ab, das die
Kommission mit ihren Erklärungen vom 16. Oktober 1997 vorgelegt habe.
- 145.
- Demzufolge hat die Klägerin beantragt, prozeßleitende Maßnahmen anzuordnen,
um festzustellen, wie und wann die Tabellen QI/1, QI/3 und A erstellt worden
seien, und hierzu die Herren Feltkamp, Spagnolli und Owen als Zeugen zu
vernehmen.
- 146.
- In der Sache ist die Klägerin der Auffassung, daß sich die Kommission nicht mehr
auf die Tabelle QI/1 stütze. Die Tabelle A entspreche einer wesentlich
abweichenden Betrachtungsweise, die sich im übrigen weder der streitigen
Entscheidung noch den Schriftsätzen der Kommission entnehmen lasse. Da die
Kommission keine Berechnungen aus ihrer Akte habe vorlegen können, die ihre
Feststellung in der streitigen Entscheidung rechtfertigen könnten, daß der aktuelle
Wert des zukünftigen Cash flow genau 3 000 Milliarden LIT betrage, müsse die
streitige Entscheidung für nichtig erklärt werden.
- 147.
- Die Kommission habe nämlich stillschweigend die Berechtigung der von der
Klägerin in der Verhandlung vom 23. September 1997 vorgetragenen Kritik
anerkannt, daß zum einen der zukünftige Cash flow von EniChem, wie er in Zeile
4 der Tabelle QI/1 erscheine, nicht negativ 34 Milliarden LIT, sondern negativ
3 034 Milliarden LIT betrage, und daß zum anderen der aktuelle Gesamtwert der
Eigenmittel von EniChem in Zeile 5 der Tabelle QI/1 für die Berechnung des
aktuellen Wertes des Cash flow von EniChem unerheblich sei. Tabelle A zeige in
Zeile 4 den richtigen Betrag von negativ 3 034 Milliarden LIT; die alte Zeile 5 sei
zwar in der Tabelle verblieben, werde aber bei der Berechnung der Rendite für
den Kapitalgeber überhaupt nicht berücksichtigt.
- 148.
- Die Kommission habe daher, um auf anderem Wege mehr als 3 034 Milliarden LIT
als aktuellen Wert darstellen zu können, in die Tabelle zwei neue Punkte
aufgenommen, nämlich die Aufnahme „des aktuellen Niveaus der Eigenmittel“ in
die Berechnung und die Festlegung eines Restwerts für EniChem am Ende der
Investitionsdauer. Dieser Weg der Behandlung des Problems sei indessen mit der
streitigen Entscheidung und mit den Schriftsätzen der Kommission unvereinbar.
- 149.
- Auf jeden Fall sei die Verwendung der aktuellen Eigenmittel von EniChem zum
Ausgleich ihrer Verluste bis 1996 in der Tabelle A finanztechnisch abwegig, weil
die Bewertung einer Investition in ein Unternehmen mit der Buchführung desUnternehmens verwechselt werde, die nichts miteinander zu tun hätten. Kein
unabhängiger Sachverständiger werde bestätigen wollen, daß diese Methode ein
allgemein anerkannter Bestandteil der Berechnung des aktuellen Wertes sei. Die
in der Tabelle A verwendete Methode zur Berechnung des Restwerts von EniChem
sei nicht üblich oder traditionell.
- 150.
- Im übrigen weise die Berechnung der Nettoergebnisse in der Tabelle A mehrere
schwere Fehler in Einzelheiten der Berechnungen auf. Auch Tabelle B sei zu
beanstanden, obwohl die Kommission ohnehin eingeräumt habe, daß zur Zeit der
streitigen Entscheidung keine dieser Tabelle entsprechende Analyse durchgeführt
worden sei.
- 151.
- Das Vereinigte Königreich macht in seinen Erklärungen vom 19. Januar 1998
geltend, die streitige Entscheidung sei für nichtig zu erklären, weil keinerlei
Gewißheit bezüglich etwaiger Berechnungen bestehe, die die Kommission
tatsächlich zur Stützung ihres Schlusses durchgeführt hätte, daß diese Kapitalzufuhr
auch von einem marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber vorgenommen
worden wäre.
- 152.
- ENI und EniChem führen in ihren Erklärungen vom 19. Januar 1998 aus, die
Rechtmäßigkeit einer Maßnahme eines Organs müsse aufgrund des
Informationsstands und der tatsächlichen und rechtlichen Lage zum Zeitpunkt ihres
Erlasses beurteilt werden (Urteil des Gerichts vom 22. Januar 1997 in der
Rechtssache T-115/94, Opel Austria/Rat, Slg. 1997, II-39, Randnr. 87). Wenn daher
die Gemeinschaftsorgane ihre Pflicht verletzten, nach Erlaß der streitigen
Entscheidung eine vollständige Akte in ihren Archiven aufzubewahren, oder nach
Aufforderung durch das Gericht Belegstücke im Original nicht vorlegen könnten,
so sei dies kein Grund, diese Entscheidung für nichtig zu erklären. Auf jeden Fall
habe die Kommission in ihrer Stellungnahme vom 11. November 1997 die Situation
bereinigt und eine klare, verläßliche und überzeugende Rekonstruktion der zur Zeit
der streitigen Entscheidung durchgeführten Analyse und angeführten Begründung
geboten. Es wirke sich daher nicht im geringsten auf die Rechtmäßigkeit der
Entscheidung aus, wenn sie nicht in der Lage gewesen sei, dem Gericht bestimmte
Originalstücke vorzulegen, auf die sie sich bei Erlaß der streitigen Entscheidung
gestützt habe.
- 153.
- Insbesondere vermeide die neue Tabelle A die Gefahr einer Doppelrechnung, auf
die ENI in der mündlichen Verhandlung vom 23. September 1997 aufmerksam
gemacht habe. Weil die Verluste der ersten drei Jahre durch das vorhandene
Kapital in Höhe von 1 950 Milliarden LIT ausgeglichen worden seien, hätten sie
nicht mehr von der Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT abgezogen werden
müssen. Im übrigen ergänze Tabelle A die Tabelle QI/1, indem sie einen äußerst
bescheidenen Restwert hinzufüge. Angesichts der Komplexität der aufgeworfenen
Fragen müsse der Kommission ein weites Ermessen bezüglich der Wahl der
Methode und der einzusetzenden Rechenparameter zustehen.
