Language of document : ECLI:EU:C:2024:605

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

11. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Richtlinie 2011/7/EU – Art. 6 Abs. 1 – Mindestpauschalbetrag als Entschädigung für Beitreibungskosten – Bestimmung des nationalen Rechts, nach der Anträge auf Zahlung dieses Pauschalbetrags im Fall eines nicht erheblichen Zahlungsverzugs oder eines geringen Forderungsbetrags zurückgewiesen werden können – Pflicht zur unionskonformen Auslegung“

In der Rechtssache C‑279/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Katowice – Zachód w Katowicach (Rayongericht Katowice Zachód [Kattowitz West], Polen) mit Entscheidung vom 7. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 2023, in dem Verfahren

Skarb Państwa – Dyrektor Okręgowego Urzędu Miar w K.

gegen

Z. sp.j.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Z. sp.j., vertreten durch K. Pluta-Gabryś, Radca prawny,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Skarb Państwa (Fiskus, Polen), vertreten durch den Dyrektor Okręgowego Urzędu Miar w K. (Fiskus – Direktor des Regionalen Messamts K.) (im Folgenden: Messamt), und der Z. sp.j. (im Folgenden: Z), einer Gesellschaft polnischen Rechts, wegen eines Antrags auf pauschale Entschädigung für die Beitreibungskosten, die diesem Amt wegen wiederholten Zahlungsverzugs von Z im Zusammenhang mit von diesem Amt erbrachten Dienstleistungen im Bereich der Eichung von Messgeräten entstanden sind.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 12, 17 und 19 der Richtlinie 2011/7 heißt es:

„(12)      Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige oder nicht vorhandene Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel hin zu einer Kultur der unverzüglichen Zahlung, in der auch der Ausschluss des Rechts zur Verzinsung von verspäteten Zahlungen immer als grob nachteilige Vertragsklausel oder Praxis betrachtet wird, ist erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken. Dieser Wandel sollte auch die Einführung besonderer Bestimmungen zu Zahlungsfristen und zur Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten einschließen, sowie auch Bestimmungen, wonach vermutet wird, dass der Ausschluss des Rechts auf Entschädigung für Beitreibungskosten grob nachteilig ist.

(17)      Die Zahlung eines Schuldners sollte als verspätet in dem Sinne betrachtet werden, dass ein Anspruch auf Verzugszinsen entsteht, wenn der Gläubiger zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht über den geschuldeten Betrag verfügt, vorausgesetzt, er hat seine gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen erfüllt.

(19)      Eine gerechte Entschädigung der Gläubiger für die aufgrund eines Zahlungsverzugs des Schuldners entstandenen Beitreibungskosten ist erforderlich, um von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken. In den Beitreibungskosten sollten zudem die aufgrund des Zahlungsverzugs entstandenen Verwaltungskosten und die internen Kosten enthalten sein; für diese Kosten sollte durch diese Richtlinie ein pauschaler Mindestbetrag vorgesehen werden, der mit Verzugszinsen kumuliert werden kann. Die Entschädigung in Form eines Pauschalbetrags sollte dazu dienen, die mit der Beitreibung verbundenen Verwaltungskosten und internen Kosten zu beschränken. Eine Entschädigung für die Beitreibungskosten sollte unbeschadet nationaler Bestimmungen, nach denen ein nationales Gericht dem Gläubiger eine Entschädigung für einen durch den Zahlungsverzug eines Schuldners entstandenen zusätzlichen Schaden zusprechen kann, festgelegt werden.“

4        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie dient der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von [kleineren und mittleren Unternehmen (KMU)] zu fördern.

(2)      Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.

