Language of document : ECLI:EU:C:2022:761

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 6. Oktober 2022(1)

Rechtssache C339/21

Colt Technology Services SpA,

Wind Tre SpA,

Telecom Italia SpA,

Vodafone Italia SpA

gegen

Ministero della Giustizia,

Ministero dello Sviluppo Economico,

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Cagliari,

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Roma,

Procura Generale della Repubblica presso la Corte d’appello di Reggio Calabria,

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Locri

(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Staatsrat, Italien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie (EU) 2018/1972 – Art. 13 – Bedingungen bei Allgemeingenehmigungen – Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz – Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs – Entschädigung – Vollständige Erstattung der von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste getragenen Kosten“






 I.      Einleitung

1.        Sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste die Kosten, die ihnen für die Ermöglichung der Überwachung elektronischer Kommunikation durch die zuständigen nationalen Behörden entstehen, vollständig zu ersetzen? Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) stellt diese Frage insbesondere unter Bezugnahme auf die Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation(2).

 II.      Rechtlicher Rahmen

 A.      Unionsrecht

2.        In den Erwägungsgründen der Richtlinie 2018/1972 werden u. a. folgende Ziele genannt:

„(5)      Mit dieser Richtlinie wird ein rechtlicher Rahmen für die freie Bereitstellung elektronischer Kommunikationsnetze und ‑dienste geschaffen, wobei diese lediglich den Bestimmungen dieser Richtlinie und etwaigen Einschränkungen gemäß Artikel 52 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insbesondere Maßnahmen in Bezug auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit unterliegt und im Einklang mit Artikel 52 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) steht.

(6)      Diese Richtlinie lässt die Möglichkeit für jeden Mitgliedstaat unberührt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Schutz seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen sicherzustellen, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit zu wahren und die Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten zu ermöglichen, wobei zu berücksichtigen ist, dass jede Beschränkung der Wahrnehmung der durch die Charta, insbesondere die Artikel 7, 8 und 11, anerkannten Rechte und Freiheiten – wie etwa Beschränkungen in Bezug auf die Verarbeitung von Daten – gemäß Artikel 52 Absatz 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt der in der Charta verankerten Rechte und Freiheiten wahren und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen muss.“

3.        Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2018/1972 sieht vor:

„Von dieser Richtlinie unberührt bleiben:

c)      die Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten für Zwecke der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit sowie für die Verteidigung ergriffen werden;

…“

4.        Art. 13 („Bedingungen bei Allgemeingenehmigungen und Nutzungsrechten für Funkfrequenzen und für Nummerierungsressourcen sowie besondere Verpflichtungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2018/1972 bestimmt:

„Die Allgemeingenehmigung für die Bereitstellung elektronischer Kommunikationsnetze oder ‑dienste sowie die Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen und die Rechte zur Nutzung von Nummerierungsressourcen können nur an die in Anhang I genannten Bedingungen geknüpft werden. Diese müssen nicht diskriminierend, verhältnismäßig und transparent sein. …“

5.        Anhang I trägt die Überschrift „Liste der Bedingungen, die an Allgemeingenehmigungen und an Nutzungsrechte für Funkfrequenzen und für Nummerierungsressourcen geknüpft werden können“. In Anhang I Teil A („Allgemeine Bedingungen, die an eine Allgemeingenehmigung geknüpft werden können“) heißt es:

„…

„4.      Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs entsprechend der Verordnung (EU) 2016/679 und der Richtlinie 2002/58/EG.

…“

 B.      Italienisches Recht

6.        Art. 96 des Decreto legislativo n. 259 – Codice delle comunicazioni elettroniche vom 1. August 2003 (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 259 – Gesetzbuch über die elektronische Kommunikation, GURI Nr. 214 vom 15. September 2003, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 259/2003) („Obligatorische Leistungen“) sieht vor:

(1)      Die auf Überwachungs- und Auskunftsersuchen der zuständigen Justizbehörden durchgeführten Leistungen für die Zwecke der Rechtspflege sind für die Betreiber obligatorisch; die Zeiten und Modalitäten werden bis zur Genehmigung des in Abs. 2 genannten Dekrets mit den genannten Behörden vereinbart.