- 154.
- Selbst wenn die Wahl der in Tabelle A verwendeten Methode nicht angezeigt
erscheine, mache das die streitige Entscheidung nicht fehlerhaft, weil die in der
Tabelle B eingesetzte zweite Methode erkennen lasse, daß die Kapitaleinlage nicht
als staatliche Beihilfe zu bewerten sei. Auch andere Methoden bestätigten überdies
die Richtigkeit der Gründe, aus denen die Kommission die streitige Entscheidung
erlassen habe, weil sie ebenfalls belegten, daß die Kapitaleinlage keine Beihilfe
gewesen sei. ENI und EniChem legen dem Gericht Berechnungen vor, die auf der
in der Tabelle B verwendeten Methode der Aktualisierung des Cash flow beruhen,
aber von Grundannahmen ausgehen, die von denen in dieser Tabelle
vorausgesetzten leicht abweichen. Diese Berechnungen sollen zeigen, daß die dritte
Kapitaleinlage eine spürbare Rendite bringe.
- Mündliche Verhandlung vom 17. März 1998
- 155.
- In der Verhandlung vom 17. März 1998 hat die Kommission dem Gericht
mitgeteilt, daß das in der Anlage zu ihrem Schreiben vom 16. Oktober 1997 als
Originalfassung der zur Zeit der streitigen Entscheidung existierenden Tabelle QI/3
vorgelegte Schriftstück möglicherweise nicht das Original sei. Dies beeinträchtige
allerdings nicht die Angemessenheit des Satzes von 12 %, den sie bei ihren
Berechnungen verwendet habe.
- 156.
- In der Sache hat die Kommission insbesondere unterstrichen, daß der Hinweis auf
den zukünftigen Cash flow in Nummer 4 der streitigen Entscheidung im Sinne der
Nummer 35 der Mitteilung über öffentliche Unternehmen zu verstehen sei, wo es
heiße, daß „der zukünftige Cash flow dem Investor auf dem Wege der
Dividendenzahlung und der Kapitalzuwächse“ erwachsen könne. Da bei der
alternativen Entscheidung für eine Liquidation von EniChem die vorhandenen
Aktiva durch die Liquidationskosten aufgebraucht worden wären, seien die
betreffenden 1 950 Milliarden LIT als Kapitalzuwächse im Sinne dieser Mitteilung
zu behandeln. Der Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers
fordere, daß der Wert in Höhe von 1 950 Milliarden LIT berücksichtigt werde, weil
die Kapitaleinlage die Erhaltung dieses Wertes für die Zukunft ermögliche,
während bei der Alternative der Liquidation dieser Wert verlorengehe. Selbst wenn
dieser Teil der Berechnung in der streitigen Entscheidung nicht ausdrücklich
wiedergegeben sei, entspreche es ständiger Rechtsprechung, daß die gewählte
Begründung nicht in allen Einzelheiten ausgebreitet werden müsse.
- 157.
- Auch wenn der Restwert in der streitigen Entscheidung ebenfalls nicht ausdrücklich
erwähnt werde, sei es doch üblich, ihn im Rahmen einer Analyse wie im
vorliegenden Fall zu berechnen, wie dies übrigens verschiedenen von den
Beteiligten angeführten Werken zu entnehmen sei. Da es mindestens vier
Methoden für die Errechnung des Restwerts gebe, habe sie mit der Verwendung
einer dieser Methoden keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, auch
wenn die Klägerin eine andere vorschlage.
- 158.
- Außerdem sei in Nummer 4 der streitigen Entscheidung ausgeführt, daß ab 1998
der Gewinn nach dem Umstrukturierungsplan seine volle Höhe erreichen und dann
etwas über der Mindestverzinsung liegen werde, die ein privater Geldgeber erwarte.
Allein wegen dieses einen Satzes sei die streitige Entscheidung im Sinne des Urteils
ENI-Lanerossi gerechtfertigt. Außerdem hätten die langfristige Strategie von ENI,
ihre geplante Privatisierung und die Synergieeffekte innerhalb des Konzerns
berücksichtigt werden müssen. Sonst dürften Ereignisse nach Erlaß der streitigen
Entscheidung zumindest berücksichtigt werden, um den Nachweis zu führen, daß
die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe (Urteile
des Gerichtshofes vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 234/84,
Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2263, Randnr. 12; nachstehend: Urteil Meura, und
vom 24. Oktober 1996 in den Rechtssachen C-329/93, C-62/95 und C-63/95,
Deutschland u. a./Kommission, Slg. 1996, I-5151, Randnr. 34; nachstehend: Urteil
Bremer Vulkan).
- 159.
- Schließlich ersucht die Kommission das Gericht, bei der Entscheidung in der
vorliegenden Rechtssache die Tabelle A und nicht die Tabelle QI/1 heranzuziehen.
Die seinerzeit vor Erlaß der streitigen Entscheidung angestellte Berechnung sei in
Tabelle A mit vorhandenen Eigenmitteln und Restwert dargestellt, nicht aber in
Zeile 5 der Tabelle QI/1.
II - Würdigung durch das Gericht
- 160.
- In Nummer 4 der streitigen Entscheidung hat die Kommission festgestellt, daß die
dritte Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT keine staatliche Beihilfe im Sinne
des Artikels 92 Absatz 1 des Vertrages sei, weil dies eine Entscheidung sei, dieauch ein privater, marktwirtschaftlich denkender Kapitalgeber getroffen hätte.
- 161.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist der Grundsatz, daß eine
Kapitaleinlage nicht als Beihilfe im Sinne des Artikels 92 Absatz 1 des Vertrages
angesehen werden kann, wenn ein privater, marktwirtschaftlich handelnder
Kapitalgeber eine solche Einlage ebenfalls vorgenommen hätte, ein maßgebendes
Kriterium, mit dem sichergestellt werden soll, daß eine Kapitalzuweisung nicht
deshalb, weil sie von der öffentlichen Hand stammt, als Beihilfe angesehen wird
(Urteile des Gerichtshofes Meura, Randnrn. 9 bis 18, Boussac, Randnrn. 38 und
39, vom 21. März 1990 in der Rechtssache C-142/87, Belgien/Kommission, Slg.
