URTEIL DES GERICHTSHOFES
23. November 1999 (1)
„Gemeinsame Handelspolitik Marktzugang für Textilwaren Waren mit
Ursprung in Indien und Pakistan“
In der Rechtssache C-149/96
Portugiesische Republik, vertreten durch L. Fernandes, Leiter des Juristischen
Dienstes der Generaldirektion für die Europäischen Gemeinschaften des
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und C. Botelho Moniz, Assistent an
der Juristischen Fakultät der portugiesischen katholischen Universität, als
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Portugiesische Botschaft, 33, allée Scheffer,
Luxemburg,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Rechtsberaterin S. Kyriakopoulou
und I. Lopes Cardoso, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: A. Morbilli, Generaldirektor der Direktion für
Rechtsfragen der Europäischen Investitionsbank, 100, boulevard Konrad Adenauer,
Luxemburg-Kirchberg,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten durch C. de Salins, Abteilungsleiterin für
internationales Wirtschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht in der Direktion für
Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und G. Mignot,
Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in derselben Direktion, als
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Französische Botschaft, 8 B, boulevard
Joseph II, Luxemburg,
und
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. de Pauw und
F. de Sousa Fialho, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 96/386/EG des Rates vom 26. Februar
1996 über den Abschluß von Vereinbarungen zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und der Islamischen Republik Pakistan sowie zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und der Republik Indien über den Marktzugang für
Textilwaren (ABl. L 153, S. 47)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten und der Sechsten Kammer
J. C. Moitinho de Almeida in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der
Kammerpräsidenten D. A. O. Edward, L. Sevón und R. Schintgen sowie der
Richter P. J. G. Kapteyn (Berichterstatter), C. Gulmann, J.-P. Puissochet,
G. Hirsch, P. Jann, H. Ragnemalm und M. Wathelet,
Generalanwalt: A. Saggio
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 30. Juni 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25.
Februar 1999,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Portugiesische Republik hat mit Klageschrift, die am 3. Mai 1996 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EG-Vertrag
(nach Änderung jetzt Artikel 230 Absatz 1 EG) Klage erhoben auf
Nichtigerklärung des Beschlusses 96/386/EG des Rates vom 26. Februar 1996 über
den Abschluß von Vereinbarungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
der Islamischen Republik Pakistan sowie zwischen der Europäischen Gemeinschaft
und der Republik Indien über den Marktzugang für Textilwaren (ABl. L 153, S. 47;
im folgenden: angefochtener Beschluß).
Rechtlicher Rahmen und Sachverhalt
Im Rahmen der Uruguay-Runde getroffene völkerrechtliche multilaterale Übereinkünfte
- 2.
- Am 15. Dezember 1993 hat der Rat einstimmig den Text der Gesamtverpflichtung
genehmigt, aufgrund deren die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten zugestimmt
haben, die multilateralen Handelsverhandlungen der Uruguay-Runde abzuschließen
(im folgenden: prinzipielle Zustimmung).
- 3.
- Am selben Tag hat der Generaldirektor des Allgemeinen Zoll- und
Handelsabkommens (im folgenden: GATT) Sutherland in Genf vor dem Ausschuß
für die Handelsverhandlungen den Abschluß der Verhandlungen der
Uruguay-Runde erklärt. Anläßlich dieser Erklärung hat er bestimmte Teilnehmer
aufgefordert, ihre Verhandlungen über den Marktzugang weiterzuführen, um ein
umfassenderes und ausgewogeneres Paket „Marktzugang“ zu erreichen.
- 4.
- Nach diesem Abschluß wurden die Verhandlungen im Bereich des Marktzugangs
für Textilwaren und Bekleidung (im folgenden: Textilwaren) insbesondere mit der
Republik Indien (im folgenden: Indien) und mit der Islamischen Republik Pakistan
(im folgenden: Pakistan) von der Kommission unter Mitwirkung des
„Textilausschusses 113“ des Rates (im folgenden: Textilausschuß) weitergeführt, der
den Rat auf dem Gebiet der Gemeinsamen Handelspolitik der Gemeinschaft im
Textilbereich unterstützen soll.
- 5.
- Während die Verhandlungen über den Marktzugang für Textilwaren mit Pakistan
und Indien noch nicht abgeschlossen waren, unterzeichneten der Präsident des
Rates und das für Außenbeziehungen zuständige Kommissionsmitglied am 15. April
1994 in Marrakesch (Marokko) im Namen der Europäischen Union unter dem
Vorbehalt nachträglicher Genehmigung die Schlußakte über die Ergebnisse der
multilateralen Handelsverhandlungen der Uruguay-Runde (im folgenden:
Schlußakte), das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (im
folgenden: WTO) sowie sämtliche Übereinkünfte und Vereinbarungen der
Anhänge 1 bis 4 des Übereinkommens zur Errichtung der WTO (im folgenden:
WTO-Übereinkünfte).
- 6.
- Zu diesen Übereinkünften gehören auch in Anhang 1A des Übereinkommens zur
Errichtung der WTO das Übereinkommen über Textilwaren und Bekleidung (im
folgenden: ATC) und das Übereinkommen über Einfuhrlizenzverfahren.
- 7.
- Nach der Unterzeichnung hat der Rat den Beschluß 94/800/EG vom 22. Dezember
1994 über den Abschluß der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen
Verhandlungen der Uruguay-Runde (19861994) im Namen der Europäischen
Gemeinschaft in bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl.
L 336, S. 1) erlassen.
Vereinbarungen mit Pakistan und Indien
- 8.
- Nach der Unterzeichnung der WTO-Übereinkünfte wurden die Verhandlungen mit
Indien und Pakistan unter Leitung der Kommission mit Unterstützung des
Textilausschusses fortgeführt.
- 9.
- Am 15. Oktober 1994 hat die Kommission mit Pakistan ein „Memorandum of
Understanding“ (im folgenden: Vereinbarung) zwischen der Europäischen
Gemeinschaft einerseits und Pakistan andererseits über den Marktzugang für
Textilwaren und am 31. Dezember 1994 eine entsprechende Vereinbarung mit
Indien paraphiert.
