Language of document : ECLI:EU:C:2010:344

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 16. Juni 20101(1)

Rechtssache C‑211/10 PPU

Doris Povse

gegen

Mauro Alpago

(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs [Österreich])

„Eilvorlageverfahren – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Gemeinsame elterliche Verantwortung beider Elternteile – Verbringen des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat unter Verstoß gegen ein Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen – Entscheidung eines Gerichts des erstgenannten Mitgliedstaats, mit der das Verbot aufgehoben und die Entscheidungsbefugnis vorläufig dem Elternteil übertragen wird, der sich mit dem Kind in den anderen Mitgliedstaat begeben hat – Aufenthalt des Kindes im letztgenannten Mitgliedstaat seit über einem Jahr – Entscheidung eines Gerichts des erstgenannten Mitgliedstaats, mit der die Rückführung des Kindes in diesen Staat angeordnet wird – Gründe, die die Weigerung, die letztgenannte Entscheidung im anderen Mitgliedstaat zu vollstrecken, rechtfertigen können“





1.        Ein im Jahr 2006 geborenes Kind, dessen italienischer Vater und österreichische Mutter nie miteinander verheiratet waren, befindet sich derzeit gegen den Willen des Vaters mit seiner Mutter in Österreich. Im Rahmen eines Verfahrens zur Regelung der Ausübung der elterlichen Verantwortung für das Kind hat ein italienisches Gericht seine Rückführung nach Italien angeordnet. Der österreichische Oberste Gerichtshof stellt fünf Fragen in Bezug auf die Gründe, unter denen die Vollstreckung dieser Anordnung möglicherweise verweigert werden könnte.

 Rechtlicher Rahmen

2.        Auf der Ebene der Europäischen Union wird der Sachverhalt durch die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates(2) in Verbindung mit dem Haager Übereinkommen von 1980(3) geregelt.

 Das Übereinkommen

3.        In der Präambel des Übereinkommens erklären die Unterzeichnerstaaten, sie seien „der festen Überzeugung, dass das Wohl des Kindes in allen Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist“, und äußern den Wunsch, „das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang mit dem Kind zu gewährleisten“.

4.        Art. 3 des Übereinkommens lautet:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

5.        In Art. 12 des Übereinkommens heißt es:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.

…“

6.        Art. 13 des Übereinkommens lautet:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.“

7.        Art. 17 des Übereinkommens bestimmt:

„Der Umstand, dass eine Entscheidung über das Sorgerecht im ersuchten Staat ergangen oder dort anerkennbar ist, stellt für sich genommen keinen Grund dar, die Rückgabe eines Kindes nach Maßgabe dieses Übereinkommens abzulehnen; die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des ersuchten Staates können jedoch bei der Anwendung des Übereinkommens die Entscheidungsgründe berücksichtigen.“

8.        Art. 19 des Übereinkommens lautet:

„Eine aufgrund dieses Übereinkommens getroffene Entscheidung über die Rückgabe des Kindes ist nicht als Entscheidung über das Sorgerecht anzusehen.“

 Die Verordnung

9.        Mehrere Erwägungsgründe der Verordnung erscheinen für die Analyse der durch das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Fragen relevant, insbesondere:

„(12) Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(17)      Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen vom 24. Oktober 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

(21)      Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.

(23)      Der Europäische Rat von Tampere hat in seinen Schlussfolgerungen (Nummer 34) die Ansicht vertreten, dass Entscheidungen in familienrechtlichen Verfahren ‚automatisch unionsweit anerkannt‘ werden sollten, ‚ohne dass es irgendwelche Zwischenverfahren oder Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung geben‘ sollte. Deshalb sollten Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die Rückgabe des Kindes, für die im Ursprungsmitgliedstaat nach Maßgabe dieser Verordnung eine Bescheinigung ausgestellt wurde, in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden, ohne dass es eines weiteren Verfahrens bedarf. Die Modalitäten der Vollstreckung dieser Entscheidungen unterliegen weiterhin dem nationalen Recht.

(24)      Gegen die Bescheinigung, die ausgestellt wird, um die Vollstreckung der Entscheidung zu erleichtern, sollte kein Rechtsbehelf möglich sein. Sie sollte nur Gegenstand einer Klage auf Berichtigung sein, wenn ein materieller Fehler vorliegt, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist.“

10.      In Art. 2 der Verordnung werden einige darin verwendete Begriffe definiert. Insbesondere bezeichnet

„4.      ‚Entscheidung‘ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie jede Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.

…“

11.      Nach Art. 8 der Verordnung sind, vorbehaltlich der Art. 9, 10 und 12, für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

12.      In diesem Rahmen bestimmt Art. 10 der Verordnung(4):

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

13.      Art. 11 der Verordnung lautet:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Übereinkommens], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)      Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des [Übereinkommens] ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(4)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 Buchstabe b) des [Übereinkommens] nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.

(5)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes nicht verweigern, wenn der Person, die die Rückgabe des Kindes beantragt hat, nicht die Gelegenheit gegeben wurde, gehört zu werden.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des [Übereinkommens] abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des [Übereinkommens] ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

14.      Art. 15 der Verordnung betrifft die Möglichkeit der Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann. Er bestimmt:

„(1)      In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)      die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)      ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)      Absatz 1 findet Anwendung

a)      auf Antrag einer der Parteien oder

b)      von Amts wegen oder

c)      auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)      Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)      nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)      das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)      das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)      ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)      die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)      Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)      Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)      Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“(5)

15.      Kapitel III der Verordnung trägt den Titel „Anerkennung und Vollstreckung“. Sein Abschnitt 1 betrifft die Anerkennung. In diesem Abschnitt werden u. a. in Art. 23 die Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung aufgezählt. Er lautet:

„Eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung wird nicht anerkannt,

a)      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie beantragt wird, offensichtlich widerspricht, wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist;

b)      wenn die Entscheidung – ausgenommen in dringenden Fällen – ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden;

c)      wenn der betreffenden Person, die sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt wurde, dass sie sich verteidigen konnte, es sei denn, es wird festgestellt, dass sie mit der Entscheidung eindeutig einverstanden ist;

d)      wenn eine Person dies mit der Begründung beantragt, dass die Entscheidung in ihre elterliche Verantwortung eingreift, falls die Entscheidung ergangen ist, ohne dass diese Person die Möglichkeit hatte, gehört zu werden;

e)      wenn die Entscheidung mit einer späteren Entscheidung über die elterliche Verantwortung unvereinbar ist, die in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung beantragt wird, ergangen ist;

f)      wenn die Entscheidung mit einer späteren Entscheidung über die elterliche Verantwortung unvereinbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in dem Drittstaat, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ergangen ist, sofern die spätere Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Mitgliedstaat erfüllt, in dem die Anerkennung beantragt wird;

oder

g)      wenn das Verfahren des Artikels 56 nicht eingehalten wurde.“(6)

16.      Der ebenfalls zu Abschnitt 1 gehörende Art. 24 bestimmt:

„Die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats darf nicht überprüft werden. Die Überprüfung der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung gemäß … Artikel 23 Buchstabe a) darf sich nicht auf die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel [8] bis 14 erstrecken.“(7)

17.      Abschnitt 4 („Vollstreckbarkeit bestimmter Entscheidungen über das Umgangsrecht und bestimmter Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“) von Kapitel III umfasst die Art. 40 bis 45. In Art. 40 („Anwendungsbereich“) heißt es:

„(1)      Dieser Abschnitt gilt für

b)      die Rückgabe eines Kindes infolge einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung gemäß Artikel 11 Absatz 8.

(2)      Der Träger der elterlichen Verantwortung kann ungeachtet der Bestimmungen dieses Abschnitts die Anerkennung und Vollstreckung nach Maßgabe der Abschnitte 1 und 2 dieses Kapitels beantragen.“

18.      Art. 42 („Rückgabe des Kindes“) lautet:

„(1)      Eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung über die Rückgabe des Kindes im Sinne des Artikels 40 Absatz 1 Buchstabe b), für die eine Bescheinigung nach Absatz 2 im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt wurde, wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

Auch wenn das nationale Recht nicht vorsieht, dass eine in Artikel 11 Absatz 8 genannte Entscheidung über die Rückgabe des Kindes ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs von Rechts wegen vollstreckbar ist, kann das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Entscheidung für vollstreckbar erklären.

(2)      Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats, der die Entscheidung nach Artikel 40 Absatz 1 Buchstabe b) erlassen hat, stellt die Bescheinigung nach Absatz 1 nur aus, wenn

a)      das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien,

b)      die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden, und

c)      das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Artikel 13 des [Übereinkommens] ergangenen Entscheidung zugrunde liegen.

Ergreift das Gericht oder eine andere Behörde Maßnahmen, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen, so sind diese Maßnahmen in der Bescheinigung anzugeben.

Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats stellt die Bescheinigung von Amts wegen unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV (Bescheinigung über die Rückgabe des Kindes) aus.

Das Formblatt wird in der Sprache ausgefüllt, in der die Entscheidung abgefasst ist.“

19.      Nach Nr. 13 des Anhangs IV muss insoweit u. a. Folgendes bescheinigt werden:

„In der Entscheidung wird die Rückgabe der Kinder angeordnet, und das Gericht hat in seinem Urteil die Gründe und Beweismittel berücksichtigt, auf die sich die nach Artikel 13 des [Übereinkommens] ergangene Entscheidung stützt.“

20.      Art. 43 der Verordnung lautet:

„(1)      Für Berichtigungen der Bescheinigung ist das Recht des Ursprungsmitgliedstaats maßgebend.

(2)      Gegen die Ausstellung einer Bescheinigung gemäß Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 sind keine Rechtsbehelfe möglich.“

21.      Art. 47 der Verordnung („Vollstreckungsverfahren“) sieht vor:

„(1)      Für das Vollstreckungsverfahren ist das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend.

(2)      Die Vollstreckung einer von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassenen Entscheidung, die gemäß Abschnitt 2 für vollstreckbar erklärt wurde oder für die eine Bescheinigung nach Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, erfolgt im Vollstreckungsmitgliedstaat unter denselben Bedingungen, die für in diesem Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen gelten.

Insbesondere darf eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, nicht vollstreckt werden, wenn sie mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar ist.“

22.      Nach Art. 53 der Verordnung bestimmt jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere Zentrale Behörden, die ihn bei der Anwendung der Verordnung unterstützen Nach Art. 55 Buchst. c der Verordnung besteht eine der Aufgaben dieser Behörden in Fällen, die speziell die elterliche Verantwortung betreffen, darin, „die Verständigung zwischen den Gerichten, insbesondere zur Anwendung des Artikels 11 Absätze 6 und 7 und des Artikels 15“, zu erleichtern.

 Sachverhalt und Verfahren

23.      Ich werde hier ebenso vorgehen wie bei meiner Stellungnahme in der Rechtssache, in der das Urteil Rinau ergangen ist(8), und die wesentlichen Punkte des Sachverhalts und des Verfahrens, wie sie sich aus der Vorlageentscheidung und den ihr beigefügten Unterlagen ergeben, in Form einer synoptischen Tabelle zusammenfassen.

Datum

Italien

Österreich

6. 12. 2006

Geburt des Kindes; nach italienischem Recht steht das Sorgerecht beiden Eltern gemeinsam zu.

 

31. 1. 2008

Die Mutter verlässt mit dem Kind die gemeinsame Wohnung.

 

4. 2. 2008

Der Vater beantragt beim Tribunale per i Minorenni di Venezia (Jugendgericht Venedig), ihm die ausschließliche Sorge für das Kind zu übertragen und der Mutter zu verbieten, das italienische Hoheitsgebiet mit dem Kind zu verlassen.

 

8. 2. 2008

Das Tribunale per i Minorenni di Venezia verbietet der Mutter vorläufig, Italien mit dem Kind zu verlassen.

 
 

Die Mutter beantragt, ihr die ausschließliche Sorge für das Kind zu übertragen.

Trotz des Verbots begibt sich die Mutter mit dem Kind nach Österreich.

16. 4. 2008

 

Der Vater beantragt auf der Grundlage des Übereinkommens die Rückgabe des Kindes.

23. 5. 2008

Vor Erlass einer endgültigen Sorgerechtsentscheidung ordnet das Tribunale per i Minorenni di Venezia die Erstellung eines psychologischen Gutachtens und regelmäßige Kontakte zwischen Kind und Vater an, die teils in Italien und teils in Österreich bei den jeweiligen Sozialdiensten stattfinden sollten. Damit die Mutter mit dem Kind zur Ermöglichung der Kontakte zum Vater zwischen beiden Ländern hin- und herreisen kann, hebt das Gericht das Ausreiseverbot auf. Es überträgt das Sorgerecht vorläufig beiden Elternteilen gemeinsam und gestattet der Mutter, das Kind bei sich in Österreich zu behalten, wobei es ihr lediglich die Entscheidungsbefugnis für seine laufenden Angelegenheiten überträgt.

Die österreichischen Gerichte erfahren zunächst nichts von Existenz und Inhalt dieser Entscheidung.

6. 6. 2008

 

Auf Antrag der Mutter verbietet das Bezirksgericht Judenburg (Bezirk, in dem Mutter und Kind wohnen) dem Vater, Kontakt zu Mutter und Kind aufzunehmen, da er die Mutter belästigt habe.

3. 7. 2008

 

Aufgrund von Art. 13 Buchst. b des Übereinkommens (schwerwiegende Gefahr eines seelischen Schadens bei Trennung von der Mutter) weist das Bezirksgericht Leoben (Nachbarbezirk von Judenburg)(9) den Antrag des Vaters (vom 16. April 2008) auf Anordnung der Rückführung des Kindes nach Italien ab.