…“

5        Art. 2 Nrn. 1 bis 4 der Richtlinie bestimmen:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Geschäftsverkehr‘ Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen;

2.      ‚öffentliche Stelle‘ jeden öffentlichen Auftraggeber im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2004/17/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1)] und von Artikel 1 Absatz 9 der Richtlinie 2004/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114)], unabhängig vom Gegenstand oder Wert des Auftrags;

3.      ‚Unternehmen‘ jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, ausgenommen öffentliche Stellen, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird;

4.      ‚Zahlungsverzug‘ eine Zahlung, die nicht innerhalb der vertraglich oder gesetzlich vorgesehenen Zahlungsfrist erfolgt ist, sofern zugleich die Voraussetzungen des Artikels 3 Absatz 1 oder des Artikels 4 Absatz 1 erfüllt sind.“

6        In Art. 3 („Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen“) der Richtlinie 2011/7 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen der Gläubiger Anspruch auf Verzugszinsen hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

a)      Der Gläubiger hat seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, und

b)      der Gläubiger hat den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten, es sei denn, dass der Schuldner für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich ist.

…“

7        Art. 4 („Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner der Gläubiger nach Ablauf der in den Absätzen 3, 4 oder 6 festgelegten Fristen Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

a)      Der Gläubiger hat seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, und

b)      der Gläubiger hat den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten, es sei denn, der Schuldner ist für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich.

…“

8        Art. 6 („Entschädigung für Beitreibungskosten“) der Richtlinie 2011/7 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 oder Artikel 4 im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 [Euro] hat.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der in Absatz 1 genannte Pauschalbetrag ohne Mahnung und als Entschädigung für die Beitreibungskosten des Gläubigers zu zahlen ist.

…“

9        In Art. 7 („Nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2011/7 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie für den Gläubiger grob nachteilig ist.

Bei der Entscheidung darüber, ob eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Sinne von Unterabsatz 1 grob nachteilig für den Gläubiger ist, werden alle Umstände des Falles geprüft, einschließlich folgender Aspekte:

a)      jede grobe Abweichung von der guten Handelspraxis, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt;

b)      die Art der Ware oder der Dienstleistung und

c)      ob der Schuldner einen objektiven Grund für die Abweichung vom gesetzlichen Zinssatz bei Zahlungsverzug oder von der in Artikel 3 Absatz 5, Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a, Artikel 4 Absatz 4 und Artikel 4 Absatz 6 genannten Zahlungsfrist oder von dem Pauschalbetrag gemäß Artikel 6 Absatz 1 hat.

(2)      Eine Vertragsklausel oder eine Praxis ist als grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden.

(3)      Es wird vermutet, dass eine Vertragsklausel oder Praxis grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 ist, wenn in ihr die in Artikel 6 genannte Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird.“

 Polnisches Recht

 Gesetz zur Bekämpfung übermäßigen Verzugs im Geschäftsverkehr

10      Art. 10 der Ustawa o przeciwdziałaniu nadmiernym opóźnieniom w transakcjach handlowych (Gesetz zur Bekämpfung übermäßigen Verzugs im Geschäftsverkehr) vom 8. März 2013 (Dz. U. 2022, Position 893), mit der die Richtlinie 2011/7 in polnisches Recht umgesetzt wurde und die am 28. April 2013 in Kraft getreten ist, bestimmt:

„1.      Der Gläubiger hat ab Fälligkeit der in Art. 7 Abs. 1 oder Art. 8 Abs. 1 genannten Zinsen gegenüber dem Schuldner ohne Mahnung Anspruch auf Entschädigung für die Beitreibungskosten, wobei die folgenden Beträge zu zahlen sind:

1)      40 Euro – wenn der Wert der Geldleistung 5 000 [polnische] Złoty [(PLN)] [etwa 1 155 Euro] nicht übersteigt,

2.      Der Gläubiger hat zusätzlich zu dem in Abs. 1 genannten Betrag einen Anspruch auf angemessenen Ersatz der von ihm getragenen Beitreibungskosten, die diesen Betrag überschreiten.“

 Zivilgesetzbuch

11      Art. 5 der Ustawa – Kodeks cywilny (Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964 (Dz. U. 2022, Position 1360) (im Folgenden: Polnisches Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Die Ausübung eines eigenen Rechts ist unzulässig, wenn sie mit der sozio-ökonomischen Zweckbestimmung dieses Rechts oder mit den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens unvereinbar wäre. Eine solche Handlung oder Unterlassung durch den Berechtigten gilt nicht als Rechtsausübung und genießt keinen Schutz.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      Das Messamt erbringt Dienstleistungen im Bereich der Eichung von Messgeräten, die von der Gesellschaft Z regelmäßig in Anspruch genommen wurden. Diese bezahlte die Dienstleistungen zweimal mit Verspätung. Die erste, um 20 Tage verspätete Zahlung, belief sich auf einen Betrag von 246 PLN (etwa 55 Euro) und die zweite, um fünf Tage verspätete Zahlung, auf einen Betrag von 369 PLN (etwa 80 Euro).

