SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NIILO JÄÄSKINEN
vom 24. Mai 2012(1)
Rechtssache C‑62/11
Land Hessen
gegen
Florence Feyerbacher
(Vorabentscheidungsersuchen des Hessischen Landessozialgerichts [Deutschland])
„Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Rechtscharakter des Sitzstaatabkommens der Europäischen Zentralbank – Öffentlich-rechtlicher Vertrag – Fehlen einer Wirkung erga omnes – Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken – Art. 36.1 – Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank – Fehlender ausschließlicher Charakter – Anwendbarkeit der Bestimmungen des deutschen Sozialrechts, die die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit an die Bediensteten der Europäischen Zentralbank vorsehen, auf diese Bediensteten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 34 – Anspruch auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit“
I – Einführung
1. Ist die Bundesrepublik Deutschland befugt, den Bediensteten der Europäischen Zentralbank Sozialleistungen zu gewähren? Das ist im Wesentlichen die Frage, die das Hessische Landessozialgericht (Deutschland) dem Gerichtshof gestellt hat.
2. Das vorlegende Gericht möchte genauer gesagt zum einen wissen, welchen Rechtscharakter das Abkommen vom 18. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Zentralbank (EZB) über deren Sitz (im Folgenden: Sitzstaatabkommen)(2) hat. Zum anderen hebt das Gericht die Notwendigkeit hervor, die Tragweite der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB unter Berücksichtigung von Art. 36.1 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (im Folgenden: ESZB-Satzung) zu bestimmen(3).
3. Die Vorlagefragen sind im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Feyerbacher, einer Bediensteten der EZB mit deutscher Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in Deutschland, und dem Land Hessen wegen dessen Weigerung, Frau Feyerbacher Elterngeld zu zahlen, gestellt worden.
4. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft dabei zum einen den Rechtscharakter des Sitzstaatabkommens und insbesondere die Frage, ob dieses Abkommen Teil des Unionsrechts ist. Zum anderen wirft es die Frage auf, ob Art. 15 des Sitzstaatabkommens – der im Hinblick auf Art. 36.1 der ESZB-Satzung die Anwendung der Bestimmungen des materiellen und prozessualen Arbeits- und Sozialrechts der Bundesrepublik Deutschland auf die vom EZB-Rat festgelegten Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB (im Folgenden: BSB)(4) ausschließt – eine kollisionsrechtliche Bestimmung ist, die es dem genannten Mitgliedstaat verwehrt, den in seinem Gebiet wohnhaften Beschäftigten der EZB aufgrund des Territorialitätsprinzips Familienleistungen wie das durch die innerstaatlichen Vorschriften vorgesehene Elterngeld zu gewähren.
5. Die entscheidende Frage besteht vorliegend darin, ob und gegebenenfalls inwieweit es der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Art. 36.1 der ESZB-Satzung freisteht, ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Gewährung von Sozialleistungen auf die Beschäftigten der EZB anzuwenden, um die in den BSB vorgesehenen Leistungen zu ergänzen.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
1. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union
6. Das Recht auf Leistungen der sozialen Sicherheit wird in Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert(5). Darin heißt es:
„(1) Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
(2) Jeder Mensch, der in der Union seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen Vergünstigungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
…“
2. Die ESZB-Satzung
7. Die Geschäfte der EZB mit dritten Ländern und internationalen Organisationen sind in Art. 23 geregelt. Die EZB ist u. a. befugt, „mit Zentralbanken und Finanzinstituten in dritten Ländern und, soweit zweckdienlich, mit internationalen Organisationen Beziehungen aufzunehmen“.
8. Gemäß Art. 24 („Sonstige Geschäfte“) ist die EZB befugt, außer den mit ihren Aufgaben verbundenen Geschäften „auch Geschäfte für ihren eigenen Betrieb und für ihre Bediensteten zu tätigen“.
9. Art. 35.1 und 4 der ESZB-Satzung bestimmt:
„35.1 Die Handlungen und Unterlassungen der EZB unterliegen in den Fällen und unter den Bedingungen, die in den Verträgen vorgesehen sind, der Überprüfung und Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union. …
…
35.4 Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel zuständig, die in einem von der EZB oder für ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag enthalten ist.“
10. Gemäß Art. 36.1 der ESZB-Satzung legt der EZB-Rat „auf Vorschlag des Direktoriums die Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB fest“.
11. In Art. 39 der Satzung heißt es:
„Die EZB genießt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen nach Maßgabe des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union.“
3. Das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union
12. Art. 14 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union bestimmt(6):
„Das Europäische Parlament und der Rat legen durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung der betroffenen Organe das System der Sozialleistungen für die Beamten und sonstigen Bediensteten der Union fest.“
13. Nach Art. 22 Abs. 1 des Protokolls gilt es auch für die EZB, die Mitglieder ihrer Beschlussorgane und ihre Bediensteten; die Bestimmungen der ESZB-Satzung bleiben hiervon unberührt.
4. Das Sitzstaatabkommen
14. Gemäß dem fünften Absatz der Präambel des Sitzstaatabkommens soll das Abkommen die Vorrechte und Befreiungen der EZB in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen(7) festlegen.
15. Unter der Überschrift „Nichtanwendbarkeit des deutschen Arbeits- und Sozialrechts“ bestimmt Art. 15 des Sitzstaatabkommens:
„Im Hinblick auf Artikel 36 der Satzung des ESZB unterliegen die Beschäftigungsbedingungen der Direktoriumsmitglieder und Bediensteten nicht dem materiellen und prozessualen Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland.“
16. Art. 21 des Sitzstaatabkommens sieht vor, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der EZB hinsichtlich der Auslegung oder Anwendung des Abkommens von jeder Vertragspartei gemäß Art. 35.4 der ESZB-Satzung dem Gerichtshof vorgelegt werden können.
5. Die Bestimmungen der BSB
17. Der persönliche Anwendungsbereich der BSB(8) wird in Teil 1 der BSB („Allgemeine Bestimmungen“) festgelegt. In Art. 1 der BSB heißt es:
„… ‚Bediensteter‘ der [EZB] [ist], wer einen unbefristeten oder einen auf länger als ein Jahr befristeten Beschäftigungsvertrag für eine Stelle innerhalb der EZB unterzeichnet und seine Tätigkeit aufgenommen hat.“
18. Art. 9, der in Teil 2 der BSB („Arbeitsrechtliche Beziehungen“) enthalten ist, bestimmt:
„a) Die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen der EZB und ihren Bediensteten werden durch Beschäftigungsverträge in Verbindung mit diesen Beschäftigungsbedingungen geregelt. …
…
c) Diese Beschäftigungsbedingungen unterliegen keinem spezifischen einzelstaatlichen Recht. Die EZB wendet i) die den Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze, ii) die allgemeinen Grundsätze des Rechts der Europäischen Gemeinschaft … und iii) die in den … Verordnungen und Richtlinien … über die Sozialpolitik enthaltenen Vorschriften an. …“
19. Teil 3 der BSB trägt die Überschrift „Grundgehalt und Zulagen“. Art. 21 stellt für die in den Art. 15 bis 20 der BSB geregelten Zulagen – Haushaltszulage, Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder, Auslandszulage, Erziehungszulage und Vorschulzulage – klar, dass diese Zulagen „alle sonstigen, von anderen Stellen gewährten Zulagen gleicher Art“ ergänzen. Die Bediensteten der EZB sind zudem verpflichtet, „diese Zulagen, die auf die von der EZB gewährten Zulagen angerechnet werden“, in Anspruch zu nehmen und anzugeben.
20. Zu Teil 4 der BSB („Leistungen bei Einstellung und Ausscheiden“) gehört Art. 24, wonach die in den Art. 22 und 23 vorgesehenen Leistungen „alle sonstigen, von anderen Stellen gewährten Leistungen gleicher Art“ ergänzen. Die Bediensteten der EZB sind zudem verpflichtet, „diese Leistungen, die auf die von der EZB gewährten Leistungen angerechnet werden“, in Anspruch zu nehmen und anzugeben.
21. Nach Art. 29 der BSB, der zu deren Teil 5 („Arbeitszeit und Urlaub“) gehört, haben die Bediensteten der EZB „Anspruch auf unbezahlten Elternurlaub, der mindestens den Vorschriften der Richtlinie 96/34/EG[(9)] … entspricht“.
22. Teil 6 der BSB trägt die Überschrift „Soziale Sicherheit“. Er enthält Vorschriften, die u. a. die Gehaltsfortzahlung für Arbeitnehmer bei krankheits- oder unfallbedingten Fehlzeiten, die Leistung bei Invalidität sowie die Kranken- und Unfallversicherung regeln.
23. Teil 6 enthält ferner Bestimmungen über Zulagen, und zwar das monatliche Arbeitslosengeld, die Haushaltszulage und den Versicherungsschutz aufgrund des Kranken- und Unfallversicherungssystems der EZB für Bedienstete, die nach Beendigung ihres Vertrags mit der EZB arbeitslos sind. Aus Art. 36 der BSB ergibt sich jedoch, dass diese Leistungen „alle sonstigen, von anderen Stellen gewährten Leistungen gleicher Art“ ergänzen. Die Bediensteten der EZB sind zudem verpflichtet, „diese Leistungen, die auf die von der EZB gewährten Leistungen angerechnet werden“, in Anspruch zu nehmen und anzugeben.
B – Innerstaatliches Recht
24. § 1 Abs. 1 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, im Folgenden: BEEG)(10) bestimmt:
„(1) Anspruch auf Elterngeld hat, wer
1. einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat,
2. mit seinem Kind in einem Haushalt lebt,
3. dieses Kind selbst betreut und erzieht und
4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.“
25. § 1 Abs. 2 Nr. 3 BEEG betrifft den Fall, dass eine Tätigkeit außerhalb Deutschlands ausgeübt wird:
„Anspruch auf Elterngeld hat auch, wer, ohne eine der Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 1 zu erfüllen,
…
3. die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und nur vorübergehend bei einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung tätig ist, insbesondere nach den Entsenderichtlinien des Bundes beurlaubte Beamte und Beamtinnen, oder wer vorübergehend eine … zugewiesene Tätigkeit im Ausland wahrnimmt.“
26. Für vergleichbare Leistungen sieht § 3 Abs. 3 BEEG Folgendes vor:
„Dem Elterngeld vergleichbare Leistungen, auf die eine nach § 1 berechtigte Person außerhalb Deutschlands oder gegenüber einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung Anspruch hat, werden auf das Elterngeld angerechnet, soweit sie für denselben Zeitraum zustehen und die auf der Grundlage des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erlassenen Verordnungen nicht anzuwenden sind.“
III – Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
27. Frau Feyerbacher ist deutsche Staatsangehörige und hat ihren Wohnsitz in Deutschland, wo sie eine Berufstätigkeit ausübte, bevor sie Bedienstete der EZB wurde. Als solche unterliegen ihre Bezüge der Gemeinschaftsteuer, und sie fällt unter die nach den BSB für das Personal der EZB geltende Regelung und gehört nicht mehr dem deutschen Sozialversicherungssystem an.
28. Da die BSB kein Elterngeld vorsehen, beantragte Frau Feyerbacher für ihr am 5. September 2008 geborenes Kind bei den deutschen Behörden Elterngeld nach § 1 Abs. 1 BEEG unter Berücksichtigung ihres Einkommens bei der EZB, hilfsweise die Zahlung des gesetzlichen Mindestbetrags von monatlich 300 Euro.
29. Zur Begründung ihres Antrags machte Frau Feyerbacher geltend, sie erfülle die in § 1 Abs. 1 BEEG vorgesehenen Voraussetzungen für die Zahlung von Elterngeld, da sie ihren Wohnsitz in Deutschland habe, dort ihr Kind erziehe und während des Leistungszeitraums keine volle Erwerbstätigkeit ausübe.
30. Mit Bescheid vom 4. Dezember 2008 und Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2009 lehnte das Land Hessen den Antrag von Frau Feyerbacher mit der Begründung ab, in Anwendung der Bestimmungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen und von Art. 15 des Sitzstaatabkommens gelte für sie das Unionsrecht und nicht das deutsche Arbeits- und Sozialrecht. Beschäftigte der EZB hätten daher grundsätzlich keinen Anspruch auf Elterngeld. Im Übrigen sei die Klägerin in Deutschland auch nicht steuerpflichtig.
31. Frau Feyerbacher erhob gegen diese Bescheide vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage. Zur Stützung ihrer Klage führte sie ergänzend aus, das Sitzstaatabkommen sei lange vor Inkrafttreten des BEEG geschlossen worden, so dass sich aus ihm kein Ausschluss vom Anspruch auf Elterngeld ergeben könne. Darüber hinaus stehe sie lediglich in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis zur EZB, so dass es sich um eine vorübergehende Tätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BEEG handele. Weiter sei § 3 Abs. 3 BEEG zu berücksichtigen, der bestimme, in welchen Fällen im Ausland von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung bezogene Leistungen, die dem Elterngeld vergleichbar seien, auf das deutsche Elterngeld anzurechnen seien.
32. Durch Urteil vom 30. September 2009 gab das Sozialgericht Frankfurt am Main der Klage statt und hob die Bescheide vom 4. Dezember 2008 und vom 8. Januar 2009 auf. Es war der Auffassung, dass Frau Feyerbacher die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 BEEG erfülle.
33. Das Sozialgericht Frankfurt am Main führte aus, der Ausschluss einer Personengruppe von den Leistungen des BEEG stehe unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Spezialregelung. Art. 15 des Sitzstaatabkommens sei jedoch keine solche Regelung, da der Anspruch auf Elterngeld nicht die von diesem Artikel geregelten Beschäftigungsbedingungen der EZB betreffe. Ein Leistungsausschluss sei im Fall der Klägerin auch nicht angemessen, weil die EZB ihren Mitarbeitern keine Leistungen der sozialen Entschädigung oder der sozialen Hilfe und Förderung gewähre, zu denen das streitige Elterngeld zähle. Es könne somit im vorliegenden Fall nicht zu einer Doppelleistung kommen.
34. Das Hessische Landessozialgericht, bei dem Berufung gegen das genannte Urteil eingelegt wurde, ist der Auffassung, dass Frau Feyerbacher die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BEEG erfülle und daher Anspruch auf Elterngeld habe, es sei denn, dass eine Spezialregelung, die den Erfordernissen des Gesetzesvorbehalts genüge, die Anwendbarkeit der genannten Vorschrift ausschließe. Das Hessische Landessozialgericht hält es für möglich, dass Art. 15 des Sitzstaatabkommens eine solche Regelung darstellt.
35. Unter diesen Umständen hat das Hessische Landessozialgericht mit Entscheidung, die am 10. Februar 2011 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden ist, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist das Sitzstaatabkommen Teil des Unionsrechts, dem Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zukommt, oder handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag?
2. Ist Art. 15 des Sitzstaatabkommens in Verbindung mit Art. 36 der ESZB-Satzung einschränkend so auszulegen, dass die Anwendbarkeit des leistungsbegründenden deutschen Sozialrechts auf die Bediensteten der EZB lediglich dann ausgeschlossen ist, wenn den Bediensteten nach den BSB eine vergleichbare Sozialleistung durch die EZB erbracht wird?
3. Falls Frage 2 verneint wird:
a) Sind die genannten Vorschriften so auszulegen, dass sie der Anwendung einer nationalen Vorschrift entgegenstehen, die für die Gewährung von Familienleistungen allein dem Territorialitätsprinzip folgt?
b) Sind die Erwägungen des Gerichtshofs aus der Rechtssache Bosmann (Urteil vom 20. Mai 2008, C‑352/06, Slg. 2008, I‑3827, Randnrn. 31 bis 33) auf die Anwendung der genannten Vorschriften übertragbar? Spricht Art. 15 des Sitzstaatabkommens in Verbindung mit Art. 36 der ESZB-Satzung der Bundesrepublik Deutschland nicht die Befugnis ab, den in ihrem Gebiet wohnhaften Beschäftigten der EZB Familienbeihilfen zu gewähren?
36. Schriftliche Erklärungen sind von Frau Feyerbacher, der deutschen Regierung, der Europäischen Kommission und der EZB abgegeben worden. Keiner der Beteiligten hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
IV – Analyse
A – Zum Sitzstaatabkommen
1. Der Rechtscharakter des Sitzstaatabkommens
37. Einleitend ist festzustellen, dass nicht unproblematisch ist, wie das Sitzstaatabkommen als Rechtsakt einzustufen ist. Wie sich aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ergibt, sind zwei Einstufungen denkbar, nämlich zum einen die Einstufung als völkerrechtlicher Vertrag, der durch das nationale Zustimmungsgesetz denselben Rang wie die innerstaatlichen Gesetze im formellen Sinne erhält, und zum anderen die Einstufung als zum Unionsrecht gehörender Rechtsakt, der als solcher gegenüber dem innerstaatlichen Recht Vorrang hat. Ich neige zu der zweiten Einstufung.
38. Was zunächst die Unabhängigkeit der EZB betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Unabhängigkeit durch die Bestimmungen des Art. 130 AEUV und des Art. 7 der ESZB-Satzung gewährleistet wird. Wie sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, hat die Unabhängigkeit der EZB, mit der die Erfüllung ihrer Aufgaben sichergestellt werden soll, nicht zur Folge, dass die EZB völlig von der Union gesondert und von jeder Bestimmung des Unionsrechts ausgenommen wäre(11). Die EZB kann somit nicht als zwischenstaatliche Organisation angesehen werden, die eine sogenannte „funktionelle“ Zuständigkeit nach dem Völkerrecht besitzt. Ursprünglich handelte es sich vielmehr um eine Einrichtung sui generis(12), und nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts handelt es sich um ein Organ der Union im Sinne von Art. 13 EUV(13), dessen Zuständigkeiten sich aus dem Primärrecht ableiten.
39. Die Unabhängigkeit der EZB ist somit kein Selbstzweck, sondern dient einem bestimmten Zweck. Der Grundsatz der Unabhängigkeit soll die EZB insbesondere in die Lage versetzen, das Ziel der Preisstabilität zu verwirklichen und, soweit dies ohne Beeinträchtigung dieses Ziels möglich ist, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen, wie Art. 127 AEUV es vorschreibt(14).
40. Ferner ist daran zu erinnern, dass die EZB nach Art. 282 Abs. 3 AEUV und Art. 9 Abs. 1 der ESZB-Satzung Rechtspersönlichkeit besitzt. Ihre Befugnisse zur Vornahme von Geschäften mit dritten Ländern und internationalen Organisationen und zur Tätigung sonstiger Geschäfte, die nicht mit ihren Aufgaben verbunden sind, sind jedoch in den Art. 23 und 24 der ESZB-Satzung näher geregelt(15). In Anbetracht ihrer Rechtspersönlichkeit ist die EZB meines Erachtens befugt, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, die im Zusammenhang mit ihren währungspolitischen Aufgaben stehen(16). Wie die Kommission hervorhebt, ist sie dagegen nicht befugt, völkerrechtliche Verträge im Namen der Union zu schließen, da hierfür jede rechtliche Grundlage fehlt und nur die in Art. 218 AEUV festgelegten Verfahren Anwendung finden.
41. Außer den in Art. 23 der ESZB-Satzung geregelten Geschäften, die mit der Währungspolitik verbunden sind, kann die EZB nach Art. 24 der Satzung sonstige für ihre Tätigkeit erforderliche Geschäfte tätigen; dazu gehört meines Erachtens der Abschluss des Sitzstaatabkommens. Dem Wortlaut dieses Artikels lässt sich jedoch nicht entnehmen, welche Art von Handlungen die EZB im Rahmen solcher Geschäfte vornehmen kann. Um den Rechtscharakter des Sitzstaatabkommens bestimmen zu können, ist es daher erforderlich, das Abkommen in seinem besonderen rechtlichen Kontext zu untersuchen, d. h. im Kontext des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen.
42. Wie aus dem fünften Absatz der Präambel des Sitzstaatabkommens hervorgeht, wurde es geschlossen, um die Vorrechte und Befreiungen der EZB in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen festzulegen(17). Es handelt sich somit um eine das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen ergänzende Maßnahme, die zur Umsetzung der Bestimmungen des Protokolls im spezifischen Kontext der EZB dient(18). Art. 15 des Abkommens knüpft genauer gesagt an Art. 14 des Protokolls an, der das Verfahren zur Festlegung des Systems der Leistungen der sozialen Sicherheit für die Beamten und sonstigen Bediensteten der Union regelt.
43. In diesem Kontext des primären Unionsrechts verweist Art. 21 des Sitzstaatabkommens für die Beilegung von Streitigkeiten auf Art. 35.4 der ESZB-Satzung, der die Zuständigkeit des Gerichtshofs aufgrund einer Schiedsklausel mit den gleichen Worten wie Art. 272 AEUV regelt, nämlich mit den Worten: „aufgrund einer Schiedsklausel …, die in einem … öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag enthalten ist“. Im Hinblick auf die Eigenschaft der Vertragsparteien und den Gegenstand des Sitzstaatabkommens kann die darin enthaltene Schiedsklausel somit nur einen öffentlich-rechtlichen Vertrag betreffen(19).
44. Dieses Ergebnis wird im Übrigen implizit durch den Gerichtshof in der Rechtssache EZB/Deutschland bestätigt. In dieser Rechtssache stützte der Gerichtshof seine Zuständigkeit auf Art. 21 des Sitzstaatabkommens in Verbindung mit den Art. 35.4 der ESZB-Satzung und 272 AEUV(20).
45. Anders als die deutsche Regierung bin ich aber der Meinung, dass es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, sondern um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen der EZB und der Bundesrepublik Deutschland.
46. Die Rechtsordnung, an die dieses Abkommen anknüpft, kann nur die Rechtsordnung der Union sein. Wie oben ausgeführt, ist der Präambel des Abkommens ein besonderer Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht zu entnehmen, der darin besteht, dass das Abkommen die Umsetzung des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen im vorliegenden spezifischen Kontext darstellt(21). Trotz der Verbindungen, die das Abkommen zur Bundesrepublik Deutschland aufweist, knüpft es eindeutig an das Unionsrecht an, da es darauf abzielt, die der EZB durch das Protokoll im deutschen Hoheitsgebiet eingeräumten Vorrechte und Befreiungen zu präzisieren(22).
47. Das Sitzstaatabkommen gehört somit in den rechtlichen Zusammenhang, der vom Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen gebildet wird, und in den größeren Rahmen des Unionsrechts, das den rechtlichen Bezugsrahmen für die Auslegung seiner Bestimmungen darstellt.
2. Die Rechtswirkungen des Sitzstaatabkommens als öffentlich-rechtlicher Vertrag für den Einzelnen
48. Nachdem feststeht, dass das Sitzstaatabkommen ein öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne des Unionsrechts ist, ist nunmehr zu klären, ob und inwieweit ein solcher Vertrag Rechtswirkungen für einen Einzelnen wie Frau Feyerbacher haben kann.
49. In der Regel entfaltet ein öffentlich-rechtlicher Vertrag ebenso wie ein privatrechtlicher Vertrag bindende Wirkung nur zwischen den Vertragsparteien. Als öffentlich-rechtlicher Vertrag mit bindenden Wirkungen für die Vertragsparteien ist das Sitzstaatabkommen als Ausdruck des Willens der EZB und der Bundesrepublik Deutschland anzusehen, ihre jeweiligen Rechte und Pflichten nach Maßgabe der Bestimmungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen festzulegen. Daher kann das Sitzstaatabkommen nicht als Rechtshandlung mit Wirkung erga omnes im Rahmen des Unionsrechts eingestuft werden(23).
50. Das Fehlen einer solchen Wirkung kann aus der eingeschränkten Regelungszuständigkeit der EZB abgeleitet werden. Diese Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 132 Abs. 1 AEUV und Art. 34.1 der ESZB-Satzung, aufgrund deren die EZB befugt ist, Verordnungen und Beschlüsse zu erlassen sowie Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben. Ferner kann der EZB-Rat nach Art. 12.1 der ESZB-Satzung Leitlinien erlassen und Weisungen erteilen. Die EZB kann somit die Regelungszuständigkeit nach Art. 36.1 der ESZB-Satzung in Bezug auf ihr Personal wahrnehmen. Sie kann jedoch nicht die Tragweite oder den Anwendungsbereich der Beschäftigungsbedingungen durch einen mit einem Mitgliedstaat geschlossenen Vertrag ändern.
51. Hieraus folgt, dass ein öffentlich-rechtlicher Vertrag wie das Sitzstaatabkommen im vorliegenden Fall keine bindende Wirkung für Dritte, d. h. für die übrigen Mitgliedstaaten, die übrigen Unionsorgane und den Einzelnen, haben kann. Mit anderen Worten würde eine Wirkung erga omnes voraussetzen, dass das Sitzstaatabkommen in Form einer Verordnung oder eines Beschlusses erlassen worden wäre(24).
52. Ferner erscheint ein Vergleich zwischen den Wirkungen des Sitzstaatabkommens und den Wirkungen von Richtlinien für den Einzelnen sinnvoll. Ebenso wie eine Richtlinie, die nicht selbst Verpflichtungen für den Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist(25), kann das Sitzstaatabkommen die Rechte, die der Einzelne aus dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht ableitet, nicht negativ beeinflussen(26).
53. Was speziell Art. 15 des Sitzstaatabkommens angeht, ist diese Bestimmung meines Erachtens als Bezugnahme auf Art. 36.1 der ESZB-Satzung zu verstehen, wonach der EZB-Rat die Beschäftigungsbedingungen(27) für das Personal der EZB festlegt.
54. Zum einen hat daher die genannte Bestimmung des Primärrechts Vorrang vor dem deutschen innerstaatlichen Recht. Zum anderen befreit Art. 15 des Sitzstaatabkommens wegen seiner Wirkung für die Vertragsparteien die Bundesrepublik Deutschland von jeder Verpflichtung, die Bestimmungen des deutschen Arbeits- und Sozialrechts gegenüber den Bediensteten der EZB anzuwenden.
55. In den vorstehend angeführten Urteilen Kommission/Deutschland und Kommission/Belgien, die die Auslegung des durch Verordnung festgelegten Statuts der europäischen Beamten betrafen, vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass der ergänzende Charakter der Familienzulagen nach dem Statut im Verhältnis zu anderweitig gezahlten gleichartigen Zulagen für die Mitgliedstaaten verbindlich ist und durch nationale Rechtsvorschriften nicht beeinträchtigt werden darf.
56. Der Gerichtshof stellte zum einen fest, dass die Bestimmungen des Statuts einen Mitgliedstaat daran hindern, die Zahlung der nach seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienbeihilfen mit der Begründung auszuschließen, dass für dasselbe Kind Zulagen nach dem Statut in Anspruch genommen werden können, wenn der an sich Anspruchsberechtigte, der Ehegatte eines aktiven Beamten, eines Ruhestandsbeamten oder eines sonstigen Bediensteten ist, in seinem Hoheitsgebiet eine unselbständige Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat(28).
57. Zum anderen hat er für Recht erkannt, dass die genannten Bestimmungen einen Mitgliedstaat auch daran hindern, nach seinen Rechtsvorschriften geschuldete Familienleistungen um den Betrag der in den Statutsbestimmungen vorgesehenen gleichartigen Zulagen zu kürzen, wenn der Ehegatte eines Beamten im aktiven Dienst, eines Ruhestandsbeamten oder eines sonstigen Bediensteten in seinem Hoheitsgebiet eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausübt oder ausgeübt hat oder der Beamte selbst außerhalb der Organe einer unselbständigen Teilzeitbeschäftigung nachgeht(29).
58. Unter diesen Umständen müssen, um auf die Fragen des vorlegenden Gerichts eine sachdienliche Antwort geben zu können, seine Fragen umformuliert werden. In der Zusammenschau zeigen sie nämlich, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 36.1 der ESZB-Satzung, der lediglich hilfsweise in den Vorlagefragen angeführt wird, die Bundesrepublik Deutschland daran hindert, Leistungen der sozialen Sicherheit wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Elterngeld den Bediensteten der EZB allgemein, im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften, auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips zu gewähren oder, subsidiär, dann, wenn die BSB keine solche Leistung vorsehen.
59. Ich halte daher für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens die Beantwortung dieser umformulierten Frage für erforderlich. Da die genannte Frage die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts betrifft, ist der Gerichtshof für ihre Beantwortung zuständig. Folglich kann das Vorbringen der deutschen Regierung, das Vorabentscheidungsersuchen sei angesichts der Rechtsnatur des Sitzstaatabkommens als Völkerrechtsakt und angesichts der sich hieraus ergebenden Unzuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung des Abkommens im Kontext des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV unzulässig, nicht durchgreifen.
B – Zur Befugnis der Bundesrepublik Deutschland, den Bediensteten der EZB Leistungen der sozialen Sicherheit zu gewähren
1. Der Rechtscharakter der Bestimmungen der BSB
60. Zunächst ist festzustellen, dass sich das Beschäftigungsverhältnis zwischen der EZB und ihren Bediensteten nach den vom EZB-Rat auf Vorschlag des Direktoriums der EZB gemäß Art. 36.1 der ESZB‑Satzung erlassenen BSB bestimmt. Nach Art. 9 Buchst. a der BSB werden die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen der EZB und ihren Bediensteten durch die im Einklang mit den Bestimmungen der BSB geschlossenen Beschäftigungsverträge geregelt. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, sind die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen der EZB und ihren Bediensteten vertraglicher und nicht dienstrechtlicher Natur(30).
61. Ich erinnere ferner daran, dass die BSB nicht durch Verordnung, sondern durch einen als „Beschluss“ bezeichneten Rechtsakt erlassen wurden, so dass sie für die Mitgliedstaaten, die nicht ihre Adressaten sind, keine bindende Wirkung entfalten. Ebenso wie das Statut der europäischen Beamten, dessen alleiniger Zweck es ist, die Rechtsbeziehungen zwischen den europäischen Organen und ihren Beamten zu regeln, verpflichten die Bestimmungen der BSB jedoch die EZB und ihr Personal und regeln – wie es das Statut der europäischen Beamten für den europäischen öffentlichen Dienst tut – die Rechte und Pflichten der Bediensteten der EZB(31).
62. Insoweit ist auch daran zu erinnern, dass Art. 36.1 der ESZB-Satzung der EZB eine funktionelle Autonomie hinsichtlich der für ihre Bediensteten geltenden Regelung verleiht. Diese Regelung, die in den BSB und den Dienstvorschriften getroffen wird (Art. 21 der Geschäftsordnung der EZB), unterscheidet sich von den für die Beamten und den für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union geltenden Vorschriften. Sie ist auch im Verhältnis zum Recht der Mitgliedstaaten autonom(32).
63. Nach Art. 36.1 der ESZB-Satzung steht es der EZB frei, die Beschäftigungsbedingungen für ihr Personal zu regeln, wobei darunter nicht nur die Arbeitsbedingungen zu verstehen sind, sondern auch die Sozialleistungen, auf die eine Person (oder ihr Rechtsnachfolger) in ihrer Eigenschaft als Bediensteter der EZB Anspruch hat(33). Entgegen den Ausführungen der Kommission in ihren Erklärungen ist die Regelungsbefugnis, die sich aus der ESZB-Satzung für die EZB in Bezug auf die Festlegung der Beschäftigungsbedingungen für ihr Personal ergibt, keine kollisionsrechtliche Bestimmung, die als solche die Anwendbarkeit sonstiger Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit ausschließen würde. Art. 36.1 der ESZB-Satzung ist meines Erachtens eine Bestimmung, die es der EZB ermöglicht, ausdrücklich oder implizit die Anwendbarkeit der verschiedenen sozialen Systeme auf ihr Personal zu regeln(34).
64. Hieraus folgt, dass die vom vorlegenden Gericht herausgearbeitete Problematik, die das Verhältnis zwischen dem durch die BSB errichteten System und anderen Systemen – wie dem durch das deutsche Sozialrecht errichteten – betrifft, nicht global gelöst werden kann. Eine Antwort, die dieser Problematik angemessen ist, setzt vielmehr voraus, dass jede einzelne Leistungsart nacheinander geprüft wird(35).
2. Der Anwendungsbereich der BSB
65. Der persönliche Anwendungsbereich der BSB ist in deren Art. 1 geregelt. Wie sich aus diesem Artikel ergibt, fällt unter den Begriff „Bediensteter“, wer einen unbefristeten oder einen auf länger als ein Jahr befristeten Beschäftigungsvertrag mit der EZB unterzeichnet und seine Tätigkeit in der EZB aufgenommen hat. Die Anhänge IIa und IIb der BSB enthalten darüber hinaus besondere Bedingungen, die für kurzzeitige Verträge (mit einer Laufzeit von weniger als einem Jahr) und für die Teilnehmer am Graduiertenprogramm („Graduate Programme“) gelten.
66. Im Unterschied zu den Teilnehmern am Graduiertenprogramm, für die die BSB gelten, sofern sich aus Anhang IIa nichts anderes ergibt, sind Personen, die einen kurzzeitigen Vertrag mit der EZB geschlossen haben (das sogenannte „temporäre“ Personal) und auf die die in Anhang IIb vorgesehenen besonderen Bedingungen Anwendung finden, offenbar nach Art. 1 der BSB von deren persönlichem Anwendungsbereich ausgeschlossen. Ich schließe daraus, dass das temporäre Personal nicht zu der Gruppe von Bediensteten der EZB gehört, auf die Art. 4c der Verordnung Nr. 549/69(36) Anwendung findet, wonach auch für das Personal der EZB die Vorrechte und Befreiungen gelten, die im Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen für die europäischen Beamten und Bediensteten vorgesehen sind.
67. Was den sachlichen Anwendungsbereich der BSB betrifft, erinnere ich zunächst daran, dass die EZB, im Einklang mit ihrer insoweit bestehenden Regelungsbefugnis, in Art. 9 Buchst. c der BSB vorsieht, dass innerstaatliches Recht auf die Beschäftigungsbedingungen keine Anwendung findet. Aufgrund dieser Bestimmung können somit die nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der Sozialversicherung, die auf dem Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses fußen, weder auf die EZB als Arbeitgeber noch auf die Bediensteten dieses Organs als Arbeitnehmer angewandt werden. Die Bestimmungen der nationalen Pflichtversicherungssysteme können folglich nicht auf die Bediensteten der EZB angewandt werden.
68. Zu klären bleibt jedoch noch der Status der Leistungen, die auf einer anderen Grundlage als dem Beschäftigungsverhältnis gewährt werden. Dazu zählen Leistungen, die auf der Grundlage von Systemen gewährt werden, denen der Bedienstete der EZB freiwillig beigetreten ist, Leistungen, die dem Bediensteten in einer anderen Eigenschaft denn als Bediensteter der EZB gewährt werden(37), und Leistungen, die dem Bediensteten auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips gewährt werden.
3. Die in den BSB vorgesehenen verschiedenen Leistungsarten
69. Aus den BSB ergibt sich, dass die Bediensteten der EZB dem Kranken- und Unfallversicherungssystem der EZB beitreten müssen. Diese Pflichtmitgliedschaft schließt daher jede Anwendung entsprechender nationaler Pflichtversicherungssysteme aus.
70. Den BSB ist jedoch zu entnehmen, dass zahlreiche Übergänge zwischen dem mit den BSB errichteten und dem nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen System bestehen. Wie sich aus den BSB ergibt, werden die im vierten und im sechsten Teil der BSB vorgesehenen Familienzulagen und Arbeitslosengelder von der EZB subsidiär gegenüber vergleichbaren Leistungen anderer Einrichtungen erbracht.
71. Nach den BSB setzt die Gewährung der genannten Leistungen voraus, dass der Bedienstete der EZB zuvor bei der zuständigen Behörde oder Einrichtung die Gewährung von Leistungen anderer Stellen beantragt und der EZB ihre Höhe mitgeteilt hat. Die entsprechenden Leistungen werden von der EZB somit nur ergänzend erbracht.
72. Die Wahl dieser Regelungen zeigt meines Erachtens, dass die Merkmale des durch die BSB geschaffenen Systems den Schluss zulassen, dass es sich zumindest bezüglich der Familienleistungen nicht um ein ausschließliches oder vorrangiges System handelt, sondern um eine Regelung, die andere Systeme der sozialen Sicherheit ergänzt. Diese Feststellung gilt auch für Leistungen der sozialen Sicherheit, die dem Bediensteten selbst gewährt werden, und nicht nur für Leistungen an Familienmitglieder oder Rechtsnachfolger der Bediensteten.
73. Unter diesen Umständen bin ich entgegen der Kommission und der EZB der Meinung, dass es keine ernsthaften, mit der Unabhängigkeit der EZB zusammenhängenden Gründe institutioneller Art für eine Auslegung der BSB gibt, nach der die Gewährung von Elterngeld – wie es im Ausgangsverfahren in Rede steht – auf der Grundlage des geltenden innerstaatlichen Rechts ausgeschlossen wäre. Ich betone, dass die für das Personal der EZB und der Union geltenden Regelungen die Anwendung anderer Systeme der sozialen Sicherheit in Bezug auf diesen Personenkreis erlauben(38).
74. Angesichts der vorstehenden Erwägungen, die den grundsätzlich ergänzenden Charakter des durch die BSB geschaffenen Systems deutlich machen, erscheint mir das Vorbringen der EZB, dass zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit und um ihr die Möglichkeit zu geben, an ihrem Sitz in Frankfurt am Main ungehindert ihre Aufgaben zu erfüllen, der systematische Ausschluss ihres Personals vom deutschen Arbeits- und Sozialrecht gerechtfertigt sei, wenig überzeugend. Die EZB selbst verpflichtet nämlich die Bediensteten, bei anderen Einrichtungen Anträge auf Gewährung von Leistungen zu stellen, die die EZB lediglich ergänzend zahlt.
75. Aufgrund des subsidiären Charakters der Leistungen, die – wie die Familienleistungen – in den BSB vorgesehen sind, im Verhältnis zu den von anderen Stellen bezogenen Leistungen bin ich überdies der Meinung, dass eine Auslegung, wonach die BSB die Anwendbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit systematisch ausschließen, nicht mit dem Erfordernis gerechtfertigt werden kann, die Gleichheit der Beamten und Bediensteten der Union verschiedener Staatsangehörigkeit zu gewährleisten.
76. Zwar besteht eines der den Bestimmungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen zugrunde liegenden Ziele darin, die Gleichheit der Gehälter der Beamten und sonstigen Bediensteten der Union zu gewährleisten, die weder der inländischen Einkommensteuer noch, in der Regel, dem innerstaatlichen Recht der sozialen Sicherheit unterliegen, doch ist dieses Ziel, ebenso wie die Gleichheit der Mitgliedstaaten, angesichts des ergänzenden Charakters der Leistungen, die die EZB im speziellen Kontext der für ihr Personal geltenden Regelung erbringt, nicht erreichbar(39).