1. 9. 2008

 

Auf Rekurs des Vaters hebt das Landesgericht Leoben den Beschluss vom 3. Juli 2008 auf, weil der Vater entgegen Art. 11 Abs. 5 der Verordnung vom Bezirksgericht nicht angehört worden war.

6. 9. 2008

 

Der Beschluss des Bezirksgerichts Judenburg vom 6. Juni 2008 tritt wegen Zeitablaufs außer Kraft.

21. 11. 2008

 

Das Bezirksgericht Leoben hört den Vater an und weist seinen Antrag erneut ab, diesmal gestützt auf den Beschluss des Tribunale per i Minorenni di Venezia (von dem es inzwischen Kenntnis erlangt hatte), demzufolge das Kind bei seiner Mutter in Österreich bleiben solle.

7. 1. 2009

 

Das Landesgericht Leoben bestätigt die Abweisung des Antrags des Vaters und greift zur Begründung wieder auf Art. 13 Buchst. b des Übereinkommens zurück.

9. 4. 2009

Der Vater beantragt beim Tribunale per i Minorenni di Venezia, nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung die Rückgabe des Kindes anzuordnen.

 

15. 5. 2009

Die Mutter rügt die Unzuständigkeit des Tribunale per i Minorenni di Venezia nach Art. 10 der Verordnung; hilfsweise beantragt sie die Verweisung an das Bezirksgericht Judenburg aufgrund von Art. „15(b)(5)“(10) der Verordnung.

 

30. 4. 2009 und
19. 5. 2009

Das Tribunale per i Minorenni di Venezia hört die Vertreter der Parteien an; die Mutter war nicht persönlich erschienen. Die Parteivertreter erklären sich bereit, einen Plan für Kontakte zwischen Vater und Kind zu erörtern, den der vom Gericht bestellte Sachverständige ausarbeiten soll.

 

26. 5. 2009

 

Auf Antrag der Mutter (der dem Tribunale per i Minorenni di Venezia nicht übermittelt wurde) erklärt sich das Bezirksgericht Judenburg (ohne Anhörung des Vaters) für zuständig, über den Sorgerechtsantrag der Mutter „nach Art. 15 Abs. 5“ der Verordnung zu entscheiden; es ersucht das Tribunale per i Minorenni di Venezia, sich für unzuständig zu erklären und das Verfahren an das Bezirksgericht abzutreten.

26. 6. 2009

Der Vater erklärt sich bereit, den zu erstellenden Umgangsplan zu befolgen.

 

27. 6. 2009

Die Mutter erklärt, dass sie den zu erstellenden Umgangsplan nicht akzeptieren wolle, und beruft sich dabei auf persönliche Schwierigkeiten und Sorge um das Wohlergehen des Kindes.

 

8. 7. 2009

Der Sachverständige legt seinen Vorschlag für einen Kontaktplan dem Tribunale per i Minorenni di Venezia vor, das am gleichen Tag das Ersuchen des Bezirksgerichts Judenburg um Abtretung des Verfahrens erhält.

 

10. 7. 2009

Das Tribunale per i Minorenni di Venezia weist die von der Mutter erhobene Einrede der Unzuständigkeit zurück und lehnt die Übertragung der Zuständigkeit auf das Bezirksgericht Judenburg mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen des Art. 15 der Verordnung nicht erfüllt seien (es liege kein Ausnahmefall im Sinne von Abs. 1 vor, und die besondere Bindung zu Österreich im Sinne von Abs. 3 sei nicht nachgewiesen). Es stellt fest, dass das psychologische Gutachten wegen mangelnder Kooperation der Mutter nicht habe abgeschlossen werden können, es ordnet die sofortige Rückführung des Kindes nach Italien an, entweder in Begleitung der Mutter (wobei dann eine Sozialwohnung zur Verfügung gestellt und ein Umgangsplan erstellt werden sollte) oder zur Unterbringung beim Vater, um das Verhältnis zwischen Vater und Kind wiederherzustellen, und es stellt für diese Entscheidung eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung aus.

 

25. 8. 2009

 

Das Bezirksgericht Judenburg überträgt die Obsorge vorläufig der Mutter, weil bei einer Rückführung nach Italien das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Seine Entscheidung wird dem Vater ohne Übersetzung und ohne Belehrung über das Recht zur Annahmeverweigerung zugestellt.

22. 9. 2009

 

Der Vater beantragt unter Berufung auf Art. 47 der Verordnung beim Bezirksgericht Leoben die Vollstreckung der Rückführungsentscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009.

23. 9. 2009

 

Das Bezirksgericht Judenburg bestätigt, dass sein Beschluss vom 25. August 2009 rechtskräftig und vollstreckbar ist.

12. 11. 2009

 

Das Bezirksgericht Leoben weist den Antrag auf Vollstreckung der Rückführungsentscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia mit der Begründung ab, dass die Rückkehr des Kindes zum Vater es der Gefahr eines seelischen Schadens aussetzen würde.

30. 11. 2009

 

Der Vater erhebt Rekurs gegen die Entscheidung des Bezirksgerichts Leoben vom 12. November 2009.

20. 1. 2010

 

Das Landesgericht Leoben gibt dem Rekurs des Vaters Folge, gestützt auf eine strikte Anwendung der Bestimmungen der Verordnung.

16. 2. 2010

 

Die Mutter erhebt gegen die Entscheidung des Landesgerichts Leoben vom 20. Jänner 2010 Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof.

20. 4. 2010

 

Der Oberste Gerichtshof legt dem Gerichtshof fünf Fragen zur Vorabentscheidung vor und ersucht darum, sie im Eilverfahren zu beantworten.

3. 5. 2010

 

Das Ersuchen um Vorabentscheidung geht beim Gerichtshof ein.

 Dem Gerichtshof vorgelegte Fragen

24.      Das vorlegende Gericht erkennt an, dass dem Urteil Rinau(11) zufolge, wenn eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung ausgestellt wurde, das Vollstreckungsgericht lediglich die Vollstreckbarkeit einer nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erlassenen Entscheidung feststellen und die sofortige Rückgabe des Kindes veranlassen kann. Die inhaltliche Prüfung der Entscheidung des italienischen Gerichts ist daher grundsätzlich ausgeschlossen. Desgleichen kann nach dem nationalen Verfahrensrecht die örtliche Unzuständigkeit dieses Gerichts im Rahmen eines Revisionsrekurses nicht geltend gemacht werden. Einige Punkte bedürfen jedoch nach Ansicht des vorlegenden Gerichts einer vertieften Prüfung.

25.      Infolgedessen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, dem Gerichtshof die folgenden fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist unter einer „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung auch eine vorläufige Regelung zu verstehen, mit der die „elterliche Entscheidungsgewalt“, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, bis zur endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht dem entführenden Elternteil übertragen wird?

2.      Fällt eine Rückgabeanordnung nur dann in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, wenn das Gericht die Rückgabe aufgrund einer von ihm getroffenen Sorgerechtsentscheidung anordnet?

3.      Wenn Frage 1 oder Frage 2 bejaht wird:

a)      Kann die Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts (Frage 1) oder die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung (Frage 2) im Zweitstaat gegen die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, eingewendet werden?

b)      Oder muss der Antragsgegner in einem solchen Fall im Ursprungsstaat die Aufhebung der Bescheinigung beantragen, wobei die Vollstreckung im Zweitstaat bis zur Entscheidung des Ursprungsstaats ausgesetzt werden kann?

4.      Wenn die Fragen 1 und 2 oder die Frage 3a verneint werden:

Steht eine von einem Gericht des Zweitstaats erlassene und nach dessen Recht als vollstreckbar anzusehende Entscheidung, mit der die einstweilige Obsorge dem entführenden Elternteil übertragen wurde, nach Art. 47 Abs. 2 der Verordnung der Vollstreckung einer zuvor nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erlassenen Rückgabeanordnung des Erststaats auch dann entgegen, wenn sie die Vollstreckung einer nach dem Haager Übereinkommen von 1980 erlassenen Rückgabeanordnung des Zweitstaats nicht hinderte?

5.      Wenn auch die Frage 4 verneint wird:

a)      Kann die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, im Zweitstaat verweigert werden, wenn sich die Umstände seit ihrer Erlassung in einer Weise geändert haben, dass die Vollstreckung das Wohl des Kindes nun schwerwiegend gefährdete?

b)      Oder muss der Antragsgegner diese geänderten Umstände im Ursprungsstaat geltend machen, wobei die Vollstreckung im Zweitstaat bis zur Entscheidung des Ursprungsstaats ausgesetzt werden kann?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

26.      Da die Rechtssache einem Eilverfahren im Sinne von Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs unterworfen worden ist, haben die österreichische Regierung und die Europäische Kommission, die neben den Parteien des Ausgangsverfahrens allein befugt sind, in diesem Stadium tätig zu werden, schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie und die tschechische, die deutsche, die französische, die italienische, die lettische und die slowenische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs waren in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2010 vertreten. Die Eltern haben, obwohl sie berechtigt gewesen wären, schriftliche Erklärungen einzureichen und sich in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen, im vorliegenden Fall von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht.

 Analyse

 Vorbemerkungen

27.      Die Fragen des Obersten Gerichtshofs werden in nicht unerheblichem Umfang durch den Eindruck ausgelöst, dass zwischen der wörtlichen und der teleologischen Auslegung einiger Bestimmungen der Verordnung ein Konflikt bestehe. Es erscheint daher bedeutsam, sich die drei tragenden Grundsätze zu vergegenwärtigen, die den relevanten Bestimmungen der Verordnung zugrunde liegen und von denen sich jede teleologische Auslegung leiten lassen muss(12).

28.      Erstens beruht die Verordnung auf dem Vorrang des Kindeswohls und der Wahrung seiner Rechte. Außer in dem Bestreben, in jedem Fall das Wohl des Kindes selbst zu berücksichtigen, kommt dieser Gedanke insbesondere in der Grundregel zum Ausdruck, dass die Gerichte am Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts alle das Sorgerecht oder die elterliche Verantwortung betreffenden Fragen am besten regeln können und deshalb für diesen Bereich grundsätzlich zuständig sein sollten. Wenn das Gericht, das in einem konkreten Fall eine Entscheidung zu treffen hat, das individuelle Wohl jedes betroffenen Kindes berücksichtigen muss, scheint mir jedoch, dass die Auslegung der Verordnung auf einem umfassenderen und allgemein anwendbaren Begriff des Kindeswohls beruhen sollte.

29.      Zweitens sucht die Verordnung zu gewährleisten, dass jedes widerrechtliche Verbringen des Kindes ohne rechtliche Wirkung bleibt, es sei denn, dass es später von den übrigen Beteiligten akzeptiert wird. Im Hinblick darauf sieht sie einerseits einen quasi automatischen Mechanismus zur Herbeiführung der unverzüglichen Rückgabe des Kindes und andererseits eine ganz strenge Begrenzung der Möglichkeiten für die Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats des widerrechtlichen Verbringens vor, die es den Gerichten des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts erlaubt, sich über eine etwaige Entscheidung, mit der auf der Grundlage von Art. 13 des Übereinkommens die Rückgabe abgelehnt wird, hinwegzusetzen.

30.      Selbst in dem beschränkten Bereich der elterlichen Verantwortung und des widerrechtlichen Verbringens von Kindern verfolgt die Verordnung somit mindestens zwei Ziele – die Zuständigkeit der Gerichte des Staates, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes befindet, und dessen Rückführung nach einem widerrechtlichen Verbringen in den Staat seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts –, die sich zumindest dann als teilweise unvereinbar erweisen können, wenn ein Verbringen über längere Zeit fortbestanden hat, so dass das Kind in dem Mitgliedstaat, in den es verbracht wurde, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erworben hat.

31.      Drittens verlangt die Verordnung den nationalen Gerichten einen erhöhten Grad gegenseitigen Vertrauens ab, so dass sich die Gründe für die Nichtanerkennung der Entscheidungen eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats auf das notwendige Minimum beschränken und die Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen quasi automatisch erfolgen. Überdies trifft sie aus diesem Grundgedanken heraus Vorkehrungen für eine Kooperation und ermuntert die nationalen Gerichte, davon Gebrauch zu machen.

32.      Zwei weitere Aspekte der Verordnung verdienen meines Erachtens ebenfalls der Hervorhebung.

33.      Zum einen enthält die Verordnung nur Vorschriften in Bezug auf die Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung. Sie betrifft in keiner Weise inhaltliche Fragen. Anders als dem Vorbringen der österreichischen Regierung in der mündlichen Verhandlung zu entnehmen sein könnte, handelt es sich bei der Anwendung der Verordnung nicht um eine „europäische Integration auf Kosten des Kindes“, sondern sie dient dazu, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten das zuständige Gericht eindeutig zu bestimmen und zu gewährleisten, dass die übrigen Gerichte dessen Entscheidungen vertrauen, da alle Gerichte der Mitgliedstaaten ihre Entscheidungen vorrangig zum Wohl des betroffenen Kindes treffen müssen.

34.      Zum anderen setzt sie voraus – und verlangt in einigen Fällen sogar –, dass die Gerichte und die Parteien im Fall des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens(13) eines Kindes rasch handeln. Ist ein solches rasches Handeln tatsächlich nicht gewährleistet, leidet darunter die Anwendung der Verordnung, wie der vorliegende Fall zeigt. Die Verordnung soll insbesondere verhindern, dass die Situation aufgrund neuer Bindungen, die das Kind möglicherweise zum Mitgliedstaat des widerrechtlichen Verbringens eingeht, erschwert wird.