(2)      Zur Festsetzung der jährlichen Pauschalgebühr für die in Abs. 1 genannten obligatorischen Leistungen werden die Listeneinträge nach dem Dekret des Ministers für Kommunikation vom 26. April 2001, GURI Nr. 104 vom 7. Mai 2001, durch das bis zum 31. Dezember 2017 von dem Justizminister und dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung im Benehmen mit dem Minister für Wirtschaft und Finanzen zu erlassende Dekret geändert. Das Dekret:

a)      regelt die Arten der obligatorischen Leistungen und legt deren Tarife unter Berücksichtigung der Entwicklung der Kosten und der Dienste so fest, dass eine Kostenersparnis von mindestens 50 Prozent im Vergleich zu den geltenden Tarifen erzielt wird. Der Tarif enthält die Kosten für alle Dienste, die von jeder Netzidentität gleichzeitig aktiviert oder genutzt werden;

b)      bestimmt die Personen, die zu obligatorischen Überwachungsleistungen verpflichtet sind, und zwar auch unter Dienstanbietern, deren Infrastruktur den Netzzugang oder die Verbreitung von Informations- oder Kommunikationsinhalten ermöglicht, sowie unter den Personen, die, in welcher Eigenschaft auch immer, Telekommunikationsdienste oder Anwendungen anbieten, auch wenn diese über fremde Zugangs- oder Übertragungsnetze genutzt werden können;

c)      legt die Pflichten der zu obligatorischen Leistungen verpflichteten Personen und die Modalitäten der Ausführung dieser Leistungen fest, darunter die Einhaltung einheitlicher EDV-Verfahren für die Übermittlung und Verwaltung von Mitteilungen administrativer Art, einschließlich der Phasen vor der Bezahlung dieser Dienstleistungen.

(3)      Im Fall der Nichteinhaltung der in dem in Abs. 2 genannten Dekret enthaltenen Verpflichtungen gilt Art. 32 Abs. 2, 3, 4, 5 und 6.

(4)      Bis zum Erlass des in Abs. 2 genannten Dekrets erfolgt die Auskunftserteilung über den Telefonverkehr unentgeltlich. In Bezug auf andere als die in Satz 1 genannten Dienstleistungen für die Justiz gilt weiterhin die Liste, die durch das Dekret des Ministers für Kommunikation vom 26. April 2001, GURI Nr. 104 vom 7. Mai 2001, verabschiedet wurde.

(5)      Zur Erbringung der in Abs. 2 genannten Dienste sind die Betreiber verpflichtet, untereinander die Modalitäten der Zusammenschaltung auszuhandeln, um die Bereitstellung und Interoperabilität dieser Dienste zu gewährleisten. Das Ministerium kann erforderlichenfalls von sich aus oder, falls keine Einigung zwischen den Betreibern zustande kommt, auf Antrag eines von ihnen tätig werden.“

7.        Im Einklang mit Art. 96 Abs. 2 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 259/2003 regelt das Decreto interministeriale del Ministro della giustizia e del Ministro dello sviluppo economico di concerto con il Ministro dell’economia e delle finanze – Disposizione di riordino delle spese per le prestazioni obbligatorie di cui all’articolo 96 del decreto legislativo n. 259 del 2003 vom 28. Dezember 2017 (interministerielles Dekret, das der Justizminister und der Minister für wirtschaftliche Entwicklung im Benehmen mit dem Minister für Wirtschaft und Finanzen erlassen haben – Regelung zur Neufestsetzung der Kosten für die obligatorischen Leistungen gemäß Art. 96 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 259/2003, GURI Nr. 33 vom 9. Februar 2018, im Folgenden: interministerielles Dekret vom 28. Dezember 2017) die Voraussetzungen für die Erbringung obligatorischer Leistungen und legt in seinem Anhang die von den italienischen Behörden für solche Leistungen zu zahlenden Gebühren fest.

 III.      Ausgangsrechtsstreit und Vorabentscheidungsersuchen

8.        Die Colt Technology Services SpA, die Wind Tre SpA, die Telecom Italia SpA und die Vodafone Italia SpA sind Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste, die u. a. Internet‑, Festnetz- und Mobiltelekommunikationsdienste in Italien bereitstellen. Mit getrennten Klagen fochten sie das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 an. Sie machten insbesondere geltend, dass die von den italienischen Behörden nach diesem Dekret zu zahlenden Gebühren die Kosten der Bereitstellung der obligatorischen Leistungen für die von den zuständigen nationalen Justizbehörden angeordnete Überwachung elektronischer Kommunikation nicht vollständig deckten.

9.        Das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) wies die Klagen von Colt Technology Services, Wind Tre, Telecom Italia und Vodafone Italia ab. Diese Anbieter legten daraufhin Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat) ein, der diese Rechtsmittel verbunden hat.

10.      Im Rahmen der Entscheidung über die Rechtsmittel hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) dem Gerichtshof am 13. Juli 2020 ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Art. 18, 26 und 102 AEUV vorgelegt.