- 10.
- Die Vereinbarung mit Pakistan enthält Verpflichtungen sowohl der Gemeinschaft
als auch dieses Drittstaates. Insbesondere verpflichtet sich Pakistan dazu, alle
mengenmäßigen Beschränkungen für eine Reihe von Textilwaren, die in Anhang
II der Vereinbarung spezifisch aufgeführt sind, aufzuheben. Die Kommission
verpflichtet sich, „eventuelle Anträge der pakistanischen Regierung auf besondere
Flexibilität bei den bestehenden Höchstmengen (Übertragungen auf das folgende
Kontingentsjahr, Übertragung zwischen Kategorien, Ausnutzung im Vorgriff)
wohlwollend zu prüfen“ (Nr. 6) und umgehend interne Verfahren einzuleiten, um
sicherzustellen, daß „alle derzeit geltenden Beschränkungen für die Einfuhr von in
Pakistan auf Handwebstühlen und in Handwerksbetrieben hergestellte Waren vor
Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens“ aufgehoben werden (Nr. 7).
- 11.
- Die Vereinbarung mit Indien sieht vor, daß dessen Regierung die Zölle, die für die
im Anhang der Vereinbarung aufgeführten Textil- und Bekleidungswaren gelten,
bindet und daß „die Zollsätze dem WTO-Sekretariat innerhalb von 60 Tagen nach
Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens notifiziert [werden]“. Außerdem ist
vorgesehen, daß die indische Regierung „für bestimmte Waren ... andere
spezifische Zölle einführen“ kann und daß diese Zölle „als Wertzölle oder als
Betrag in INR pro Artikel/m2/kg angegeben [werden], wobei der jeweils höhere
Betrag gewählt wird“ (Nr. 2). Die Europäische Gemeinschaft erklärt sich bereit,
„im Einklang mit Artikel 5 des Textilabkommens zwischen der EG und Indien mit
Wirkung vom 1. Januar 1995 alle derzeit geltenden Beschränkungen für indische
Ausfuhren von auf Handwebstühlen und in Handwerksbetrieben hergestellten
Waren zu beseitigen“ (Nr. 5). Die Gemeinschaft verpflichtet sich, im Rahmen der
in der Vereinbarung für die Kontingentsjahre 1995 bis 2004 angegebenen Mengen
die „Anträge der indischen Regierung auf Anwendung besonderer Flexibilität
zusätzlich zu der im Rahmen des bilateralen Textilabkommens vorgesehenen
Flexibilität auf eine oder alle Kategorien, für die Beschränkungen gelten,“
wohlwollend zu prüfen (Nr. 6).
- 12.
- Auf Vorschlag der Kommission vom 7. Dezember 1995 hat der Rat am 26. Februar
1996 den angefochtenen Beschluß erlassen, der mit qualifizierter Mehrheit
angenommen wurde; das Königreich Spanien, die Hellenische Republik und die
Portugiesische Republik haben dagegen gestimmt.
- 13.
- Die Vereinbarungen mit Indien und Pakistan wurden am 8. bzw. am 27. März 1996
unterzeichnet.
- 14.
- Der angefochtene Beschluß wurde am 27. Juni 1996 im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften veröffentlicht.
Gemeinschaftsregelung
- 15.
- In der Verordnung (EWG) Nr. 3030/93 des Rates vom 12. Oktober 1993 über die
gemeinsame Einfuhrregelung für bestimmte Textilwaren mit Ursprung in
Drittländern (ABl. L 275, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 3289/94 des
Rates vom 22. Dezember 1994 (ABl. L 349, S. 85) geänderten Fassung ist die
Einfuhr von Textilwaren mit Ursprung in Drittländern geregelt, die mit der
Gemeinschaft durch Abkommen, Protokolle oder Vereinbarungen verbunden oder
Mitglied der WTO sind.
- 16.
- Die Verordnung Nr. 3030/93 gilt gemäß Artikel 1 Absatz 1 für die Einfuhr von in
Anhang I aufgeführten Textilwaren mit Ursprung in den in Anhang II genannten
Drittländern, mit denen die Gemeinschaft bilaterale Abkommen, Protokolle oder
sonstige Vereinbarungen geschlossen hat.
- 17.
- Nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3030/93 gelten für die in Anhang V
aufgeführten Textilwaren mit Ursprung in einem der in demselben Anhang
genannten Lieferländer bei der Einfuhr in die Gemeinschaft die in diesem Anhang
festgesetzten jährlichen Höchstmengen. Nach Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung
ist die Abfertigung zum freien Verkehr in der Gemeinschaft für Waren, für deren
Einfuhr die in Anhang V aufgeführten Höchstmengen gelten, von der Vorlage einer
Einfuhrgenehmigung abhängig, die von den Behörden der Mitgliedstaaten nach
Maßgabe des Artikels 12 erteilt wird.
- 18.
- Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung bestimmt, daß die in Anhang V aufgeführten
Höchstmengen nicht für die in den Anhängen VI und VIa beschriebenen
handwerklichen Waren und Waren der Volkskunst gelten, wenn bei ihrer Einfuhr
eine nach Maßgabe der letztgenannten Anhänge ausgestellte Bescheinigung
vorgelegt wird und sie die übrigen in diesen Anhängen genannten Voraussetzungen
erfüllen.
- 19.
- Am 10. April 1995 hat der Rat in Ausführung dessen, was in der prinzipiellen
Zustimmung (siehe Randnr. 2) vereinbart worden war, auf Vorschlag der
Kommission die Verordnung (EG) Nr. 852/95 über einen finanziellen Beitrag
zugunsten Portugals für ein spezifisches Programm zur Modernisierung der Textil-
und Bekleidungsindustrie (ABl. L 86, S. 10) erlassen.
- 20.