13      Daraufhin erhob das Messamt beim Sąd Rejonowy Katowice – Zachód w Katowicach (Rayongericht Katowice Zachód, Polen), dem vorlegenden Gericht, eine Klage auf Zahlung eines Betrags von 80 Euro zuzüglich der nach polnischem Recht vorgesehenen Zinsen, d. h. eines Betrags, der dem Doppelten der Entschädigung für Beitreibungskosten gemäß Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung übermäßigen Verzugs im Geschäftsverkehr entspricht.

14      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung der polnischen Gerichte Klagen auf Zahlung des Pauschalbetrags für Beitreibungskosten abgewiesen würden, wenn der Zahlungsverzug des Schuldners nicht erheblich oder der Betrag der zu erfüllenden Forderung gering sei. Die Rechtssache, mit der es befasst sei, veranschauliche eine solche Praxis, da Z niemals verurteilt worden sei, obwohl sie sich mindestens 39 Mal in Verzug befunden habe.

15      Die Abweisung dieser Klagen werde auf Art. 5 des polnischen Zivilgesetzbuchs gestützt, der dahin ausgelegt werde, dass dann, wenn der Betrag einer Forderung, deren Erfüllung verzögert sei, den Gegenwert von 100 bis 300 Euro in polnischen Zloty nicht übersteige oder wenn eine Forderung mit nicht mehr als zwei bis sechs Wochen Verspätung erfüllt werde, eine Entschädigung des Gläubigers als „gegen die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstoßend“ angesehen werde, eine Wendung, die das vorlegende Gericht dem Begriff „sittenwidrig“ gleichstellt.

16      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob eine solche Auslegung mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 im Licht ihres zwölften Erwägungsgrundes vereinbar ist. Dass die polnischen Gerichte eine Gepflogenheit akzeptierten, nach der die Schuldner kleine Beträge nach Fristablauf beglichen, mit der Folge, dass ein Gläubiger, der diese Gepflogenheit missachte und eine Entschädigung verlange, gegen die „Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ verstoße, rechtfertige es nicht, im nationalen Recht eine Ausnahme von der klaren, genauen und unbedingten Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 einzuführen.

17      In diesem Zusammenhang hat der Sąd Rejonowy Katowice – Zachód w Katowicach (Rayongericht Katowice Zachód) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein nationales Gericht eine Klage auf Entschädigung für die in dieser Vorschrift genannten Beitreibungskosten mit der Begründung abweisen kann, dass der Zahlungsverzug des Schuldners nicht erheblich war oder dass der Betrag, mit dem der Schuldner in Verzug geraten ist, gering war?

 Zur Vorlagefrage

18      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine öffentliche Stelle im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2011/7 Gläubigerin eines Geldbetrags gegenüber einem Unternehmen ist, die Beziehungen zwischen diesen beiden Rechtssubjekten nicht unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie fallen und daher vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind (Urteil vom 13. Januar 2022, New Media Development & Hotel Services, C‑327/20, EU:C:2022:23, Rn. 44).

19      Der Gerichtshof ist jedoch für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die unionsrechtliche Vorschriften in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zwar nicht in den unmittelbaren Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, diese Vorschriften aber durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 53 und vom 30. Januar 2020, I.G.I., C‑394/18, EU:C:2020:56, Rn. 45).