11.      Am 26. November 2020 wies der Gerichtshof dieses Vorabentscheidungsersuchen als offensichtlich unzulässig zurück(3). Nach Ansicht des Gerichtshofs hatte sich das vorlegende Gericht im Wesentlichen darauf beschränkt, die von den Klägern des Ausgangsverfahrens vorgebrachten Argumente zu wiederholen. Es hatte somit weder, wie gemäß Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs erforderlich, die Gründe dargestellt, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung der Art. 18, 26 und 102 AEUV hatte, noch den Zusammenhang zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht dargelegt(4). Der Gerichtshof merkte außerdem an, dass das vorlegende Gericht ein neues Vorabentscheidungsersuchen vorlegen könne, das die Angaben enthalte, die ihm eine zweckdienliche Antwort ermöglichen würden(5).

12.      Am 31. Mai 2022 hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) im Rahmen desselben Verfahrens das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. Er hat darauf hingewiesen, dass nach der Richtlinie 2018/1972 eine Allgemeingenehmigung für die Bereitstellung elektronischer Kommunikationsdienste an die Verpflichtung zur Erbringung obligatorischer Leistungen wie der von den Justizbehörden angeordneten Überwachung elektronischer Kommunikation geknüpft sein könne. Art. 13 der Richtlinie 2018/1972 verlange zwar, dass die an eine Allgemeingenehmigung geknüpften Bedingungen nicht diskriminierend, verhältnismäßig und transparent sein müssten, doch verlange das Unionsrecht nicht ausdrücklich, dass den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste eine vollständige Entschädigung für die Kosten gezahlt werde, die ihnen bei der Durchführung der gerichtlichen Anordnungen zur Überwachung dieser Kommunikation entstünden.

13.      Nach alledem hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen die Art. 18, 26, 49, 54 und 55 AEUV, die Art. 3 und 13 der Richtlinie 2018/1972 sowie die Art. 16 und 52 der Charta einer nationalen Regelung entgegen, die bei der Betrauung einer Verwaltungsbehörde mit der Aufgabe, die Entschädigung, die Telekommunikationsbetreibern für auf Ersuchen von Justizbehörden verpflichtend durchzuführende Überwachungstätigkeiten im Telekommunikationsverkehr gewährt wird, festzulegen, nicht die Beachtung des Grundsatzes der vollständigen Erstattung der tatsächlich entstandenen und von den Betreibern ordnungsgemäß belegten Kosten in Bezug auf diese Tätigkeiten vorschreibt, und die Verwaltungsbehörde darüber hinaus verpflichtet, gegenüber den früheren Kriterien für die Berechnung der Entschädigung Kosten einzusparen?

14.      Colt Technology Services, Wind Tre, Telecom Italia, Vodafone Italia, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 18. Mai 2022 mündliche Ausführungen gemacht und die Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

 IV.      Würdigung

 A.      Anwendung der Richtlinie 2018/1972

15.      Auf Ersuchen des Gerichtshofs beschränken sich die vorliegenden Schlussanträge auf die Prüfung der Anwendung der Richtlinie 2018/1972 im Zusammenhang mit der Vorlagefrage.

16.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 2018/1972 dahin auszulegen ist, dass sie die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine vollständige Entschädigung für die Kosten vorzusehen, die den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste durch die von den zuständigen nationalen Justizbehörden angeordnete obligatorische Überwachung elektronischer Kommunikation entstehen.

17.      Zum Zeitpunkt des Erlasses des interministeriellen Dekrets vom 28. Dezember 2017 war die Richtlinie 2002/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und ‑dienste (Genehmigungsrichtlinie)(6) in Kraft und ordnungsgemäß in italienisches Recht umgesetzt worden. Die Richtlinie 2018/1972 trat gemäß ihren Art. 124 und 126 am 20. Dezember 2018 mit einer Frist zur Umsetzung in das Recht der Mitgliedstaaten bis zum 21. Dezember 2020 in Kraft. Gemäß Art. 125 der Richtlinie 2018/1972 wurde die Richtlinie 2002/20 mit Wirkung vom 21. Dezember 2020 aufgehoben. Zum Zeitpunkt der Vorlageentscheidung war die Richtlinie 2018/1972 in Kraft getreten, die Frist für ihre Umsetzung in das Recht der Mitgliedstaaten abgelaufen und die Richtlinie 2002/20 aufgehoben worden. Die für das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2002/20(7) und der Richtlinie 2018/1972 sind im Wesentlichen identisch. Die schriftlichen und mündlichen Erklärungen aller Beteiligten des vorliegenden Verfahrens vor dem Gerichtshof beziehen sich auf die Bestimmungen der Richtlinie 2018/1972 und nicht auf die der Richtlinie 2002/20. Schließlich ersucht das vorlegende Gericht um die Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie 2018/1972. Aus all diesen Gründen werden in den vorliegenden Schlussanträgen die Bestimmungen der Richtlinie 2018/1972 ausgelegt.