- Am 20. Dezember 1995 hat die Kommission die Verordnung (EG) Nr. 3053/95 zur
Änderung der Anhänge I, II, III, V, VI, VII, VIII, IX und XI der Verordnung Nr.
3030/93 (ABl. L 323, S. 1) erlassen. Daß in der Vereinbarung mit Indien im
Bereich des Marktzugangs die Beseitigung von mengenmäßigen Beschränkungen
für die Einfuhr bestimmter auf handbetriebenen Webstühlen gewebter Waren und
bestimmter Waren der Volkskunst mit Ursprung in diesem Drittstaat vorgesehen
war, stellte nach der vierzehnten und der fünfzehnten Begründungserwägung der
genannten Verordnung eine der Erwägungen für die Änderung dieser Anhänge ab
1. Januar 1995 dar.
- 21.
- Gemäß Artikel 1 Absätze 5 und 6 der Verordnung Nr. 3053/95 wurden mit
Wirkung vom 1. Januar 1995 zum einen Anhang VI der Verordnung (EWG) Nr.
3030/93 durch einen neuen Anhang V der Verordnung Nr. 3053/95 ersetzt und zum
anderen Anhang VIa dieser Verordnung ersatzlos gestrichen.
- 22.
- Da die Verordnung Nr. 3053/95 einen Formfehler aufwies, wurde Artikel 1 Absätze
5 und 6 dieser Verordnung rückwirkend zum 1. Januar 1995 durch die Verordnung
(EG) Nr. 1410/96 der Kommission vom 19. Juli 1996 zur Teilaufhebung der
Verordnung (EG) Nr. 3053/95 (ABl. L 181, S. 15; im folgenden:
Aufhebungsverordnung) aufgehoben. Nach der ersten Begründungserwägung derAufhebungsverordnung wurden die in Artikel 1 Absätze 5 und 6 der Verordnung
Nr. 3053/95 vorgesehenen Änderungen zu einem Zeitpunkt erlassen, als die
Kommission nicht gemäß Artikel 19 der Verordnung Nr. 3030/93 dazu befugt war,
da der Rat noch nicht beschlossen hatte, die von der Kommission mit Indien und
Pakistan ausgehandelten Vereinbarungen über den Marktzugang für Textilwaren
zu schließen oder vorläufig anzuwenden.
- 23.
- Durch die Verordnung (EG) Nr. 2231/96 vom 22. November 1996 zur Änderung
der Anhänge I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX und XI der Verordnung Nr. 3030/93
(ABl. L 307, S. 1) hat die Kommission die Verordnung Nr. 3030/93 den
Vereinbarungen angepaßt.
Begründetheit
- 24.
- Zur Begründung ihrer Klage macht die Portugiesische Republik die Verletzung
bestimmter Vorschriften und elementarer Grundsätze zum einen der WTO und
zum anderen der Gemeinschaftsrechtsordnung geltend.
Zur Verletzung von Vorschriften und Grundsätzen der WTO
- 25.
- Die portugiesische Regierung trägt vor, der angefochtene Beschluß verletze
bestimmte Vorschriften und Grundsätze der WTO, insbesondere die des GATT
1994, des ATC und des Übereinkommens über Einfuhrlizenzverfahren.
- 26.
- Nach der Rechtsprechung sei sie berechtigt, sich vor dem Gerichtshof auf diese
Vorschriften und Grundsätze zu berufen.
- 27.
- Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache
C-280/93 (Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Randnrn. 103 bis 112) entschieden,
daß die Vorschriften des GATT keine unmittelbare Wirkung hätten und daß der
einzelne sich vor Gericht nicht auf sie berufen könne. Gleichwohl habe er in
demselben Urteil bekräftigt, daß es sich anders verhalte, wenn Maßnahmen zur
Erfüllung einer im Rahmen des GATT übernommenen Verpflichtung erlassen
würden oder wenn die Gemeinschaftshandlung ausdrücklich auf spezielle
Bestimmungen dieses Abkommens verweise. Wie der Gerichtshof in Randnummer
111 des genannten Urteils entschieden habe, müsse er in diesen Fällen die
Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlung im Hinblick auf die Vorschriften des
GATT prüfen.
- 28.
- Dies gelte für den vorliegenden Fall, der sich auf den Erlaß einer Handlung des
angefochtenen Beschlusses beziehe, die die Vereinbarungen mit Indien und
Pakistan genehmige, die nach Abschluß der Uruguay-Runde zum Zweck der
Anwendung der Vorschriften des GATT 1994 und des ATC ausgehandelt worden
seien.
- 29.
- Der Rat, unterstützt von der Französischen Republik und der Kommission, verweist
demgegenüber auf die besonderen Eigenschaften der WTO-Übereinkünfte, die es
rechtfertigten, die Rechtsprechung des Gerichtshofes auf sie anzuwenden, nach der
die Bestimmungen des GATT 1947 keine unmittelbare Wirkung hätten und man
sich grundsätzlich nicht auf sie berufen könne.
- 30.
- Aus dem besonderen Charakter des angefochtenen Beschlusses folge, daß dieser
nicht analog den Regelungen zu behandeln sei, die Gegenstand der Urteile vom 22.
Juni 1989 in der Rechtssache 70/87 (Fediol/Kommission, Slg. 1989, 1781) und vom
7. Mai 1991 in der Rechtssache C-69/89 (Nakajima/Rat, Slg. 1991, I-2069) gewesen
seien. Er stelle nämlich keine Gemeinschaftsregelung im Bereich der Handelspolitik
dar, mit der die Bestimmungen des ATC in Gemeinschaftsrecht „umgesetzt“
werden sollten.
- 31.
- Die portugiesische Regierung entgegnet, daß im vorliegenden Fall nicht das GATT
1947 in Rede stehe, sondern die WTO-Übereinkünfte, zu denen das GATT 1994,
das ATC und das Übereinkommen über Einfuhrlizenzverfahren gehörten. Die
WTO-Übereinkünfte wiesen aber bedeutende Unterschiede gegenüber dem GATT
1947 auf, insbesondere weil sie das Streitbeilegungssystem weitgehend umgestaltet
hätten.