35.      Schließlich sind die verschiedenen Schritte des Verfahrens im Auge zu behalten, das im Übereinkommen und in der Verordnung für den Fall des widerrechtlichen (und angefochtenen) Verbringens vorgesehen ist. Zunächst muss sich der verlassene Elternteil auf der Grundlage von Art. 12 des Übereinkommens an die Gerichte des Verbringungsmitgliedstaats wenden, um eine Rückgabeanordnung zu erlangen. Diesem Antrag muss stattgegeben werden, es sei denn, dass einer der in Art. 13 des Übereinkommens aufgezählten Gründe für eine ausnahmsweise Weigerung vorliegt und dass, im Fall einer auf Buchst. b dieses Artikels gestützten Weigerung, nicht nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten (vgl. Art. 11 Abs. 4 der Verordnung). In allen Fällen muss die Entscheidung, sofern keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, binnen sechs Wochen getroffen werden (Art. 11 Abs. 3 der Verordnung). Wird die Rückgabe abgelehnt, muss diese Entscheidung den Behörden des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts übermittelt werden, und die Parteien (in der Regel die Eltern) müssen die Möglichkeit haben, sich vor dem zuständigen Gericht dieses Staates zu äußern. Gegebenenfalls kann das letztgenannte Gericht gleichwohl die Rückgabe des Kindes anordnen (Art. 11 Abs. 8 der Verordnung), und seine Entscheidung ist im Verbringungsmitgliedstaat unmittelbar vollstreckbar, wenn für sie eine Bescheinigung gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellt wurde. Eine solche Bescheinigung kann jedoch nur ausgestellt werden, wenn das Gericht die der Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wurde, zugrunde liegenden Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat. Ein Gericht, das unter diesen Umständen die Rückgabe anordnet, muss zudem die Behörden des Verbringungsmitgliedstaats über alle zur Sicherstellung des Schutzes des Kindes nach seiner Rückkehr ergriffenen Maßnahmen unterrichten.

 Zur ersten Frage

36.      Der Oberste Gerichtshof möchte wissen, ob eine vorläufige Regelung, mit der „die ‚elterliche Entscheidungsgewalt‘, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht“, bis zur endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht dem entführenden Elternteil übertragen wird, als eine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung anzusehen ist(14).

37.      Es geht im Kontext des genannten Verfahrens darum, zu klären, ob das Tribunale per i Minorenni di Venezia durch seine Entscheidung vom 23. Mai 2008 die Zuständigkeit verloren hatte, die es sonst nach der Grundregel des Art. 10 der Verordnung als Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, behalten hätte. Der Oberste Gerichtshof meint nämlich, dass das Kind mittlerweile einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich erlangt habe und dass zwar die Voraussetzung in Buchst. a dieses Artikels (im vorliegenden Fall die Zustimmung des Vaters) nicht vorliege, wohl aber die ersten beiden in Buchst. b aufgestellten Voraussetzungen (dass sich das Kind mindestens ein Jahr in Österreich aufgehalten habe, nachdem der Vater seinen Aufenthaltsort gekannt habe, und dass es sich in seiner neuen Umgebung eingelebt habe). Wenn mindestens eine der weiteren, unter den Ziff. i bis iv aufgeführten Voraussetzungen ebenfalls erfüllt wäre, ginge die allgemeine Zuständigkeit auf die Gerichte in Österreich, dem Mitgliedstaat des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, über. Der Oberste Gerichtshof verneint das Vorliegen der Voraussetzungen der Ziff. i bis iii, ist aber der Auffassung, wenn – wie die Mutter geltend macht – die Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 23. Mai 2008 eine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ wäre, wäre die Voraussetzung in Ziff. iv erfüllt.

38.      Der Oberste Gerichtshof ist jedoch der Ansicht, bei teleologischer Auslegung könne diese Voraussetzung nicht als erfüllt angesehen werden – auch wenn die fragliche Entscheidung bei wörtlicher Auslegung eine „Sorgerechtsentscheidung“ sei, da sie das Sorgerecht für das Kind, wenn auch nur vorläufig, regele, und darin die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet werde, jedenfalls nicht sofort.

39.      Er argumentiert im Wesentlichen wie folgt. Wenn in einer endgültigen Sorgerechtsentscheidung die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet werde, gebe es keinen Grund für den Fortbestand der Zuständigkeit der Gerichte des Staates des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts. Die Gerichte des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts seien dann stets besser in der Lage, die weiteren das Kind betreffenden Entscheidungen zu treffen, und die Voraussetzungen in Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung seien verständlich und sinnvoll. Sollten dagegen mit einer vorläufigen Genehmigung des Verbleibs des Kindes beim „entführenden Elternteil“ lediglich Ortswechsel des Kindes bis zur Erlassung der endgültigen Entscheidung verhindert werden, würde die wörtliche Auslegung, da sie dazu führen würde, dass das Gericht des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts seine Zuständigkeit verlöre, dieses Gericht daran hindern, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Angesichts der Zielsetzung der Verordnung sollte aber nur die Beendigung des Sorgerechtsverfahrens ohne Anordnung der Rückgabe zum Verlust der Zuständigkeit dieses Gerichts führen. Die österreichische Regierung hat sich dieser Argumentation in vollem Umfang angeschlossen.

40.      In gleicher Weise hebt die Kommission die Gefahr hervor, dass ein Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts davon abgehalten werden könnte, eine vorläufige Sorgerechtsentscheidung, die das Kind im Mitgliedstaat seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts belassen würde und dem Kindeswohl entspräche, zu treffen, weil es befürchtet, seine Zuständigkeit für eine anschließende endgültige Entscheidung zu verlieren. Die Kommission ist ferner der Ansicht, dass die in Art. 10 der Verordnung aufgezählten Voraussetzungen für einen Übergang der Zuständigkeit als Ausnahmen von der Grundregel des Fortbestands der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts eher eng als weit auszulegen seien.

41.      Mit Ausnahme der Republik Slowenien haben alle in der mündlichen Verhandlung vertretenen Mitgliedstaaten im Wesentlichen den gleichen Standpunkt eingenommen.

42.      Ich kann mich im Großen und Ganzen diesem Standpunkt anschließen, bin allerdings der Ansicht, dass einige Details differenzierter zu betrachten und einige weitere Erwägungen zu prüfen sind, die dagegen sprechen und nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden können.

43.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Überlegungen des Obersten Gerichtshofs in gewissem Umfang auf den Gründen beruhen, die das Tribunale per i Minorenni di Venezia veranlasst haben, das Sorgerecht vorläufig der Mutter zu übertragen. Ich zögere jedoch, mich einer solchen Vorgehensweise anzuschließen. Es erscheint mir grundsätzlich nicht wünschenswert, die Verordnung anhand der speziellen Begründung einer individuellen Sorgerechtsentscheidung auszulegen. Vielmehr ist zu klären, ob eine objektive Differenzierung daraus abgeleitet werden kann, ob es sich um eine vorläufige Entscheidung handelt oder nicht. Im Übrigen besteht stets die Gefahr, dass das Gericht eines Mitgliedstaats die Gründe des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats falsch interpretieren wird(15). Ich werde daher versuchen, die Frage mittels eines allgemeineren Ansatzes zu analysieren.

44.      Sodann zögere ich, in einem Kontext wie dem vorliegenden den Grundsatz, dass Ausnahmen oder Abweichungen von einer Regel eng auszulegen sind, vorbehaltlos anzuwenden. Im Fall des Art. 10 entspricht nämlich die Regel des Fortbestands der Zuständigkeit des Gerichts des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts einem der tragenden Grundsätze der Verordnung – und zwar dem Grundsatz, dass der widerrechtlichen Handlung des entführenden Elternteils jede Rechtswirkung genommen werden soll –, doch entspricht die Ausnahme einem anderen tragenden Grundsatz, denn es handelt sich um eine Zuständigkeitsvorschrift, die „dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet“ wurde(16).

45.      Schließlich ist anzuerkennen, dass – so verlockend das vom vorlegenden Gericht, von der Kommission und von fast allen in der mündlichen Verhandlung vertretenen Mitgliedstaaten befürwortete Ergebnis auch scheinen mag – einige Argumente dagegen sprechen. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen.

46.      Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung betrifft einen Fall, in dem sich das Kind mindestens ein Jahr in dem Mitgliedstaat, in den es widerrechtlich verbracht wurde, aufgehalten, dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt und sich in seiner neuen Umgebung eingelebt hat und in dem die Gerichte des Mitgliedstaats seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts nicht nur in diesem Zeitraum keine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind getroffen haben, sondern auch die Ansicht vertreten haben, dass das Wohl des Kindes – wenn auch nur vorübergehend, so doch jedenfalls während des betreffenden Zeitraums von mindestens einem Jahr – seinen Verbleib im Verbringungsmitgliedstaat gebiete. Angesichts der verstrichenen Zeit ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Gerichte zunehmende Schwierigkeiten haben werden, sich über die Situation und das gegenwärtige Umfeld des Kindes zu informieren (etwa durch psychologische Gutachten, Berichte der Sozialdienste und/oder, je nach Alter des Kindes, dessen unmittelbare Befragung). Außerdem befinden sie sich in einem Mitgliedstaat, zu dem das Kind zweifellos mehr und mehr den Kontakt verliert. Sollte unter diesen Umständen der Grundsatz der Zuständigkeit des Gerichts, das dem Kind am nächsten ist, nicht Vorrang vor dem Fortbestand der Zuständigkeit des Gerichts des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts haben?

47.      Ich denke nicht, dass diese Frage zu bejahen ist.

48.      Wurde ein Kind widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbracht, besteht das unmittelbare Ziel der Verordnung und des Übereinkommens darin, seine rasche Rückkehr zu gewährleisten, um dem „entführenden Elternteil“ jeden praktischen oder rechtlichen Vorteil zu nehmen, den er sich aus der Situation hätte erhoffen können(17). Wird dieses Ziel in wirksamer Weise verwirklicht, so hat dies auch eine nicht unerhebliche Abschreckungswirkung. Wie aber in der Begründung des dem Erlass der Verordnung vorausgegangenen Vorschlags der Kommission erläutert wird(18), kann es „in bestimmten Fällen berechtigt sein …, dass die durch eine rechtswidrige Handlung – Kindesentführung – herbeigeführte faktische Änderung des Aufenthaltsorts als Rechtsfolge die Übertragung der Zuständigkeit auf einen anderen Mitgliedstaat bewirken kann. Bei der Zuweisung der Zuständigkeit an das Gericht, das dem Kind nun am nächsten ist, ist jedoch gleichzeitig darauf zu achten, dass der Entführer aus seiner rechtswidrigen Handlung keinen Vorteil zieht.“

49.      Dieses Gleichgewicht – zwischen den beiden oben genannten Grundsätzen(19) – soll Art. 10 der Verordnung schaffen, in erster Linie in Bezug auf die allgemeine Zuständigkeit im Bereich der elterlichen Verantwortung und in zweiter Linie, mittels Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, in Bezug auf die besondere Zuständigkeit für die Anordnung der Rückgabe des Kindes.

50.      Bei widerrechtlichem Verbringen gebietet das Grundprinzip, dem „entführenden Elternteil“ jeden Vorteil aus seiner widerrechtlichen Handlung zu nehmen, den Fortbestand der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die allgemeine Zuständigkeit, sondern auch und erst recht für die Zuständigkeit, die Rückgabe anzuordnen.

51.      Gleichwohl erscheint es völlig vernünftig – und steht mit dem oben geschilderten Streben nach einem Gleichgewicht in Einklang –, wie in Art. 10 Buchst. a der Verordnung vorzusehen, dass die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts, verbunden mit der Zustimmung jeder sorgeberechtigten Partei, zum Übergang dieser Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts führen kann. In diesem Fall hat die Zuständigkeit für die Anordnung der Rückgabe des Kindes keine Daseinsberechtigung mehr.

52.      Es könnte ebenso vernünftig erscheinen, die gleiche Zuständigkeitsübertragung immer dann vorzusehen, wenn das Kind nicht nur einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, sondern sich auch seit mehr als einem Jahr im neuen Mitgliedstaat aufgehalten und in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, auch ohne dass die ausdrückliche Zustimmung aller sorgeberechtigten Parteien vorliegt. Diese Lösung wurde nämlich in Art. 7 des Haager Übereinkommens von 1996(20), der mit dem Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des gewöhnlichen Aufenthalts in Einklang zu stehen scheint, zum Wohl des Kindes gewählt. Auch wenn aus der Entstehungsgeschichte der Verordnung hervorgeht, dass mehrere Delegationen diese Lösung favorisierten(21), wurde aber letztlich bewusst eine strengere Vorgehensweise gewählt, die den Übergang der Zuständigkeit strikt auf die vier im endgültigen Wortlaut von Art. 10 Buchst. b der Verordnung abschließend aufgezählten Fälle beschränkt.

53.      Davon setzen die ersten drei Fälle de facto die stillschweigende Zustimmung der Sorgerechtsinhaber (d. h. in der Regel des verlassenen Elternteils) voraus, die darin zum Ausdruck kommt, dass in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, kein Antrag auf Rückgabe gestellt oder ein solcher Antrag zurückgezogen oder abgelehnt wurde, ohne dass der Antragsteller das Verfahren nach Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung im Mitgliedstaat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts fortgeführt hat.

54.      Der vierte Fall, mit dem wir hier befasst sind, betrifft eine Sorgerechtsentscheidung eines Gerichts des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird. Es handelt sich dabei nicht um eine stillschweigende Zustimmung dieses Gerichts zum Übergang der Zuständigkeit, sondern um eine Entscheidung, mit der die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einem anderen Mitgliedstaat, die zum Übergang der Zuständigkeit führt, gebilligt wird. Während dann, wenn ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt wechselt, indem es rechtmäßig von einem Mitgliedstaat in einen anderen umzieht, der Übergang der Zuständigkeit nach den Art. 8 und 9 der Verordnung automatisch eintritt, muss somit im Fall des widerrechtlichen Verbringens das Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts diesen Ortswechsel durch seine Billigung legalisieren, damit das gleiche Ergebnis eintritt.