 B.      Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

18.      Colt Technology Services, Wind Tre, Telecom Italia und Vodafone Italia tragen vor, die Frage des vorlegenden Gerichts sei zu bejahen. Die durch das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 festgelegten Gebühren seien viel zu niedrig und deckten nur einen kleinen Teil der Kosten ab, die ihnen für die von den Justizbehörden angeordnete Überwachung elektronischer Kommunikation entstünden.

19.      Außerdem verstoße das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 gegen Art. 13 der Richtlinie 2018/1972, da es diskriminierend, unverhältnismäßig und nicht transparent sei. Erstens benachteilige es größere Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste, die wahrscheinlich mehr Überwachungen als ihre kleineren Mitanbieter durchführten. Es führe auch zu einer Diskriminierung der italienischen Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste, da die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Anbieter keine Kosten für Überwachungen zu tragen hätten. Zweitens verstoße das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da es den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste erhebliche nicht erstattungsfähige Kosten auferlege. Dies könne allgemein die angemessene Bereitstellung elektronischer Kommunikationsdienste beeinträchtigen und insbesondere die wirtschaftliche Lebensfähigkeit bestimmter Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste gefährden. Vodafone Italia macht außerdem geltend, das Fehlen einer vollständigen Entschädigung könne die Qualität der von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste erbrachten Überwachungsdienstleistungen verringern, was dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufe. Drittens ist Wind Tre der Ansicht, das Verfahren, das zur Annahme des interministeriellen Dekrets vom 28. Dezember 2017 geführt habe, sei intransparent.

20.      Unter Berufung auf eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Bereitstellung von Universaldiensten ergänzt Vodafone Italia, dass in der Richtlinie 2018/1972 der Grundsatz der vollständigen Entschädigung für die Kosten festgelegt werde, die den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste für die Erbringung obligatorischer Leistungen wie der von den Justizbehörden angeordneten Überwachung der elektronischen Kommunikation entstünden.

21.      Nach Ansicht der italienischen Regierung ist die Frage des vorlegenden Gerichts zu verneinen. Die Richtlinie 2018/1972 verlange lediglich, dass die an eine Allgemeingenehmigung für die Bereitstellung elektronischer Kommunikationsnetze oder ‑dienste geknüpften Bedingungen nicht diskriminierend, verhältnismäßig und transparent seien. Sie sehe keine vollständige Entschädigung für die von den Justizbehörden angeordnete Überwachung elektronischer Kommunikation vor. Die italienische Regierung macht geltend, auch wenn diese Feststellung Sache des vorlegenden Gerichts sei, enthalte die Vorlageentscheidung keinen Hinweis darauf, dass die von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste zur Ermöglichung einer solchen Überwachung getragenen Kosten deren finanzielle Lebensfähigkeit beeinträchtigen könnten. Es gebe keine tatsächliche Grundlage für die Behauptung, dass das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

22.      Die Kommission weist darauf hin, dass Art. 13 der Richtlinie 2018/1972 nicht ausdrücklich vorsehe, dass die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste eine Entschädigung für die Kosten erhielten, die ihnen für die Erbringung obligatorischer Leistungen aufgrund einer Allgemeingenehmigung entstünden. Die Mitgliedstaaten verfügten bei der Regelung einer Entschädigung über einen gewissen Ermessensspielraum, sofern sie die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz beachteten.

23.      Die Kommission tritt dem Vorbringen entgegen, dass das Fehlen einer vollständigen Entschädigung einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung darstelle. Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt die Kommission aus, dass das Unionsrecht mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der anwendbaren Regelung keine allgemeine Verpflichtung enthalte, den Wirtschaftsteilnehmern die durch die Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen entstehenden Kosten in vollem Umfang zu ersetzen. Selbst unter Umständen, unter denen es angebracht sein könne, eine gerechte Entschädigung vorzusehen, da die den Wirtschaftsteilnehmern auferlegten Verpflichtungen nicht untrennbar mit der Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhingen, gebe es keine Verpflichtung zur Leistung einer vollständigen Entschädigung. Eine derartige Verpflichtung könne sogar die Anreize für Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste verringern, obligatorische Leistungen effizient zu erbringen.