- 32.
- Außerdem werfe der vorliegende Fall nicht das Problem der unmittelbaren
Wirkung auf, sondern betreffe die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein
Mitgliedstaat vor dem Gerichtshof zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer
Handlung des Rates auf die WTO-Übereinkünfte berufen könne.
- 33.
- Eine solche Beurteilung sei gerechtfertigt, wenn es um Handlungen wie den
angefochtenen Beschluß gehe, die bilaterale Abkommen genehmigten, die für die
Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und Drittländern Sachgebiete regelten, auf
die die WTO-Vorschriften anwendbar seien.
- 34.
- Nach den Grundsätzen des Völkerrechts bleibt es den Gemeinschaftsorganen, die
für das Aushandeln und den Abschluß eines Abkommens mit Drittländern
zuständig sind, unbenommen, mit diesen Ländern zu vereinbaren, welche
Wirkungen die Bestimmungen dieses Abkommens in der internen Rechtsordnung
der Vertragsparteien haben sollen. Nur wenn diese Frage im Abkommen nicht
geregelt ist, haben die zuständigen Gerichte und im Rahmen seiner Zuständigkeit
aufgrund des EG-Vertrags insbesondere der Gerichtshof über diese Frage ebenso
wie über jede andere Auslegungsfrage zu entscheiden, die sich im Zusammenhang
mit der Anwendung des Abkommens in der Gemeinschaft stellt (vgl. Urteil vom
26. Oktober 1982 in der Rechtssache 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641,
Randnr. 17).
- 35.
- Nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Abkommen von den Parteien
nach Treu und Glauben zu erfüllen. Wenn somit jede Vertragspartei für die
vollständige Erfüllung der von ihr eingegangenen Verpflichtungen verantwortlich
ist, steht es ihr doch zu, die rechtlichen Maßnahmen zu bestimmen, die zur
Erreichung dieses Zieles innerhalb ihrer Rechtsordnung geeignet sind, es sei denn,
die Auslegung des Abkommens nach seinem Sinn und Zweck ergibt, daß diese
Maßnahmen im Abkommen selbst festgelegt sind (Urteil Kupferberg, Randnr. 18).
- 36.
- Zwar unterscheiden sich die WTO-Übereinkünfte wie die portugiesische
Regierung feststellt insbesondere aufgrund der Stärkung der Schutzregelung und
des Streitbeilegungsmechanismus erheblich vom GATT 1947. Gleichwohl räumt das
mit diesen Übereinkünften geschaffene System der Verhandlung zwischen den
Mitgliedern einen hohen Stellenwert ein.
- 37.
- Erstes Ziel des Streitbeilegungsmechanismus ist gemäß Artikel 3 Absatz 7 der
Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten
(Anhang 2 des WTO-Übereinkommens; DSU) zwar grundsätzlich die Rücknahme
der betreffenden Maßnahmen, wenn diese als mit den WTO-Vorschriften
unvereinbar befunden werden. Wenn die sofortige Rücknahme der Maßnahmen
praktisch nicht möglich ist, kann jedoch als vorübergehende Maßnahme bis zur
Rücknahme der betreffenden Maßnahme auf Schadensersatzleistungen
zurückgegriffen werden.
- 38.
- Zwar ist die Entschädigung nach Artikel 22 Absatz 1 DSU nur eine
vorübergehende Maßnahme, die zur Verfügung steht, wenn die Empfehlungen und
Entscheidungen des in Artikel 2 Absatz 1 DSU vorgesehenen
Streitbeilegungsgremiums nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums umgesetzt
werden; diese Vorschrift gibt der vollen Umsetzung einer Empfehlung, eine
Maßnahme mit den WTO-Übereinkünften in Einklang zu bringen, den Vorrang.
- 39.
- Doch sieht Artikel 22 Absatz 2 DSU vor, daß ein Mitglied, das seiner Pflicht zur
Ausführung der genannten Empfehlungen und Entscheidungen nicht innerhalb
eines angemessenen Zeitraums nachkommt, falls es darum ersucht wird, vor Ablauf
dieses Zeitraums Verhandlungen mit jeder Partei aufnimmt, die das
Streitbeilegungsverfahren angestrengt hat, mit dem Ziel, einvernehmlich eine
Entschädigung festzulegen.
- 40.
- Dürften die Gerichte mit den WTO-Übereinkünften unvereinbare innerstaatliche
Rechtsvorschriften nicht anwenden, so würde den Legislativ- und Exekutivorganen
der Mitglieder somit die ihnen in Artikel 22 DSU eingeräumte Befugnis
genommen, auf dem Verhandlungsweg Lösungen zu erreichen, selbst wenn diese
nur als vorübergehende zulässig sind.
- 41.
- Die Auslegung der WTO-Übereinkünfte im Licht ihres Zieles und Zweckes ergibt
mithin, daß in ihnen nicht festgelegt ist, mit welchen rechtlichen Maßnahmen die
Mitglieder diese Übereinkünfte nach Treu und Glauben in ihre interne
Rechtsordnung umzusetzen haben.
- 42.
- Was insbesondere die Anwendung der WTO-Übereinkünfte in der
Gemeinschaftsrechtsordnung anbelangt, so ist festzustellen, daß das
Übereinkommen zur Errichtung der WTO einschließlich seiner Anhänge nach
seiner Präambel ebenso wie das GATT 1947 auf dem Prinzip von
Verhandlungen „auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum gemeinsamen
Nutzen“ aufbaut. Es unterscheidet sich daher, in bezug auf die Gemeinschaft, von
deren Abkommen mit Drittländern, die eine gewisse Asymmetrie in den
Verpflichtungen oder besondere Integrationsbeziehungen mit der Gemeinschaft
begründen, wie dies bei dem im Urteil Kupferberg ausgelegten Abkommen der Fall
war.
- 43.
