SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 22. Juni 2017(1)
Rechtssache C‑413/15
Elaine Farrell
gegen
Alan Whitty
The Minister for the Environment, Ireland, und der Attorney General,
Motor Insurers’ Bureau of Ireland (MIBI)
(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberster Gerichtshof, Irland])
„Definition des Begriffs einer dem Staat zuzurechnenden Einrichtung für die Zwecke der Feststellung der Haftung eines Mitgliedstaats wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung einer Richtlinie – Voraussetzungen, unter denen eine private Stelle als eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung angesehen werden kann“
1. Seit der Gerichtshof die Theorie von der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entwickelt und sie auf „vertikale“ Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Einzelnen und dem Staat für anwendbar erklärt, es aber abgelehnt hat, die Theorie „horizontal“ auszudehnen, so dass auch Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen erfasst sind, muss unbedingt erkennbar sein, wie der Begriff „Staat“ für die Zwecke der Anwendung der Theorie der vertikalen unmittelbaren Wirkung einzugrenzen ist. Mit der hier in Rede stehenden Vorlage des Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) wird diese Frage einer minutiösen Prüfung unterzogen. Handelt es sich beim Motor Insurers' Bureau of Ireland (der in Irland ausschließlich zuständigen Stelle für die Entschädigung von bei Verkehrsunfällen zu Schaden gekommenen Personen, wenn der verantwortliche Fahrer nicht versichert ist oder nicht ermittelt werden kann; im Folgenden: MIBI) um eine „dem Staat zuzurechnende Einrichtung“ im Sinne der im Urteil Foster u. a. (im Folgenden: Urteil Foster)(2) aufgestellten Voraussetzungen? Falls dies zu bejahen ist, haftet dann das MIBI anstelle der staatlichen Parteien des Ausgangsverfahrens (nämlich des Minister for the Environment [Umweltminister] [im Folgenden: Minister], Ireland und des Attorney General [Kronanwalt]) für die Entschädigung der Geschädigten eines Verkehrsunfalls, an dem ein Fahrer beteiligt war, der nach nationalem Recht erlaubterweise nicht versichert war, weil Irland die Unionsvorschriften nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig umgesetzt hatte, wonach eine vom betreffenden Fahrzeugführer abgeschlossene Versicherung alle Fahrzeuginsassen des Kraftfahrzeugs erfassen muss.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
2. Ab 1972 sollte mit den verschiedenen Richtlinien des Rates über die Kfz-Haftpflichtversicherung sichergestellt werden, dass parallel zu einer Lockerung der Vorschriften über den Reiseverkehr bei einem Verkehrsunfall geschädigte Personen entschädigt werden. Zu diesem Zweck wurde das (recht schwerfällige) geltende System der „Grünen Karte“ schrittweise durch ein besonderes System der Union ersetzt. Wesen und Umfang des Haftpflichtversicherungsschutzes wurden durch aufeinanderfolgende Richtlinien allmählich erweitert(3).
3. Nach Art. 2 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates(4) (im Folgenden: Erste Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie) hatten die Mitgliedstaaten auf systematische Kontrollen der Haftpflichtversicherung bei Fahrzeugen zu verzichten, die ihren gewöhnlichen Standort im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats haben; gleichzeitig verpflichtete Art. 3 Abs. 1 jeden Mitgliedstaat, „alle zweckdienlichen Maßnahmen [zu treffen], um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist“. Außerdem wurden nach Art. 3 Abs. 1 „[d]ie Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung … im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt“.
4. Die Richtlinie 84/5/EWG des Rates(5) (im Folgenden: Zweite Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie) geht davon aus, dass nach wie vor bezüglich des Umfangs der Versicherungspflicht große Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten bestehen(6), und verweist insbesondere auf die Notwendigkeit, „eine Stelle einzurichten, die dem Geschädigten auch dann eine Entschädigung sicherstellt, wenn das verursachende Fahrzeug nicht versichert war oder nicht ermittelt wurde“(7).
5. Nach Art. 1 Abs. 1 „[hatte d]ie in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie] bezeichnete Versicherung … sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen“.
6. Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 und 2 lautete:
„Jeder Mitgliedstaat schafft eine Stelle oder erkennt eine Stelle an, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht im Sinne des Absatzes 1 versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat. Das Recht der Mitgliedstaaten, Bestimmungen zu erlassen, durch die der Einschaltung dieser Stelle subsidiärer Charakter verliehen wird oder durch die der Rückgriff dieser Stelle auf den oder die für den Unfall Verantwortlichen sowie auf andere Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die gegenüber dem Geschädigten zur Regulierung desselben Schadens verpflichtet sind, geregelt wird, bleibt unberührt. Die Mitgliedstaaten dürfen es der Stelle jedoch nicht gestatten, die Zahlung von Schadensersatz davon abhängig zu machen, dass der Geschädigte in irgendeiner Form nachweist, dass der Haftpflichtige zur Schadenersatzleistung nicht in der Lage ist oder die Zahlung verweigert.
Der Geschädigte kann sich jedoch in jedem Fall unmittelbar an diese Stelle wenden, welche ihm – auf der Grundlage der auf ihr Verlangen hin vom Geschädigten mitgeteilten Informationen – eine begründete Auskunft über ihr Tätigwerden erteilen muss.
…“
7. In der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie wird festgestellt, dass weiterhin erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Schadensdeckung durch eine solche Versicherung bestehen(8) und dass den bei Kraftfahrzeug-Verkehrsunfällen Geschädigten unabhängig davon, in welchem Land der Union sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden sollte(9). Weiter heißt es, dass „insbesondere in einigen Mitgliedstaaten [Lücken bestehen] hinsichtlich der Versicherungspflicht für die Fahrzeuginsassen; sie sollten geschlossen werden, um diese besonders stark gefährdete Kategorie potenzieller Geschädigter zu schützen“(10); zudem wurden verschiedene notwendige Verbesserungen beim Tätigwerden der Stelle benannt, die für Sach- oder Personenschäden, die durch ein nicht ermitteltes oder nicht versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, Ersatz zu leisten hat(11).
8. Art. 1 bestimmt:
„Unbeschadet des Artikels 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der [Zweiten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie][(12)] deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie] genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.
…“
9. Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie verfügte Irland über eine am 31. Dezember 1998 endende Frist, um Art. 1 in Bezug auf Motorrad-Soziusfahrer nachzukommen, und über eine am 31. Dezember 1995 endende Frist in Bezug auf die übrigen Fahrzeuge.
Irisches Recht
10. Nach Section 56 des Road Traffic Act 1961 (Straßenverkehrsgesetz von 1961, im Folgenden: Gesetz von 1961) in der zur maßgeblichen Zeit auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung hatte jeder Nutzer eines Kraftfahrzeugs über eine Versicherung gegen Personen- und Sachschäden an Dritten auf öffentlichem Gelände zu verfügen. Gemäß Section 65(1) war allerdings für „befreite Personen“ (excepted persons) kein Versicherungsschutz vorgeschrieben. So brauchten insbesondere die Fahrer von nicht mit Rücksitzen ausgestatteten Nutzfahrzeugen keine Versicherung gegen ihr eigenes fahrlässiges Führen des Fahrzeugs zu unterhalten(13).
11. Nach Section 78 sind Versicherer, die in Irland Kfz-Versicherungen anbieten, zur Mitgliedschaft im MIBI verpflichtet. In dieser Eigenschaft sind sie in der Praxis auch an die Vereinbarungen des MIBI mit Irland gebunden(14).
Das MIBI(15)
12. Aufgabe des MIBI ist insbesondere die Bearbeitung von Entschädigungsansprüchen in Fällen, in denen der Fahrer eines Fahrzeugs zwar haftbar, aber weder versichert noch in der Lage ist, eine bei einem Verkehrsunfall verletzte Person aus eigenen Mitteln zu entschädigen. Das MIBI wurde im November 1954(16) aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Department of Local Government und den in Irland tätigen Kfz-Haftpflichtversicherern eingerichtet. Das MIBI ist eine nach irischem Recht rechtsfähige Einrichtung, und zwar eine „company limited by guarantee“ ohne Aktienkapital.
13. Die Vereinbarung zwischen Irland und den Versicherern, in der der Umfang der Pflichten und Rechte des MIBI beschrieben wird, ist mehrfach verlängert worden. Im Ausgangsverfahren ist die Vereinbarung von 1988 des MIBI mit dem Umweltminister einschlägig(17). Nach Ziff. 2 dieser Vereinbarung kann das MIBI von jeder Person in Anspruch genommen werden, die Schadensersatz von einem nicht versicherten oder nicht ermittelten Fahrer verlangt. So kann das MIBI von einem verletzten Anspruchsteller darauf verklagt werden, der Vereinbarung zwischen Irland und den Versicherern Geltung zu verschaffen, obwohl er nicht Partei der Vereinbarung zwischen dem Staat und dem MIBI ist. In Ziff. 4 ist die Zahlungszusage des MIBI an die Opfer nicht versicherter oder nicht ermittelter Fahrer geregelt. Wenn außerdem eine gerichtlich festgestellte Zahlungsverpflichtung gegen einen ermittelten beklagten Fahrer nicht binnen 28 Tagen vollständig befriedigt wurde, wird das MIBI haftbar, jedoch nur, wenn sich diese Feststellung auf „eine Haftungsverpflichtung für Personen- oder Sachschäden bezieht, die von einer genehmigten Versicherungspolice nach Section 56 des [Gesetzes von 1961] gedeckt sein muss“. Ausweislich der Vorlageentscheidung gibt es kein Gesetz oder eine andere Regelung des öffentlichen Rechts, nach denen das MIBI im Namen eines nicht versicherten oder nicht ermittelten Fahrers tätig zu werden hätte. Alle insoweit bestehenden Rechte bzw. Pflichten des MIBI leiten sich aus der Vereinbarung des MIBI mit dem Minister ab.