 C.      Prüfung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2018/1972

24.      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts ihr Wortlaut, ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden(8).

25.      Nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2018/1972 bleiben Maßnahmen von dieser Richtlinie unberührt, die von den Mitgliedstaaten u. a. für Zwecke der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit ergriffen werden. Daraus folgt, dass nationale Maßnahmen, die die Richtlinie 2018/1972 grundsätzlich nicht erlauben würde, gleichwohl durch den Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sein können.

26.      Nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2018/1972 kann die Allgemeingenehmigung für elektronische Kommunikationsdienste nur an die in Anhang I genannten Bedingungen geknüpft werden. Diese müssen nicht diskriminierend, verhältnismäßig und transparent sein.

27.      Nach Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972, in der die allgemeinen Bedingungen aufgeführt sind, die an eine Allgemeingenehmigung geknüpft werden können, ist es den Mitgliedstaaten gestattet, eine Allgemeingenehmigung von der „Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs entsprechend [der Datenschutzvorschriften]“ abhängig zu machen.

28.      Aus dem Wortlaut der angeführten Bestimmungen ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten von Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste verlangen können, die Überwachung elektronischer Kommunikation zu ermöglichen, wenn die zuständigen nationalen Behörden dies anordnen. Im Licht von Art. 13 Abs. 1 und Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972 dürfte die auf Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützte Ausnahme in Art. 1 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie für dieses Vorabentscheidungsersuchen unerheblich sein. Die Richtlinie 2018/1972 selbst erlaubt es den Mitgliedstaaten nämlich ausdrücklich, den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste als Bedingung vorzuschreiben, dass sie die Überwachung elektronischer Kommunikation ermöglichen müssen, um die Genehmigung für die Bereitstellung dieser Dienste zu erhalten. Darüber hinaus verpflichtet die Richtlinie 2018/1972 die Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich dazu, eine Entschädigung für die Kosten vorzusehen, die den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste für die Überwachung dieser Kommunikation entstehen.

29.      Nach alledem geht es vor dem Gerichtshof offenbar um zwei Fragen. Erstens, was umfasst die „Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs [durch die zuständigen nationalen Behörden]“? Zweitens, kann es gegen die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz verstoßen, wenn den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste keine vollständige Entschädigung für die Kosten gewährt wird, die ihnen für die rechtmäßige Überwachung durch die zuständigen nationalen Behörden entstehen?

30.      Was den ersten Punkt angeht, so scheint mir, dass es für Bedingung Nr. 4 zwei Auslegungsmöglichkeiten gibt. Erstens könnte man die Auffassung vertreten, dass die „Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung“ dahin auszulegen ist, dass von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste verlangt werden kann, diese Überwachung zu ermöglichen, ohne dass sie die Kommunikation unbedingt selbst überwachen. Bei diesem Ansatz könnte von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste verlangt werden, die technische Infrastruktur und das Personal bereitzustellen, die unerlässlich sind, um die Überwachung elektronischer Kommunikation durch die zuständigen nationalen Behörden zu ermöglichen. Von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste zu verlangen, dass sie die Überwachung selbst durchführen, verlangt daher mehr von ihnen als die bloße Schaffung der Möglichkeit einer rechtmäßigen Überwachung, womit ihnen eine Belastung auferlegt wird, die über das hinausgeht, was die an eine Allgemeingenehmigung geknüpften Bedingungen umfassen können.

31.      Eine alternative Auslegung von Bedingung Nr. 4 geht dahin, dass der Ausdruck „Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung [durch die zuständigen nationalen Behörden]“ verwendet wird, weil nur die zuständigen nationalen Behörden befugt sind, die rechtmäßige Überwachung elektronischer Kommunikation anzuordnen. Unabhängig von ihrer praktischen Beteiligung können die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste die rechtmäßige Überwachung elektronischer Kommunikation immer nur ermöglichen, da sie selbst nicht zu ihrer Durchführung befugt sind. Eine solche Auslegung, die anerkennt, dass ausschließlich die zuständigen nationalen Behörden befugt sind, die rechtmäßige Überwachung elektronischer Kommunikation anzuordnen, steht auch im Einklang mit den Zielen dieser Maßnahme. Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972 sieht daher vor, dass die zuständigen nationalen Behörden mehr als ein Mindestmaß an Zusammenarbeit von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste verlangen können, wenn es um die rechtmäßige Überwachung elektronischer Kommunikation geht. Eine Prüfung der verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie 2018/1972 scheint ebenfalls die Auffassung zu stützen, dass die rechtmäßige Überwachung elektronischer Kommunikation ein Vorrecht der zuständigen nationalen Behörden ist(9).