- Außerdem folgern unstreitig einige Mitglieder, die zu den wichtigsten
Handelspartnern der Gemeinschaft gehören, aus Sinn und Zweck der
WTO-Übereinkünfte, daß diese nicht zu den Normen gehören, an denen ihre
Gerichte die Rechtmäßigkeit der internen Rechtsvorschriften messen.
- 44.
- Zwar fehlt nicht schon allein deswegen schlechthin die Gegenseitigkeit bei der
Durchführung eines Abkommens, weil die Gerichte einer der Parteien einige
Bestimmungen dieses Abkommens unmittelbar anwenden, die Gerichte der
anderen Partei dies aber ablehnen (vgl. Urteil Kupferberg, Randnr. 18).
- 45.
- Trotzdem kann ein solcher Mangel an Gegenseitigkeit auf Seiten der
Handelspartner der Gemeinschaft bei der Anwendung der WTO-Übereinkünfte,
die auf dem „Prinzip der Gegenseitigkeit zum gemeinsamen Nutzen“ beruhen und
sich dadurch von den in Randnummer 42 beschriebenen Abkommen der
Gemeinschaft unterscheiden, zu einem Ungleichgewicht führen.
- 46.
- Hätte der Gemeinschaftsrichter unmittelbar die Aufgabe, die Vereinbarkeit des
Gemeinschaftsrechts mit diesen Regelungen zu gewährleisten, so würde den
Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft der Spielraum genommen, über
den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügen.
- 47.
- Somit gehören die WTO-Übereinkünfte wegen ihrer Natur und ihrer Struktur
grundsätzlich nicht zu den Vorschriften, an denen der Gerichtshof die
Rechtmäßigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane mißt.
- 48.
- Diese Auslegung entspricht auch der letzten Begründungserwägung des Beschlusses
94/800, derzufolge „das Übereinkommen zur Errichtung der
Welthandelsorganisation einschließlich seiner Anhänge nicht so angelegt [ist], daß
es unmittelbar vor den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft und der
Mitgliedstaaten angeführt werden kann“.
- 49.
- Nur wenn die Gemeinschaft eine bestimmte, im Rahmen der WTO übernommene
Verpflichtung umsetzt oder wenn die Gemeinschaftshandlung ausdrücklich auf
spezielle Bestimmungen der WTO-Übereinkünfte verweist, ist es Sache des
Gerichtshofes, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Gemeinschaftshandlung anhand
der Vorschriften der WTO zu prüfen (vgl. für das GATT 1947 Urteile
Fediol/Kommission, Randnrn. 19 bis 22, und Nakajima/Rat, Randnr. 31).
- 50.
- Daher ist zu prüfen, ob ein solcher Fall wie die portugiesische Regierung
behauptet hier vorliegt.
- 51.
- Dies muß verneint werden. Der angefochtene Beschluß zielt weder darauf ab, die
Umsetzung einer bestimmten, im Rahmen der WTO übernommenen Verpflichtung
in die Gemeinschaftsrechtsordnung sicherzustellen, noch verweist er ausdrücklich
auf spezielle Bestimmungen der WTO-Übereinkünfte. Er dient lediglich dazu, die
von der Gemeinschaft mit Pakistan und Indien ausgehandelten Vereinbarungen zu
genehmigen.
- 52.
- Nach alledem kann die Portugiesische Republik nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen bestimmte Vorschriften und
Grundsätze der WTO erlassen worden ist.
Zur Verletzung von Vorschriften und Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung
Zur Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit von Gemeinschaftsnormen
- 53.
- Die portugiesische Regierung macht geltend, daß dieser Grundsatz verletzt worden
sei, da der angefochtene Beschluß und die mit ihm genehmigten Vereinbarungen
nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden seien.
In ihrer Erwiderung stellt sie lediglich fest, daß die Stichhaltigkeit ihrer
Argumentation zugestanden worden sei, da der angefochtene Beschluß nach
Erhebung der Klage veröffentlicht worden sei.
- 54.
- Hierzu genügt die Feststellung, daß die verspätete Veröffentlichung einer
Gemeinschaftshandlung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften die
Gültigkeit dieser Handlung nicht beeinflußt.
Zur Verletzung des Grundsatzes der Transparenz
- 55.
- Die portugiesische Regierung trägt vor, daß dieser Grundsatz dadurch verletzt
worden sei, daß der angefochtene Beschluß Vereinbarungen genehmige, die
unzureichend strukturiert und undeutlich formuliert seien, was den
durchschnittlichen Leser daran hindere, sogleich alle damit verbundenen Folgen,
vor allem hinsichtlich ihrer rückwirkenden Anwendung, zu erfassen. Zur Stützung
dieses Klagegrundes beruft sie sich auf die Entschließung des Rates vom 8. Juni
1993 über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften
(ABl. C 166, S. 1).
- 56.
- Wie der Rat vorgetragen hat, hat diese Entschließung jedoch keine
Bindungswirkung und verpflichtet die Organe nicht dazu, bei der Abfassung von
Rechtsakten bestimmten Regeln zu folgen.
- 57.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 12 seiner Schlußanträge ausgeführt hat,
erscheint der Beschluß darüber hinaus in jeder Hinsicht klar, und zwar sowohl
bezüglich des Wortlauts seiner Bestimmungen über den Abschluß der beiden
internationalen Vereinbarungen als auch bezüglich der in den beiden
Vereinbarungen enthaltenen Vorschriften, die eine Reihe von gegenseitigen
Verpflichtungen der Vertragsparteien zur schrittweisen Liberalisierung des Marktes
für Textilwaren vorsehen. Außerdem ist die Rüge der portugiesischen Regierung,
der angefochtene Beschluß nenne nicht ausdrücklich die von ihm geänderten oder
aufgehobenen Vorschriften früherer Rechtsakte, nicht geeignet, einen Mangel des
Beschlusses aufzuzeigen, da eine solche Unterlassung keine Verletzung einer
wesentlichen Formvorschrift darstellt, die die Organe für die Wirksamkeit der
fraglichen Handlung beachten müßten.