14. Ist ein nicht versicherter Fahrer in einen Unfall verwickelt, wird das MIBI versuchen, einem Vertrag mit ihm zu schließen, in dessen Rahmen der Fahrer dem MIBI dasselbe Mandat zur Vertretung erteilt, das der Versicherer des Fahrers erhielte, wenn dieser versichert wäre. In diesem Fall wird das MIBI ähnlich wie ein normales Versicherungsunternehmen tätig, das einen Anspruch im Namen eines versicherten Fahrers bearbeitet, d. h., das MIBI schließt entweder einen Vergleich über den Anspruch oder nimmt auf das MIBI übergegangene Rechte zur Verteidigung in einem Gerichtsprozess wahr. Weigert sich der nicht versicherte Fahrer, einen solchen Vertrag zu schließen, wird das MIBI allem Anschein nach trotzdem für ihn tätig und leitet dabei seine Befugnisse und Verpflichtungen aus der privatrechtlichen Vereinbarung des MIBI mit dem Minister her. Bei Fehlen eines Vertrags mit dem nicht versicherten Fahrer kann das MIBI nur versuchen, für den vom Büro geleisteten Schadensersatz bzw. die ihm entstandenen Kosten Regress im Wege einer Klage gegen den Fahrer wegen ungerechtfertigter Bereicherung zu nehmen. Wurde der Fahrer nicht ermittelt, handelt das MIBI kraft seiner Verpflichtungen aus der Vereinbarung mit dem Minister, es gibt jedoch keine Partei, gegen die es wegen des gezahlten Schadensersatzes oder der ihm entstandenen Kosten Regress nehmen könnte.
15. Zusätzlich zur Vereinbarung von 1988 schlossen der Minister (als Vertreter Irlands) und die Versicherer zwei weitere Vereinbarungen vom 31. März 2004 und 29. Januar 2009. Durch diese beiden Vereinbarungen wird die Vereinbarung von 1988 geringfügig abgeändert. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts wurde das irische Recht durch diese Vereinbarungen der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie angepasst. Insbesondere schließen die Vereinbarungen die Lücke im nationalen Recht in Bezug auf die Versicherungspflicht hinsichtlich Fahrzeuginsassen im Heck von Lieferwagen ohne Sitze (und der Haftung gegenüber Fahrzeuginsassen, die vernünftigerweise hätten wissen müssen – im Gegensatz zu solchen, die dies wussten –, dass ein Fahrzeug gestohlen war)(18).
16. Das MIBI wird von Irland nicht finanziell unterstützt. Die Finanzierung erfolgt ausschließlich durch seine Mitglieder, d. h. die Versicherer, die in Irland Kfz-Haftpflichtversicherungen abschließen. Diese Versicherer leisten Beiträge zu einem allgemeinen Fonds in einer Höhe, die dem MIBI die Erfüllung seiner durch die Regelung tatsächlich entstehenden Verbindlichkeiten ermöglicht(19). Im Einzelfall (insbesondere wenn der nicht versicherte Fahrer zuvor bei einem ermittelbaren Versicherer versichert war, diese Versicherung jedoch auslaufen ließ) kann ein bestimmter Versicherer zu einem sogenannten „connected insurer“ werden. Dieser Versicherer übernimmt dann die Verpflichtungen des MIBI und ersetzt gegebenenfalls den Schaden und die Kosten. Dem vorlegenden Gericht zufolge umfassen die Prämien, die die Versicherer den Versicherten für eine Kfz-Versicherung berechnen, die Versicherungsprämie für den zu versichernden individuellen Fahrer sowie einen Anteil an den Kosten der voraussichtlichen Haftung als Beitrag zum MIBI. Somit finanzieren die Mitglieder des MIBI (d. h. die Versicherer) gemeinsam die Leistung von Schadensersatz an den Geschädigten sowie die Auslagen für die Anwaltskosten, die dem MIBI entstehen oder für die es haftbar wird, und kommen für die Verwaltungskosten des MIBI auf. Die Finanzierung als solche erfolgt im Wege von Mitgliedsbeiträgen, die den Versicherern anteilsmäßig nach dem Prämienaufkommen, das sie aus dem Abschluss von Kfz-Versicherungsverträgen in Irland erzielen (d. h. nach ihrem wertmäßigen Marktanteil) auferlegt werden(20).
17. Änderungen der Gründungsurkunde und der Satzung des MIBI bedürfen der Zustimmung des zuständigen Ministers. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich dies nicht aus einem besonderen Erfordernis, das auf den konkreten Aufgaben des MIBI beruht; vielmehr gilt diese Vorschrift nach Section 28 des Companies Act 1963 (Gesellschaftsgesetz von 1963) für alle Companies limited by guarantee (Gesellschaften mit beschränkter Nachschusspflicht).
18. Gemäß Section 3 in Verbindung mit den Sections 8 und 9 des Insurance Act 1963 (Versicherungsgesetz von 1963) benötigen Versicherer zum Abschluss von Versicherungsverträgen in Irland eine Zulassung(21). Nach Section 78 des Gesetzes von 1961 gehört die Mitgliedschaft im MIBI zu den Voraussetzungen für eine solche Zulassung.
19. Von Zeit zu Zeit sind Änderungen der Vereinbarung des MIBI mit dem Minister notwendig (z. B. zur Erweiterung der Kategorien des Kfz-Versicherungsschutzes, für den das MIBI die Haftung übernehmen muss, wenn der Fahrer nicht ermittelt oder nicht versichert ist). Das vorlegende Gericht gibt an, dass ein Versicherer, der Mitglied des MIBI sei, einer Änderung der Bedingungen der Vereinbarung des MIBI mit dem Minister aber nicht zustimmen wolle, seine Mitgliedschaft im MIBI kündigen könne. In diesem Fall würde er jedoch nicht mehr die Voraussetzungen für eine Zulassung erfüllen, und daher sei ihm der Abschluss von Kfz-Versicherungsverträgen in Irland dann nicht mehr erlaubt.
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
20. Am 26. Januar 1996 fuhr Frau Farrell in einem Lieferwagen mit, dessen Eigentümer und Fahrer Herr Whitty war. Der Lieferwagen war für die Beförderung von Mitfahrern im hinteren Teil des Fahrzeugs weder konstruiert noch gebaut. Frau Farrell saß auf dem Boden des Lieferwagens, als Herr Whitty die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Sie erlitt Verletzungen. Herr Whitty war nicht versichert. Nach damals geltendem irischen Recht war Herr Whitty nicht verpflichtet, eine Versicherung zur Deckung der Frau Farrell durch Fahrlässigkeit entstanden Schäden zu unterhalten. Frau Farrell gehörte einem Personenkreis an, dessen Angehörige zwar von der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie erfasst waren und denen Schutzrechte aus dieser Richtlinie, nicht jedoch nach irischem Recht zustanden. Gemäß der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie war eine solche Versicherung zwar zwingend vorgeschrieben, zur maßgeblichen Zeit war dieser Aspekt der Richtlinie aber noch nicht in irisches Recht umgesetzt worden.
21. Frau Farrell verlangte Schadensersatz vom MIBI.
22. Das MIBI lehnte den Antrag von Frau Farrell auf Schadensersatz mit der Begründung ab, dass hinsichtlich der ihr entstandenen Personenschäden keine Haftung bestehe, für die nach nationalem Recht eine Versicherungspflicht vorgesehen sei.
23. Frau Farrell verfolgte ihren Anspruch vor den irischen Gerichten, und der High Court (Hoher Gerichtshof) richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof mit der Bitte um Hinweise betreffend die Auslegung der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie.
24. Im Urteil Farrell(22) hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 1 der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der die Kfz-Haftpflichtversicherung Personenschäden von Einzelpersonen nicht decke, die in einem Teil eines Kraftfahrzeugs mitführen, der mit Sitzgelegenheiten für Mitfahrer weder konstruiert noch gebaut sei. Des Weiteren hat er ausgeführt, dass die genannte Bestimmung unmittelbare Wirkung entfalte. Es obliege jedoch dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob ein Einzelner diese Vorschrift gegenüber einer Einrichtung wie dem MIBI geltend machen könne(23).
25. Das vorlegende Gericht legt dar, dass Frau Farrell inzwischen einen angemessenen Schadensersatzbetrag erhalten habe(24). Streitig ist jedoch weiterhin, wer für den geleisteten Schadensersatzbetrag aufzukommen hat – das MIBI oder der Minister, Ireland, und der Attorney General (Kronanwalt) (im Folgenden zusammen: Mitgliedstaat). Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt dies davon ab, ob das MIBI eine Irland zuzurechnende Einrichtung ist.
26. Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Hinweise bezüglich der folgenden Fragen ersucht:
1. Sind die im Urteil Foster (Rn. 20) in Bezug auf die Frage, was eine einem Mitgliedstaat zuzurechnende Einrichtung ist, dargelegten Kriterien so zu verstehen, dass sie
a) kumulativ oder
b) alternativ
anzuwenden sind?
2. Soweit die unterschiedlichen Gesichtspunkte, auf die im Urteil Foster Bezug genommen wird, alternativ als im Rahmen einer Gesamtbeurteilung angemessen zu berücksichtigende Faktoren anzusehen sind, gibt es einen tragenden Grundsatz, der den einzelnen in dieser Entscheidung genannten Faktoren zugrunde liegt und den ein Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte Stelle eine staatliche Einrichtung ist, zu berücksichtigen hat?
3. Reicht es für die Eigenschaft einer dem Mitgliedstaat zuzurechnenden Einrichtung aus, dass einer Stelle von einem Mitgliedstaat eine weit gefasste Verantwortlichkeit übertragen wurde, um vorgeblich unionsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen, oder ist es außerdem erforderlich, dass eine solche Einrichtung zusätzlich a) mit besonderen Rechten ausgestattet ist oder b) unter direkter Leitung oder Aufsicht des Mitgliedstaats tätig ist?
27. Das MIBI, der Minister, Ireland, und der Attorney General (Kronanwalt) sowie die französische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und in der Sitzung vom 5. Juli 2016 mündlich verhandelt.