1990, I-959, Randnrn. 23 bis 29; nachstehend: Urteil Tubemeuse, Alfa Romeo,
a. a. O., Randnrn. 17 bis 24, ENI-Lanerossi, Randnrn. 16 bis 24; Hytasa, Randnrn.
16 bis 24, und Bremer Vulkan, Randnrn. 23 bis 26).
- 162.
- Aus der Schlußfolgerung, zu der die Kommission bezüglich der dritten
Kapitaleinlage gelangt ist, ergibt sich, daß die Kontrollregelung für staatliche
Beihilfen nach den Artikeln 92 bis 94 des Vertrages auf diese Einlage nicht
anwendbar ist, mit der Folge, daß sie nicht unter dem Blickwinkel ihrer
Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt nach Artikel 92 Absätze 2 und 3 des
Vertrages geprüft wurde. Es wurden nämlich unter dem Blickwinkel ihrerVereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt lediglich die ersten beiden Einlagen
geprüft, die bei einer Gesamtsumme von 4 794 Milliarden LIT für die drei Einlagen
einem Betrag von 1 794 Milliarden LIT entsprechen.
- 163.
- Unter den gegebenen Umständen ist nach Auffassung des Gerichts zunächst der
dritte Klagegrund zu prüfen, mit dem die Klägerin eine Verletzung des Artikels 93
Absatz 2 des Vertrages geltend macht, weil das in dieser Vorschrift vorgesehene
Verfahren nicht bezüglich der dritten Kapitaleinlage eingeleitet worden sei.
Zum Klagegrund einer Verletzung des Artikels 93 Absatz 2 des Vertrages durch
Nichteinleitung des Verfahrens nach dieser Vorschrift bezüglich der dritten
Kapitaleinlage
- 164.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist das Verfahren nach Artikel 93
Absatz 2 des Vertrages unerläßlich, sobald die Kommission bei der Prüfung der
Frage, ob ein Beihilfevorhaben mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, auf
ernste Schwierigkeiten stößt. Die Kommission darf sich also für den Erlaß einer
positiven Entscheidung über ein Beihilfevorhaben nur dann auf die
Vorprüfungsphase des Artikels 93 Absatz 3 des Vertrages beschränken, wenn sie
nach einer ersten Prüfung die Überzeugung gewinnt, daß dieses Vorhaben
vertragskonform ist. Ist die Kommission aufgrund dieser ersten Prüfung jedoch zu
der gegenteiligen Überzeugung gelangt oder hat sie nicht alle Schwierigkeiten
hinsichtlich der Vereinbarkeit dieses Vorhabens mit dem Gemeinsamen Markt
ausräumen können, so ist sie verpflichtet, alle erforderlichen Stellungnahmen
einzuholen und zu diesem Zweck das Verfahren des Artikels 93 Absatz 2
einzuleiten (vgl. insbesondere Urteile des Gerichtshofes vom 20. März 1984,
Deutschland/Kommission, Randnr. 13, Cook/Kommission, Randnr. 29,
Matra/Kommission, Randnr. 33, und vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und
Brink's France, Randnr. 39).
- 165.
- Der Grundsatz, daß die Personen, denen die Verfahrensgarantien des Artikels 93
Absatz 2 des Vertrages zugute kommen, deren Beachtung nur durchsetzen können,
wenn sie die Möglichkeit haben, die Entscheidung der Kommission, dieses
Verfahren nicht einzuleiten, vor dem Gemeinschaftsrichter anzufechten, gilt auch
für den Fall, daß nach Auffassung der Kommission überhaupt keine Beihilfe
vorliegt (Urteil Kommission/Sytraval und Brink's France, Randnr. 47).
- 166.
- Nach Ansicht des Gerichts kann die Kommission aufgrund dieser Rechtsprechung,
insbesondere des Urteils Kommission/Sytraval und Brink's France, verpflichtet sein,
das Verfahren des Artikels 93 Absatz 2 des Vertrages einzuleiten, wenn sie bei
einer ersten Prüfung nicht alle Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage ausräumen
konnte, ob das betreffende Vorhaben eine Beihilfe im Sinne des Artikels 92 Absatz
1 des Vertrages darstellt; dies gilt zumindest dann, wenn sie bei dieser ersten
Prüfung nicht die Überzeugung gewinnen konnte, daß das betreffende Vorhaben,wenn es schon eine Beihilfe sein sollte, auf jeden Fall mit dem Gemeinsamen
Markt vereinbar ist.
- 167.
- Im vorliegenden Fall geht es um eine Aufeinanderfolge von drei Kapitalzufuhren
in Höhe von jeweils 1 000 Milliarden LIT, 794 Milliarden LIT und 3 000
Milliarden LIT, die ein öffentliches Unternehmen (ENI) während eines Zeitraums
von zwei Jahren bei einer seiner Tochtergesellschaften (EniChem) vorgenommen
hat. Nach der streitigen Entscheidung stellen die ersten beiden Kapitaleinlagen
Beihilfen dar, während die dritte als Investition betrachtet wird, die auch ein
privater Kapitalgeber vorgenommen hätte.
- 168.
- Es steht fest, daß sich die Schlußfolgerung der Kommission, auch ein privater
Kapitalgeber hätte diese dritte Kapitaleinlage vorgenommen, im wesentlichen auf
folgende Feststellung in Nummer 4 der streitigen Entscheidung stützt:
„Für die letzten 3 000 Milliarden LIT, die dem Unternehmen zugeführt wurden,
erreicht der Gegenwartswert des künftigen Cash flows über die betriebsgewöhnliche
Nutzungsdauer der neuen Anlagen genau 3 000 Milliarden LIT.“
- 169.