- 58.
- Die Portugiesische Republik kann daher nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen den Grundsatz der Transparenz
erlassen worden ist.
Zur Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit in den Beziehungen
zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten
- 59.
- Die portugiesische Regierung trägt vor, daß die bilateralen Abkommen mit Indien
und Pakistan abgeschlossen worden seien, ohne ihre Haltung zu den
Verhandlungen mit den beiden Ländern zu berücksichtigen, die sie während des
gesamten Verhandlungsprozesses, vor allem bei der Sitzung des Rates am 15.
Dezember 1993, in der den WTO-Übereinkünften zugestimmt worden sei, und in
einem Schreiben des portugiesischen Außenministers an den Rat vom 7. April
1994, klar zum Ausdruck gebracht habe.
- 60.
- Sie habe ihre Zustimmung zur Unterzeichnung der Schlußakte der WTO und ihrer
Anhänge insbesondere unter der Bedingung gegeben, daß die Indien und Pakistan
auferlegte Pflicht zur Öffnung ihrer Märkte in den Verhandlungen mit diesen
Ländern nicht zu anderen Gegenleistungen der Mitgliedstaaten als denjenigen
führen dürfe, die im ATC vorgesehen seien.
- 61.
- Die Vereinbarungen sähen jedoch gegenüber dem ATC eine Beschleunigung des
Öffnungsprozesses des Marktes für Textilwaren und damit des Abbaus der
Gemeinschaftszollkontingente für diese Waren vor. Der angefochtene Beschluß, der
sie genehmigt habe, sei daher unter Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen
Zusammenarbeit in den Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den
Mitgliedstaaten erlassen worden, wie er in Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10
EG) enthalten sei, und müsse aus diesem Grund für nichtig erklärt werden.
- 62.
- Die Unterzeichnung der Schlußakte habe außerdem die Zustimmung aller
Mitgliedstaaten und nicht nur einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des
Rates verlangt. Jede Änderung des Gleichgewichts, das der Unterzeichnung dieser
Schlußakte zugrunde liege, verlange daher eine erneute Beratung unter den
gleichen Abstimmungsbedingungen, nämlich der Einstimmigkeit.
- 63.
- Der Rat ist der Auffassung, daß die von der portugiesischen Regierung vor allem
im Schreiben des Außenministers vom 7. April 1994 geäußerte Haltung politischen
Charakters und im übrigen insofern berücksichtigt worden sei, als sie zum Erlaß der
Verordnung Nr. 852/95 geführt habe, mit der der Rat der portugiesischen
Textilindustrie eine Reihe von Subventionen gewährt habe.
- 64.
- Der Rat weist auch die Argumentation der portugiesischen Regierung zurück, über
die Genehmigung der beiden Vereinbarungen hätte einstimmig entschieden werden
müssen. Da der angefochtene Beschluß eine handelspolitische Maßnahme darstelle,
habe er gemäß Artikel 113 Absatz 4 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 133
Absatz 4 EG) mit qualifizierter Mehrheit der Mitglieder des Rates erlassen werden
können. Die beiden Vereinbarungen seien im übrigen unter voller Wahrung der
Bestimmungen des EG-Vertrags und insbesondere des Artikels 113 erlassen
worden.
- 65.
- Die Kommission schließt sich der Argumentation des Rates an, macht aber darüber
hinaus geltend, selbst wenn man davon ausgehe, daß die Portugiesische Republik
beim Abschluß der Schlußakte Vorbehalte gemacht habe, könne deren Mißachtung
nicht zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen.
- 66.
- Der angefochtene Beschluß stellt eine handelspolitische Maßnahme dar, die gemäß
Artikel 113 Absatz 4 EG-Vertrag mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden
mußte. Da der angefochtene Beschluß unbestritten im Einklang mit dieser
Vorschrift erlassen wurde, kann es ihn nicht ungültig machen und damit nicht zu
seiner Nichtigerklärung führen, daß eine Minderheit von Mitgliedstaaten, zu denen
die Portugiesische Republik gehörte, gegen seinen Erlaß war.
- 67.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 32 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, hat der
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaftsorganen und
den Mitgliedstaaten keine Auswirkungen auf die richtige Rechtsgrundlage eines
Gemeinschaftsrechtsakts und folglich auf das bei seinem Erlaß einzuhaltende
Gesetzgebungsverfahren.
- 68.
- Die Portugiesische Republik kann daher nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß den genannten Grundsatz verletzt hat.
Zur Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
- 69.
- Die portugiesische Regierung macht geltend, daß der Rat durch den Erlaß des
angefochtenen Beschlusses den Grundsatz des Vertrauensschutzes im Hinblick auf
die Wirtschaftsteilnehmer der portugiesischen Textilindustrie verletzt habe.
- 70.
- Diese Wirtschaftsteilnehmer hätten davon ausgehen dürfen, daß der Rat den
Zeitplan und die Abfolge der Öffnung des Gemeinschaftsmarktes für Textilwaren
für den internationalen Wettbewerb, wie sie in den WTO-Übereinkünften,
insbesondere im ATC, sowie in den geltenden Gemeinschaftsvorschriften,
insbesondere in der Verordnung Nr. 3030/93 in ihrer durch die Verordnung Nr.
3289/94 geänderten Fassung, die die Vorschriften des ATC in Gemeinschaftsrecht
umgesetzt habe, vorgesehen gewesen seien, nicht wesentlich abändern werde.
- 71.
- Der Erlaß des angefochtenen Beschlusses beschleunige den Liberalisierungsprozeß
des Gemeinschaftsmarktes erheblich und ändere damit den durch das ATC
gesetzten rechtlichen Rahmen, wobei er ihn deutlich verstärke. Diese wesentliche
und unvorhersehbare Änderung der Wettbewerbsbedingungen auf dem
Gemeinschaftsmarkt für Textilwaren habe damit die Rahmenbedingungen
verändert, unter denen die portugiesischen Wirtschaftsteilnehmer die
Umstrukturierungsmaßnahmen durchführten, die der Rat selbst mit dem Erlaß der
Verordnung Nr. 852/95 für unerläßlich gehalten habe, was deren Wirksamkeit
beeinträchtige und diesen Wirtschaftsteilnehmern schweren Schaden zufüge.