55.      Es ist unstreitig, dass eine solche Genehmigung durch eine Entscheidung zum Ausdruck gebracht wird, die die Frage des Sorgerechts dauerhaft regeln soll, sofern die übrigen Voraussetzungen von Art. 10 Buchst. b der Verordnung (neuer gewöhnlicher Aufenthalt seit mehr als einem Jahr, Einleben in der neuen Umgebung) erfüllt sind. Bei wörtlicher Auslegung (die slowenische Regierung hat die sehr weite Definition des Begriffs „Entscheidung“ in Art. 2 Nr. 4 der Verordnung hervorgehoben) würde das Gleiche für eine vorläufige Entscheidung gelten, die später durch eine dauerhafte Entscheidung ersetzt werden soll.

56.      Ich denke jedoch nicht, dass dies der Fall sein sollte. Der Zeitraum von einem Jahr, von dem der Übergang der Zuständigkeit in allen in Art. 10 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen Fällen abhängt, bedeutet in den ersten drei Fällen eindeutig eine zeitliche Grenze für die Stellung oder Bestätigung eines Antrags auf Rückgabe des Kindes. Es wäre daher erstaunlich – und widersprüchlich –, wenn er im vierten Fall eine zeitliche Grenze für den Abschluss des Verfahrens bedeuten würde. Zu diesem Ergebnis würde aber die Einbeziehung vorläufiger Entscheidungen in die Wendung „Sorgerechtsentscheidung …, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ führen. Dann würde ein Gericht, das keine „Sorgerechtsentscheidung …, in der die [sofortige] Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ getroffen hat, seine Zuständigkeit bis zum Ende des Verfahrens behalten, während ein Gericht, das eine solche Entscheidung getroffen hat (was zum Wohl des Kindes oft wünschenswert sein kann), sich dadurch eine zeitliche Grenze für die Erlassung seiner dauerhafteren Entscheidung auferlegen würde.

57.      Ein Gericht, das mit einem das Sorgerecht für ein Kind betreffenden Rechtsstreit befasst ist, hat – vor allem, wenn es im Rahmen dieses Rechtsstreits zu einem widerrechtlichen Verbringen gekommen ist – oft mit einem großen Problem zu kämpfen. Die Leidenschaft, die die Eltern antreibt, kann einen von ihnen veranlassen, von allen verfügbaren Verfahren Gebrauch zu machen, um das Kind zurückzuerlangen. In manchen Fällen mag der betreffende Elternteil den falschen Weg einschlagen, in anderen mag er die Verfahren bewusst ausnutzen. Überdies können, da zwangsläufig die Gerichte zweier Mitgliedstaaten betroffen sind, die Verfahren im einen Staat diejenigen im anderen Staat verzögern, und etwaige Kommunikationsprobleme können diese Fristen noch verlängern. In allen Fällen besteht aber eine echte Gefahr, dass sich die Dauer des Verfahrens de facto der Kontrolle des im Mitgliedstaat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts angerufenen Gerichts entzieht.

58.      Der vorliegende Fall veranschaulicht dies. Zunächst hat das Bezirksgericht Leoben den vom Vater auf der Grundlage des Übereinkommens gestellten Rückgabeantrag offenbar erst am 3. Juli 2008 abgewiesen, etwa elf Wochen nach Stellung dieses Antrags am 16. April 2008, obwohl Art. 11 Abs. 3 der Verordnung eine Frist von höchstens sechs Wochen vorschreibt, „es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist“. Anschließend hat der Vater, statt sich unmittelbar an das Tribunale per i Minorenni di Venezia zu wenden, um einen Beschluss nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung zu erlangen, gegen die Abweisung in Österreich Rechtsmittel eingelegt – zwei Mal, denn die erste Abweisung wurde aufgehoben und sein Antrag dann erneut abgewiesen. Ferner hat der Vater auch nach Zurückweisung seines zweiten Rechtsmittels am 7. Januar 2009 noch drei Monate gewartet, bevor er den Antrag nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung gestellt hat(22). Während dieser ganzen Zeit konnten die Maßnahmen, die das Tribunale per i Minorenni di Venezia vorgesehen hatte, um für die Erlassung einer dauerhaften Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind hinreichend informiert zu sein (Kontakte zum Vater, Gutachten eines psychologischen Sachverständigen) – und die gerade der Grund für die Entscheidung waren, das Kind vorläufig bei der Mutter in Österreich zu belassen – wegen der völlig fehlenden Kooperation der Mutter nicht umgesetzt werden. Der Zeitraum von einem Jahr verstrich somit, ohne dass dies der Zustimmung des Vaters oder der Untätigkeit des Tribunale per i Minorenni di Venezia zuzuschreiben wäre(23).

59.      Das in einem solchen Rechtsstreit zuerst angerufene Gericht muss jedoch sehr oft unverzüglich vorläufige Maßnahmen treffen, um das Dringendste zu regeln, bis es über alle nötigen Informationen für die Erlassung einer dauerhaften Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind verfügt. Genau dies ist hier geschehen. Es erscheint mir undenkbar, dass der Verordnungsgeber in einer solchen Situation einen automatischen Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf eines Jahres gewollt haben soll, während sie beim Erstgericht verblieben wäre, wenn es nicht unverzüglich eine vorläufige Maßnahme hätte treffen und die dauerhafte Entscheidung über das Sorgerecht auf einen späteren Zeitpunkt hätte verschieben müssen. Dies würde darauf hinauslaufen, den Ablauf eines beim zuständigen Gericht eingeleiteten Verfahrens allein deshalb zu unterbrechen, weil das Gericht eine von ihm für erforderlich gehaltene vorläufige Maßnahme getroffen hatte.

60.      Dagegen kann meines Erachtens nur dann, wenn zum Zeitablauf die Zustimmung des antragstellenden Elternteils – in Form der Beendigung jedes bereits eingeleiteten Verfahrens oder des Ausschlusses jedes späteren Verfahrens, das zu einer vollstreckbaren Rückgabeanordnung gemäß den Art. 11 Abs. 8 und 42 der Verordnung hätte führen können – oder eine Entscheidung des angerufenen zuständigen Gerichts hinzukommt, mit der das bei ihm eingeleitete Verfahren ohne Anordnung der Rückgabe des Kindes beendet wird, der Übergang der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats des widerrechtlichen Verbringens gerechtfertigt sein. Auf diese Weise finden alle vier in Art. 10 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen Fälle eine widerspruchsfreie Grundlage in einer – ausdrücklichen oder stillschweigenden – Entscheidung, die den späteren Rückgriff auf das Verfahren der Art. 11 Abs. 8 und 42 der Verordnung ausschließt.

61.      In der mündlichen Verhandlung ist die Frage aufgeworfen worden, wie das Gericht des Mitgliedstaats des widerrechtlichen Verbringens mit Sicherheit feststellen kann, ob die Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts vorläufigen oder endgültigen Charakter hat. Bei Entscheidungen im Bereich des Sorgerechts für ein Kind besteht nämlich ihrer Natur nach stets die Möglichkeit der Korrektur aufgrund einer Änderung der Umstände, und sie erlangen daher nie denselben Grad an Endgültigkeit wie die meisten anderen gerichtlichen Entscheidungen(24). Überdies können die Unterschiede, die im Verfahren oder in der Terminologie zwischen den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten bestehen, die Aufgabe, eine vorläufige von einer „endgültigen“ Entscheidung zu unterscheiden, erschweren.

62.      Mir scheint, dass die Antwort in dem von der französischen Regierung genannten Kriterium gefunden werden muss, wonach eine Sorgerechtsentscheidung so lange als vorläufig anzusehen ist, wie das Gericht nicht „erschöpfend befasst war“. Es genügt somit, zu prüfen – bei Bedarf mit Hilfe der maßgebenden Zentralen Behörden –, ob in dem betreffenden Verfahren noch Maßnahmen zu treffen sind, ohne dass es einer erneuten Befassung des Gerichts bedarf.

63.      Ich komme deshalb zu dem Ergebnis, dass die Ziele der Verordnung einer wörtlichen Auslegung ihres Art. 10 Buchst. b Ziff. iv entgegenstehen und dass eine vorläufige Maßnahme, mit der das Sorgerecht für ein Kind dem entführenden Elternteil übertragen wird, bis eine endgültige (oder dauerhafte) Sorgerechtsentscheidung ergeht, keine „Sorgerechtsentscheidung …, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

 Zur zweiten Frage

64.      Der Oberste Gerichtshof möchte wissen, ob eine Rückgabeanordnung nur dann in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung fällt, wenn das Gericht die Rückgabe aufgrund einer von ihm getroffenen Sorgerechtsentscheidung anordnet.

65.      Er führt aus, nach Ansicht der Mutter falle nur eine auf einer Sorgerechtsentscheidung beruhende Rückgabeanordnung unter Art. 11 Abs. 8 der Verordnung. Die Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009, deren Vollstreckung der Vater betreibe, beruhe nicht auf einer Sorgerechtsentscheidung und falle daher nicht unter die genannte Bestimmung.

66.      Der Oberste Gerichtshof erkennt zutreffend an, dass eine solche Auslegung weder durch den Wortlaut der Bestimmung gestützt wird – in der ohne Einschränkung von jeder „spätere[n] Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“, die Rede ist – noch durch das Urteil Rinau(25) – in dem die verfahrensrechtliche Selbständigkeit der Entscheidung hervorgehoben wird, die im Anschluss an eine Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ergeht –; er ist aber der Ansicht, dass sie bei systematischer und teleologischer Betrachtung nicht ausgeschlossen werden könne. Zum einen ergebe sich aus Art. 11 Abs. 7 der Verordnung, dass die Regelung in den Abs. 6 bis 8, nach der die Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts das letzte Wort hätten, nur dann gerechtfertigt sei, wenn die Rückgabeanordnung auf einer Regelung des Sorgerechts beruhe, die eine Rückführung des Kindes erfordere. Zum anderen mache eine solche Auslegung das System der Art. 10 und 11 insgesamt kohärenter.

67.      Ich möchte gleich klarstellen, dass ich keineswegs überzeugt bin, dass die Erwägungen des vorlegenden Gerichts zu dem von ihm befürworteten Ergebnis führen müssen. Wie ich im Rahmen der ersten Frage erläutert habe, besteht das vorrangige Ziel des Übereinkommens darin, außer unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen die sofortige Rückgabe des Kindes sicherzustellen, bevor die Frage des Sorgerechts oder der elterlichen Verantwortung geprüft wird. Art. 11 der Verordnung soll diese Regelung stärken, wiederum im Hinblick auf eine Rückgabe ohne Verzögerung – und nicht erst nach Erlassung einer Entscheidung über das Sorgerecht, am Ende eines unter Umständen langen Verfahrens.

68.      Der Oberste Gerichtshof ist jedoch der Auffassung – die in der mündlichen Verhandlung von mehreren Mitgliedstaaten geteilt worden ist –, dass eine auf einer Regelung des Sorgerechts, die eine Rückführung des Kindes erfordere, beruhende Rückgabeanordnung, die nach Feststellung der Tatsachen und Beweiserhebung ergehe, eine bessere Richtigkeitsgewähr biete als eine im Rahmen eines bloßen Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes ergangene Entscheidung.

69.      Überdies wäre nach Ansicht des vorlegenden Gerichts, wenn eine Entscheidung der letztgenannten Art unter Art. 11 Abs. 8 der Verordnung fiele, dieser Artikel insgesamt schwer verständlich. Statt zu verlangen, dass das Gericht des Staates des widerrechtlichen Verbringens zunächst ein Rückgabeverfahren nach dem Übereinkommen durchführe, könnte nämlich das Gericht des Staates des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts sofort nach der Entführung eine bloße Rückgabeanordnung erlassen, die im anderen Mitgliedstaat ebenso wie die nach Art. 11 Abs. 8 ergangene Entscheidung unmittelbar vollstreckbar sein könnte. Das nach Art. 11 erforderliche Verfahren gemäß dem Übereinkommen würde dann zu Zeitverlust führen und hätte keine eigenständige Bedeutung.

70.      Was den ersten Teil dieser Argumentation angeht, erkenne ich an, dass ein mit einer eingehenderen Prüfung des Sachverhalts verbundenes Verfahren eine erhöhte Richtigkeitsgewähr bietet. Das Verfahren des Art. 11 Abs. 8 der Verordnung bietet jedoch meines Erachtens, sofern es ordnungsgemäß durchgeführt wird, eine völlig ausreichende Gewähr. Es handelt sich um eine Situation, in der sich das Gericht des Mitgliedstaats des widerrechtlichen Verbringens aus einem oder mehreren der in Art. 13 des Übereinkommens aufgezählten Gründe bereits geweigert hat, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, und dem Gericht des Staates des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts – gegebenenfalls mit Hilfe der jeweiligen Zentralen Behörden, wie in Art. 55 Buchst. c der Verordnung vorgesehen – eine Abschrift seiner Entscheidung und aller entsprechenden Unterlagen übermittelt hat. Das letztgenannte Gericht – das besser in der Lage ist, die Umstände zu beurteilen, unter denen das Kind vor seiner Entführung gelebt hat und gegebenenfalls bei seiner Rückkehr leben wird – kann nach Art. 42 der Verordnung für seine gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangene Entscheidung nur dann eine Bescheinigung ausstellen, wenn es die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, auf denen die Entscheidung, die Rückgabe zu verweigern, beruht(26). Daher kann vermutet werden – in Einklang auch mit dem der Verordnung zugrunde liegenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens –, dass es diese Gründe und Beweismittel aufgrund anderer Gesichtspunkte, die dem erstgenannten Gericht nicht bekannt waren, als nicht stichhaltig angesehen hat.