- Es ist daher zu prüfen, ob die Wertungen, auf die sich die Kommission im
vorliegenden Fall gestützt hat, ernste Schwierigkeiten aufwarfen, die geeignet
waren, die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages zu
rechtfertigen (Urteil Matra, Randnr. 34). Als ernste Schwierigkeiten, auf die die
Kommission gestoßen sei, führt die Klägerin zwei Fragen an, nämlich i) ob die
erwartete Rendite der dritten Kapitaleinlage unabhängig von der Rendite der bei
den ersten beiden Einlagen erwarteten zu prüfen sei, und ii) ob der aktuelle Wert
des künftigen Cash flow einen privaten Kapitalgeber zu dieser Einlage bewogen
hätte.
- 170.
- Was die erste Frage angeht, so schließt zwar der Umstand, daß ein öffentliches
Unternehmen seiner Tochtergesellschaft bereits als „Beihilfe“ einzustufende
Kapitaleinlagen hat zugute kommen lassen, nicht a priori die Möglichkeit aus, daß
eine spätere Kapitaleinlage das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden
Kapitalgebers erfüllt. Nach Auffassung des Gerichts hätte jedoch die Kommission
in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es um drei Kapitaleinlagen des
gleichen Kapitalgebers während eines Zeitraums von zwei Jahren geht, von denen
die ersten beiden keine Rendite erwirtschaftet hatten, prüfen müssen, ob die dritte
Einlage vernünftigerweise von den beiden anderen getrennt und im Hinblick auf
das Kriterium des privaten Kapitalgebers als eigenständige Investition gesehen
werden konnte.
- 171.
- Zu den maßgeblichen Gesichtspunkten einer Prüfung, ob die dritte Kapitaleinlage
im vorliegenden Fall von den beiden anderen getrennt und im Hinblick auf das
Kriterium des privaten Kapitalgebers als eigenständige Investition gesehen werden
konnte, gehören nach Ansicht des Gerichts insbesondere die zeitliche Abfolge der
Kapitaleinlagen, ihr Zweck und die Lage der Tochtergesellschaft zu der Zeit, alsdie Entscheidungen für die Vornahme jeder dieser Kapitaleinlagen getroffen
wurden.
- 172.
- Die zeitliche Abfolge dieser drei Kapitalzuführungen ist nach Aktenlage folgende:
i) Die erste Kapitaleinlage von 1 000 Milliarden LIT erfolgte am 1. Oktober 1992.
ii) Die zweite Kapitaleinlage von 794 Milliarden LIT wurde von ENI auf einer
Sitzung vom 2. Dezember 1993 beschlossen (vgl. Schreiben von ENI vom 23.
Dezember 1993 an die italienische Regierung, Anlage 21 zum Streithilfeschriftsatz
von ENI und EniChem) und im Dezember 1993 durchgeführt.
iii) Auf derselben Sitzung vom 2. Dezember 1993 prüfte der Verwaltungsrat von
ENI den Entwurf eines Umstrukturierungsplans für EniChem, dessen Grundzüge
bereits am 20. Oktober 1993 festgelegt worden waren. Dieser Plan sah u. a. „die
Rückgewinnung der Gleichgewichtslage der Finanzstruktur“ durch
„Stützungsmaßnahmen ... des Aktionärs“ vor (vgl. Schreiben von ENI vom 23.
Dezember 1993 an die italienische Regierung, Anlage 21 zum Streithilfeschriftsatz
von ENI und EniChem). Es wurde vermerkt, daß „die Einzelheiten des Planes ...
kurz vor dem Abschluß [stehen], so daß wir ihn der Kommission Anfang 1994
vorstellen können“.
iv) Der Umstrukturierungsplan 1994 bis 1997 wurde vom Verwaltungsrat von ENI
am 27. Januar 1994 gebilligt. In Nummer 2.2 dieses Planes heißt es:
„Der Einschuß der Aktionäre zum Kapitalkonto wird mit 3 000 Milliarden LIT
angesetzt; dies ist ein angemessener Betrag, um das Kapital von EniChem nahezu
wieder auf das Niveau der Gründungsurkunde (4 250 Milliarden LIT) zu bringen,
das infolge nicht gedeckter Verluste verringert worden ist. Die Durchführung der
Kapitalerhöhung ist für Juni 1994 vorgesehen.“
v) Laut italienischer Regierung wurde die Kommission über ihre Absicht, die dritte
Kapitalzufuhr durchzuführen, im Februar 1994 im Rahmen der Vereinbarung
Andreatta-Van Miert über die Umstrukturierung bestimmter italienischer
Unternehmen informiert.
vi) Der Umstrukturierungsplan wurde der GD IV der Kommission auf einer
Sitzung vom 15. April 1994 vorgestellt und mit Schreiben der italienischen
Regierung vom 18. Mai 1994 formell notifiziert.
vii) Mit Schreiben vom 6. Juni 1994 bestätigte die italienische Regierung der
Kommission, daß der Umstrukturierungsplan für EniChem nicht nur die
Kapitaleinlagen beträfen, die Gegenstand der durch Schreiben der Kommission
vom 16. März 1994 eingeleiteten Untersuchung seien, sondern auch die dritte
Kapitaleinlage. Sie wies außerdem darauf hin, daß ihre Erklärungen vom 18. Mai1994 ebenfalls alle Maßnahmen bezüglich des Kapitals von EniChem einschließlich
der dritten Kapitaleinlage beträfen.
viii) Laut ENI wurde die dritte Kapitaleinlage auf der Hauptversammlung der
Aktionäre von EniChem am 29. Juni 1994 formell genehmigt und binnen drei
Monaten nach Erlaß der streitigen Entscheidung vom 27. Juli 1994 durchgeführt.
- 173.