Würdigung
Vorbemerkungen: Hintergrund der Formulierung der Kriterien im Urteil Foster
28. Der Grundsatz, dass das Unionsrecht nicht nur bloß die Beziehungen zwischen den Staaten regelt, sondern den Einzelnen Rechte verleiht, geht zurück auf das Urteil Van Gend & Loos(25). Die Begründung für eine vertikale unmittelbare Wirkung von Richtlinien ist logisch betrachtet dieselbe. Eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung verkörpert ein Recht, das die Mitgliedstaaten durch die Bekanntmachung der Richtlinie vereinbarungsgemäß den Einzelnen verleihen müssen. Obwohl die „Wahl der Form und der Mittel“ bei der Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht dem Mitgliedstaat überlassen ist, ist die Richtlinie „für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich“ (beide Vorgaben finden sich in Art. 288 Abs. 3 AEUV). Grundsätzlich hat ein Mitgliedstaat selbstverständlich seinen Verpflichtungen nachzukommen und jede Richtlinie vollständig und korrekt innerhalb der gesetzten Frist umsetzen. Die Richtlinie wird dann gewissermaßen unsichtbar, da sich die durch sie verliehenen Rechte nunmehr in vollem Umfang im nationalen Recht manifestieren.
29. Mitunter geschieht dies jedoch nicht, so dass die Einzelnen sich auf die Richtlinie selbst berufen müssen. Bei der Formulierung des Grundsatzes der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass ein Mitgliedstaat keinen Nutzen aus seiner eigenen Unterlassung der Umsetzung einer Richtlinie ziehen darf und dass ein Einzelner sich daher auf eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung gegenüber dem Mitgliedstaat als solchem berufen kann(26).
30. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, kommt es nicht darauf an, in welcher Eigenschaft genau der Mitgliedstaat handelt(27). Voraussetzung für eine vertikale unmittelbare Wirkung ist auch nicht, dass die konkrete Untergliederung „des Staates“, die im Einzelfall verklagt wird, für die Unterlassung der Umsetzung der betreffenden Richtlinie durch den Mitgliedstaat in irgendeiner Weise verantwortlich ist(28).
31. Es verhält sich vielmehr so, dass jedermann, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie korrekt umgesetzt hätte, zur Beachtung der den Einzelnen durch die Richtlinie verliehenen Rechte verpflichtet gewesen wäre. Deshalb sollte zumindest jede staatliche Stelle verpflichtet sein, diese Rechte der Einzelnen zu wahren.
32. Kann ein in einer Richtlinie vorgesehenes unmittelbar wirksames Recht nicht herangezogen werden (weil nicht der Staat oder eine dem Staat zuzurechnende Stelle beklagt ist), lässt sich die allgemeine Lage wie folgt beschreiben. In einer Richtlinie sind – häufig in recht abstrakten Formulierungen – die Rechte bezeichnet, die in nationales Recht umzusetzen und dort auszugestalten sind. Da Rechte aus dem Unionsrecht praktisch wirksam sein müssen, kann es keine Rechte ohne entsprechende Rechtsbehelfe geben (ubi ius, ibi remedium). Zunächst ist daher das nationale Recht daraufhin zu prüfen, welche Regelungen dort (wenn überhaupt) bestehen, die als (teilweise) Durchführung der Richtlinie dienen können(29), und gleichzeitig zu untersuchen, ob die Richtlinie selbst einen im nationalen Recht zur Verfügung zu stellenden Rechtsbehelf für den Fall der Verletzung des durch die Richtlinie verliehenen Rechts vorschreibt. Sodann sind die im nationalen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe daraufhin zu prüfen, ob sie in diesem Sinne als angemessen herangezogen werden können und gleichzeitig die Autonomie des nationalen Verfahrensrechts unter Beachtung der (nunmehr etablierten) Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität im Rahmen der übergeordneten Verpflichtung, nationale Rechtsvorschriften unionsrechtskonform auszulegen (interprétation conforme), gewahrt bleibt(30). Nur wenn dies nicht zu einem effektiven Schutz der unionsrechtlich verbürgten Rechte führt, kommt der Grundsatz der Staatshaftung zum Tragen. Die Staatshaftung für Schadensersatz ist daher ein Rechtsbehelf, der nicht in erster Linie, sondern vielmehr als letztes Mittel eingreift.
33. Der soeben beschriebene Prüfungsprozess erweist sich häufig als kompliziert und aufwendig. Eine „interprétation conforme“ der geltenden nationalen Rechtsvorschriften ist unzulässig, wenn diese zu einer Auslegung contra legem führen würde(31). Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat(32) ist, dass der Anspruchsteller sich entweder als weiterer Mitbeklagter neben dem Mitgliedstaat am Rechtsstreit beteiligt (mit dem damit verbundenen Risiko der Kostentragung im Verhältnis zum Mitgliedstaat, falls er gegen den Hauptbeklagten obsiegen sollte) oder dass er ein zweites Verfahren gegen den Mitgliedstaat betreibt, wenn er zuvor mit seinem Versuch, Regress beim Hauptbeklagten zu nehmen, gescheitert ist. Sofern die Klage nicht in einem Fall erhoben wird, in dem eine Richtlinie überhaupt nicht umgesetzt wurde, steht die erfolgreiche Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Mitgliedstaat keineswegs von vornherein fest(33).
34. Enthält das nationale Recht jedoch keinerlei Vorschriften, die als Verwirklichung der durch die Richtlinie verliehenen Rechte angesehen werden können (wie dies hier der Fall ist), stehen zwei Möglichkeiten zur Wahl. Ist der Beklagte (hier das MIBI) offenkundig sachgerecht entweder als „der Staat“ oder als „dem Staat zuzurechnende Stelle“ zu charakterisieren, kann sich der Kläger direkt auf die ihm zustehenden unmittelbar wirksamen Rechte aus der Richtlinie selbst (vertikale unmittelbare Wirkung) berufen und eine Entschädigungsleistung von diesem Beklagten verlangen. Ist dies nicht der Fall, steht als Rechtsbehelf ein Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat nach dem vom Gerichtshof im Urteil Dillenkofer(34) klar formulierten Grundsatz zur Verfügung.
Erste Frage
35. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die im Urteil Foster dargelegten Kriterien kumulativ oder alternativ anzuwenden sind. Dies ist eine berechtigte Frage. Rn. 18 des Urteils Foster ist alternativ formuliert: „[D]er Gerichtshof [hat] in einer Reihe von Rechtssachen anerkannt, dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber Organisationen oder Einrichtungen berufen können, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“(35). Die Formulierung in Rn. 20 scheint hingegen kumulativ zu sein: „Demgemäß gehört jedenfalls eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, zu den Rechtssubjekten, denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“(36).
36. Logischerweise liegt der ersten Frage die Prämisse zugrunde, dass die vom Gerichtshof im Urteil Foster bezeichneten Merkmale in einer erschöpfenden Aufzählung die Faktoren benennen, die bei der Beantwortung der folgenden Frage zu berücksichtigen sind: Handelt es sich hier bei dem Beklagten um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung? Sind die Kriterien alternativ anzuwenden, genügt es, wenn beim zugrunde liegenden Sachverhalt A oder B oder C oder D gegeben ist. Ist eine kumulative Anwendung geboten, müssen A, B, C und D zusammen vorliegen. In jedem Fall ist jedoch das Vorhandensein (oder Fehlen) eines weiteren Faktors (etwa E oder F) ohne Bedeutung. Anders ausgedrückt: Die Prämisse lautet, dass der Gerichtshof im Urteil Foster alle Elemente bezeichnen wollte – und bezeichnet hat –, die für die Beurteilung maßgeblich sind, ob es sich bei einem bestimmten Beklagten um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung handelt oder nicht.
37. Meines Erachtens ergibt sich allerdings bei einer näheren Betrachtung der Begründung des Gerichtshofs im Urteil Foster, dass der Gerichtshof nicht den (gewagten) Versuch unternommen hat, alle denkbaren künftigen Fallgestaltungen vorherzusehen, bei denen sich die Frage stellt: Handelt es sich bei diesem Beklagten um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung? Der Gerichtshof hat vielmehr aus Rechtssachen, die er bereits entschieden hat, diejenigen Feststellungen extrahiert, die notwendig waren, um dem vorlegenden Gericht in jenem konkreten Fall eine Antwort zu geben. Wenn dem so ist, dann folgt daraus logischerweise, dass die erste Frage dahin zu beantworten ist, dass die im Urteil Foster formulierten Kriterien weder alternativ noch kumulativ zur Anwendung kommen.
38. Daher muss man den Wortlaut des Urteils Foster wie bei einer sorgfältigen archäologischen Ausgrabung untersuchen(37).
39. Der wesentliche Sachverhalt lässt sich einfach darstellen. Fünf Arbeitnehmerinnen der British Gas Corporation (im Folgenden: BGC) wurden mit Vollendung des 60. Lebensjahrs in den Zwangsruhestand versetzt entsprechend der allgemeinen Praxis der BGC, ihre Arbeitnehmer zu pensionieren, wenn sie das staatliche Ruhestandsalter erreichen (damals mit 60 Jahren bei Frauen und 65 bei Männern). Sie wollten weiterarbeiten und machten vor einem Industrial Tribunal (Arbeitsgericht) geltend, die Praxis der BGC sei zwar nicht durch nationale Rechtsvorschriften verboten, verstoße aber gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates(38). Sie vertraten die Auffassung, dass sie der BGC diese Bestimmung entgegenhalten könnten.
40. Dem Urteil zufolge wies die BGC folgende charakteristische Eigenschaften auf(39). Gemäß dem Gas Act 1972 (Gasgesetz von 1972) des Vereinigten Königreichs, dessen Regelungen im entscheidungserheblichen Zeitraum auf die BGC anwendbar waren, war diese eine durch Gesetz errichtete juristische Person mit der Aufgabe, in Form eines Monopols ein Gasversorgungssystem in Großbritannien zu errichten und zu unterhalten. Die Mitglieder der BGC wurden vom zuständigen Minister ernannt. Dieser war auch befugt, der BGC im Hinblick auf Angelegenheiten, die das nationale Interesse betrafen, allgemeine Richtlinien vorzugeben sowie Weisungen in Bezug auf ihre Geschäftsführung zu erteilen. Die BGC war verpflichtet, dem Minister regelmäßig Berichte über die Durchführung ihrer Aufgaben, über ihre Geschäftsführung und über ihre Programme vorzulegen. Diese Berichte wurden dann beiden Häusern des Parlaments zugeleitet. Im Übrigen hatte die BGC gemäß dem Gasgesetz von 1972 die Befugnis, mit Zustimmung des Ministers Gesetzesvorschläge im Parlament einzubringen. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen ging gemäß dem Protokoll der mündlichen Verhandlung außerdem hervor, dass es sich bei der BGC nach englischem Recht um eine „öffentliche Einrichtung“ und einen „Hoheitsträger“ für die Zwecke verschiedener innerstaatlicher Gesetze handelte.
41. Das Industrial Tribunal (Arbeitsgericht), das Employment Appeal Tribunal (Berufungsgericht in Arbeitssachen) und der Court of Appeal (Berufungsgerichtshof) wiesen die Klage der Arbeitnehmerinnen jeweils ab. Diese legten Rechtsmittel beim House of Lords ein, das ein Vorabentscheidungsersuchen in der schließlich unter dem Aktenzeichen C‑188/89 geführten Rechtssache stellte.
42. Nach Zurückweisung einer vorab erhobenen Einrede der Unzulässigkeit wendet sich der Gerichtshof in Rn. 16 des Urteils dem Inhalt der zu entscheidenden Frage zu.
43. Zunächst steckt er den Rahmen ab. Er erinnert erstens daran (Rn. 16), dass die praktische Wirksamkeit von Richtlinien (die die Mitgliedstaaten zu einem bestimmten Verhalten verpflichten) beeinträchtigt würde, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht berücksichtigen könnten. Dies hatte der Gerichtshof bereits im Jahr 1982 im Urteil Becker(40) ausgeführt. „Daher“ kann ein Mitgliedstaat, der eine Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist umsetzt, dem Einzelnen nicht entgegenhalten, „dass er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat“. „Demnach“ (ein anderer Ausdruck für „daher“) können sich die Einzelnen auf unmittelbar wirksame Bestimmungen einer Richtlinie berufen i) „gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften“ oder ii) „soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können“.
44. Sodann (Rn. 17) erinnert der Gerichtshof an seine frühere Entscheidung im Urteil Marshall(41), wonach es für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung unerheblich ist, in welcher Eigenschaft genau der beklagte Staat handelt (im Urteil Marshall lautete die Formulierung „unabhängig davon …, in welcher Eigenschaft – als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger – der Staat handelt“). An dieser Stelle lässt der Gerichtshof erkennen, weshalb seiner Ansicht nach Richtlinien vertikale unmittelbare Wirkung gegenüber Mitgliedstaaten entfalten: „In dem einen wie dem anderen Fall muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des [Unions]rechts Nutzen ziehen kann“(42).
45. Im Weiteren (Rn. 18) präzisiert der Gerichtshof die Gruppe von Beklagten, denen gegenüber sich ein Einzelner auf „unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie“ berufen kann (kurz gesagt, die Gruppe derjenigen, die dem Staat zuzurechnende Einrichtungen für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung darstellen). Die einleitende Formulierung „Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in einer Reihe von Rechtssachen anerkannt …“ signalisiert dem Leser, dass der Gerichtshof ihm im Folgenden eine abstrakte Formel an die Hand geben wird, deren sämtliche Elemente sich aus der bisherigen Rechtsprechung herleiten lassen.
46. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Gerichtshof unmittelbar im Anschluss (Rn. 19) sein Diktum substantiiert, wonach sich alle seine gerade dargelegten Ausführungen aus vorhandener Rechtsprechung herleiten lassen. Die Liste der in der Randnummer genannten Rechtssachen wird eingeleitet mit der Formulierung „So hat der Gerichtshof entschieden …“. Die einzelnen angeführten Rechtssachen – Becker („Finanzbehörden“)(43), Busseni („Finanzbehörden“)(44), Costanzo („Gebietskörperschaften“)(45), Johnston („verfassungsmäßig unabhängige Hoheitsträger, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betraut sind“)(46) und Marshall („mit der Verwaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes beauftragte Behörden“)(47) – lassen sich einem oder mehreren der Elemente zuordnen, die der Gerichtshof in seiner abstrakten Formulierung in Rn. 18 bezeichnet hat.
47. An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass die Rn. 18 und 19 des Urteils genauso gut in umgekehrter Reihenfolge hätten verfasst werden können. Ob man nun sagt, „i) ich werde jetzt die Kriterien wie folgt in abstrakter Form darlegen, und ii) die charakteristischen Eigenschaften, die ich aufgezeigt habe, werden in den nachstehenden Rechtssachen deutlich, die der Gerichtshof bereits entschieden hat“ (tatsächliche Reihenfolge der Randnummern), oder ob man sagt „i) seht mal, es gibt verschiedene Rechtssachen, die der Gerichtshof bereits entschieden hat und in denen bestimmte charakteristische Eigenschaften aufgezeigt sind, und ii) ich werde jetzt die Kriterien wie folgt in abstrakter Form darlegen“ (umgekehrte Reihenfolge) – die Gedankenführung ist im Wesentlichen dieselbe.
48. Der Gerichtshof hätte es an dieser Stelle bei der abstrakten Formulierung bewenden lassen können. Genau genommen war es Sache des vorlegenden Gerichts, nach dem Sachverhalt die Frage zu beantworten, ob es sich bei der BGC unter Heranziehung der Kriterien um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung handelte(48). Das vorlegende Gericht hatte seine Frage jedoch formuliert „War die [BGC] … eine Einrichtung von solcher Art, dass die Rechtsmittelklägerinnen berechtigt sind, sich vor englischen Gerichten unmittelbar auf die [Richtlinie 76/207] für einen Schadensersatzanspruch zu berufen, der mit einem Verstoß der Ruhestandspraxis der [BGC] gegen die Richtlinie begründet wird?“, und der Gerichtshof war offenkundig der Ansicht, dass ihm hinreichende Informationen vorlagen, um eindeutige Hinweise darauf zu geben, wie die Antwort zu lauten habe(49). Die verschiedenen festgestellten konkreten Eigenschaften der BGC genügten für den Nachweis, dass die BGC tatsächlich jedes einzelne der aufgeführten Kriterien erfüllt(50). Der Gerichtshof führt daher im Folgenden (Rn. 20) aus, dass „demgemäß“ eine Einrichtung, die alle der verschiedenen in Rn. 18 genannten Eigenschaften (sowie einige zusätzliche markante Kennzeichen) aufweist, „jedenfalls … zu den Rechtssubjekten [gehört], denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“(51).
49. Ich halte inne, denn ich meine, dass die in Rn. 20 angesprochenen zusätzlichen markanten Kennzeichen eher mit der These in Einklang zu bringen sind, dass es in der genannten Randnummer um die Anwendung der abstrakten Formel auf die BGC geht, als mit der These, dass in der Randnummer die Kriterien selbst aufgeführt sind. Erstens ist von einer „Einrichtung … unabhängig von ihrer Rechtsform“ die Rede, wodurch (vielleicht ein wenig salopp) das zuvor aus der Rechtsprechung zu im Wesentlichen öffentlichen Einrichtungen hergeleitete Kriterium auf Einrichtungen ausgedehnt wird, deren „Rechtsform“ teils öffentlich-rechtlich und teils privatrechtlich oder sogar rein privatrechtlich statt ausschließlich öffentlich-rechtlich sein kann(52). Zweitens heißt es, dass die betreffende Einrichtung „kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat“ (in Rn. 18 wird die Erbringung „einer Dienstleistung im öffentlichen Interesse“ nicht ausdrücklich erwähnt). Drittens ist die Einrichtung mit den „besonderen Rechten“, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten, „hierzu“ – d. h. zur Erbringung einer Dienstleistung im öffentlichen Interesse – ausgestattet. Viertens sind zwar drei der Einrichtungen, die in der in Rn. 19 angeführten Rechtsprechung genannt sind, mit „besonderen Rechten“ ausgestattet, die vierte (die Gesundheitsbehörde in der Rechtssache Marshall) hingegen nicht. Damit ist fraglich, ob dieses Merkmal als zwingender Teil der Definition für eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung auszulegen ist. Allerdings war die BGC durchaus mit solchen besonderen Rechten ausgestattet(53). Diese zusätzlichen markanten Kennzeichen zeigen dem nationalen Gericht (in kaum verhüllter Formulierung), dass die Tatsachen, die der Gerichtshof dem Vorlagebeschluss betreffend die BGC entnommen hat, genügen, um die BGC als eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung einzustufen.
50. Am vielsagendsten ist jedoch die Wendung „gehört jedenfalls“. Dies ist eine Bestätigung dafür, dass der Gerichtshof in Rn. 20 nicht irgendwelche Voraussetzungen allgemeiner Art formulieren oder sämtliche Eventualitäten für die Zukunft abdecken will. Er befasst sich mit dem konkreten Fall und sagt dem nationalen Gericht: „Welche anderen Einrichtungen dem Staat auch zuzurechnen (oder nicht zuzurechnen) sein mögen – eine Einrichtung, die alle diese charakteristischen Eigenschaften aufweist, ist eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung, und das wolltest Du ja wissen“.
51. Für diese Lesart sprechen auch die Ausführungen von Rn. 20 bis zum Tenor des Urteils. In Rn. 21 erinnert der Gerichtshof an seine frühere Entscheidung im Urteil Marshall(54), wonach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207 die Voraussetzungen für die Entfaltung einer unmittelbaren Wirkung erfüllt. Sodann werden die Rn. 20 und 21 zusammengeführt (Rn. 22 wird als Tenor wiederholt), um auf diese Weise dem vorlegenden Gericht eine präzise Antwort auf die Vorlagefrage zu geben. Die Wendung „gehört jedenfalls“ in Rn. 20 fällt nun im Tenor als überflüssig und sogar unangemessen weg.
52. Ich gelange zu dem Ergebnis, dass der Gerichtshof im Urteil Foster keinerlei Absicht hatte, die Bestandteile der Kriterien für die Prüfung, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung darstellt, erschöpfend und ein für alle Mal aufzuzählen. Er hat eine aus der vorhandenen Rechtsprechung hergeleitete abstrakte Formulierung (Rn. 18) gewählt, die er dann ergänzt durch markante Kennzeichen angewandt hat, um eine Einrichtung zu bezeichnen, die aufgrund ihrer charakteristischen Eigenschaften jedenfalls zu der Gruppe der dem Staat zuzurechnenden Einrichtungen gehört (Rn. 20). Weiter geht die Entscheidung nicht. Weder die Herleitung der konkreten Kriterien aus der vorhandenen Rechtsprechung in Rn. 18 noch die Anwendung der Kriterien in Rn. 20 wollen erschöpfend sein; sowohl Logik als auch gesunder Menschenverstand stehen einer dahin gehenden rückwirkenden Einstufung entgegen.