71.      Die von einigen Mitgliedstaaten in der mündlichen Verhandlung befürwortete Vorgehensweise scheint dagegen auf einem Misstrauen der Gerichte des Verbringungsmitgliedstaats gegenüber den Entscheidungen der Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zu beruhen. Mit einer solchen Vorgehensweise wird nicht nur der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens negiert, sondern sie trägt auch nicht dem offenkundigen Vorteil Rechnung, der sich aus der doppelten Prüfung des Rückgabeantrags durch zwei Gerichte ergibt, von denen das eine besser in der Lage ist, die aktuellen Lebensumstände des Kindes zu berücksichtigen, während das andere besser in der Lage ist, die Umstände zu beurteilen, unter denen es zuvor gelebt hat und im Fall seiner Rückkehr leben wird.

72.      Der zweite Teil der Argumentation scheint mir auf einem Fehlverständnis des Verhältnisses zwischen dem Übereinkommen und der Verordnung zu beruhen. Das Übereinkommen sieht unmissverständlich vor, dass im Fall der Kindesentführung zunächst die Gerichte des Staates angerufen werden müssen, in dem sich das Kind befindet, um dessen sofortige Rückgabe zu erreichen. Diese Gerichte sind nämlich am besten in der Lage, die Rückgabe in der wirksamsten Weise anzuordnen. Ihre Entscheidungen sind nach dem nationalen Verfahren unmittelbar vollstreckbar. Nur wenn diese Gerichte der Ansicht sind, dass einer der in Art. 13 des Übereinkommens aufgezählten Gründe für die Verweigerung der Rückgabe vorliegt – also nur in mutmaßlichen Ausnahmefällen –, ist es erforderlich, sich nach Art. 11 der Verordnung an das zuständige Gericht des Staates des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zu wenden. Dieses Gericht muss dann davon überzeugt werden, dass der angeführte Grund die Rückgabe nicht hindert, bevor es sich über die aufgrund des Übereinkommens ergangene Entscheidung, die Rückgabe zu verweigern, hinwegsetzen kann.

73.      Wäre es dagegen Sache der Gerichte des Staates des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts, von vornherein die Rückgabe des Kindes anzuordnen, dann würde zum einen das Vollstreckungsverfahren – stets und nicht nur im Fall eines Rückgriffs auf Art. 11 Abs. 8 der Verordnung – durch das Erfordernis einer Zusammenarbeit zwischen Behörden in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten erschwert, und zum anderen würde ein wesentlicher Schutz des Kindeswohls fehlen, und zwar die obligatorische doppelte Prüfung im Fall von Zweifeln daran, ob es zweckmäßig ist, seine Rückgabe anzuordnen.

74.      Mir scheint daher, dass das System des Art. 11 der Verordnung insgesamt gesehen völlig kohärent ist, ohne dass es einer vorherigen Sorgerechtsentscheidung als Grundlage der Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 bedarf.

75.      Der Oberste Gerichtshof führt weiter aus, eine nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangene Entscheidung könne, wenn sie einer dauerhaften Entscheidung über das Sorgerecht, die möglicherweise zu einem anderen Ergebnis komme, vorausgehe, das Kind zu einem doppelten Aufenthaltswechsel zwingen. Auch dieser Erwägung haben sich in der mündlichen Verhandlung mehrere Mitgliedstaaten angeschlossen.

76.      Die Möglichkeit eines doppelten Ortswechsels lässt sich nicht leugnen. Es handelt sich dabei jedoch meines Erachtens um einen Gesichtspunkt, den die Verfasser sowohl des Übereinkommens als auch der Verordnung als notwendige Folge des Ziels akzeptiert haben, im Fall des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens die sofortige oder unverzügliche Rückgabe des Kindes zu gewährleisten. Diese Absicht ergibt sich für mich ganz klar aus dem System der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung. Zunächst wird das Kind in den Mitgliedstaat seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zurückgebracht, und dann wird über die Fragen des Sorgerechts und der elterlichen Verantwortung entschieden. Dies wird zwangsläufig in einer Reihe von Fällen mit einem doppelten Ortswechsel verbunden sein – oder sogar mit einem dreifachen Ortswechsel, wenn man das erste widerrechtliche Verbringen mitzählt. Zwar dient eine Vielzahl von Ortswechseln sicher nicht dem Wohl des betroffenen Kindes, doch muss meines Erachtens das größere Interesse, von Entführungsversuchen dadurch abzuschrecken, dass ihnen jede rechtliche oder praktische Wirkung genommen wird, nach dem Geist der Verordnung (und des Übereinkommens) Vorrang haben.

77.      Überdies ist das Verfahren im Licht des verfolgten Ziels zu betrachten, das in der Rückkehr des Kindes zum zuständigen Gericht besteht. Dadurch wird lediglich das erste widerrechtliche Verbringen „korrigiert“. Das zuständige Gericht muss dann unter Berücksichtigung aller Umstände die Frage des Sorgerechts prüfen, und zumindest einige Aspekte dieser Prüfung wie psychologische Beobachtungen, soziale Bindungen oder gegebenenfalls die unmittelbare Befragung erfordern in der Regel die Anwesenheit des Kindes. Es kann nicht zu dessen Wohl sein, wenn dieser Prozess dadurch erschwert und verlängert wird, dass es im Mitgliedstaat des widerrechtlichen Verbringens bleibt. Am Ende trifft das Gericht seine Entscheidung, die zu einem letzten Ortswechsel führen wird oder auch nicht, aber in voller Kenntnis der Sachlage getroffen wird.

78.      Schließlich führt der Oberste Gerichtshof aus, die Möglichkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts, die Rückgabe des Kindes nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung anzuordnen, ohne zuvor eine Sorgerechtsentscheidung getroffen zu haben, laufe dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwider, da sie unterstelle, dass die Gerichte des anderen Mitgliedstaats die Rückgabe aus unsachlichen Gründen verweigern könnten.

79.      Dieses Argument überzeugt mich nicht. Wie ich bereits erläutert habe, bietet das Verfahren vielmehr die Gewähr einer doppelten Prüfung im Fall von Zweifeln daran, ob es zweckmäßig ist, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, und erfordert eine durchdachte Begründung jeder nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangenen Entscheidung über die Rückgabe. Dies erscheint mir keineswegs unvereinbar mit dem der Verordnung zugrunde liegenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der – im Gegenteil – vom Gericht eines Mitgliedstaats verlangt, den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats keine unsachlichen Hintergedanken zuzuschreiben, sondern zu unterstellen, dass ihre Entscheidungen ebenso sachlich begründet sind wie die Entscheidungen der Gerichte seines eigenen Mitgliedstaats.

80.      Ich bin daher der Ansicht, dass weder der Wortlaut noch die Systematik der Verordnung die Möglichkeit, die Rückgabe des Kindes nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung anzuordnen, auf den Fall beschränkt, dass dasselbe Gericht bereits eine Sorgerechtsentscheidung getroffen hat.

 Zur dritten Frage

81.      Wenn die erste oder die zweite Frage bejaht wird, möchte der Oberste Gerichtshof wissen, ob im Vollstreckungsstaat die Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts (Frage 1) oder die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung (Frage 2) gegen die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, eingewendet werden kann oder ob der Antragsgegner in einem solchen Fall im Ursprungsstaat die Aufhebung der Bescheinigung beantragen muss, wobei dann die Vollstreckung im Vollstreckungsstaat ausgesetzt werden könnte, bis im Ursprungsstaat die Entscheidung ergangen ist.

82.      Da ich vorschlage, die ersten beiden Fragen zu verneinen, stellt sich die dritte Frage nicht mehr. Ich werde sie gleichwohl prüfen, weil die Möglichkeit besteht, dass der Gerichtshof die erste oder die zweite Frage bejahen wird, und insbesondere angesichts des allgemeineren Interesses an einer Klärung der Grenzen für die Möglichkeiten, gegen die Vollstreckung einer nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung vorzugehen.

83.      Der Oberste Gerichtshof führt aus, da das Tribunale per i Minorenni di Venezia eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung ausgestellt habe, seien die österreichischen Gerichte nicht befugt, seine Entscheidung inhaltlich zu überprüfen. Nicht ausgeschlossen sei allerdings, dass diese Gerichte prüfen dürften, ob die genannte Entscheidung überhaupt auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangen sei. Da nach Art. 40 der Verordnung deren Abschnitt 4 für „die Rückgabe eines Kindes infolge einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung gemäß Artikel 11 Absatz 8” gelte, setze die Anwendbarkeit von Art. 42 Abs. 1 der Verordnung und damit die bindende Wirkung der Bescheinigung voraus, dass eine solche Entscheidung vorliege – was nicht der Fall wäre, wenn eine der ersten beiden Fragen bejaht würde.

84.      Das vorlegende Gericht fügt hinzu, da die Bescheinigung die sofortige Vollstreckung ohne weitere inhaltliche Prüfung ermöglichen solle, könnte nur das Ursprungsgericht feststellen, ob sie sie zu Unrecht erteilt worden sei. Art. 43 der Verordnung sehe aber nur eine „Berichtigung“ der Bescheinigung vor. Dagegen sehe Art. 10 der Verordnung Nr. 805/2004(27) – eine jüngere Bestimmung, die ein vergleichbares Problem betreffe – vor, dass die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel auf Antrag an das Ursprungsgericht widerrufen werde, wenn sie eindeutig zu Unrecht erteilt worden sei. Da der europäische Gesetzgeber sicher keinen schwächeren gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Rückgabe eines Kindes als gegen die Durchsetzung einer unbestrittenen Forderung habe vorsehen wollen, müsse für die hier in Rede stehende Bescheinigung das Gleiche gelten. Dann sei auch Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004(28) entsprechend anzuwenden, damit die Vollstreckung ausgesetzt werden könne, bis das Ursprungsgericht über den Antrag auf Berichtigung oder Aufhebung der Bescheinigung entschieden habe.

85.      Die Argumentation des vorlegenden Gerichts beruht somit zum Großteil auf einem Vergleich mit der Verordnung Nr. 805/2004, die weniger als fünf Monate nach der Verordnung erlassen wurde, so dass die Vorarbeiten für beide Verordnungen im Rat der Europäischen Union weitgehend im gleichen Zeitraum stattfanden. Es wäre deshalb meines Erachtens erstaunlich, wenn in einem erheblichen Unterschied zwischen beiden Regelungen (nur Berichtigung bei materiellen Fehlern im Rahmen der Verordnung und Berichtigung bei materiellen Fehlern sowie Widerruf, wenn die Bestätigung zu Unrecht erteilt wurde, im Rahmen der Verordnung Nr. 805/2004) nicht eine bewusste Differenzierung seitens des Verordnungsgebers zum Ausdruck käme. Aus den genannten Vorarbeiten ergibt sich nämlich, dass in beiden Fällen verschiedene Optionen in Betracht gezogen wurden, bevor es zu den aktuellen, voneinander abweichenden Texten kam(29).

86.      Es erscheint mir daher ausgeschlossen, die erstgenannte Verordnung im Licht der letztgenannten auslegen zu wollen, zumal, auch wenn beide den allgemeinen Bereich der gerichtlichen Zusammenarbeit in Zivilsachen betreffen, ihre genauen Gegenstände stark voneinander abweichen und nicht zwangsläufig vergleichbare Vorgehensweisen erfordern. Das Interesse daran, die Rückgabe eines Kindes im Fall des widerrechtlichen Verbringens sicherzustellen, und das Interesse an der Durchsetzung einer unbestrittenen Forderung lassen sich nämlich nicht mit demselben Maßstab messen. Die von den einschlägigen Bestimmungen erfassten Sachverhalte unterscheiden sich zudem darin, dass es im Rahmen der Verordnung um einen Konflikt und damit um eine Streitfrage geht, die bereits bekannt sind und von mindestens zwei Gerichten berücksichtigt wurden, während im Fall der Verordnung Nr. 805/2004 der Antrag auf Widerruf der Bestätigung aus einer mutmaßlich unbestrittenen Forderung eine zumindest teilweise bestrittene Forderung macht, was eine Aussetzung durch ein Vollstreckungsgericht rechtfertigen kann, das zuvor nicht mit der Forderung befasst war.

87.      Gleichwohl stellt sich natürlich die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, wenn sich herausstellt, dass eine Bescheinigung im Sinne von Art. 42 der Verordnung zu Unrecht ausgestellt wurde. Auch wenn das Interesse an der sofortigen Rückgabe eines widerrechtlichen verbrachten Kindes und an der Sicherstellung einer einfachen und raschen Vollstreckung von Entscheidungen, mit denen diese Rückgabe am Ende des in Art. 11 der Verordnung vorgesehenen Verfahrens angeordnet wird, gegen die Möglichkeit einer Anfechtung der in Art. 42 vorgesehenen Bescheinigung spricht, ist es stets denkbar, dass ein Gericht eine solche Bescheinigung ausstellt, weil es fälschlich annimmt, dazu befugt zu sein, obwohl in Wirklichkeit die Voraussetzungen für die Erlassung einer Entscheidung auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung nicht vorliegen.

88.      Ein in der mündlichen Verhandlung angeführtes Beispiel ist das eines Gerichts des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts, das die Rückgabe des Kindes anordnet, ohne dass zuvor im Mitgliedstaat des widerrechtlichen Verbringens eine die Rückgabe verweigernde Entscheidung nach Art. 13 des Übereinkommens ergangen ist, und für seine Anordnung eine Bescheinigung gemäß Art. 42 der Verordnung ausstellt. Das betreffende Gericht wäre zwar unter diesen Umständen für die Erlassung einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung zuständig, aber es handelt sich in diesem Fall nicht um eine Entscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung. Daher ist für eine solche Entscheidung die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 nicht vorgesehen(30), und die Bescheinigung wäre somit zu Unrecht ausgestellt worden.