- Zum Zweck dieser drei Kapitaleinlagen wird in der streitigen Entscheidung
ausgeführt, daß die ersten beiden Kapitaleinlagen zur Deckung der Verluste aus
den dort angegebenen Umstrukturierungsmaßnahmen, insbesondere aus der
Schließung von Anlagen oder ganzen Betrieben, bestimmt waren. Nach Darstellung
von ENI und EniChem sollten die ersten beiden Kapitaleinlagen auch das Kapital
von EniChem wieder auf das Niveau bringen, das ursprünglich in der Übereinkunft
zwischen ENI und der Montedison SpA von 1989 vorgesehen war (vgl. oben,
Randnr. 120). Bezüglich der dritten Kapitaleinlage ergebe sich aus dem
Umstrukturierungsplan, daß diese auch das durch Verluste aufgebrauchte Kapital
von EniChem auf das Niveau ihrer Gründung zurückbringen und
Umstrukturierungsmaßnahmen finanzieren sollte (vgl. oben, Randnr. 172 unter iv).
- 174.
- Nach den Schriftsätzen der Kommission und der italienischen Regierung ist jede
der drei Kapitaleinlagen im Rahmen einer umfassenden Maßnahme zur
Umstrukturierung der öffentlichen italienischen Unternehmen durchgeführt worden,
der mit der Kommission im Rahmen der Sache EFIM, a. a. O., erörtert wurde und
zu der Vereinbarung Andreatta-Van Miert führte. Der allgemeine Standpunkt der
italienischen Regierung zu Umstrukturierung und Privatisierung von EniChem ist
in zwei Dokumenten dargestellt worden, die die italienischen Behörden im
November 1992 und April 1993 veröffentlicht haben. Insoweit hat die Kommission
vor dem Gericht insbesondere erklärt, daß die durch die ersten beiden
Kapitaleinlagen finanzierten Umstrukturierungsmaßnahmen einer kohärenten
Richtung gefolgt seien, die in dem der Kommission 1994 unterbreiteten
Umstrukturierungsplan im Detail Ausdruck gefunden habe, der überdies selbst die
noch notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen erwähnt habe, um die
Tätigkeiten von EniChem zu verringern oder neu zu orientieren. Die dritte
Kapitaleinlage sei nun gerade im Rahmen dieses Umstrukturierungsplans
durchgeführt worden.
- 175.
- Diese Einschätzung der Kommission wird durch das Schreiben der italienischen
Regierung vom 6. Juni 1994 bestätigt, wonach der Umstrukturierungsplan für
EniChem sowie die Erklärungen der italienischen Regierung vom 18. Mai 1994
nicht nur die ersten beiden Kapitaleinlagen betrafen, sondern auch die dritte.
- 176.
- Was schließlich die Situation von EniChem zur Zeit der drei Kapitaleinlagen
betrifft, so ergibt sich aus ihren Jahresberichten, daß ihre Gesamtverluste für das
am 31. Dezember 1992 beendete Jahr 1 542 Milliarden LIT und für das am 31.
Dezember 1993 zu Ende gegangene Jahr 2 677 Milliarden LIT betrugen. Auch
nach den optimistischsten Vorhersagen von ENI sollten die Verluste für die vierJahre 1994 bis 1997 selbst nach der dritten Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT
und den sie begleitenden Umstrukturierungsmaßnahmen immer noch 2 452
Milliarden LIT betragen (vgl. „Analisi di Sensitività [Ipotesi Migliorative di
Scenario]“ vom 13. April 1994). Mithin beliefen sich selbst nach den drei
Kapitaleinlagen von insgesamt 4 794 Milliarden LIT die aktuellen und die für die
sechs Jahre 1992 bis 1997 erwarteten Verluste von EniChem auf 6 671
Milliarden LIT.
- 177.
- Nach den Schriftsätzen der Kommission hatte EniChem nach den ersten beiden
Kapitaleinlagen keine andere Alternative als den Konkurs. Die Kommission führt
aus, daß „zum Zeitpunkt der dritten Kapitaleinlage sich ENI, der Aktionär von
EniChem, an einem Scheideweg befand: entweder neues Kapital zuzuführen und
umzustrukturieren oder aber nichts zu tun und das Unternehmen in Konkurs gehen
zu lassen“ (Klagebeantwortung, A.1.4), und ferner, daß „ohne die dritte
Kapitalzufuhr und die anschließende Umstrukturierung die Verluste von EniChem
zu dieser Zeit die Eigenmittel binnen ein oder zwei Jahren aufgebraucht und damitneue Kapitalzufuhren oder aber die Liquidation des Unternehmens notwendig
gemacht hätten“ (Gegenerwiderung, D.15).
- 178.
- Aus dem Vorstehenden ergibt sich folgendes:
- Der Verwaltungsrat von ENI hat die Durchführung jeder der drei Kapitaleinlagen
während eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums von Oktober 1992 bis Juli 1994
beschlossen. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, daß der Beschluß des
Verwaltungsrats von ENI, die zweite Kapitaleinlage im Dezember 1993
vorzunehmen, und der Beschluß zur Genehmigung der dritten Kapitaleinlage im
Rahmen des Umstrukturierungsplans vom 27. Januar 1994 zeitlich eng beieinander
liegen.
- Jede der drei Kapitaleinlagen ist Teil eines fortlaufenden Programms zur
Umstrukturierung von EniChem, insbesondere zur Beendigung oder
Neuorientierung bestimmter ihrer Tätigkeiten, sowie zur Wiederauffüllung ihres
durch Verluste geminderten Kapitals. Die dritte Kapitaleinlage war, wie die
Kommission vor dem Gericht geltend gemacht hat, die logische Fortsetzung der
durch die ersten beiden Einlagen finanzierten Maßnahmen, und der am 27. Januar
1994 genehmigte Umstrukturierungsplan stellte lediglich die Durchführung von
Umstrukturierungsmaßnahmen dar, die im Rahmen eines 1992 aufgelegten
Programms noch erforderlich waren. Nach dem Schreiben der italienischen
Regierung, Aktionär von ENI, vom 6. Juni 1994 betrafen der
Umstrukturierungsplan sowie ihr Schreiben vom 18. Mai 1994 sowohl die ersten
beiden Kapitaleinlagen als auch die dritte.
- Selbst nach den beiden Kapitaleinlagen mußte EniChem weiterhin schwere
Verluste hinnehmen. Laut Kommission konnte sie allein aufgrund der ersten beidenKapitaleinlagen auf dem Markt nicht überleben und wäre ihre Liquidation ohne die
dritte Kapitalzufuhr unvermeidlich gewesen (vgl. oben, Randnr. 177).