20      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das polnische Recht den Anspruch auf Entschädigung für Beitreibungskosten auf Situationen ausdehne, die nicht von der Richtlinie 2011/7 erfasst seien und in denen der Gläubiger eines Betrags, dessen Zahlung verspätet sei, eine öffentliche Stelle und der Schuldner ein Unternehmen sei, damit die Entschädigung zu genau denselben Bedingungen gezahlt werde, unabhängig davon, ob der Gläubiger ein Unternehmen oder eine öffentliche Stelle sei. Unter diesen Umständen erscheint die erbetene Auslegung im Wege der Vorabentscheidung erforderlich, damit die anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts einheitlich ausgelegt werden. Die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu beantworten.

21      Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis der nationalen Gerichte entgegensteht, die darin besteht, Klagen auf Zahlung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestpauschalbetrags als Entschädigung für Beitreibungskosten mit der Begründung abzuweisen, dass der Zahlungsverzug des Schuldners nicht erheblich sei oder dass der Betrag der Forderung, mit dessen Erfüllung der Schuldner in Verzug geraten sei, gering sei.

22      Erstens verpflichtet Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass in Fällen, in denen im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 Euro als Entschädigung für Beitreibungskosten hat. Des Weiteren müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2011/7 sicherstellen, dass dieser Mindestpauschalbetrag auch ohne Mahnung des Schuldners und als Entschädigung für die Beitreibungskosten des Gläubigers automatisch zu zahlen ist.

23      Der Begriff „Zahlungsverzug“, der dem Anspruch des Gläubigers gegen den Schuldner nicht nur auf Zinsen, sondern auch auf einen pauschalen Mindestbetrag von 40 Euro gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 zugrunde liegt, ist in Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie als eine Zahlung definiert, die nicht innerhalb der vertraglich oder gesetzlich vorgesehenen Zahlungsfrist erfolgt ist. Da diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 für „alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind“, gilt, ist der Begriff „Zahlungsverzug“ auf jeden Geschäftsvorgang einzeln betrachtet anwendbar (Urteile vom 20. Oktober 2022, BFF Finance Iberia, C‑585/20, EU:C:2022:806, Rn. 28, und vom 1. Dezember 2022, X [Lieferungen von medizinischen Erzeugnissen], C‑419/21, EU:C:2022:948, Rn. 30).

24      Zweitens sind gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7, soweit es um den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen geht, und Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie, soweit es um den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen geht, die Verzugszinsen sowie der Pauschalbetrag von 40 Euro automatisch nach Ablauf der in Art. 3 bzw. Art. 4 dieser Richtlinie zu zahlen. Nach ihrem 17. Erwägungsgrund „[sollte] [d]ie Zahlung eines Schuldners … als verspätet in dem Sinne betrachtet werden, dass ein Anspruch auf Verzugszinsen entsteht, wenn der Gläubiger zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht über den geschuldeten Betrag verfügt, vorausgesetzt, er hat seine gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen erfüllt“.

25      Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 oder Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 deutet nicht darauf hin, dass der in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Mindestpauschalbetrag bei einem nicht erheblichen Zahlungsverzug, für den allein der Schuldner verantwortlich ist, oder aufgrund des geringen Betrags der betreffenden Forderung nicht fällig wäre.

26      Folglich ergibt sich aus einer wörtlichen und systematischen Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7, dass der als Entschädigung für Beitreibungskosten vorgesehene Mindestpauschalbetrag von 40 Euro dem Gläubiger, der seine Verpflichtungen erfüllt hat, für jede nicht bei Fälligkeit als Entgelt für einen Geschäftsvorgang geleistete Zahlung geschuldet wird, unabhängig von der Höhe der Forderung, auf die sich der Zahlungsverzug bezieht, oder der Dauer dieses Verzugs.