89.      Es ist kaum denkbar, dass der Verordnungsgeber jede Abhilfemöglichkeit bei einem solchen Fehler ausschließen wollte, der nicht notwendigerweise der einzigen im 24. Erwägungsgrund der Verordnung angesprochenen Berichtigungsmöglichkeit entspricht, die den Fall betrifft, dass „in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist“.

90.      Auf diese Problematik bin ich bereits in meiner Stellungnahme in der Rechtssache Rinau(31) sowie jüngst in einem etwas anderen Kontext in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Purrucker(32) eingegangen. Ich werde mich hier darauf beschränken, den Standpunkt zusammenzufassen, zu dem ich insoweit gelangt bin, und dabei auf die Ausführungen in den beiden genannten Rechtssachen Bezug nehmen.

91.      Die Verordnung verbietet eindeutig jeden Rechtsbehelf gegen die Ausstellung der Bescheinigung. Einen Rechtsbehelf gegen die mit der Bescheinigung versehene Entscheidung verbietet sie dagegen nicht. Ist eine Partei der Ansicht, dass die Voraussetzungen, die es dem betreffenden Gericht ermöglichen, diese Entscheidung zu erlassen, nicht vorliegen, muss sie die Zuständigkeit dieses Gerichts vor dem Gericht selbst anfechten können – was die Mutter hier offenbar getan hat – und gegebenenfalls bei einem höheren Gericht Rechtsmittel einlegen können. Sieht das nationale Recht unter diesen Umständen keine Rechtsschutzmöglichkeit vor, muss das Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV den Gerichtshof anrufen. Jeder Rechtsbehelf oder jede Befassung des Gerichtshofs ist unter diesen Umständen mit größtmöglicher Eile zu behandeln.

92.      Damit ist der erste Teil der dritten Frage des vorlegenden Gerichts beantwortet, aber es möchte im zweiten Teil seiner Frage auch wissen, ob im Fall einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt worden ist, deren Begründetheit angefochten worden ist, das ersuchte Gericht die Vollstreckung der Entscheidung aussetzen kann, um den etwaigen Widerruf der Bescheinigung zu ermöglichen.

93.      Im vorliegenden Fall gibt es weder in der Vorlageentscheidung noch in den übrigen dem Gerichtshof vorgelegten Schriftstücken einen Anhaltspunkt dafür, dass die Mutter ihre Rüge der Unzuständigkeit des Tribunale per i Minorenni di Venezia dadurch weiterverfolgt hätte, dass sie in Italien Rechtsmittel gegen die Entscheidung vom 10. Juli 2009 eingelegt hätte, deren Vollstreckung der Vater in Österreich begehrt.

94.      Unter diesen Umständen halte ich es für völlig ausgeschlossen, dass die österreichischen Gerichte die Vollstreckung dieser Entscheidung aussetzen können, um der Mutter die Einlegung eines Rechtsbehelfs zu ermöglichen. Diese Gerichte sind selbst nicht für die Entscheidung über einen Rechtsbehelf zuständig, und da kein Rechtsbehelf vor einem zuständigen Gericht eingelegt worden ist, bieten der Wortlaut und die Ziele der Verordnung keine Rechtfertigung dafür, die Vollstreckung einer Entscheidung zu verzögern, mit der, wie bereits ausgeführt, die unverzügliche Rückgabe des Kindes erreicht werden soll.

95.      Würde etwas anderes gelten, wenn die Mutter bereits einen solchen Rechtsbehelf eingelegt hätte, bevor der Vater die Vollstreckung der Entscheidung in Österreich betrieben hat? Eine Aussetzung der Vollstreckung könnte unter diesen Umständen eher zu rechtfertigen sein, da sich das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats mit einer tatsächlichen und nicht mehr nur hypothetischen Ungewissheit hinsichtlich der Vollstreckbarkeit der angefochtenen Entscheidung konfrontiert sieht. Es könnte damit einen ungerechtfertigten Ortswechsel des Kindes verhindern, dem sich entweder ein erneuter Ortswechsel oder ein ungerechtfertigter Verbleib des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat anschließen würde.

96.      Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass die Verordnung eine solche Aussetzung zulässt. Nicht nur ist sie dort nicht ausdrücklich vorgesehen, sondern es lässt sich auch aus dem Vorhandensein, an anderer Stelle der Verordnung, einer Bestimmung, nach der das Verfahren über einen Antrag auf Vollstreckbarerklärung einer die Ausübung der elterlichen Verantwortung betreffenden Entscheidung ausgesetzt werden kann(33), schließen, dass es sich um eine bewusste Lücke handelt – was im Übrigen dadurch bestätigt wird, dass die nunmehr in den Art. 43 und 44 enthaltenen Bestimmungen bei der Ausarbeitung der Verordnung heftig umstritten waren(34), ohne dass eine die Aussetzung der Vollstreckung gestattende Bestimmung erlassen wurde.

97.      Anknüpfend an das Ergebnis, zu dem ich in Bezug auf die Möglichkeit einer Anfechtung der Entscheidung gekommen bin(35), erscheint es mir jedoch evident, dass der Elternteil, der gegen diese Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vorgeht, in diesem Mitgliedstaat auch die Möglichkeit haben muss, die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung zu beantragen, und dass die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats eine solche Aussetzung beachten müssten.

98.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen komme ich somit zu dem Ergebnis, dass der Gerichtshof auf die dritte Frage des Obersten Gerichtshofs antworten sollte, dass, wenn gegen eine von einem Gericht eines Mitgliedstaats nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung mit einer Bescheinigung versehene Entscheidung die Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts oder die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung eingewandt wird, dies nur in Form eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung selbst (und nicht gegen die Bescheinigung) vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats geltend gemacht werden kann. Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats sind nicht befugt, die Vollstreckung zu verweigern oder auszusetzen.

 Zur vierten Frage

99.      Wenn die erste oder die zweite Vorlagefrage oder der erste Teil der dritten Frage verneint wird, möchte der Oberste Gerichtshof wissen, ob eine von einem Gericht des Vollstreckungsstaats erlassene und nach dessen Recht als vollstreckbar anzusehende Entscheidung, mit der die einstweilige Obsorge dem entführenden Elternteil übertragen wurde, nach Art. 47 Abs. 2 der Verordnung der Vollstreckung einer zuvor nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung im Ursprungsstaat erlassenen Rückgabeanordnung auch dann entgegensteht, wenn sie die Vollstreckung einer nach dem Übereinkommen erlassenen Rückgabeanordnung des Vollstreckungsstaats nicht hinderte.

100. Bevor ich auf diese Frage eingehe, die im Rahmen des Ausgangsverfahrens die Auswirkungen des Beschlusses des Bezirksgerichts Judenburg vom 25. August 2009 betrifft, erscheint es mir angebracht, die Voraussetzungen zu prüfen, unter denen sich dieses Gericht für befugt gehalten hat, den fraglichen Beschluss zu erlassen.

101. Aus der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009 geht hervor, dass die Mutter das italienische Gericht zunächst aufgefordert hat, den Rechtsstreit nach Art. 15 der Verordnung an die österreichischen Gerichte zu verweisen(36). Dies wurde mit der Begründung abgelehnt, dass es sich nicht um eine außergewöhnliche Situation handele, sondern um einen gewöhnlichen Rechtsstreit zwischen Eltern über das Sorgerecht für ihr Kind (während Art. 15 „[i]n Ausnahmefällen“ gilt), und dass das Kind keine „besondere Bindung“ zu Österreich im Sinne der Definition in Art. 15 Abs. 3 habe.

102. Diese Entscheidung fällt in die Zuständigkeit des Tribunale per i Minorenni di Venezia und ist nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens. Ich habe gleichwohl einige Vorbehalte gegen sie.

103. Erstens erscheint es mir nicht zutreffend, die Anwendung von Art. 15 der Verordnung mit der Begründung auszuschließen, dass das Verfahren einen gewöhnlichen Rechtsstreit zwischen Eltern über das Sorgerecht für ihr Kind betreffe. Die einleitenden Worte „[i]n Ausnahmefällen“ gebieten meines Erachtens nicht, dass die Bestimmung nur zur Anwendung kommen kann, wenn eine außergewöhnliche Situation vorliegt. Sie gestatten es vielmehr einem zuständigen Gericht, von den allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften abzuweichen und den Fall oder einen Teil des Falles an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, zu verweisen, wenn es der Ansicht ist, dass das letztgenannte Gericht den Fall besser beurteilen kann und dass die Verweisung dem Wohl des Kindes dient – was grundsätzlich nur ausnahmsweise der Fall sein wird.

104. Zweitens scheint mir, dass entgegen der vom Tribunale per i Minorenni di Venezia in seiner Begründung vertretenen Auffassung mehrere der alternativen Kriterien in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung (von denen folglich das Vorliegen eines einzigen genügt hätte, um eine „besondere Bindung“ zu schaffen) im vorliegenden Fall erfüllt waren. So ist unstreitig, dass das Kind neben der italienischen auch die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, so dass die in Buchst. c der Bestimmung genannte Voraussetzung vorliegt, die nicht auf den Fall nur einer Staatsangehörigkeit beschränkt ist. Außerdem dürfte klar sein, dass die Mutter zum Zeitpunkt der Ablehnung des Verweisungsantrags in Österreich ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, an den das Kriterium in Buchst. d anknüpft(37).

105. Auch wenn die Begründung des Tribunale per i Minorenni di Venezia in mancher Hinsicht als nicht stichhaltig anzusehen sein mag, ist jedoch klar, dass für dieses Gericht nach Art. 15 der Verordnung keine Verpflichtung bestand, das Bezirksgericht Judenburg als für die Beurteilung des Falles besser geeignet und eine Verweisung als dem Wohl des Kindes entsprechend einzustufen und die Sache deshalb an das österreichische Gericht abzugeben. Der Gerichtshof hat auch keine Informationen über ein etwaiges Rechtsmittel der Mutter gegen die Ablehnung der Verweisung, obwohl dies der normalerweise von ihr zu beschreitende Weg wäre, um die Begründung des Tribunale per i Minorenni di Venezia anzufechten.

106. Sodann geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Mutter, ohne die Bescheidung ihres Antrags durch das Tribunale per i Minorenni di Venezia abzuwarten, unmittelbar beim Bezirksgericht Judenburg beantragt hatte, ihr das Sorgerecht zu übertragen. Dieses Gericht erklärte sich am 26. Mai 2009 „nach Art. 15 Abs. 5“ der Verordnung für zuständig und ersuchte das italienische Gericht, ihm das Verfahren zu übertragen. Offenbar hat das Bezirksgericht Judenburg auf der Grundlage dieser Zuständigkeitserklärung seine Entscheidung vom 25. August 2009 erlassen, mit der das Sorgerecht vorläufig der Mutter übertragen wurde; in Bezug auf diese Entscheidung möchte der Oberste Gerichtshof wissen, ob sie der Vollstreckung der Rückgabeanordnung des Tribunale per i Minorenni di Venezia entgegenstehen könnte.

107. Die Entscheidung vom 26. Mai 2009 liegt mir nicht im Wortlaut vor, aber ihre kurze Zusammenfassung durch den Obersten Gerichtshof deutet darauf hin, dass sich das Bezirksgericht Judenburg unter Verstoß gegen Art. 15 der Verordnung für zuständig erklärt hat. Dieser Artikel erlaubt es einem Gericht nämlich nicht, sich aus eigener Initiative für zuständig zu erklären. Aus Art. 15 Abs. 5 der Verordnung geht klar hervor, dass einer solchen Zuständigkeitserklärung(38) eine Anrufung „gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b)“ vorausgehen muss – d. h., auf unmittelbare oder mittelbare Initiative des zuständigen Gerichts, das die Prüfung des Falls aussetzt und die Parteien auffordert, sich an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu wenden, oder selbst ein solches Gericht ersucht, sich für zuständig zu erklären. Zwar kann ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, nach Abs. 2 Buchst. c die Verweisung beantragen(39), doch die Entscheidung über diesen Antrag obliegt dem für die Entscheidung in der Sache zuständigen Gericht – also dem Gericht des Mitgliedstaats des (vorherigen) gewöhnlichen Aufenthalts.

108. Folglich erscheint die Zuständigkeit des Bezirksgerichts Judenburg für die Erlassung seiner Entscheidung vom 25. August 2009 anfechtbar. Wenn das Tribunale per i Minorenni di Venezia zu diesem Zeitpunkt seine Zuständigkeit nach Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung verloren hätte (was meines Erachtens zu verneinen ist), wäre es plausibel, dass das Bezirksgericht Judenburg nach der Grundregel in Art. 8 der Verordnung zuständig geworden wäre. Dagegen konnte es die Zuständigkeit nicht über Art. 15 der Verordnung erlangen, da das Tribunale per i Minorenni di Venezia keine dahin gehende Initiative ergriffen hat(40).