- 72.
- Der Rat macht zunächst geltend, daß die portugiesischen Wirtschaftsteilnehmer im
Textilbereich kein berechtigtes Vertrauen in die Aufrechterhaltung einer Situation
hätten setzen dürfen, die Gegenstand von laufenden Verhandlungen gewesen sei.
Sollten die Wirtschaftsteilnehmer damit gerechnet haben, daß die Öffnung der
Märkte in Indien und Pakistan ohne jegliche Gegenleistung vorgenommen würde,
so sei diese Erwartung nicht geeignet gewesen, ein berechtigtes Vertrauen zu
begründen, da sie auf keine rechtliche Verpflichtung des Rates zurückzuführen sei.
- 73.
- Die Genehmigung der beiden Vereinbarungen stelle außerdem die Ergebnisse der
Uruguay-Runde in keiner Weise in Frage. Diese Vereinbarungen enthielten keine
Bestimmung, die die geltenden Höchstmengen oder die in den bilateralen
Abkommen mit Indien und Pakistan vorgesehene Steigerungsrate verändere. Sie
sähen lediglich vor, daß die Kommission bereit sei, eventuelle Anträge von Pakistan
oder Indien auf besondere Flexibilität bei den bestehenden Höchstmengen
(Übertragungen auf das folgende Kontingentsjahr, Übertragung zwischen
Kategorien, Ausnutzung im Vorgriff) wohlwollend zu prüfen, ohne für das jeweilige
Kontingentsjahr die jeweils festgelegten Mengen zu überschreiten. Diese besondere
Flexibilität und insbesondere die Ausnutzung im Vorgriff ändere die geltenden
Höchstmengen nicht und führe vor allem nicht zu einer Änderung des Zeitplans
für die Einbeziehung der betroffenen Kategorien in den Rahmen des GATT 1994.
- 74.
- Nach Auffassung der Kommission ist die Portugiesische Republik nicht berechtigt,
sich auf die Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes hinsichtlich der
Wirtschaftsteilnehmer zu berufen, da sie zum einen kein unmittelbares und
persönliches Interesse an dem Schutz des berechtigten Vertrauens der
letztgenannten nachweise und es zum anderen unterlassen habe, diese
Wirtschaftsteilnehmer zu warnen, obwohl die ihr zur Verfügung stehenden
Angaben eindeutig und ausreichend gezeigt hätten, daß die Gemeinschaft, um zu
einer Einigung zu kommen, wahrscheinlich einige zusätzliche Zugeständnisse würde
machen müssen.
- 75.
- Nach ständiger Rechtsprechung hat der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht
die Unabänderlichkeit einer Regelung zur Folge, zumal in Bereichen wie der
Textileinfuhr, in denen es erforderlich ist, die geltenden Vorschriften fortlaufend
an die Konjunkturschwankungen anzupassen, und dies daher vernünftigerweise
vorhergesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 1998 in
der Rechtssache C-315/96, Lopex Export, Slg. 1998, I-317, Randnrn. 28 bis 30).
- 76.
- Aus den vom Generalanwalt in Nummer 33 seiner Schlußanträge genannten
Gründen wurden außerdem keine nennenswerten Unterschiede zwischen der
Behandlung der indischen und pakistanischen Waren einerseits und der aus den
anderen Mitgliedern der WTO stammenden Waren andererseits eingeführt. Selbst
wenn solche Unterschiede bestünden, wären sie jedenfalls nicht geeignet, die
Erwartungen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zu enttäuschen.
- 77.
- Nach alledem kann die Portugiesische Republik nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung des
berechtigten Vertrauens erlassen worden ist.
Zur Verletzung des Verbotes der Rückwirkung von Rechtsvorschriften
- 78.
- Die portugiesische Regierung macht geltend, daß das Verbot der Rückwirkung von
Rechtsvorschriften verletzt worden sei, da die mit dem angefochtenen Beschluß
genehmigten Vereinbarungen Rückwirkung hätten und auf abgeschlossene
Vorgänge anwendbar seien, ohne daß Gründe dafür angegeben würden, von dem
Grundsatz abzuweichen, daß Rechtsvorschriften nur für die Zukunft gelten würden.
- 79.
- Obwohl die mit Pakistan und Indien geschlossenen Vereinbarungen am 15. Oktober
und 31. Dezember 1994 paraphiert und erst am 26. Februar 1996 durch den Rat
genehmigt worden seien, billigten sie die Anwendung einer Regelung besonderer
Flexibilität, die gemäß Nummer 6 der jeweiligen Vereinbarung im Fall von Pakistan
ab dem Jahr 1994 und im Fall von Indien ab dem Jahr 1995 wirksam werden sollte.
- 80.
- Hierzu genügt der Hinweis, daß die Umsetzung dieser internationalen
Vereinbarungen in Gemeinschaftsrecht gemäß Artikel 19 der Verordnung Nr.
3030/93 von der Kommission durch den Erlaß von Maßnahmen zur Änderung der
Anhänge dieser Verordnung vollzogen werden mußte.
- 81.
- Nur im Rahmen einer Klage gegen den Erlaß solcher Maßnahmen könnte also
deren mögliche Rückwirkung bekämpft werden.
- 82.
- Daher kann die Portugiesische Republik nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß das Verbot der Rückwirkung von Rechtsvorschriften
verletzt hat.
Zur Verletzung des Grundsatzes des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts
- 83.