- 179.
- Nach Auffassung des Gerichts bestanden demgemäß seinerzeit ernsthafte Indizien,
die Zweifel bezüglich der Frage aufkommen lassen mußten, ob die drei
Kapitaleinlagen, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb relativ
kurzer Zeit von Oktober 1992 bis Oktober 1994 erfolgt waren, nicht in Wirklichkeit
als eine Reihe zusammengehörender Einlagen zu betrachten waren, die im
Rahmen eines 1992 begonnenen und fortgeführten Umstrukturierungsverfahrens
vorgenommen wurden und deren gemeinsames Ziel die Finanzierung der
notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen und die Wiederherstellung des durch
Verluste verringerten Kapitals von EniChem war. Die genannten Umstände hätten
auch Zweifel daran entstehen lassen müssen, ob der Umstrukturierungsplan nur
dank dieser als ein Ganzes betrachteten drei Kapitaleinlagen überhaupt Chancen
hatte, die Lebensfähigkeit von EniChem wiederherzustellen.
- 180.
- Unter Umständen, wie sie für den vorliegenden Fall kennzeichnend waren, hätten
der Kommission nach Meinung des Gerichts Zweifel kommen müssen, ob die dritte
Kapitalzuführung so eigenständig gegenüber den beiden anderen Einlagen war, daß
sie sie unabhängig von diesen beiden prüfen durfte. Die Kommission war daher
nicht in der Lage, zu beurteilen, ob der Beschluß von ENI, diese dritte
Kapitaleinlage vorzunehmen, als eine Entscheidung betrachtet werden konnte, die
auch ein marktwirtschaftlich denkender Kapitalgeber getroffen hätte.
- 181.
- Selbst wenn anzunehmen wäre, daß die dritte Kapitaleinlage unabhängig von den
beiden anderen hätte beurteilt werden dürfen, ist noch die weitere Frage zu
beantworten, ob der aktuelle Wert des künftigen Cash flow einen privaten
Kapitalgeber bewogen hätte, eine solche Einlage vorzunehmen. Insoweit weist das
Gericht zunächst darauf hin, daß die Kommission mit ihrer Stellungnahme vom 30.
Juni 1997 eine Berechnung des aktuellen Wertes des künftigen Cash flow von
EniChem vorgelegt hat, die in der Tabelle QI/1 vom 1. Juli 1994 zusammengefaßt
ist. Die mit einem Satz von 12 % verzinsten Gesamtgewinne (oder -verluste) von
EniChem für den Zeitraum von August 1994 bis 2005 sind in Zeile 4 der Tabelle
QI/1 mit einem Negativbetrag von 34 Milliarden LIT angegeben. Der Kommission
zufolge ist der aktuelle Nettowert des Cash flow von EniChem in Zeile 5 dieser
Tabelle unter der Überschrift „Kumulierter Wert der Eigenmittel“ („Cumulated
equity value“) mit 2 966 Milliarden LIT angegeben. Diese Auslegung der Tabelle
QI/1 ist in der Verhandlung vom 23. September 1997 von dem für ihre Erstellung
verantwortlichen Beamten, Herrn Spagnolli, bestätigt worden.
- 182.
- In ihrem Schreiben vom 26. September 1997, mit dem die Kommission dem
Gericht mitgeteilt hat, daß die Tabelle QI/1, obwohl sie das Datum des 1. Juli 1994
trage, nicht vor Erlaß der streitigen Entscheidung angefertigt worden, sondern nur
eine Rekonstruktion der seinerzeit von Herrn Spagnolli durchgeführten
Berechnungen sei, hat sie bekräftigt, daß Berechnungen dieser Art tatsächlich als
Grundlage für die streitige Entscheidung gedient hätten. In ihrem Schreiben vom16. Oktober 1997 hat die Kommission insbesondere erklärt, sie bleibe „ohne
Abstriche dabei, daß die dem Gericht dargestellten Methoden der Berechnung des
Ertrags der Kapitaleinlage und des aktuellen Nettowerts des künftigen Cash flow
mit denen [übereinstimmen], die eingesetzt [wurden], um zu der Entscheidung der
Kommission zu gelangen, [daß] diese Methoden zu den aus der Entscheidung
ersichtlichen und dem Gericht erläuterten Ergebnissen geführt [haben],
einschließlich der Ergebnisse in der Tabelle QI/1, deren Original sich nicht mehr
bei den Akten [befindet], und [daß] dieser Sachverhalt von Herrn Spagnolli und
Herrn Feltkamp bestätigt werden [kann], die beide an der Verhandlung vom 23.
September 1997 teilgenommen haben“.
- 183.
- In der Folge hat die Kommission mit einer Stellungnahme vom 11. November 1997
auf eine neue Frage des Gerichts vom 13. Oktober 1997 geantwortet und neue
Berechnungen des aktuellen Nettowerts des Cash flow von EniChem vorgelegt.
Diese Berechnungen sind insbesondere in Tabelle A zusammengefaßt, die
gegenüber der Tabelle QI/1 vier maßgebliche Unterschiede aufweist.
- 184.
- Erstens sind die verzinsten Gesamtgewinne (oder -verluste) von EniChem für den
Zeitraum 1994 bis 2005 in Zeile 4 der Tabelle A anders als in Zeile 4 der Tabelle
QI/1, in der sich ein Negativbetrag von 34 Milliarden LIT findet, mit einem
Negativbetrag von 3 034 Milliarden LIT angegeben.
- 185.
- Zweitens wird dieser Verlust von 3 034 Milliarden LIT in Tabelle A teilweise durch
einen Restwert von EniChem im Jahre 2005 in Höhe von 1 531 Milliarden LIT
ausgeglichen (vgl. die neue Spalte „Restwert“). Diese Berechnung ist nicht in der
Tabelle QI/1 enthalten.
- 186.