109. In seiner Vorlageentscheidung nennt der Oberste Gerichtshof einige Gründe, aus denen die Bestätigung des Bezirksgerichts Judenburg, dass seine Entscheidung vom 25. August 2009 rechtskräftig und vollstreckbar sei, zu Unrecht erteilt worden sein könnte, insbesondere wegen möglichen Fehlern bei der Zustellung der Entscheidung. Er fügt jedoch hinzu, dass alle übrigen österreichischen Gerichte an die Bestätigung gebunden seien und dass sie gegebenenfalls nur vom Bezirksgericht Judenburg selbst, auf Antrag oder von Amts wegen, aufgehoben werden könne. Der Oberste Gerichtshof geht nicht darauf ein, dass sich das Bezirksgericht Judenburg zu Unrecht für zuständig erklärt haben könnte, und führt deshalb nicht aus, ob sich auch eine etwaige Unzuständigkeit seiner Kontrolle entziehen würde. Mir scheint jedenfalls, dass die Zuständigkeitserklärung nach Art. 15 der Verordnung innerhalb des österreichischen Gerichtssystems überprüfbar sein sollte.

110. Vorbehaltlich der letztgenannten Erwägungen, denen der Oberste Gerichtshof gegebenenfalls Rechnung zu tragen haben wird, werde ich bei der Prüfung der vierten Vorlagefrage – wie der Oberste Gerichtshof selbst – davon ausgehen, das die Entscheidung des Bezirksgerichts Judenburg vom 25. August 2009, mit der das Sorgerecht vorläufig der Mutter übertragen wurde, vollstreckbar ist.

111. Das vorlegende Gericht führt aus, im Bereich des Sorgerechts stehe zwar eine vollstreckbare Entscheidung, die mit einer zuvor ergangenen Entscheidung unvereinbar sei, grundsätzlich deren Vollstreckung entgegen – wie Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung ausdrücklich vorsehe –, doch gelte dies nicht unbedingt im nationalen Recht. Der Oberste Gerichtshof habe nämlich selbst kürzlich ausgesprochen, dass eine in Österreich ergangene Rückführungsanordnung nach dem Übereinkommen auch dann zu vollstrecken sei, wenn ihr eine einstweilige Obsorgeregelung eines anderen österreichischen Gerichts entgegenstehe, denn nach Art. 17 des Übereinkommens bilde eine im ersuchten Staat ergangene Sorgerechtsentscheidung für sich allein keinen Grund für die Verweigerung der Rückführung des Kindes. Wenn nach Art. 47 Abs. 2 der Verordnung die ausländische Rückgabeanordnung einer Entscheidung eines inländischen Gerichts gleichgestellt sei, könne eine einstweilige Obsorgeregelung die Vollstreckung der Anordnung nicht verhindern.

112. In seiner Frage geht der Oberste Gerichtshof deshalb davon aus, dass Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung („[E]ine Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach … Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, [darf] nicht vollstreckt werden, wenn sie mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar ist.“) für jede später ergangene vollstreckbare Entscheidung gilt, auch wenn sie im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangen ist. Die Kommission tritt dieser Auslegung entgegen und macht geltend, sie würde den vom Verordnungsgeber gewollten Mechanismus des Art. 11 Abs. 8 unterlaufen, nach dem die Gerichte des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts das letzte Wort hinsichtlich der Rückgabe des Kindes haben sollten. Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung solle klarstellen, dass die nach Art. 11 Abs. 8 ergangene Rückgabeentscheidung durch eine spätere Entscheidung eines Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats hinfällig werden könne und dann nicht vollstreckt werden dürfe.

113. Auch wenn sich dem Wortlaut der Bestimmung die von der Kommission angeführte Klarstellung nicht entnehmen lässt, schließe ich mich ihrem Standpunkt an. Neben den von ihr geltend gemachten Argumenten – wobei außer Frage steht, dass Art. 11 Abs. 8 der Verordnung sinnlos wäre, wenn die Entscheidung, die er betrifft, durch eine spätere Entscheidung des Gerichts verdrängt werden könnte, das bereits die Entscheidung erlassen hat, mit der nach Art. 13 des Übereinkommens die Rückgabe verweigert wurde – ist klar, dass die „später ergangene vollstreckbare Entscheidung“ nur von einem zuständigen Gericht stammen kann. Im Fall einer die elterliche Verantwortung betreffenden Entscheidung sind aber definitionsgemäß die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem die Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangen ist, und nicht die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde.

114. In der mündlichen Verhandlung ist die Frage aufgeworfen worden, weshalb der Verordnungsgeber, wenn sich Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung auf den Fall der Außerkraftsetzung einer im Ursprungsmitgliedstaat mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung beschränke, dies nicht klar zum Ausdruck gebracht habe, statt den Begriff „unvereinbar“ zu wählen, der auch den Fall einer später im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung erfassen könnte. Mir scheint jedoch, dass auf diese Frage ebenfalls eine befriedigende Antwort gegeben wurde. Auch wenn es einem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats verwehrt ist, durch die bloße Erlassung einer entgegenstehenden Entscheidung die Entscheidung hinfällig werden zu lassen, die nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung das letzte Wort über die Rückgabe des Kindes darstellen soll, kann es andere Arten von Entscheidungen geben, die mit der Rückgabeanordnung unvereinbar sind – z. B., wenn die Rückgabe an einen Elternteil angeordnet wird, der zwischenzeitlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 der Verordnung auch für Entscheidungen gilt, für die eine Bescheinigung nach Art. 41 ausgestellt wurde; diese betreffen das Umgangsrecht, auf das sich spätere Entscheidungen anderer Art auswirken können.

115. Die Verordnung ist jedenfalls so weit wie möglich in Einklang mit dem Übereinkommen auszulegen und vor allem nicht in einer Weise, die der verstärkten Entscheidungsbefugnis, die den Gerichten des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts durch Art. 11 Abs. 8 der Verordnung und durch das in ihrem Art. 42 vorgesehene System der Bescheinigung eingeräumt wird, eine im Ergebnis geringere Tragweite verleihen würde, als sie nach Art. 17 des Übereinkommens besteht, der u. a. vorsieht, dass der Umstand, dass eine Entscheidung über das Sorgerecht im ersuchten Staat ergangen ist, für sich genommen keinen Grund darstellt, die Rückgabe eines Kindes abzulehnen, dass aber die Behörden dieses Staates die Gründe einer solchen Entscheidung berücksichtigen können.

 Zur fünften Frage

116. Schließlich möchte der Oberste Gerichtshof für den Fall, dass die vierte Frage verneint wird, wissen, ob die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, im Vollstreckungsstaat verweigert werden kann, wenn sie das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden würde, weil sich die Umstände seit Erlassung dieser Entscheidung geändert haben, oder ob diese geänderten Umstände im Ursprungsstaat geltend gemacht werden müssen und ob dann die Vollstreckung im Vollstreckungsstaat bis zur Entscheidung durch das Gericht des Ursprungsstaats ausgesetzt werden kann.

117. Das vorlegende Gericht führt aus, die Mutter werde sich vermutlich weigern, mit dem Kind nach Italien zu gehen, und könne nicht dazu gezwungen werden. Durch die Vollstreckung der Rückgabeanordnung würde daher das Kind von der Mutter getrennt und dem Vater übergeben. Dies hätte nach Art. 47 Abs. 2 der Verordnung unter denselben Bedingungen zu erfolgen, die für die Vollstreckung einer in Österreich ergangenen Entscheidung gelten würden. Nach der österreichischen Rechtsprechung könne aber eine in Österreich nach dem Übereinkommen ergangene Rückgabeanordnung nicht vollstreckt werden, wenn aufgrund einer Änderung der Verhältnisse eine schwerwiegende Gefahr einer körperlichen oder seelischen Schädigung des Kindes entstanden sei; dies könne der Fall sein, wenn es sich längere Zeit im Vollstreckungsstaat aufgehalten habe.

118. Im vorliegenden Fall habe das Kind etwas mehr als ein Jahr in Italien gelebt, und die Rückgabeanordnung des Tribunale per i Minorenni di Venezia sei eineinhalb Jahre nach dem widerrechtlichen Verbringen des Kindes nach Österreich ergangen. In den neun Monaten seit Erlassung dieser Anordnung habe es keinen Kontakt zwischen Vater und Kind gegeben, und in den 18 Monaten davor hätten sich die Kontakte auf Besuche beschränkt. Das Kind habe somit mehr als zwei Drittel seines Lebens vom Vater getrennt verbracht. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts könne nicht ausgeschlossen werden, dass die psychische Entwicklung des Kindes schwerwiegend gefährdet würde, wenn es der Mutter abgenommen und dem Vater übergeben würde; man könne zwar das Verhalten der Mutter missbilligen, doch rechtfertige dies nicht, das Kind einer solchen Gefahr auszusetzen.

119. Die Vollstreckung einer entsprechenden in Österreich ergangenen Rückgabeanordnung könnte daher unter Umständen unterbleiben. Da Art. 47 der Verordnung die Gleichstellung mit den im Vollstreckungsstaat ergangenen Entscheidungen vorsehe, müsste für die Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia dasselbe gelten.

120. Nach System und Zweck der einschlägigen Bestimmungen obliege die Beurteilung der Frage, ob sich die Verhältnisse geändert hätten, allerdings dem Tribunale per i Minorenni di Venezia. Es gehe nicht um die Vollstreckung im eigentlichen Sinne, sondern um die inhaltliche Berechtigung der Rückgabeanordnung. Nach dieser Auffassung müsste die Mutter beim Tribunale per i Minorenni di Venezia beantragen, dass es seine Entscheidung aufhebe. Bis über diesen Antrag entschieden sei, müsste es zulässig sein, die Vollstreckung der Entscheidung in Österreich auszusetzen

121. Hierzu trägt die österreichische Regierung vor, nach Art. 47 Abs. 1 der Verordnung sei für das Vollstreckungsverfahren das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend. Zu berücksichtigen seien alle Vollstreckungshindernisse, die sich aus diesem Recht ergäben. Im vorliegenden Fall gehörten dazu alle nachträglich aufgetretenen Umstände, die zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen könnten. Wenn die Prüfung eines solchen Hindernisses dem Gericht des Ursprungsstaats überlassen bliebe, würde dies zu einem Auseinanderfallen der Prüfung verschiedener Vollstreckungshindernisse und zu einer konkurrierenden Zuständigkeit der Gerichte beider Staaten führen, was weder dem gegenseitigen Vertrauen noch dem Kindeswohl, das letztlich der entscheidende Maßstab bleiben müsse, dienlich wäre. Schließlich entspreche die Zuständigkeit der Gerichte des Vollstreckungsstaats der Systematik der Verordnung. Nach dem Kriterium der räumlichen Nähe seien die Behörden des Staates, in dem sich das Kind befinde, besser in der Lage, zu beurteilen, ob sich die Situation seit Erlassung der Entscheidung geändert habe.

122. Die Kommission ist dagegen der Auffassung, Art. 47 Abs. 2 der Verordnung sei unter Berücksichtigung des Grundsatzes der beschleunigten Kindesrückgabe und der darauf beruhenden Zuständigkeitsverteilung auszulegen. Ob eine Rückführung erfolgen solle, sei letztverbindlich vom Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zu entscheiden, während das Gericht des Vollstreckungsstaats nur die Modalitäten der Vollstreckung festzulegen habe. Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung sei deshalb dahin zu verstehen, dass die formellen Anforderungen des Vollstreckungsstaats – z. B. bezüglich Fristen, zuständiger Stellen und Sanktionssystemen – auf die Vollstreckung selbst Anwendung fänden, während über inhaltliche Einwendungen, die die Richtigkeit des Vollstreckungstitels beträfen, allein das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu befinden habe – z. B. darüber, ob die Vollstreckung der Entscheidung auszusetzen sei, weil ihre Durchsetzung aufgrund einer seit Erlassung des Titels eingetretenen Änderung der Umstände nicht mehr dem Kindeswohl entsprechen würde.

123. Ich teile den Standpunkt der Kommission, von dem auch das vorlegende Gericht selbst teilweise überzeugt zu sein scheint(41). Nach der Systematik der Verordnung obliegt die endgültige Entscheidung darüber, ob es zweckmäßig ist, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, allein den Gerichten des Staates seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts. Hat eines der Gerichte des Staates, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, nach Art. 13 des Übereinkommens eine Entscheidung erlassen, mit der die Rückgabe verweigert wird, so ist ihre Zuständigkeit in diesem Bereich erschöpft, abgesehen von einer etwaigen Rücknahme oder Aufhebung dieser Entscheidung. Jede weitere inhaltliche Entscheidung – bei der die Gründe und Beweismittel berücksichtigt werden müssen, die der Entscheidung, die Rückgabe zu verweigern, zugrunde liegen – ist Sache des zuständigen Gerichts des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts. Diese spätere Entscheidung muss gegebenenfalls im anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden – zwar nach dem Verfahren (d. h. in der Form), wie es dessen Recht vorsieht, aber ohne dass inhaltliche Erwägungen berücksichtigt werden könnten, die der Vollstreckung möglicherweise entgegenstehen.

124. Es erscheint mir offenkundig, dass eine mögliche körperliche oder seelische Gefährdung zu den inhaltlichen Erwägungen gehört und nicht zu den Formfragen. Im Fall der Anfechtung der endgültigen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, muss sich die betroffene Partei somit an das Gericht wenden, das sie erlassen hat, und nicht an das mit ihrer Vollstreckung betraute Gericht.

125. In Bezug auf die Möglichkeit einer Aussetzung, bis über eine solche Anfechtung entschieden ist, gelten die in den Nrn. 93 bis 97 der vorliegenden Stellungnahme angestellten Erwägungen entsprechend, so dass im Ergebnis vor dem mit der Vollstreckung betrauten Gericht keine solche Möglichkeit besteht, aber im Fall der Anfechtung vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats diese in der Lage sein müssen, die Vollstreckung bis zur Entscheidung über die Anfechtung auszusetzen.