- Die portugiesische Regierung trägt vor, daß der angefochtene Beschluß unter
Verstoß gegen den Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts
erlassen worden sei, der in den Artikeln 2 und 3 Buchstabe j EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 2 EG und 3 Absatz 1 Buchstabe k EG) sowie in den
Artikeln 130a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 158 EG), 130b und 130c
EG-Vertrag (jetzt Artikel 159 EG und 160 EG) und 130d und 130e EG-Vertrag
(nach Änderung jetzt Artikel 161 EG und 162 EG) niedergelegt sei. Der Rat selbsthabe sich in den Begründungserwägungen der Verordnung Nr. 852/95 auf diesen
Grundsatz bezogen, da er der Auffassung gewesen sei, daß die Annahme der
Verordnung wegen des Erlasses einer rechtlichen Regelung notwendig geworden
sei, die die Ungleichheiten verstärke und den wirtschaftlichen und sozialen
Zusammenhalt der Gemeinschaft beeinträchtige.
- 84.
- Der Rat verweist darauf, daß die Gemeinschaft die Verordnung Nr. 852/95
zugunsten der portugiesischen Industrie zur Stärkung des wirtschaftlichen und
sozialen Zusammenhalts erlassen habe. Die Verpflichtung der Gemeinschaft, die
Textilwaren und Bekleidung gemäß dem ATC und der Verordnung Nr. 3289/94, die
die Verordnung Nr. 3030/93 geändert habe, in den Rahmen des GATT 1994
einzubeziehen, sei durch die in den beiden Vereinbarungen gemachten
Zugeständnisse nicht berührt worden.
- 85.
- Die Kommission trägt vor, daß der EG-Vertrag entgegen der Behauptung der
Portugiesischen Republik den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt nicht
zum grundlegenden Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung erhebe, dessen
Wahrung durch die Organe derart unbedingt geboten sei, daß es zwingend die
Nichtigerklärung jeder Maßnahme verlange, die negative Auswirkungen auf
bestimmte benachteiligte Regionen der Gemeinschaft haben könnte.
- 86.
- Auch wenn die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts nach
den Artikeln 2 und 3 sowie 130a bis 130e EG-Vertrag eines der Ziele der
Gemeinschaft ist und folglich gerade bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts
im wirtschaftlichen und sozialen Bereich einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt,
so weisen die fraglichen Bestimmungen doch programmatischen Charakter auf, so
daß die Verwirklichung des Zieles des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts
das Ergebnis von Politiken und Handlungen der Gemeinschaft sowie der
Mitgliedstaaten sein muß.
- 87.
- Folglich kann die Portugiesische Republik nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen den Grundsatz des wirtschaftlichen
und sozialen Zusammenhalts erlassen worden ist.
Zur Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer
- 88.
- Die portugiesische Regierung macht geltend, daß der angefochtene Beschluß
Wollwaren gegenüber Baumwollwaren besserstelle, da die durch die
Vereinbarungen eingeführten Maßnahmen zur Öffnung der Märkte Indiens und
Pakistans praktisch ausschließlich den Gemeinschaftsherstellern auf dem Wollsektor
zugute kämen. Die Hersteller auf dem Baumwollsektor auf den sich das
Exportvermögen der portugiesischen Industrie im wesentlichen konzentriere
würden insofern doppelt benachteiligt.
- 89.
- Der Rat erwidert, daß die Verhandlungen mit Indien und Pakistan bezweckt
hätten, den Zugang zum indischen und zum pakistanischen Markt zu verbessern.
Wenn die Angebote dieser beiden Länder einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer
im vorliegenden Fall die Hersteller auf dem Wollsektor eher befriedigen könnten,
so stelle dies keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der
Wirtschaftsteilnehmer dar, da die Vereinbarungen nicht zum Ziel gehabt hätten,
eine Diskriminierung zwischen ihnen zu begründen.
- 90.
- Die Kommission trägt vor, der Umstand, daß Indien und Pakistan den Waren des
Wollsektors eine günstigere Behandlung als denen des Baumwollsektors zugedacht
hätten (eine Behauptung, die von der Portugiesischen Republik nicht belegt worden
sei) und damit eine gewisse Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Gruppen
von Wirtschaftsteilnehmern der Textilindustrie geschaffen hätten, könne nicht dem
Rat als Diskriminierung zugerechnet werden. Selbst wenn man davon ausgehe, daß
sie ihm zurechenbar sei, so sei diese Ungleichbehandlung im übrigen durch die Art
des fraglichen Rechtsakts und das mit der Genehmigung der Vereinbarungen durch
den Rat verfolgte Ziel, nämlich im gemeinsamen Interesse den Zugang sämtlicher
Waren mit Ursprung in der Gemeinschaft zu den indischen und pakistanischen
Märkten zu verbessern, gerechtfertigt.
- 91.
- Das Diskriminierungsverbot verlangt vom Gemeinschaftsgesetzgeber, daß „gleiche
Sachverhalte nicht ungleich behandelt werden, es sei denn, daß eine
Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“ (vgl. insbesondere Urteil
Deutschland/Rat, Randnr. 67).
- 92.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 35 seiner Schlußanträge festgestellt hat, sind
die Wirtschaftsteilnehmer des Textilsektors vorliegend auf zwei unterschiedlichen
Märkten tätig, dem Woll- und dem Baumwollmarkt, so daß eine wirtschaftliche
Schädigung der einen Gruppe von Herstellern nicht zu einer Verletzung des
Diskriminierungsverbots führt.
- 93.
- Folglich kann die Portugiesische Republik auch nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
der Wirtschaftsteilnehmer erlassen worden ist.
- 94.
- Nach alledem kann die Portugiesische Republik nicht geltend machen, daß der
angefochtene Beschluß unter Verstoß gegen bestimmte Vorschriften und
Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung erlassen worden ist, so daß die Klage
insgesamt abgewiesen werden muß.
Kosten
- 95.
- Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat beantragt hat, die
Portugiesische Republik zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit
ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69
§ 4 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem
Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Portugiesische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Französische Republik und die Kommission der Europäischen
Gemeinschaften tragen ihre eigenen Kosten.
Moitinho de AlmeidaEdward
Sevón
Schintgen Kapteyn Gulmann Puissochet
Hirsch Jann Ragnemalm Wathelet
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. November 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias