Language of document : ECLI:EU:T:2024:68

Rechtssache T146/22

Ryanair DAC

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 7. Februar 2024

„Staatliche Beihilfen – Beihilfe der Niederlande zugunsten von KLM im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie – Staatliche Garantie für ein Bankdarlehen und nachrangiges staatliches Darlehen – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Spürbare Beeinträchtigung der Stellung des Klägers auf dem Markt – Zulässigkeit – Bestimmung des Begünstigten der Beihilfe im Rahmen einer Unternehmensgruppe“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Kriterien – Beschluss der Kommission, mit dem eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Klage eines Konkurrenzunternehmens, das eine spürbare Beeinträchtigung seiner Marktstellung nachweist – Zulässigkeit – Pflicht des Konkurrenzunternehmens, den fraglichen Markt genau zu definieren und die Lage aller auf diesem Markt tätigen Wettbewerber zu vergleichen, um sich von ihnen abzugrenzen – Fehlen

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 19‑45)

2.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Bestimmung des Begünstigten der Beihilfe – Unternehmensgruppe, die eine wirtschaftliche Einheit bildet – Beurteilungskriterien – Finanzielle, organisatorische, funktionale und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den zu dieser Gruppe gehörenden Unternehmen – Vertraglicher Rahmen und Kontext der in Rede stehenden Beihilfemaßnahmen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV)

(vgl. Rn. 52‑62, 76, 77, 97, 107, 132, 139‑146)

3.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Bestimmung des Begünstigten der Beihilfe – Unmittelbar oder mittelbar begünstigtes Unternehmen – Mittelbarer Vorteil – Begriff – Unterscheidung zwischen mittelbarem Vorteil und sekundären wirtschaftlichen Auswirkungen, die einer Beihilfemaßnahme inhärent sind

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV; Mitteilung 2016/C 262/01 der Kommission, Rn. 115 und 116)

(vgl. Rn. 149‑158)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats – Beihilfen zur Deckung des unmittelbaren Liquiditätsbedarfs einer Luftfahrtgesellschaft im Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie – Beschluss der Kommission, mit dem die Beihilfen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden – Offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission bei der Ermittlung der Begünstigten – Fehler, der sich auf die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Binnenmarkt auswirken kann

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV)

(vgl. Rn. 159‑163)

Zusammenfassung

Auf die Klage der Fluggesellschaft Ryanair erklärt das Gericht den Beschluss der Kommission vom 16. Juli 2021(1) für nichtig, mit dem diese eine vom Königreich der Niederlande angemeldete finanzielle Unterstützung zugunsten der Fluggesellschaft KLM als nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbare staatliche Beihilfe eingestuft hat. In diesem Rahmen macht das Gericht nähere Angaben zur Bestimmung der Begünstigten einer Beihilfemaßnahme im Kontext einer Unternehmensgruppe.

Am 26. Juni 2020 meldete das Königreich der Niederlande bei der Kommission eine staatliche Beihilfe zugunsten von KLM an, die zum einen aus einer staatlichen Garantie für ein von einem Bankenkonsortium zu gewährendes Darlehen und zum anderen in einem staatlichen Darlehen bestand (im Folgenden: in Rede stehende Maßnahme). Das Gesamtbudget für die Beihilfe belief sich auf 3,4 Mrd. Euro.

Die in Rede stehende Maßnahme steht im Zusammenhang mit einer Reihe weiterer staatlicher Beihilfemaßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen der Air-France-KLM-Gruppe, deren beiden wichtigsten Tochtergesellschaften die Fluggesellschaften KLM und Air France sind.

Insbesondere genehmigte die Kommission mit Beschluss vom 4. Mai 2020 (im Folgenden: Air-France-Beschluss)(2) eine Einzelbeihilfe, die die Französische Republik Air France zum einen in Form einer staatlichen Garantie in Höhe von 90 % für ein von einem Bankenkonsortium gewährtes Darlehen in Höhe von 4 Mrd. Euro und zum anderen in Form eines Gesellschafterdarlehens in Höhe von bis zu 3 Mrd. Euro gewährte. Am 5. April 2021 stellte die Kommission außerdem fest, dass eine von der Französischen Republik in Form einer Kapitalerhöhung von Air France und der Air-France-KLM-Holding gewährte Einzelbeihilfe in Höhe von insgesamt 4 Mrd. Euro mit dem Binnenmarkt vereinbar sei (im Folgenden: Beschluss Air France-KLM und Air France)(3).

Das Ziel der in Rede stehenden Maßnahme bestand in der vorübergehenden Versorgung von KLM mit der erforderlichen Liquidität, um den negativen Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie begegnen zu können.

Mit Beschluss vom 13. Juli 2020(4) stufte die Kommission die in Rede stehende Maßnahme als eine nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbare staatliche Beihilfe ein. Laut diesem Beschluss war KLM die einzige Begünstigte der Beihilfe, unter Ausschluss der anderen Unternehmen der Air-France-KLM-Gruppe.

Mit Urteil vom 19. Mai 2021(5) erklärte das Gericht den Beschluss vom 13. Juli 2020 gleichwohl mit der Begründung für nichtig, dass er einen Begründungsmangel hinsichtlich der Bestimmung des Begünstigten der in Rede stehenden Maßnahme aufweise. Darüber hinaus beschloss das Gericht, die Wirkungen der Nichtigerklärung dieses Beschlusses nach Art. 108 AEUV bis zum Erlass eines neuen Beschlusses durch die Kommission auszusetzen.

Am 16. Juli 2021 erließ die Kommission daher einen zweiten Beschluss, in dem sie erneut feststellte, dass die in Rede stehende Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, aber auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Dieses Mal ermittelte die Kommission KLM und ihre Tochtergesellschaften, unter Ausschluss der anderen Unternehmen der Air-France-KLM-Gruppe, als einzige Begünstigte der Beihilfe.

Ryanair erhob beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung dieses zweiten Beschlusses, wobei sie insbesondere den Ausschluss der Air-France-KLM-Holding und ihrer Tochtergesellschaft Air France aus dem Kreis der Begünstigten der in Rede stehende Maßnahme beanstandete.

Würdigung durch das Gericht

Hinsichtlich der Bestimmung der Begünstigten einer angemeldeten Beihilfemaßnahme im Kontext einer Unternehmensgruppe weist das Gericht darauf hin, dass die Kommission zwar insoweit über ein weites Ermessen verfügt, der Unionsrichter jedoch nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Stichhaltigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren muss, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.

Aus der Rechtsprechung und der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe(6) geht des Weiteren hervor, dass mehrere getrennte rechtliche Einheiten für die Zwecke der Anwendung der Beihilfevorschriften als eine wirtschaftliche Einheit angesehen werden können. Zu den Faktoren, die bei der Feststellung des Vorliegens einer solchen wirtschaftlichen Einheit berücksichtigt werden, gehören insbesondere die Kapitalverflechtungen und die organisatorischen, funktionellen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den betreffenden Einheiten, die Verträge, in denen die Gewährung der angemeldeten Beihilfe festgelegt ist, sowie die Art der gewährten Beihilfemaßnahme und der Kontext, in den sie sich einfügt.

In Anbetracht dieser Klarstellungen stellt das Gericht zunächst fest, dass die Kapitalverflechtungen und organisatorischen Verbindungen innerhalb der Air-France-KLM-Gruppe dafürsprechen, dass die getrennten rechtlichen Einheiten innerhalb dieser Gruppe für die Zwecke der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass die Feststellungen der Kommission im angefochtenen Beschluss und die von Ryanair vorgelegten Beweise zeigen, dass die Air-France-KLM-Holding tatsächlich eine Kontrolle über die Tochtergesellschaften Air France und KLM ausübt, indem sie unmittelbar oder mittelbar Einfluss auf deren Geschäftsführung nimmt und somit an der von ihnen ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit beteiligt ist. Daraus folgt auch, dass es auf der Ebene der Air-France-KLM-Gruppe zumindest in Bezug auf bestimmte wichtige Entscheidungen ein zentralisiertes Entscheidungsverfahren und eine gewisse Koordinierung gibt, die durch gemischte Organe sichergestellt werden, die sich aus hochrangigen Vertretern der Air-France-KLM-Holding, von Air France und von KLM zusammensetzen.

Die Schlussfolgerung der Kommission, dass die Air-France-KLM-Holding, Air France und KLM für die Zwecke der Bestimmung der Begünstigten der in Rede stehenden Maßnahme keine wirtschaftliche Einheit bildeten, wird außerdem durch die funktionellen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen diesen Gesellschaften entkräftet. Die Beschreibung dieser Verbindungen im angefochtenen Beschluss und die von Ryanair insoweit angeführten Beispiele zeugen nämlich von einer gewissen funktionellen, geschäftlichen und finanziellen Integration und Zusammenarbeit zwischen diesen Gesellschaften.