27      Drittens wird diese Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2011/7 durch ihren Zweck bestätigt. Aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie im Licht ihrer Erwägungsgründe 12 und 19 ergibt sich nämlich, dass sie nicht nur Zahlungsverzug verhindern soll, indem vermieden wird, dass er für den Schuldner durch niedrige oder nicht vorhandene Verzugszinsen in einer solchen Situation finanziell vorteilhaft ist, sondern auch den Gläubiger wirksam gegen Zahlungsverzug schützen soll. Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es, dass zum einen in den Beitreibungskosten zudem die aufgrund des Zahlungsverzugs entstandenen Verwaltungskosten und die internen Kosten enthalten sein sollten und dass zum anderen die Entschädigung in Form eines Pauschalbetrags dazu dienen sollte, die mit der Beitreibung verbundenen Verwaltungskosten und internen Kosten zu beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Oktober 2022, BFF Finance Iberia, C‑585/20, EU:C:2022:806, Rn. 35 und 36, sowie vom 1. Dezember 2022, X [Lieferungen von medizinischen Erzeugnissen], C‑419/21, EU:C:2022:948, Rn. 36).

28      Unter diesem Blickwinkel können weder der geringe Betrag der geschuldeten Forderung noch die Unerheblichkeit des Zahlungsverzugs es rechtfertigen, den Schuldner vom Mindestpauschalbetrag zu befreien, der als Entschädigung für die Beitreibungskosten für jeden Zahlungsverzug geschuldet wird, für den er allein verantwortlich ist. Diese Befreiung liefe darauf hinaus, Art. 6 der Richtlinie 2011/7 jegliche praktische Wirksamkeit zu nehmen. Deren Zweck besteht, wie in der vorstehenden Randnummer dargelegt, nicht nur darin, diesen Zahlungsverzug zu verhindern, sondern auch darin, mit diesen Beträgen eine Entschädigung „für die Beitreibungskosten des Gläubigers“ bereitzustellen – Kosten, die tendenziell im Verhältnis zur Anzahl der Zahlungen und der Beträge, die der Schuldner bei Fälligkeit nicht rechtzeitig geleistet bzw. beglichen hat, steigen. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Schuldner einen „objektiven Grund“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie hat, um den in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie genannten Pauschalbetrag nicht zu zahlen, da Art. 7 Abs. 3 klarstellt, dass vermutet wird, dass „eine Vertragsklausel oder Praxis grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 ist, wenn in ihr die in Artikel 6 genannte Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird“ (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Oktober 2022, BFF Finance Iberia, C‑585/20, EU:C:2022:806, Rn. 37, und vom 1. Dezember 2022, X [Lieferungen von medizinischen Erzeugnissen], C‑419/21, EU:C:2022:948, Rn. 37).

29      Schließlich ist zu dem vom vorlegenden Gericht angeführten Art. 5 des polnischen Zivilgesetzbuchs, wonach die Ausübung eines eigenen Rechts unter Verstoß gegen seine sozio-ökonomische Zweckbestimmung oder die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht geschützt ist, darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verlangt, dass die nationalen Gerichte u. a. unter Beachtung des Verbots der Auslegung contra legem des nationalen Rechts unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht (Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 27, und vom 4. Mai 2023, ALD Automotive, C‑78/22, EU:C:2023:379, Rn. 40).

30      Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst u. a. die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist. Folglich darf ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden ist (Urteil vom 6. November 2018, Max‑Planck‑Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 60).

31      Soweit Art. 5 des polnischen Zivilgesetzbuchs nicht im Einklang mit Art. 6 der Richtlinie 2011/7, wie er in den Rn. 26 bis 28 des vorliegenden Urteils ausgelegt worden ist, ausgelegt werden können sollte, und in Anbetracht der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderungen ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls eine – auch spätere – Bestimmung des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Nach alledem ist auf die Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis der nationalen Gerichte entgegensteht, die darin besteht, Klagen auf Zahlung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestpauschalbetrags als Entschädigung für Beitreibungskosten mit der Begründung abzuweisen, dass der Zahlungsverzug des Schuldners nicht erheblich sei oder dass der Betrag, mit dem der Schuldner in Verzug geraten sei, gering sei.

 Kosten

33      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr

ist dahin auszulegen, dass

er einer Praxis der nationalen Gerichte entgegensteht, die darin besteht, Klagen auf Zahlung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestpauschalbetrags als Entschädigung für Beitreibungskosten mit der Begründung abzuweisen, dass der Zahlungsverzug des Schuldners nicht erheblich sei oder dass der Betrag, mit dem der Schuldner in Verzug geraten sei, gering sei.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.