126. Schließlich ist jedenfalls festzustellen, dass das vorlegende Gericht auf eine mögliche seelische Schädigung verweist, die sich nicht nur aus der Trennung des Kindes von seinem Vater während der neun Monate seit Erlassung der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009 ergeben soll, sondern auch aus der Trennung während der 18 Monate davor. Selbst wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung in irgendeiner Weise durch spätere Entwicklungen in Frage gestellt werden könnte, wäre dies aber nicht aufgrund eines die frühere Situation betreffenden Aspekts möglich, den das Tribunale per i Minorenni di Venezia zwangsläufig berücksichtigt haben muss. Und in Bezug auf solche späteren Entwicklungen ist hervorzuheben, dass der bloße Zeitablauf nicht dazu gehören kann, wenn das in der Verordnung vorgesehene Verfahren ordnungsgemäß abgelaufen ist, da eine nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangene Anordnung unmittelbar vollstreckbar ist, ohne dass die Möglichkeit besteht, sich ihrer Anerkennung zu widersetzen.

 Ergebnis

127. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof die Fragen des Obersten Gerichtshofs wie folgt beantworten sollte:

1.      Eine vorläufige Maßnahme, mit der das Sorgerecht für ein Kind dem entführenden Elternteil übertragen wird, bis eine endgültige (oder dauerhafte) Sorgerechtsentscheidung ergeht, ist keine „Sorgerechtsentscheidung …, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000.

2.      Eine Rückgabeanordnung fällt unabhängig davon in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003, ob das Gericht die Rückgabe aufgrund einer von ihm getroffenen Sorgerechtsentscheidung anordnet oder nicht.

3.      Wird gegen eine von einem Gericht eines Mitgliedstaats nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 mit einer Bescheinigung versehene Entscheidung die Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts oder die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung eingewandt, so kann dies nur in Form eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung selbst (und nicht gegen die Bescheinigung) vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats geltend gemacht werden. Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats sind nicht befugt, die Vollstreckung zu verweigern oder auszusetzen.

4.      Eine von einem Gericht des Vollstreckungsstaats erlassene Entscheidung, mit der die einstweilige Obsorge dem entführenden Elternteil übertragen wurde, steht der Vollstreckung einer zuvor nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Ursprungsstaat erlassenen Rückgabeanordnung nicht entgegen.

5.      Wird gegen eine von einem Gericht eines Mitgliedstaats nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 mit einer Bescheinigung versehene Entscheidung eingewandt, dass ihre Vollstreckung das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden würde, weil sich die Umstände seit Erlassung dieser Entscheidung geändert haben, so kann dies nur in Form eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung selbst (und nicht gegen die Bescheinigung) vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats geltend gemacht werden. Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats sind nicht befugt, die Vollstreckung zu verweigern oder auszusetzen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Verordnung vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Verordnung).


3 – Übereinkommen, abgeschlossen am 25. Oktober 1980 und in Kraft seit dem 1. Dezember 1983, über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, zu dessen Vertragsparteien alle Mitgliedstaaten gehören (im Folgenden: Übereinkommen). Im Gegensatz zur Verordnung enthält dieses Übereinkommen keine Zuständigkeitsregeln. Die Verordnung lässt sich insoweit vom Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, abgeschlossen am 19. Oktober 1996 in Den Haag (ABl. 2008, L 151, S. 39), leiten. Nach Art. 60 der Verordnung hat sie Vorrang vor dem Übereinkommen, soweit dieses Bereiche betrifft, die in der Verordnung geregelt sind.


4 – Die Art. 9 und 12, die den Fall des rechtmäßigen Umzugs eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat und den Fall betreffen, dass die Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats, zu dem eine wesentliche Bindung des Kindes besteht, von allen Parteien auf eindeutige Weise anerkannt worden ist, sind für die vorliegende Rechtssache nicht relevant.


5 –      Art. 53 der Verordnung sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere Zentrale Behörden bestimmt, „die ihn bei der Anwendung dieser Verordnung unterstützen“ (vgl. Nr. 22 der vorliegenden Stellungnahme).


6 –      Art. 56 der Verordnung betrifft die Unterbringung des Kindes in einem Heim oder einer Pflegefamilie in einem anderen Mitgliedstaat.


7 –      Das Zitat gibt nur die Bezugnahmen auf Bestimmungen wider, die die elterliche Verantwortung betreffen, nicht aber die Bezugnahmen auf die hier nicht relevanten Bestimmungen zu Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe.


8 – Urteil vom 11. Juli 2008 (C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I-5271).


9 –      Aus den Akten geht nicht hervor, weshalb die Verfahren in Österreich vor zwei verschiedenen Bezirksgerichten stattfanden.


10 –      Vgl. Fn. 36 dieser Stellungnahme.


11 – Oben in Fn. 8 angeführt.


12 – Vgl. auch das Urteil Rinau, oben in Randnr. 8 angeführt (Randnrn. 47 ff.), und meine Stellungnahme in dieser Rechtssache (Nrn. 15 ff.).


13 – Die Verordnung betrifft sowohl die Fälle des widerrechtlichen Verbringens als auch die Fälle des widerrechtlichen Zurückhaltens. Im Folgenden werde ich nur von „widerrechtlichem Verbringen“ sprechen, da es darum in der vorliegenden Rechtssache geht. Alle angestellten Erwägungen gelten jedoch für beide Fallgruppen.


14 – Wie die italienische Regierung in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, gibt die in der Vorlagefrage verwendete Formulierung „die ‚elterliche Entscheidungsgewalt‘, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht“ den Inhalt der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 23. Mai 2008 offenbar nicht ganz korrekt wieder. Fest steht jedoch, dass diese Entscheidung das Sorgerecht für das Kind betrifft und dass in ihr dessen Rückgabe nicht angeordnet wird.


15 – Ich frage mich sogar, ob dies nicht in gewissem Umfang hier der Fall ist. Der Oberste Gerichtshof scheint nämlich anzunehmen, dass das Tribunale per i Minorenni di Venezia der Mutter das vorläufige Sorgerecht vor allem deshalb eingeräumt habe, um wiederholte Ortswechsel des Kindes zu verhindern, während dieses Gericht nach meinem Verständnis des Beschlusses vom 23. Mai 2008 insbesondere bestrebt war, Ortswechsel von Mutter und Kind zwischen Österreich und Italien zu erleichtern, damit seine Kontakte zum Vater aufrechterhalten bleiben.


16 – Vgl. den zwölften Erwägungsgrund der Verordnung. Hinzuzufügen ist, dass das Kriterium der räumlichen Nähe seinem Wesen nach geeignet ist, Ergebnisse herbeizuführen, die im Verlauf der Zeit variieren werden.


17 – Ich stimme allerdings der Klarstellung der französischen Regierung in der mündlichen Verhandlung zu, dass es sich dabei nicht um eine dem „entführenden Elternteil“ auferlegte Sanktion handelt, sondern um eine Maßnahme, mit der die Rechtslage wiederhergestellt werden soll, die ohne das widerrechtliche Verbringen bestanden hätte.


18 – Vorschlag vom 17. Mai 2002 für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 in Bezug auf Unterhaltssachen (KOM[2002] 222 endg./2) zu Art. 21 des Verordnungsvorschlags, woraus Art. 10 der Verordnung geworden ist. Der Wortlaut der Bestimmung hat sich geändert, aber ihr Inhalt ist im Wesentlichen gleich geblieben.


19 – Vgl. Nrn. 28 und 29 der vorliegenden Stellungnahme.


20 – Oben in Fn. 3 angeführt. Dieses Übereinkommen wurde von allen Mitgliedstaaten der Union mit Ausnahme der Republik Malta unterzeichnet, bislang aber nur von acht Mitgliedstaaten ratifiziert, zu denen die Republik Österreich und die Italienische Republik nicht gehören. Alle übrigen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme des Königreichs Dänemark, sind ermächtigt worden, es gleichzeitig im Interesse der Union zu ratifizieren oder ihm beizutreten (vgl. die Entscheidung 2008/431/EG des Rates vom 5. Juni 2008 zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, das Haager Übereinkommen von 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern im Interesse der Europäischen Gemeinschaft zu ratifizieren oder ihm beizutreten, und zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, eine Erklärung über die Anwendung der einschlägigen internen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abzugeben – Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, ABl. L 151, S. 36).


21 – Vgl. u. a. Abschnitt II Buchst. a des Dokuments 13940/02 des Rates vom 8. November 2002 (Nrn. 11 ff.).


22 – Dieser Zeitraum ist möglicherweise mit einem Fehlverständnis von Art. 11 Abs. 7 der Verordnung zu erklären, der eine Frist von drei Monaten vorsieht, um es den Parteien zu ermöglichen, zu der Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wird, Stellung zu nehmen; uns liegen jedoch hierzu keine Informationen vor.


23 – Ich nenne hier zur Veranschaulichung den vorliegenden Fall, aber vergleichbare Umstände ergeben sich auch aus den Rechtssachen Rinau, oben angeführt, und Purrucker (C‑256/09), beim Gerichtshof anhängig. Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass Verzögerungen bei der Übermittlung der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 23. Mai 2008 an die österreichischen Gerichte und des Ersuchens um Übertragung der Zuständigkeit des Bezirksgerichts Judenburg vom 26. Mai 2009 an das Tribunale per i Minorenni di Venezia ebenfalls zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben mögen.


24 – Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Purrucker, oben in Fn. 23 angeführt (Nrn. 118 ff.).


25 – Oben in Fn. 8 angeführt (insbesondere Randnrn. 63 ff.).


26 – Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c und Anhang IV Nr. 13 der Verordnung.


27 – Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. L 143, S. 15).


28 – „Hat der Schuldner … den Widerruf einer Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gemäß Artikel 10 beantragt, so kann das zuständige Gericht oder die befugte Stelle im Vollstreckungsmitgliedstaat auf Antrag des Schuldners … c) unter außergewöhnlichen Umständen das Vollstreckungsverfahren aussetzen.“


29 – Vgl. z. B. im Rahmen der Verordnung das Dokument 7730/03 der deutschen Delegation vom 21. März 2003, in dem sie sich nachdrücklich dafür ausspricht (S. 11), einen Rechtsbehelf gegen die Erteilung der Bescheinigung vorzusehen – ein Standpunkt, dem jedoch in der Endfassung der Verordnung nicht gefolgt wurde. Im Rahmen der Verordnung Nr. 805/2004 ist dagegen darauf hinzuweisen, dass der ursprüngliche Vorschlag der Kommission (KOM[2002] 159 endg.) schlicht, aber mit vollständiger und ausdrücklicher Begründung, vorsah, dass gegen die Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung einer Bescheinigung „kein Rechtsbehelf möglich“ ist – ein Standpunkt, an dem die Kommission auch in ihrem geänderten Vorschlag (KOM[2003] 341 endg.) trotz eines Änderungsvorschlags des Europäischen Parlaments, in dem es eine Rechtsschutzmöglichkeit gab, festhielt, dem aber vom Parlament und vom Rat in der letztlich verabschiedeten Fassung nicht gefolgt wurde.


30 – Vgl. Urteil Rinau, oben in Fn. 8 angeführt, Randnrn. 58 ff. Eine solche Anordnung ist zwar nicht sofort vollstreckbar im Sinne der Art. 42 und 47 der Verordnung, kann aber in den Genuss der für andere Entscheidungen in den Art. 28 ff. vorgesehenen Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung kommen.


31 – Oben in Fn. 8 angeführt; vgl. insbesondere Nrn. 85 bis 96 der Stellungnahme.


32 – Oben in Fn. 23 angeführt; vgl. insbesondere Nrn. 127, 128 und 148 bis 154 der Schlussanträge.


33 – Art. 35 der Verordnung in Abschnitt 2 von Kapitel III, der nicht für die in Abschnitt 4 geregelten Entscheidungen gilt, mit denen die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird.


34 – Vgl. das Dokument 7730/03 der deutschen Delegation vom 21. März 2003, oben in Fn. 29 angeführt. Es handelte sich dort um Art. 48 des Entwurfs der Verordnung.


35 – Vgl. Nr. 91 der vorliegenden Stellungnahme.


36 – Es ist unklar, ob das Tribunale per i Minorenni di Venezia mit der Bezugnahme auf Art. „15(b)(5)“ den Buchst. b von Abs. 1, 2 oder 3 des Art. 15 der Verordnung gemeint hat, die alle einschlägig sein könnten. Die plausibelste Erklärung scheint jedoch zu sein, dass die Mutter dieses Gericht gemäß Abs. 1 Buchst. b aufgefordert hat, das Bezirksgericht Judenburg zu ersuchen, „sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären“.


37 – Hinzu kommt, dass sich das Kind während mehr als der Hälfte seines Lebens gewöhnlich in Österreich aufgehalten hatte (unabhängig davon, ob es dort einen neuen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung erlangt hat), so dass möglicherweise die Voraussetzung in Buchst. b nach dessen französischem Wortlaut, aber nicht notwendigerweise in anderen Sprachfassungen, erfüllt wäre.


38 – Die englische Fassung der Verordnung enthält die klarere Formulierung, dass das betreffende Gericht die Zuständigkeit akzeptiert, und nicht, dass es sich für zuständig erklärt.


39 – Aus der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009 geht hervor, dass das Bezirksgericht Judenburg tatsächlich einen solchen Antrag gestellt hat – sich aber gleichzeitig, ohne die Antwort auf diesen Antrag abzuwarten, selbst für zuständig erklärt hat.


40 – Im Übrigen findet Art. 15 nur Anwendung, wenn das den Fall abgebende Gericht selbst zuständig ist. Das Bezirksgericht Judenburg hat somit, indem es sich auf diesen Artikel stützte, implizit aber zwangsläufig anerkannt, dass das Tribunale per i Minorenni di Venezia am 26. Mai 2009 das zuständige Gericht war.


41 – Vgl. Nr. 120 der vorliegenden Stellungnahme.