53. Folglich lautet die Antwort auf die erste Frage, dass die Kriterien im Urteil Foster zur Beurteilung, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist, nicht in Rn. 20, sondern in Rn. 18 des genannten Urteils zu finden sind. Die dort aufgestellten Kriterien sind weder kumulativ noch alternativ zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine nicht erschöpfende Aufzählung der Merkmale, die für eine solche Beurteilung von Bedeutung sein können.
54. Ehe ich mich der zweiten Frage zuwende, möchte ich mich kurz und am Rande mit einer merkwürdigen Besonderheit der Voraussetzungen befassen, die der Gerichtshof im Rahmen der Kriterien genannt hat, nämlich mit dem Verweis auf „special powers“ („besondere Rechte“) im Englischen. In der französischen Originalfassung, in der der Urteilsentwurf verfasst und beraten wurde, wurde der Begriff „pouvoirs exorbitants“ verwendet – ein Fachterminus des französischen Verwaltungsrechts, der mit „special powers“ nicht besonders passend übersetzt ist(55). Wenn ich richtig verstehe, ist der locus classicus für das Rechtsinstitut der Dienstleistung im öffentlichen Interesse im französischen Verwaltungsrecht die Entscheidung des Tribunal des conflits vom 8. Februar 1873 in der Rechtssache Blanco(56), in der sowohl die Möglichkeit der Staatshaftung für Entschädigungsleistungen aufgrund von Handlungen des „service public“ als auch die ausschließliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte (im Gegensatz zu den ordentlichen Zivilgerichten) für die Entscheidung solcher Rechtssachen anerkannt wurde(57). Das Urteil des Conseil d’État in der Rechtssache Bureau Veritas(58) liefert weitere sachdienliche Hinweise zum Begriff „l’exercise des prérogatives de puissance publique … conférées pour l’exécution de la mission de service public dont [la société en question] est investie“ im französischen Recht („die Ausübung der staatlichen Befugnisse …, die verliehen worden sind, damit [die in Rede stehende Gesellschaft] den ihr übertragenen Auftrag zur Erbringung der Dienstleistung im öffentlichen Interesse erfüllen kann“). Allerdings zielt der Wortlaut des Urteils Foster des Gerichtshofs nur insoweit darauf ab, den Begriff „besondere Rechte“ für die Zwecke des Unionsrechts zu definieren, als diese Rechte „über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“. Ich werde hierauf insbesondere im Rahmen der dritten Vorlagefrage noch einmal zurückkommen(59).
Zweite Frage
55. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht – in der Annahme, dass es sich bei den im Urteil Foster aufgezählten Kriterien um einen Gesamtkomplex zu berücksichtigender Faktoren (wie ich dies in meinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten Frage darlegt habe) und nicht um restriktiv, kumulativ anzuwendende Voraussetzungen handelt – wissen, ob es einen tragenden Grundsatz gibt, der den einzelnen genannten Faktoren zugrunde liegt, die ein nationales Gericht auf den Sachverhalt der bei ihm anhängigen Rechtssache anzuwenden und anhand deren es festzustellen hat, ob ein bestimmter Beklagter eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist.
56. Zunächst muss man sich fragen, inwiefern sich der Rechtsprechung aus der Zeit nach Erlass des Urteils Foster dezidiert entnehmen lässt, ob sich der Gerichtshof seit dem genannten Urteil tatsächlich für eine alternative oder eine kumulative Anwendung der Kriterien entschieden hat (so dass sich die zweite Frage erübrigt) oder ob er dem einen oder anderen der im Urteil dargelegten Faktoren besonderes Gewicht beimisst.
57. Soweit ich sehe, lautet die kurze Antwort in beiderlei Hinsicht „Nein“; der guten Ordnung halber werde ich diese Rechtsprechung nachstehend jedoch etwas eingehender untersuchen und in der chronologischen Reihenfolge des Erlasses der verschiedenen Urteile abhandeln.
58. Die erste einschlägige Entscheidung nach dem Urteil Foster war das Urteil in der Rechtssache Kampelmann u. a.(60). Herr Kampelmann und drei Kollegen, die Kläger in den Rechtssachen C‑253/96 bis C‑256/96, waren Arbeitnehmer des Landschaftsverbands, der u. a. für Straßenbau und ‑unterhaltung in Westfalen-Lippe zuständig war und mehrere Landesstraßenbauämter unterhielt(61). Herr Schade (Rechtssache C‑257/96) und Herr Haseley (Rechtssache C‑258/96) waren Arbeitnehmer der Stadtwerke Witten bzw. der Stadtwerke Altena, bei denen es sich um öffentliche Versorgungsbetriebe dieser Städte handelte(62). Sie wollten sich im Rahmen eines Rechtsstreits über ihre Vergütungs- und Fallgruppierung gegenüber ihren jeweiligen Arbeitgebern unmittelbar auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. c Ziff. ii der Richtlinie 91/533/EWG des Rates(63) berufen. Im Anschluss an die Feststellung, dass diese Bestimmung unmittelbare Wirkung entfalte(64), stellt der Gerichtshof eine ausführlichere Fassung der in Rn. 18 des Urteils Foster aufgeführten alternativen Liste auf(65) und beantwortet die zweite Frage des nationalen Gerichts mit einer Bekräftigung der Formel aus Rn. 18 des Urteils Foster(66).
59. In der Rechtssache Collino und Chiappero(67) war Telecom Italia, die Rechtsnachfolgerin einer Reihe von Unternehmen, die Beklagte, der der italienische Staat die ausschließliche Konzession für öffentliche Telekommunikationsdienstleistungen erteilt hatte(68). Die Kläger wandten sich gegen die Bedingungen ihrer Übernahme von der ursprünglichen Konzessionsinhaberin durch die nächste(69). Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hatte objektiv ein Unternehmensübergang stattgefunden, es wies jedoch darauf hin, dass im italienischen Recht eine Sonderregelung eingeführt worden sei, die von dem für den Übergang von Unternehmen im Allgemeinen geltenden Recht abweiche und zu einer Abweisung der Klage führen würde. Das vorlegende Gericht wollte vom Gerichtshof wissen, ob die durch das italienische Gesetz Nr. 58/92 eingeführte abweichende Regelung mit der Richtlinie 77/187/EWG(70) vereinbar sei.
60. Telecom Italia erhob den Einwand der Unzulässigkeit der Vorlage mit der Begründung, dass das vorlegende Gericht „die Vorschriften der Richtlinie [77/187] auf den Ausgangsrechtsstreit, in dem sich ausschließlich Privatrechtssubjekte gegenüberstünden, ohnehin nicht anwenden könne“(71). Der Gerichtshof stimmte der Beklagten darin zu, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Richtlinie keine horizontale unmittelbare Wirkung entfalten könne, erinnert im Weiteren jedoch sowohl an den Grundsatz der „interprétation conforme“ als auch daran, dass in Fällen, in denen sich der Einzelne gegenüber dem Staat auf eine Richtlinie berufen könne, er dies unabhängig davon tun könne, in welcher Eigenschaft der Staat handele, da nämlich verhindert werden müsse, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des (damaligen) Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen könne. Sodann führt der Gerichtshof Rn. 20 des Urteils Foster an, überlässt dem nationalen Gericht die Entscheidung darüber, ob sich die Kläger unmittelbar auf die Richtlinie 77/187 berufen können, und wendet sich im Weiteren den vorgelegten materiell-rechtlichen Fragen zu(72).
61. In der Rechtssache Rieser Internationale Transporte(73) verlangte das klägerische Speditionsunternehmen die Rückerstattung der seiner Ansicht nach überzahlten Mautgebühren für die Nutzung der Brennerautobahn. Die Beklagte („Asfinag“) war eine Einrichtung, die im Rahmen eines zwischen ihr und dem österreichischen Staat als Alleingesellschafter geschlossenen Lizenzvertrags verantwortlich war für Bau, Planung, Betrieb, Unterhaltung und Finanzierung der österreichischen Autobahnen und Schnellstraßen, zu denen auch die Brennerautobahn gehört. Das Speditionsunternehmen (und die Kommission) waren der Auffassung, dass die einschlägigen Bestimmungen der in Rede stehenden Richtlinien einer Einrichtung wie Asfinag aufgrund der engen Beziehungen zwischen ihr und dem Staat bei der Verwaltung der österreichischen Autobahnen entgegengehalten werden könnten. Gegen diese Sichtweise wandte sich Asfinag mit der Begründung, sie sei eine Aktiengesellschaft privaten Rechts, ihr Vorstand sei nicht an Weisungen von Organen des österreichischen Staates gebunden, sie nehme keine hoheitlichen Aufgaben wahr und erhebe die Maut auf eigene Rechnung(74).
62. Nach Darstellung der der vertikalen unmittelbaren Wirkung zugrunde liegenden Grundsätze der Urteile Becker(75), Marshall(76) und Foster(77) bezieht sich der Gerichtshof wörtlich auf die in Rn. 20 des Urteils Foster genannten und im Urteil Collino und Chiappero aufgegriffenen genannten Kriterien(78). Sodann nimmt er eine sorgfältige Würdigung der Angaben des Vorlagebeschlusses vor(79). Diesen lasse sich entnehmen, dass Asfinag eine Einrichtung sei, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen habe und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet sei, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgingen(80). Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass „eine solche Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform zu den Rechtssubjekten [gehört], denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“(81).
63. Nach meinem Verständnis des Urteils Rieser Internationale Transporte verfährt der Gerichtshof dort in genau derselben Weise wie zuvor im Urteil Foster. Aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen sah sich der Gerichtshof in der Lage, im Ergebnis festzustellen, dass Asfinag sämtliche im Urteil Foster aufgezählten Voraussetzungen erfüllte. Asfinag „gehörte“ demgemäß „jedenfalls“ zu den Rechtssubjekten, denen ein Kläger die vertikale unmittelbare Wirkung von Richtlinien entgegenhalten kann. Ich möchte hinzufügen, dass die Entscheidung in der Rechtssache Rieser Internationale Transporte jenseits aller Zweifel klarstellt, dass eine Aktiengesellschaft privaten Rechts, deren Vorstand an Weisungen des Staates nicht gebunden ist, dennoch eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung sein kann.