- Drittens wird der Gesamtverlust von EniChem in Höhe von 3 034 Milliarden LIT
in der Zeit bis 2005 ebenfalls zum Teil durch den Wert von Eigenmitteln von
EniChem im Juli 1994 ausgeglichen. Der neuen Zeile 6 der Tabelle A (Eigenmittel
am 30.7.1994, „existing equity at 31/7/94“) ist zu entnehmen, daß diese Eigenmittel
in Höhe von 1 950 Milliarden LIT verwendet wurden, um die in Zeile 3 der
Tabelle QI/1 und der Tabelle A ausgewiesenen Verluste von EniChem für die
Jahre 1994 bis 1996 in Höhe von 1 514 Milliarden LIT auszugleichen. Diese
Berechnung findet sich nicht in der Tabelle QI/1, die diesen Eigenmitteln keine
Beachtung schenkt (vgl. Fußnote 5 der Tabelle QI/1).
- 187.
- Viertens spielt die Berechnung des Gesamtwerts der Eigenmittel in Zeile 5 der
Tabelle QI/1, die nach der Stellungnahme der Kommission vom 30. Juni 1997 den
aktuellen Nettowert des Cash flow von EniChem darstellen soll, auf den sich
Absatz 4 der streitigen Entscheidung bezieht, bei den Berechnungen der Tabelle
A keine Rolle mehr.
- 188.
- Außerdem ergibt sich aus dem Schreiben der Kommission vom 11. November 1997
und aus ihren Erklärungen in der Verhandlung vom 17. März 1998, daß sie ihreBerechnungen in Tabelle QI/1 für fehlerhaft hielt und sie daher fallenließ, während
nach ihren Erklärungen vom 30. Juni 1997, in der Verhandlung vom 23. September
1997 und in ihren Schreiben vom 26. September und 16. Oktober 1997 diese
Berechnungen diejenigen sein sollen, die ihr seinerzeit in der streitigen
Entscheidung als Grundlage für ihre Schlußfolgerung bezüglich des Verhaltens
eines privaten Kapitalgebers gedient haben.
- 189.
- Was die Behauptung der Kommission in ihrer Stellungnahme vom 11. November
1997 anbelangt, nicht die Berechnungen der Tabelle QI/1, sondern die der Tabelle
A hätten der streitigen Entscheidung zugrunde gelegen, so vermag das Gericht in
den Schriftsätzen der Kommission keinerlei Anhaltspunkt für den in der Tabelle
A verwendeten Ansatz zu entdecken. Das Gericht weist insbesondere darauf hin,
daß nach der Tabelle A die Rentabilität der Investition u. a. von der
Berücksichtigung des Betrages von 1 950 Milliarden LIT zwecks Ausgleichs der
Verluste von EniChem im Zeitraum von 1994 bis 1997 abhängt, der nach der
Tabelle A den damaligen Wert der Eigenmittel von EniChem darstellen sollte.
Entgegen dieser Betrachtungsweise hat indessen die Kommission in den Nummern
17 bis 19 ihrer Klagebeantwortung erklärt, für die Zwecke ihrer Berechnung sei die
Annahme angezeigt, „daß die bestehende Investition von ENI bei EniChem im Juli
1994 bereits auf Null [stand]“. Diese Annahme lag auch der Tabelle QI/1 zugrunde,
wie deren Zeile 5 erweist. Außerdem ist der Denkansatz der Tabelle A weder in
der Stellungnahme der Kommission vom 30. Juni 1997 noch in der Verhandlung
vom 23. September 1997 von dem Beamten erwähnt worden, der seinerzeit für
diese Berechnungen zuständig war.
- 190.
- Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß die Tabelle A der Kommission zufolge
lediglich auf den „Erinnerungen“ der betroffenen Beamten, d. h. der Herren
Spagnolli, Feltkamp und Owen, aufbaut. Die Tabelle A läßt sich indessen nicht mit
den Erklärungen von Herrn Spagnolli in der Verhandlung vom 23. September 1997
vor dem Gericht vereinbaren. Im übrigen hatte die Kommission bereits in ihrem
Schreiben vom 16. Oktober 1997 versichert, daß sich weder Herr Feltkamp noch
Herr Owen an den genauen Inhalt der bei der Vorbereitung der Entscheidung
benutzten Tabellen erinnern könnten. Außerdem hat die Kommission in Nummer
8 ihrer Stellungnahme vom 11. November 1997 bestätigt, daß sich niemand mehr
an die genaue Berechnung des in die Tabelle A aufgenommenen Restwerts von
EniChem erinnern könne.
- 191.
- Somit hat die Kommission nicht schlüssig dargelegt, daß die in der Tabelle A
wiedergegebenen Berechnungen tatsächlich erarbeitet worden sind, um die streitige
Entscheidung erlassen und die Schlußfolgerung rechtfertigen zu können, daß der
aktuelle Nettowert des künftigen Cash flow auch einen privaten, marktwirtschaftlich
handelnden Kapitalgeber zu der dritten Kapitaleinlage bewogen hätte. Außerdem
steht fest, daß sich die Kommission nicht mehr auf die Zahlen der Tabelle QI/1
beruft und daß weder die Berechnungen der Tabelle B noch die von ENI und
EniChem herangezogenen beim Erlaß der streitigen Entscheidung zugrunde gelegt
worden sind.
- 192.
- Das Gericht ist daher außerstande, festzustellen, welche Berechnungen die
Kommission seinerzeit durchgeführt hat, um ihre Schlußfolgerung abzusichern, daß
auch ein privater Kapitalgeber die dritte Kapitaleinlage vorgenommen hätte.
- 193.
- Das Gericht steht demgemäß auf dem Standpunkt, daß der Umstand, daß die
Kommission während des Verfahrens widersprüchliche Berechnungen vorgelegt hat,
ohne schlüssig darlegen zu können, welche Berechnungen sie seinerzeit
durchgeführt hat, um bezüglich der dritten Kapitaleinlage bereits in der
Vorprüfungsphase zu dem Schluß zu gelangen, daß der „aktuelle Nettowert des
zukünftigen Cash flow genau der Investition von 3 000 Milliarden LIT [entspricht]“
und es sich mithin um eine Kapitalzuführung handele, „die auch von einem
marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber vorgenommen worden [wäre]“, im
vorliegenden Fall die ernsten Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage
belegt, ob nicht diese Kapitaleinlage wie die ersten beiden Einlagen auch eine
staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages darstellte.