32.      Neben den Erwägungen zum Begriff der „rechtmäßigen Überwachung“ sprechen pragmatische Gründe für die Auffassung, dass Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972 dahin zu verstehen ist, dass sie die Mitgliedstaaten ermächtigt, von Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste als Bedingung für die Erteilung einer Genehmigung für die Bereitstellung dieser Dienste zu verlangen, die Überwachung von Kommunikation durchzuführen. Um im Bedarfsfall eine wirksame und effiziente Überwachung elektronischer Kommunikation zu gewährleisten, dürfte es zweckmäßig sein, dass die Mitgliedstaaten auf die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste zurückgreifen können, die ihre eigenen Infrastrukturen kennen und über Personal verfügen, das am besten in der Lage ist, die Kommunikation in diesen Netzen zu überwachen. Es könnte die Wirksamkeit und Effizienz der Überwachung gefährden, wenn die nationalen Behörden selbst verpflichtet wären, die über die Netze der verschiedenen Anbieter von Telekommunikationsdiensten durchgeführte elektronische Kommunikation unter Verwendung verschiedener technischer Methoden und Infrastrukturen zu überwachen.

33.      Folglich bin ich der Ansicht, dass Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, von den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste zu verlangen, die rechtmäßige Überwachung der Kommunikation zu ermöglichen, die Verpflichtung umfasst, dass diese Anbieter die betreffende Überwachung nach den Weisungen der zuständigen nationalen Behörden durchführen.

34.      Ich komme jetzt zum zweiten der beiden in Nr. 29 der vorliegenden Schlussanträge angesprochenen Punkte.

35.      Erstens ist nach dem Unionsrecht jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich der Verträge und unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge verboten(10). Dieses Verbot erfasst nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale zum gleichen Ergebnis führen(11). Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass der allgemeine Grundsatz der Nichtdiskriminierung es verbietet, gleiche Sachverhalte unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln(12).

36.      Wie in Nr. 19 der vorliegenden Schlussanträge näher ausgeführt wird, machen die Klägerinnen im Ausgangsverfahren geltend, das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 benachteilige sowohl die größeren als auch die in Italien niedergelassenen Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste.

37.      Dem vorlegenden Gericht scheinen keine Beweise für die Behauptung vorzuliegen, dass die größeren Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste infolge des interministeriellen Dekrets vom 28. Dezember 2017 diskriminiert würden. In jedem Fall ist anzunehmen, dass größere Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste zwar aufgrund ihres größeren Kundenstamms häufiger als Anbieter mit weniger Kunden dazu aufgefordert werden, die rechtmäßige Überwachung von Kommunikation zu ermöglichen, dass sie dafür aber wahrscheinlich auch höhere Einnahmen erzielen. Soweit sich dies aus den mageren Informationen ersehen lässt, die dem Gerichtshof vorliegen, dürften die finanziellen Auswirkungen der Kosten der rechtmäßigen Überwachung im Verhältnis zu den Einnahmen grundsätzlich für alle Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste ähnlich sein.

38.      Was die behauptete Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit betrifft, erfasst Art. 18 AEUV nach ständiger Rechtsprechung nicht etwaige Ungleichbehandlungen, die sich für der Unionsgerichtsbarkeit unterliegende Personen oder Unternehmen aus Abweichungen zwischen den Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben können, wenn diese für alle Personen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, nach objektiven Kriterien und ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gelten(13). Hierzu genügt die Feststellung, dass sowohl italienische Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste wie die Klägerinnen im Ausgangsverfahren als auch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste zur Zusammenarbeit mit den zuständigen nationalen Behörden des Hoheitsgebiets verpflichtet sind, in dem sie jeweils ansässig sind. Der Umstand, dass in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste normalerweise zur Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden im Hoheitsgebiet ihrer Niederlassung und nicht mit den italienischen Justizbehörden verpflichtet sind, stellt keine Diskriminierung dar.

39.      Zweitens stellt sich die Frage, ob es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf den Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2018/1972 verweist, verstößt, dass die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften zwar eine finanzielle Entschädigung für die Tätigkeit der rechtmäßigen Überwachung vorsehen, aber keine vollständige Erstattung der den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste für die Ausübung dieser Tätigkeit entstehenden Kosten gewährleisten. Diese Frage dürfte den Kern der vorliegenden Rechtssache bilden.

40.      Zunächst möchte ich anmerken, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung viele verschiedene Ausprägungen erfahren hat, und zwar abhängig davon, was jeweils Gegenstand der Prüfung war.