64. In der Rechtssache Sozialhilfeverband Rohrbach(82) ging es um die Frage, ob Arbeitsverträge der Beschäftigten des öffentlich-rechtlichen Sozialhilfeverbands, auf zwei neue privatrechtliche Gesellschaften mit beschränkter Haftung übergingen, deren Alleingesellschafter der Sozialhilfeverband war. Über die Vorlage wurde im Wege eines mit Gründen versehenen Beschlusses gemäß (jetzt) Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entschieden. Der Gerichtshof scheint in erster Linie auf den Umstand abzustellen, dass die neuen Gesellschaften mit beschränkter Haftung vom Alleingesellschafter kontrolliert wurden, bei dem es sich seinerseits um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung handelte. Soweit ich sehe, hat der Gerichtshof eigentlich nicht geprüft, ob der Sozialhilfeverband mit besonderen Rechten ausgestattet war(83).
65. In der Rechtssache Vassallo(84) war eine Krankenanstalt beklagt, und die Problematik, ob es sich bei dieser Anstalt um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung handelte, stellte sich im Rahmen eines Unzulässigkeitseinwands. Die Krankenanstalt machte geltend, sie sei weder dem italienischen Staat noch einem Ministerium unterstellt. Sie sei eine selbständige Anstalt mit eigenen Führungskräften, die im Rahmen ihrer Tätigkeit verpflichtet seien, die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts anzuwenden, und diese weder in Frage stellen noch von ihnen abweichen könnten(85). Der Gerichtshof begnügt sich mit der Feststellung, dass das nationale Gericht es nach der Vorlageentscheidung für erwiesen erachtet habe, dass diese Anstalt eine Einrichtung des öffentlichen Sektors sei, die mit der öffentlichen Verwaltung verknüpft sei. Dies betrachtet der Gerichtshof (unter Heranziehung derselben ausführlichen Formulierung der Kriterien für eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung wie im Urteil Kampelmann u. a.) als hinreichend für das Ergebnis, dass der von der Krankenanstalt erhobene Einwand der Unzulässigkeit nicht durchgreife(86). Auch hier ist im Rahmen der vom Gerichtshof durchgeführten Würdigung keine Prüfung des Merkmals „besondere Rechte“ ersichtlich. Es ist auch nicht zwangsläufig wahrscheinlich (vgl. Urteil Marshall), dass eine öffentlich-rechtliche Krankenanstalt mit solchen Rechten ausgestattet ist.
66. Im Urteil Farrell I bezieht sich der Gerichtshof auf die Kriterien in Rn. 20 des Urteils Foster (und auch auf Rn. 23 des Urteils Collino und Chiappero und Rn. 24 des Urteils Rieser Internationale Transporte), nicht aber auf Rn. 18 des Urteils Foster. Er weist jedoch unmittelbar im Anschluss ausdrücklich darauf hin, dass er nicht über genügend Informationen verfüge, um feststellen zu können, ob das MIBI eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung sei, und überließ die Entscheidung über diese Frage dem nationalen Gericht(87), was im weiteren Verlauf zu der hier in Rede stehenden Vorlage geführt hat.
67. In der Rechtssache Dominguez(88) hat sich der Gerichtshof (Große Kammer) mit einer Klage gemäß der neugefassten Arbeitszeitrichtline (Richtlinie 2003/88/EG(89)) befasst, die eine Arbeitnehmerin gegen das Centre informatique du Centre Ouest Atlantique (Datenverarbeitungszentrum für die Region Centre Ouest Atlantique) erhoben hatte, bei dem es sich dem Gerichtshof zufolge um „eine auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit tätige Einrichtung“ handelte(90). Der Gerichtshof belässt es bei der Wiedergabe von Rn. 20 des Urteils Foster und führt aus, dass es Sache des nationalen Gerichts sei, zu prüfen, ob eine unmittelbar anwendbare Bestimmung des Unionsrechts (Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88) gegenüber der Beklagten geltend gemacht werden kann(91). Wiederum fehlt eine ausdrückliche Feststellung zu der Frage, ob die Beklagte mit besonderen Rechten ausgestattet ist.
68. In der Rechtssache Carratù(92) hat sich der Gerichtshof mit Befristungsklauseln in Arbeitsverträgen beschäftigt. Beklagte war Poste Italiane (italienischer Postdienst). Der Gerichtshof hat sich nur knapp zum Vorbringen geäußert, dass die Beklagte eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung sei(93). Er weist auf die Tatsache hin, dass Poste Italiane eine Einrichtung sei, die durch ihren einzigen Anteilseigner, das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, vollständig im Eigentum des italienischen Staates stehe; ferner unterliege sie der Aufsicht des Staates und der Corte dei Conti (Rechnungshof), wobei ein Mitglied des Rechnungshofs im Aufsichtsrat von Poste Italiane sitze. Angesichts dessen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Poste Italiane die kumulative Aufzählung der im Urteil Foster genannten Kriterien erfülle und „zu den Rechtssubjekten gehöre“, denen gegenüber man sich auf die unmittelbare Wirkung berufen könne(94).
69. Zugegebenermaßen bin ich mir nicht so sicher, dass ich das Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) in der Rechtssache Portgás(95), das er (Dritte Kammer) am selben Tag wie das Urteil Carratù erlassen hat, voll und ganz verstehe.
70. Zur maßgeblichen Zeit war Portgás eine Aktiengesellschaft portugiesischen Rechts, die Inhaberin einer ausschließlichen Konzession für die öffentliche Gasversorgung im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 93/38/EWG des Rates(96) war. Sie erhielt im Wege der Kofinanzierung Mittel im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, die sie insbesondere zur Finanzierung der Anschaffung von Gaszählern verwendete. Nach einer Prüfung ordnete eine Untergliederung des portugiesischen Staates (der Verwalter des Programa Operacional Norte [Operationelles Programm Nord]) die Rückzahlung des Portgás gewährten finanziellen Zuschusses an, weil Portgás gegen die in der Richtlinie 93/38 enthaltenen unionsrechtlichen Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge verstoßen habe. Diese Vorschriften waren noch nicht in portugiesisches Recht umgesetzt worden. Handelte es sich bei Portgás um eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und bejahendenfalls konnte sich der portugiesische Staat selbst gegenüber Portgás auf eine nicht umgesetzte Richtlinie berufen?
71. In seinen Schlussanträgen nimmt Generalanwalt Wahl eine Prüfung in zwei Teilen vor: i) gegenüber wem und ii) von wem können unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen „vertikal“ herangezogen werden? Er wählt Rn. 20 des Urteils Foster als Ausgangspunkt, da in der in dieser Randnummer „verwendeten“ Formulierung die vom Gerichtshof in jener Rechtssache festgelegten Kriterien verankert seien(97). Er gelangt zu dem Ergebnis, aus dem Umstand, dass es sich bei Portgás um eine Konzessionsinhaberin für eine öffentliche Dienstleistung und Vertragspartei im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 93/38 handele, folge nicht, dass sie als eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung anzusehen sei, und dass, da das vorlegende Gericht „nicht genügend Informationen zu Portgás übermittelt hat, um festzustellen, ob das genannte Unternehmen zum maßgeblichen Zeitpunkt über besondere Rechte verfügte und der Aufsicht der staatlichen Behörden unterlag, … es nach der im Urteil Foster … zum Ausdruck gebrachten Regel und nach dem vom Gerichtshof in ähnlichen Rechtssachen … herkömmlich verfolgten Ansatz“ Sache des vorlegenden Gerichts sei, zu überprüfen, ob alle diese Voraussetzungen bei Portgás zum maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen hätten(98). Sollte Portgás jedoch eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung sein, so sehe er – Generalanwalt Wahl – keinen Grund, weshalb sich der Staat gegenüber Portgás nicht auf unmittelbar anwendbare Bestimmung der Richtlinie berufen können sollte(99).
72. In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 93/38 tatsächlich unbedingt und hinreichend genau sind, um unmittelbare Wirkung zu entfalten(100). Sodann gibt er Rn. 20 des Urteils Foster wieder, wie sie in den Urteilen Collino und Chiappero (Rn. 23), Rieser Internationale Transporte (Rn. 24), Farrell I (Rn. 40) und Dominguez (Rn. 39) aufgegriffen wurde(101). Dieser Rechtsprechung entnimmt der Gerichtshof den Grundsatz, dass „selbst wenn eine Privatperson in den persönlichen Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, [es] nicht möglich [ist], sich gegenüber dieser Person vor nationalen Gerichten auf … [diese] Richtlinie als solche zu berufen“. (Ich stimme dieser Schlussfolgerung zu, meine aber, dass sich dieser Grundsatz aus dem Urteil Faccini Dori(102) und nicht aus der angeführten Rechtsprechung herleiten lässt.)