- 194.
- Diese Feststellung wird nicht durch das Vorbringen von ENI und EniChem
entkräftet, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil ENI-Lanerossi,
Randnr. 21) die Feststellung in der streitigen Entscheidung, daß diese letzte
Kapitaleinlage von 3 000 Milliarden LIT auch von einem marktwirtschaftlich
denkenden Kapitalgeber vorgenommen worden wäre, neben ihrer Rentabilität auch
durch die besonderen Erwägungen von Muttergesellschaften eines Konzerns
gerechtfertigt werden könnten, die in ihre Tochtergesellschaften investierten.
Insoweit genügt die Feststellung, daß sich die Kommission, wie sie selbst einräumt
(vgl. oben, Randnr. 107), in ihrer Entscheidung nicht auf solche Erwägungen
gestützt hat, um den Beihilfecharakter der dritten Kapitaleinlage auszuschließen,
da sie keinerlei Zweifel an der Rentabilität dieser Einlage haben zu müssen
glaubte.
- 195.
- Das gleiche gilt für das Vorbringen der Kommission in der Verhandlung vom 17.
März 1998, daß ein privater Kapitalgeber die dritte Kapitaleinlage allein auf der
Grundlage des Absatzes 4 Satz 2 vorgenommen hätte, wo es heißt: „Ab 1998 würde
der Gewinn seine volle Höhe erreichen und dann etwas über der
Mindestverzinsung liegen, die ein privater Geldgeber erwartet.“ Es ist nämlich
erneut darauf hinzuweisen, daß dieser Feststellung in der streitigen Entscheidung
gegenüber der Berechnung, auf die sich Absatz 4 Satz 3 bezieht, nur nachrangige
Bedeutung zukommt. Außerdem werden hier nicht die Verluste von EniChem in
den Jahren 1994 bis 1997 berücksichtigt, die sich auf mehr als 2 400 Milliarden LIT
belaufen (vgl. oben, Randnr. 176).
- 196.
- Wenn die Italienische Republik, ENI und EniChem vorbringen, daß die dreiKapitaleinlagen auf jeden Fall nicht im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des
Vertrages vom Staat vorgenommen oder mit staatlichen Mitteln bewirkt worden
seien, so genügt hierzu die Feststellung, daß die Kommission dies in der streitigen
Entscheidung nicht zugrunde gelegt hat. Im Rahmen der vom Gerichtvorzunehmenden Rechtmäßigkeitskontrolle kann dies daher nicht geltend gemacht
werden.
- 197.
- Nach alledem war die Kommission bei der ersten Untersuchung gemäß Artikel 93
Absatz 3 des Vertrages nicht imstande, alle Schwierigkeiten auszuräumen, die mit
der Frage verbunden waren, ob die dritte Kapitaleinlage eine Beihilfe im Sinne von
Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages darstellte.
- 198.
- Im übrigen weist das Gericht darauf hin, daß das Verfahren nach Artikel 93 Absatz
2 des Vertrages bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen, die als staatliche
Beihilfen angesehen worden waren, bereits im Gange war. Die ernsten Zweifel, die
die Kommission bezüglich der dritten Kapitaleinlage hätte hegen müssen, betreffen
nämlich gerade die Frage, ob diese zusammen mit den ersten beiden Einlagen zu
beurteilen war, um festzustellen, ob sie eine staatliche Beihilfe oder aber eine
Kapitalzuführung war, die das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden
Kapitalgebers erfüllt. Außerdem war der Betrag der dritten Kapitaleinlage (3 000
Milliarden LIT) wesentlich höher als der der ersten beiden, in der Prüfung
befindlichen Kapitaleinlagen zusammen (1 794 Milliarden LIT).
- 199.
- Es steht fest, daß die Kommission im vorliegenden Fall die dritte Kapitaleinlage nie
unter dem Blickwinkel ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt
untersucht hat.
- 200.
- Unter diesen besonderen Umständen hat die Kommission, als sie ihre erste Prüfung
der dritten Kapitaleinlage nach Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages abgeschlossen
hat, obwohl sie die Schwierigkeiten bei der Frage, ob diese Einlage eine Beihilfe
war, nicht hatte ausräumen können, und ohne daß sie geprüft hätte, ob diese mit
dem Gemeinsamen Markt vereinbar war, die Rechte der Klägerin als Beteiligte im
Sinne von Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages verletzt.
- 201.
- Die streitige Entscheidung ist daher aus diesem Grund für nichtig zu erklären, ohne
daß es einer Entscheidung über die anderen von der Klägerin geltend gemachten
Klagegründe bedürfte.
Kosten
- 202.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß Artikel 87 § 3 der
Verfahrensordnung kann das Gericht die Kosten teilen, wenn jede Partei teils
obsiegt, teils unterliegt. Im vorliegenden Fall ist die Kommission bezüglich der
dritten Kapitaleinlage, die Klägerin bezüglich der ersten beiden Kapitaleinlagen
unterlegen. Unter diesen Umständen sind der Kommission zwei Drittel der Kosten
der Klägerin aufzuerlegen.
- 203.
- Gemäß Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung tragen das Vereinigte Königreich,
die Italienische Republik, ENI und EniChem ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend italienische
Beihilfen an EniChem SpA (ABl. C 330, S. 7) wird insoweit für nichtig
erklärt, als sie das Untersuchungsverfahren nach Artikel 93 Absatz 3 des
Vertrages bezüglich der in ihr erwähnten Kapitaleinlage von
3 000 Milliarden LIT abschließt.
2. Im übrigen wird die Klage als unzulässig abgewiesen.
3. Die Kommission trägt zwei Drittel der Kosten der Klägerin. Die Klägerin
trägt ein Drittel ihrer eigenen Kosten.
4. Das Vereinigte Königreich, die Italienische Republik, die ENI SpA und die
EniChem SpA tragen ihre eigenen Kosten.
KalogeropoulosBriët
García-Valdecasas
Bellamy Potocki
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Kalogeropoulos