Sodann stellt das Gericht klar, dass entgegen dem Vorbringen der Kommission der vertragliche Rahmen, auf dessen Grundlage die in Rede stehende Maßnahme gewährt wird, nicht den Schluss zulässt, dass allein KLM und ihre Tochtergesellschaften, nicht aber auch die Air-France-KLM-Holding und Air France sowie die von ihnen kontrollierten Tochtergesellschaften, Begünstigte der in Rede stehenden Maßnahme sind. Hierzu führt das Gericht aus, dass mehrere Bedingungen für die Gewährung der in Rede stehenden Maßnahme ausdrücklich von der Zustimmung der Air-France-KLM-Holding abhängig gemacht wurden oder Gegenstand einer von ihr eingegangenen Verpflichtung waren. Dies zeigt, dass die Verträge, auf deren Grundlage die in Rede stehende Maßnahme gewährt wurde, dieser Holding erhebliche vertragliche Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit der Gewährung und Durchführung dieser Maßnahme auferlegen. Zudem garantiert die in Rede stehende Maßnahme mit der Lebensfähigkeit von KLM auch die Lebensfähigkeit der Air-France-KLM-Holding. Ohne diese Maßnahme hätte die Gefahr des Ausfalls von KLM auf diese Holding und damit auf die gesamte Air-France-KLM-Gruppe übergreifen können. Angesichts des Integrationsgrads innerhalb der Air-France-KLM-Gruppe ist die in Rede stehende Maßnahme somit geeignet, zumindest mittelbar die finanzielle Position dieser Gruppe in ihrer Gesamtheit zu stärken.

Unter Hinweis auf einen chronologischen, strukturellen und wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen der in Rede stehenden Maßnahme und den Beihilfemaßnahmen, die Gegenstand des Air-France-Beschlusses und des Beschlusses Air France-KLM und Air France waren, stellt das Gericht außerdem fest, dass die Beihilfemaßnahme, die Gegenstand des Beschlusses Air France-KLM und Air France war, im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt wird. Im Beschluss Air France-KLM und Air France – der über drei Monate vor dem angefochtenen Beschluss erlassen worden war – hatte die Kommission sowohl die Air-France-KLM-Holding und ihre Tochtergesellschaften als auch Air France und ihre Tochtergesellschaften, mit Ausnahme von KLM und deren Tochtergesellschaften, als Begünstigte der Beihilfemaßnahme angesehen, die Gegenstand dieses Beschlusses war. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles hätte die Kommission auch den Beschluss Air France-KLM und Air France berücksichtigen müssen, was sie jedoch unterlassen hat.

Schließlich weist das Gericht das Vorbringen der Kommission zurück, dass die in Rede stehende Maßnahme allenfalls bloße sekundäre wirtschaftliche Auswirkungen auf die Air-France-KLM-Holding und Air France habe. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass die bei einer Betrachtung ex ante vorhersehbaren Auswirkungen der in Rede stehenden Maßnahme nahelegen, dass die vorgesehene Finanzierungslösung der Air-France-KLM-Gruppe insgesamt zugutekommen konnte, indem sie ihre finanzielle Gesamtposition verbesserte. Nach der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe deutet eine solche Finanzierungslösung auf zumindest einen mittelbaren Vorteil für die Air-France-KLM-Gruppe hin.

Nach alledem ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie davon ausging, dass die Begünstigten der in Rede stehenden Maßnahme KLM und ihre Tochtergesellschaften seien, nicht aber auch die Air-France-KLM-Holding und ihre anderen Tochtergesellschaften einschließlich Air France und deren Tochtergesellschaften. Da sich diese fehlerhafte Bestimmung der Begünstigten auf die gesamte Prüfung der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Maßnahme mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV auswirken kann, erklärt das Gericht den angefochtenen Beschluss für nichtig.


1      Beschluss C(2021) 5437 final der Kommission vom 16. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.57116 (2020/N) – Niederlande – COVID‑19: Staatliche Garantie für ein Darlehen und staatliches Darlehen zugunsten von KLM.


2      Beschluss C(2020) 2983 final der Kommission vom 4. Mai 2020 über die staatliche Beihilfe SA.57082 (2020/N) – Frankreich – COVID‑19: Befristeter Rahmen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV – Garantie und Gesellschafterdarlehen zugunsten von Air France, berichtigt durch die Beschlüsse C(2020) 9384 final vom 17. Dezember 2020 und C(2021) 5701 final vom 26. Juli 2021.


3      Beschluss C(2021) 2488 final der Kommission vom 5. April 2021 über die staatliche Beihilfe SA.59913 – Frankreich – COVID‑19 – Rekapitalisierung von Air France und Air France-KLM.


4      Beschluss C(2020) 4871 final der Kommission vom 13. Juli 2020 über die staatliche Beihilfe SA.57116 (2020/N) – Niederlande – COVID‑19: Staatliche Garantie und staatliches Darlehen zugunsten von KLM.


5      Urteil vom 19. Mai 2021, Ryanair/Kommission (KLM; Covid‑19) (T‑643/20, EU:T:2021:286).


6      Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2016, C 262, S. 1).