77. Somit ist festzustellen, dass die BSB die Anwendbarkeit der innerstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit nicht generell ausschließen. Die Wirkung des durch die BSB geschaffenen Systems ist damit eine zweifache. Zum einen schließen die BSB die Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die Sozialversicherung im Bereich der Renten und der Kranken- und Unfallversicherung für die Bediensteten der EZB aus(40). Zum anderen bilden sie, wie vorstehend ausgeführt, ein ergänzendes und subsidiäres System in Bezug auf die Gewährung von Leistungen und Zulagen im Sinne des vierten und des sechsten Teils der BSB.
4. Die Auswirkung von Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Auslegung der BSB
78. Der Vollständigkeit halber möchte ich schließlich auf die Fälle eingehen, in denen, aufgrund des Untätigbleibens der EZB, deren Bedienstete die Möglichkeit haben, entweder durch freiwilligen Beitritt zu einem speziellen System(41) oder aufgrund des Territorialitätsprinzips, wie es hier beim Elterngeld der Fall ist, bestimmte Leistungen in Anspruch zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Berücksichtigung der Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von großer Wichtigkeit.
79. Somit ist die Bedeutung von Art. 34 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hervorzuheben, dem zufolge das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit zu achten ist, die in den dort genannten Fällen Schutz gewährleisten(42). Nach dieser Bestimmung und unter Berücksichtigung des Inhalts von Art. 9 Buchst. c der BSB, der ausdrücklich die Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Kontext der BSB anerkennt, können die BSB nämlich nicht dahin ausgelegt werden, dass die Anwendbarkeit von Sozialleistungen, die auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruhen, in Bezug auf Bedienstete oder ehemalige Bedienstete der EZB ausgeschlossen ist, wenn von der EZB keine vergleichbare Leistung erbracht wird(43).
80. Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Erwägungen bestätigt, die der Gerichtshof im Urteil Bosmann angestellt hat. Zwar betrifft dieses Urteil grenzüberschreitende Fälle, die rechtlich in einem völlig anderen Zusammenhang stehen(44), doch ist der vom Gerichtshof im Bereich der sozialen Sicherheit entwickelte Grundsatz der Komplementarität, dem zufolge dem Wohnsitzmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, meines Erachtens auch im vorliegenden Fall einschlägig(45). Die Erwägungen des Gerichtshofs zeigen nämlich eindeutig, dass der genannte Mitgliedstaat seine Befugnis, auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips Sozialleistungen zu erbringen, nicht allein deswegen verliert, weil ein anderes System der sozialen Sicherheit auf den Betreffenden anwendbar ist.
81. Speziell in Bezug auf das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Elterngeld ist auch daran zu erinnern, dass gemäß Art. 29 der BSB der Elternurlaub den Anforderungen der Richtlinie über den Elternurlaub genügen muss. Hieraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass das Fehlen einer Bestimmung in den BSB, die ein Elterngeld vorsieht – das, wenn es gewährt würde, sicher über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinausgehen würde –, zur Folge hat, dass dem betreffenden Mitgliedstaat deswegen die Befugnis abgesprochen wird, eine solche Leistung aufgrund des Territorialitätsprinzips zu gewähren.
82. Wie sich vielmehr aus Paragraf 4 Abs. 1 der in der genannten Richtlinie enthaltenen Vereinbarung ergibt, können die Mitgliedstaaten günstigere als die in der Vereinbarung vorgesehenen Regelungen anwenden oder festlegen. Angesichts dessen kann meines Erachtens nicht davon ausgegangen werden, dass die BSB es verbieten, einem Bediensteten der EZB Elterngeld zu gewähren, weil eine solche Leistung in den BSB nicht vorgesehen ist.
83. Darüber hinaus läge auch ein Verstoß gegen Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor, wenn die BSB dahin ausgelegt würden, dass sie ein ausschließliches, einer Anwendung des innerstaatlichen Sozialrechts auf die Beschäftigten der EZB entgegenstehendes System schaffen. Insbesondere hätte nach den Bestimmungen über den Status des temporären Personals eine solche, lediglich auf der Existenz eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Betreffenden und der EZB beruhende Auslegung zur Folge, dass dem Betreffenden – mit Ausnahme des Kranken- und Unfallversicherungsschutzes sowie des Versicherungsschutzes bei Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen – jede soziale Sicherung entzogen würde(46).
84. Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass es der Bundesrepublik Deutschland unbenommen bleibt, den Bediensteten der EZB Sozialleistungen zu gewähren, sofern die Gewährung dieser Leistungen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht an die Ausübung einer Berufstätigkeit gekoppelt ist und die EZB keine vergleichbare Leistung mit ausschließlichem Charakter gewährt.
85. Ich möchte jedoch hervorheben, dass Art. 15 des Sitzstaatabkommens die Bundesrepublik Deutschland nicht dazu verpflichtet, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich auf die Bediensteten der EZB anzuwenden. Folglich richten sich die Anwendbarkeit der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, sofern die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung erfüllt sind, sowie die Höhe der gewährten Leistung nach dem innerstaatlichen Recht.
V – Ergebnis
86. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Hessischen Landessozialgerichts Darmstadt wie folgt zu beantworten:
Art. 36.1 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank ist dahin auszulegen, dass er es der Bundesrepublik Deutschland nicht verwehrt, den Bediensteten der Europäischen Zentralbank Sozialleistungen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Elterngeld im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips zu gewähren, es sei denn, in den Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank ist eine solche Leistung mit ausschließlichem Charakter vorgesehen.