41.      Was die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden angeht, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, eine Gesamtwürdigung aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte vorzunehmen, um festzustellen, ob diese Regelung zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet ist und nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, soweit diese Ziele nicht mit weniger weitreichenden Maßnahmen erreicht werden können. Es ist Aufgabe des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht alle Anhaltspunkte für die Auslegung des Unionsrechts zu geben, anhand deren es diese Prüfung vornehmen kann(14).

42.      In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Anmerkungen zu der Aufgabe des vorlegenden Gerichts machen. Die Klägerinnen wenden sich gegen das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017, mit dem die italienischen Behörden die Gebühren für die obligatorische Überwachung der Kommunikation unterhalb der den Klägerinnen nach eigenen Angaben für die Durchführung dieser Überwachung entstehenden Kosten festsetzten. Mit diesem Dekret soll offenbar die Belastung des öffentlichen Haushalts mit den Kosten dieser Tätigkeit begrenzt werden, indem die Kosten mit den in diesem Sektor tätigen Wirtschaftsteilnehmern geteilt werden. Dieses Ziel dürfte ein legitimes Ziel von allgemeinem Interesse sein(15). Darüber hinaus ist das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017, auch wenn dies letztlich vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, zur Erreichung dieses Ziels jedenfalls nicht offensichtlich ungeeignet.

43.      Was die Frage anbelangt, ob das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels erforderlich ist, könnte das vorlegende Gericht prüfen, ob den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste durch dieses Dekret offensichtlich eine übermäßige Belastung auferlegt wird. Hierzu möchte ich anmerken, dass die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, die versucht haben, diese finanzielle Belastung zu beziffern, namentlich Telecom Italia und Vodafone Italia, Kosten in Höhe von ungefähr 6 Mio. bis 7 Mio. Euro angegeben haben, die nicht von den in 2017 und 2018 erhaltenen Gebühren abgedeckt gewesen seien. In Beantwortung der Fragen des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung haben diese beiden Anbieter eingeräumt, dass ihre der Öffentlichkeit zugänglichen Jahresberichte nahelegten, dass sich ihr Umsatz aus der Erbringung von Internet‑, Mobilfunk- und Festnetzdienstleistungen in Italien im selben Zeitraum auf mehrere Milliarden Euro belaufen habe. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die finanzielle Belastung, die das interministerielle Dekret vom 28. Dezember 2017 den Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste auferlegt, die Bereitstellung dieser Dienste oder die wirtschaftliche Lebensfähigkeit dieser Anbieter von Kommunikationsdiensten gefährden könnte, wie einige von ihnen geltend gemacht haben.

44.      Drittens verlangt der Grundsatz der Transparenz, dass alle Bedingungen und Modalitäten eines Mechanismus durch hinreichend zugängliche, klare, genaue, eindeutige und in ihrer Anwendung vorhersehbare Regeln formuliert sind, so dass alle durchschnittlich fachkundigen Anbieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt die genaue Bedeutung dieser Informationen verstehen und jede Gefahr von Willkür vermieden wird. Die Werte müssen nach objektiven Kriterien festgesetzt werden, damit die Anbieter ihre wahrscheinlichen Kosten errechnen können(16).

45.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens tragen nicht vor, dass die Berechnungsmethode für die Entschädigung auf Kriterien beruhe, die mehrdeutig oder nicht zugänglich, klar, genau, objektiv und vorhersehbar seien. Tatsächlich scheint der Anhang zu dem interministeriellen Dekret vom 28. Dezember 2017, in dem die von den italienischen Behörden für jede Art der Überwachungstätigkeit zu zahlenden Gebühren festgelegt sind, diesen Anforderungen zu genügen. In Wirklichkeit scheint Wind Tre zu beanstanden, dass die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste in dem Verfahren, das zur Festsetzung der in diesem Anhang vorgesehenen Gebühren geführt hat, keine Gelegenheit hatten, ihre Bedenken zum Ausdruck zu bringen. Wenngleich die Prüfung dieser Frage Sache des vorlegenden Gerichts ist, ist es keineswegs offensichtlich, dass der Grundsatz der Transparenz ein Recht der Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste beinhaltet, sich aktiv an dem Verfahren zu beteiligen, das zur Festsetzung der umstrittenen Gebühren geführt hat.

46.      Schließlich möchte ich der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass das Vorbringen von Vodafone Italia, es gebe einen Grundsatz der vollständigen Erstattung der mit der Erbringung von Universaldiensten verbundenen Kosten, unzutreffend ist. Bei den im vorliegenden Fall in Rede stehenden obligatorischen Leistungen, namentlich der rechtmäßigen Überwachung elektronischer Kommunikation, handelt es sich nämlich nicht um für Endnutzer erbrachte Universaldienste. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Unterstützung der Behörden bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zum Schutz des Allgemeininteresses, die die Mitgliedstaaten im Übrigen ausdrücklich als Bedingung für die Erteilung von Genehmigungen für die Bereitstellung elektronischer Kommunikationsdienste vorschreiben dürfen. Unabhängig davon, ob es einen Grundsatz der vollständigen Erstattung der Kosten für die Erbringung von Universaldiensten durch die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste gibt – was überhaupt nicht eindeutig ist(17) –, besteht kein Grund, einen solchen Grundsatz analog anzuwenden.

 V.      Ergebnis

47.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) wie folgt zu antworten:

Die Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation

ist dahin auszulegen, dass

das nationale Recht keine vollständige Entschädigung für die Kosten vorsehen muss, die Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste für die Ermöglichung der von Justizbehörden angeordneten Überwachung elektronischer Kommunikation entstehen. Nach Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten einen Entschädigungsmechanismus für solche Kosten vorsehen, sofern dieser Mechanismus nicht diskriminierend, verhältnismäßig und transparent ist.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 2018, L 321, S. 36.


3      Beschluss vom 26. November 2020, Colt Technology Services u. a. (C‑318/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:969).


4      Ebd., Rn. 20.


5      Ebd., Rn. 25.


6      ABl. 2002, L 108, S. 21.


7      Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2002/20. Bedingung Nr. 11 in Teil A („Bedingungen, die an eine Allgemeingenehmigung geknüpft werden können“) des Anhangs zur Richtlinie 2002/20 lautet: „Ermöglichung der rechtmäßigen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs durch die zuständigen nationalen Behörden entsprechend der Richtlinie 97/66/EG und der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr.“


8      Urteile vom 18. Dezember 2008, Andersen (C‑306/07, EU:C:2008:743, Rn. 40), und vom 17. März 2022, Daimler (C‑232/20, EU:C:2022:196, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9      Die französische Sprachfassung von Bedingung Nr. 4 in Anhang I Teil A der Richtlinie 2018/1972 lautet: „Facilitation de l’interception légale par les autorités nationales compétentes“. Die spanische Fassung lautet: „Permiso de interceptación legal por las autoridades nacionales competentes“. Die italienische Fassung lautet: „Possibilità per le autorità nazionali competenti di effettuare legalmente intercettazioni delle comunicazioni“. Die niederländische Fassung lautet: „Mogelijkheid van legale onderschepping door de bevoegde nationale instanties“. Die polnische Fassung lautet: „Umożliwienie prowadzenia legalnego przejęcia przez właściwe organy krajowe“.


10      Vgl. Art. 18 AEUV, der eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen soll, für die die Verträge keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsehen (Urteil vom 15. Juli 2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C‑535/19, EU:C:2021:595, Rn. 40).


11      Urteil vom 18. Juni 2019, Österreich/Deutschland (C‑591/17, EU:C:2019:504, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Vgl. Urteil vom 14. April 2005, AEM und AEM Torino (C‑128/03 und C‑129/03, EU:C:2005:224, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Vgl. Urteile vom 9. September 2003, Milk Marque und National Farmers’ Union (C‑137/00, EU:C:2003:429, Rn. 124), und vom 12. Juli 2005, Schempp (C‑403/03, EU:C:2005:446, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. z. B. Urteile vom 31. Mai 2018, Confetra u. a. (C‑259/16 und C‑260/16, EU:C:2018:370, Rn. 47 und 49), sowie vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk (C‑422/19 und C‑423/19, EU:C:2021:63, Rn. 70 und 71).


15      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2021, Viesgo Infraestructuras Energéticas (C‑683/19, EU:C:2021:847, Rn. 14, 59 und 60), zum Fehlen von Ausgleichsmaßnahmen für Unternehmen im Elektrizitätssektor, die Gemeinwohlverpflichtungen unterliegen.


16      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2020, Kommission/Portugal (Finanzierung der Universaldienstverpflichtungen) (C‑49/19, EU:C:2020:956, Rn. 38). Vgl. auch Urteil vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel (C‑23/20, EU:C:2021:490, Rn. 61), zu öffentlichen Ausschreibungen.


17      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2021, Viesgo Infraestructuras Energéticas (C‑683/19, EU:C:2021:847, Rn. 59 und 60).