73. Danach geht der Gerichtshof sofort zu dem Diktum über: „Der alleinige Umstand, dass ein privates Unternehmen, das Inhaber einer ausschließlichen Konzession für eine öffentliche Dienstleistung ist, zu den ausdrücklich vom persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 93/38 erfassten Einrichtungen gehört, hat somit … nicht zur Folge, dass diesem Unternehmen die Bestimmungen dieser Richtlinie entgegengehalten werden können.“(103) Ich stimme dieser Schlussfolgerung zu, allerdings aus einem etwas anderen Grund. Meines Erachtens legt Art. 2 nur den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie 93/38 fest. Er ist ersichtlich zweigeteilt: Art. 2 Abs. 1 Buchst. a (staatliche Behörden oder öffentliche Unternehmen) und Art. 2 Abs. 1 Buchst. b (Auftraggeber, die nicht staatliche Behörden oder öffentliche Unternehmen sind, aber eine der in Art. 2 Abs. 2 genannten Tätigkeiten ausüben, und zwar „auf der Grundlage von besonderen oder ausschließlichen Rechten …, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gewährt wurden“). Ich vermag nicht zu erkennen, dass sich aus dieser Festlegung des sachlichen Geltungsbereichs (anhand deren die Frage beantwortet werden kann: „Wer muss dieser Richtlinie nach ihrer Umsetzung nachkommen?“) automatisch auch die Antwort auf andere Frage ergibt: „Wenn diese Richtlinie nicht umgesetzt wurde, können dann ihre unmittelbar anwendbaren Vorschriften allen Rechtssubjekten entgegengehalten werden, die definitionsgemäß in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen?“
74. Als Nächstes führt der Gerichtshof aus, dass „[d]ie genannte im öffentlichen Interesse liegende Dienstleistung … unter staatlicher Aufsicht erbracht worden und das fragliche Unternehmen mit besonderen Rechten ausgestattet sein [muss], die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen“, und stützt sich dabei auf die Rn. 25 bis 27 des Urteils Rieser Internationale Transporte. Ich habe mich zu dieser Rechtssache bereits geäußert(104). In diesen drei Randnummern des Urteils Rieser Internationale Transporte ging es um die Anwendung von Rn. 20 des Urteils Foster auf den detaillierten Sachverhalt der Rechtssache Rieser Internationale Transporte, und das Ergebnis (in der im Urteil Portgás nicht angeführten Rn. 28) lautete, dass „eine solche Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform zu den Rechtssubjekten [gehört], denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“(105). Die genannten Randnummern stützen als solche nicht die These, dass sämtliche in Rn. 20 des Urteils genannten Voraussetzungen stets erfüllt sein müssen, bevor ein Rechtssubjekt korrekterweise als dem Staat zuzurechnende Einrichtung einzustufen ist.
75. Im Weiteren würdigt der Gerichtshof in den Rn. 27 bis 30 die ihm zur Verfügung stehenden Angaben über Portgás. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass – da er nicht über alle notwendigen Informationen für die abschließende Entscheidung verfüge, ob Portgás tatsächlich eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung darstelle – das nationale Gericht die erforderliche Prüfung vorzunehmen habe (Rn. 31, in der die Formulierung aus Rn. 20 des Urteils Foster neu gefasst wird)(106). Im zweiten Teil des Urteils befasst sich der Gerichtshof mit der Frage, ob der Staat selbst sich gegenüber einer dem Staat zuzurechnenden Einrichtung auf eine nicht umgesetzte Richtlinie berufen könnte – eine Frage, die der Gerichtshof ebenso wie der Generalanwalt bejaht hat(107).
76. Meiner Meinung nach hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) im Urteil Portgás die eigentlich heranzuziehenden Kriterien wohl nur unvollständig verstanden. Das Beharren darauf, dass alle in Rn. 20 des Urteils Foster dargestellten Voraussetzungen erfüllt sein müssen, scheint mir auch nicht an irgendeiner anderen Stelle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit dem Urteil Foster wiederholt zu werden.
77. Diese Analyse der Rechtsprechung nach Erlass des Urteils Foster führt mich zu der Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof sich nicht unbedingt für eine restriktive kumulative Anwendung der Kriterien zur Beurteilung, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien darstellt, entschieden hat. Er neigt zwar dazu, Rn. 20 des Urteils Foster häufiger als Rn. 18 jenes Urteils anzuführen. Meines Erachtens hat der Gerichtshof jedoch, was das Ergebnis betrifft, nicht rigoros verlangt, dass sämtliche dort genannten Merkmale gegeben sein müssen. Vielmehr hat er ebenso wie im Urteil Foster in Fällen, in denen er seiner Ansicht nach insoweit über genügend Informationen verfügte, dem nationalen Gericht konkrete abschließende Hinweise gegeben (insbesondere in der Rechtssache Rieser Internationale Transporte). Ansonsten hat er es dem nationalen Gericht überlassen, zu entscheiden, ob die Voraussetzungen erfüllt sind(108).
78. Selbst wenn ich mit dieser Einschätzung falsch liegen sollte, hat der Gerichtshof, da ihm (der Großen Kammer) die Frage vorliegt, wie eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu definieren ist, im gegenwärtigen Vorabentscheidungsverfahren die Gelegenheit, die notwendige Klarstellung vorzunehmen.
Erkenntnisse aus anderen Bereichen des Unionsrechts
79. Ich halte an dieser Stelle inne, um zu prüfen, ob drei Bereiche des Unionsrechts – Regelung der staatlichen Beihilfen, Vorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Bestimmungen über die öffentliche Auftragsvergabe – weiteren Aufschluss geben können; dabei handelt es sich um Bereiche, in denen sich der Gerichtshof bereits mit Fragen auseinandersetzen musste, die begrifflich von der gegenwärtigen Problematik – nämlich der Präzisierung der im Urteil Foster dargelegten Kriterien zur Feststellung, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist – gar nicht so weit entfernt sind. In allen diesen Bereichen findet sich das Konzept des Staates bzw. der Behörden und der entgeltlichen Erbringung von Dienstleistungen; bei allen nimmt der Staat Beziehungen zu Einrichtungen oder Unternehmen verschiedener Art auf. Ich sage nicht, dass die Vorschriftenkomplexe, die in diesen Bereichen des Unionsrechts gelten, ohne Weiteres in ihrer Gesamtheit auf den hier in Rede stehenden Fall übertragen werden können. Sie können jedoch sachdienlicherweise den Blick auf die Kriterien lenken, die heranzuziehen sind, um den Begriff „Staat und die ihm zuzurechnenden Einrichtungen“ vom Begriff „Privatpartei“ abzugrenzen.
– Staatliche Beihilfen (Art. 107 AEUV)
80. Häufig muss beurteilt werden, ob eine konkrete Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV darstellt. Dabei wird das Kriterium, dass die Finanzierung einer bestimmten Maßnahme zugunsten eines Unternehmens „aus staatlichen Mitteln“ erfolgt, zur Entscheidung der Frage herangezogen, ob die Maßnahme als „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe“ anzusehen ist. Die Finanzierung einer Maßnahme aus staatlichen Mitteln umfasst einerseits die Zurechenbarkeit der Maßnahme an den Staat und andererseits die Verwendung staatlicher Mittel.
81. Gewährt eine Behörde einem Begünstigten einen Vorteil, so ist diese Maßnahme definitionsgemäß dem Staat zuzurechnen, selbst wenn die betreffende Behörde rechtliche Unabhängigkeit gegenüber anderen Behörden genießt(109). Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht danach zu unterscheiden, ob die Beihilfe unmittelbar vom Staat oder von öffentlichen oder privaten Einrichtungen, die von ihm zur Durchführung der Beihilferegelung errichtet oder beauftragt wurden, gewährt wird(110). Das Gleiche gilt auch, wenn die Behörden eine private oder öffentliche Einrichtung zur Durchführung einer begünstigenden Maßnahme ernennt. Unionsrechtlich kann es nämlich nicht zulässig sein, dass die Vorschriften über staatliche Beihilfen dadurch umgangen werden, dass unabhängige Einrichtungen geschaffen werden, denen die Verteilung der Beihilfen übertragen wird(111).
82. Wird der Vorteil auf dem Weg über ein öffentliches Unternehmen gewährt, ist es weniger offensichtlich, dass die Maßnahme dem Staat zuzurechnen ist(112). In solchen Fällen muss geprüft werden, ob die Behörden in der einen oder anderen Weise als am Erlass der Maßnahme beteiligt angesehen werden können. Die bloße Tatsache, dass eine Maßnahme von einem öffentlichen Unternehmen getroffen wird, genügt allein noch nicht, die Maßnahme dem Staat zuzurechnen(113). Es braucht jedoch nicht nachgewiesen zu werden, dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die fraglichen Maßnahmen zu treffen(114).
83. Da der Staat und die öffentlichen Unternehmen zwangsläufig in enger Beziehung zueinander stehen, besteht die tatsächliche Gefahr, dass staatliche Beihilfen über diese Unternehmen in wenig transparenter Weise und unter Verstoß gegen die im Vertrag vorgesehene Regelung über staatliche Beihilfen gewährt werden(115). Gerade wegen der privilegierten Beziehungen zwischen dem Staat und einem öffentlichen Unternehmen wird es im Allgemeinen für einen Dritten sehr schwierig sein, in einem konkreten Fall nachzuweisen, dass Maßnahmen eines solchen Unternehmens tatsächlich auf Anweisung der Behörden erlassen wurden(116).
84. Aus diesen Gründen kann die Zurechenbarkeit einer Maßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat aus einem Komplex von Indizien abgeleitet werden, die sich aus den Umständen des konkreten Falles und aus dem Kontext ergeben, in dem diese Maßnahme ergangen ist(117).
85. Was die Verwendung staatlicher Mittel angeht, können im Allgemeinen nur unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährte Vorteile staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen. Die Rechtsprechung zeigt jedoch, dass Mittel privater Einrichtungen unter bestimmten Umständen ebenfalls als staatliche Mittel im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gelten können. Die Herkunft der Mittel ist unerheblich, sofern sie, bevor sie unmittelbar oder mittelbar den Begünstigten zugewiesen wurden, unter der öffentlichen Kontrolle und somit den nationalen Behörden zur Verfügung standen(118). Es ist nicht erforderlich, dass die Mittel in das Vermögen der Behörde übergehen(119).
86. Heißt das, dass immer dann, wenn ein Unternehmen oder eine Einrichtung Finanzmittel aus dem Staatshaushalt erhält und diese Finanzierung unter als staatliche Beihilfe nach Art. 107 AEUV einzustufenden Bedingungen erfolgt, dies ausreicht, um den Begünstigten in eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu verwandeln? Ich meine nicht. Private Banken oder Kohlebergwerke, die Beihilfe zur Restrukturierung erhalten haben, würden meines Erachtens also nicht zu dem Staat zuzurechnenden Einrichtungen im Sinne der Rechtsprechung im Urteil Foster werden. Am anderen Ende des Spektrums kann ich mir auch nicht vorstellen, dass der bloße Umstand, dass ein Unternehmen oder eine Einrichtung aus öffentlichen Mitteln für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen bezahlt wird, dieses Unternehmen bzw. diese Einrichtung zu einer dem Staat zuzurechnenden Einrichtung werden lässt. So würde ein Unternehmen, das im Rahmen eines nach einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren vergebenen Auftrags Büromaterial an ein Ministerium zu liefern hat, nicht von der Definition erfasst.
– Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse
87. Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Art. 106 Abs. 2 AEUV betraut sind, gelten „die Vorschriften der Verträge, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“(120). Sofern die Unternehmen in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen, führt die Tatsache, dass sie vom Staat Mittel erhalten oder mit besonderen oder ausschließlichen Rechten ausgestattet sind, nicht dazu, dass es sich bei der Regelung um (verbotene) staatliche Beihilfe handelt. Die vier Voraussetzungen, die für die Feststellung erfüllt sein müssen, dass ein bestimmtes Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringt, wurden in dem bekannten Urteil Altmark(121) festgelegt.
88. Gemäß der ersten im Urteil Altmark genannten Voraussetzung (der einzigen der vier Voraussetzungen, die für die gegenwärtige Erörterung relevant ist) „muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein“. Dem fügte das Gericht später zwei weitere Anforderungen hinzu, nämlich „das Vorliegen eines Hoheitsakts, der den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern eine Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse überträgt, und der universale und obligatorische Charakter der Aufgabe“, sowie dass „der Mitgliedstaat angeben muss, weshalb er der Auffassung ist, dass die fragliche Dienstleistung es aufgrund ihres besonderen Charakters verdient, als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse eingestuft und von anderen wirtschaftlichen Aktivitäten unterschieden zu werden“(122).
89. Diese Rechtsprechung in Verbindung mit der Praxis der Kommission bezüglich Unternehmen, die von sich behaupten, sie erbrächten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse(123), zeigt, dass es bei solchen Dienstleistungen um Aktivitäten geht, die im öffentlichen Aufgabenbereich des Staates liegen und mit deren Erbringung der Staat aus irgendeinem Grund einen Dritten betrauen will. Aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachtet bedeutet dies: Die Behörden des Mitgliedstaats (auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene je nach der Befugniszuweisung nach nationalem Recht) stufen die zu erbringenden Dienstleistungen als Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ein und unterwerfen sie daher spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen. Der Begriff „Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ umfasst sowohl wirtschaftliche Tätigkeiten als auch nicht wirtschaftliche Leistungen(124).
90. Wesentliche Eigenschaft eines Unternehmens, das eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringt, ist, dass es etwas leistet, das dem Allgemeinwohl dient, das aber ohne staatliche Eingriffe am freien Markt überhaupt nicht oder in Bezug auf Qualität, Sicherheit, Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung oder universaler Zugang nur zu anderen Standards durchgeführt würde (sogenannte „Voraussetzung des Marktversagens“)(125). Ein augenfälliges Beispiel wäre der Betrieb einer Apotheke in einem entlegenen ländlichen Gebiet. Daher hat der Gerichtshof festgestellt, dass Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Dienstleistungen sind, an denen ein allgemeines wirtschaftliches Interesse besteht, das sich von dem Interesse an anderen Tätigkeiten des Wirtschaftslebens besonders unterscheidet(126). Nach ständiger Rechtsprechung verfügen die Behörden der Mitgliedstaaten bei der Festlegung dessen, was sie als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erachten, über einen erheblichen Spielraum; die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Bestimmung solcher Dienstleistungen kann von der Kommission nur bei Vorliegen eines offensichtlichen Fehlers in Frage gestellt werden(127). Beachtenswert (wenn auch nicht verwunderlich) ist, dass hinsichtlich Umfang und Organisation von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten je nach Tradition und Üblichkeit staatlicher Eingriffe erhebliche Unterschiede bestehen. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sind daher höchst vielgestaltig. Die Bedürfnisse und Präferenzen der Abnehmer werden sich je nach dem geografischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld voneinander unterscheiden. Es ist daher (vernünftigerweise) Sache der Behörden jedes einzelnen Mitgliedstaats, Wesen und Umfang einer von ihnen als Dienstleistung von allgemeinem Interesse eingestuften Dienstleistung festzulegen.
91. Bei der Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wird der Dienstleister bestimmte Einschränkungen oder bestimmte Aufgaben zu akzeptieren haben, die bei der Erbringung entsprechender Dienstleistungen auf kommerzieller Grundlage nicht gelten würden. Eine nicht erschöpfende Aufzählung dieser Einschränkungen oder Aufgaben könnte umfassen: universelle Erbringung der Dienstleistungen an alle, die sie verlangen (anstelle der Möglichkeit, sich seine Kunden frei auszuwählen); ständige Leistungsbereitschaft (statt frei wählen zu können, ob, wann und wo die Dienstleistungen erbracht werden); Verpflichtung zur Erbringung der Dienstleistung unabhängig davon, ob die Erbringung an einen bestimmten Kunden oder bei Vorliegen bestimmter Umstände unter kommerziellen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Im Gegenzug wird das die Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringende Unternehmen in der Regel Vorteil aus der Verleihung von Ausschließlichkeitsrechten bestimmter Art ziehen und vom Staat ein Entgelt erhalten, das über den Preis hinausgeht, der unter normalen Marktbedingungen für die erbrachte Dienstleistung gezahlt würde.
92. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse können in einigen Fällen auch mit der Verleihung besonderer Rechte im Sinne der Ausführungen im Urteil Foster verbunden sein (z. B. das Recht zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen Einzelne), jedoch muss dies nicht zwangsläufig der Fall sein. Ich werde auf diesen wichtigen Gesichtspunkt später zurückkommen(128).
– Öffentliche Auftragsvergabe
93. Bei der unionsrechtlich geregelten öffentlichen Auftragsvergabe ist der Begriff „Staat“ gleichbedeutend mit dem Begriff „öffentlicher Auftraggeber“. Danach wiederum bestimmt sich, ob ein Auftrag nach den Regeln für die öffentliche Auftragsvergabe erteilt werden muss oder im Rahmen eines anderen Verfahrens vergeben werden kann(129).
94. Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU bezeichnet der Ausdruck „‚öffentliche Auftraggeber‘ den Staat, die Gebietskörperschaften, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder die Verbände, die aus einer oder mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts bestehen“. Nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 bedeutet der Ausdruck „‚Einrichtungen des öffentlichen Rechts‘ Einrichtungen mit sämtlichen der folgenden Merkmale: a) Sie wurden zu dem besonderen Zweck gegründet, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen, b) sie besitzen Rechtspersönlichkeit und c) sie werden überwiegend vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert oder unterstehen hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht dieser Gebietskörperschaften oder Einrichtungen, oder sie haben ein Verwaltungs-, Leitungs- beziehungsweise Aufsichtsorgan, das mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts ernannt worden sind“(130).
95. Diese kumulativen Bedingungen(131) betreffen nicht nur den Rechtsstatus (Rechtspersönlichkeit) der Einrichtung und ihre organisationsrechtliche Beziehung zum Staat (durch Finanzierung oder Kontrolle), sondern auch die öffentliche Aufgabe des öffentlichen Auftraggebers (Erfüllung der im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben nicht gewerblicher Art).
96. Auf den ersten Blick mag diese Definition enger als die klassische Formulierung der Merkmale im Urteil Foster erscheinen. In seiner Spruchpraxis hat der Gerichtshof sie jedoch weit, flexibel und nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ausgelegt.
97. So hat der Gerichtshof im Urteil University of Cambridge entschieden, dass „[d]ie Finanzierungsweise einer Einrichtung … zwar auf eine enge Verbindung dieser Einrichtung mit einem öffentlichen Auftraggeber hindeuten [mag], doch ist dieses Merkmal nicht schlechthin ausschlaggebend. Nicht alle Zahlungen eines öffentlichen Auftraggebers begründen oder festigen eine besondere Unterordnung oder Verbindung. Nur die Leistungen, die als Finanzhilfe ohne spezifische Gegenleistung die Tätigkeiten der betreffenden Einrichtung finanzieren oder unterstützen, können als ‚öffentliche Finanzierung‘ eingestuft werden“(132). Somit sei der Ausdruck „‚von [einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern] finanziert‘ in Artikel 1 Buchstabe b Unterabsatz 2 dritter Gedankenstrich der Richtlinien 92/50, 93/36 und 93/37 dahin auszulegen …, dass er Fördermittel oder Zuwendungen, die ein oder mehrere öffentliche Auftraggeber zur Unterstützung der Forschung gewähren, und Hörgelder, die örtliche Erziehungsbehörden den Universitäten im Hinblick auf die Ausbildung namentlich benannter Studenten gewähren, umfasst. Dagegen stellen Zahlungen, die im Rahmen eines Vertrages über Dienstleistungen einschließlich Forschungsarbeiten oder als Gegenleistung für andere Dienstleistungen wie Gutachten oder die Veranstaltung von Tagungen von einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern getätigt werden, keine öffentliche Finanzierung im Sinne der genannten Richtlinien dar“(133).
98. Im Urteil Mannesmann Anlagenbau Austria u. a. hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Einrichtung wie die Österreichische Staatsdruckerei, deren Tätigkeit im Rotations-Heatset-Druck besteht, die aufgrund eines Gesetzes errichtet wurde und die Tätigkeiten ausübt, die von Allgemeininteresse sind, aber auch gewerblichen Charakter haben, als eine Einrichtung des öffentlichen Rechts und somit als öffentlicher Auftraggeber gilt, so dass die von dieser Einrichtung vergebenen Bauaufträge unabhängig von ihrem Wesen als öffentliche Bauaufträge anzusehen sind(134). Im Wesentlichen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Einrichtung, sobald sie einen Teil ihrer Aufgabe im Allgemeininteresse erfüllt, bei allen ihren Ausschreibungsverfahren in den Geltungsbereich der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe fällt.
99. Im Urteil Adolf Truley hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Wendung „im Allgemeininteresse liegende Aufgabe“ in der gesamten Union autonom und einheitlich unter Berücksichtigung des Kontexts der Richtlinie auszulegen sei(135). Er hat seinen Standpunkt im Urteil Kommission/Spanien weiter präzisiert und ausgeführt, dass „das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe nicht gewerblicher Art unter Berücksichtigung aller erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände, u. a. der Umstände, die zur Gründung der betreffenden Einrichtung geführt haben, und der Voraussetzungen, unter denen sie ihre Tätigkeit ausübt, zu würdigen ist, wobei insbesondere das Fehlen von Wettbewerb auf dem Markt, das Fehlen einer grundsätzlichen Gewinnerzielungsabsicht, das Fehlen der Übernahme der mit der Tätigkeit verbundenen Risiken und die etwaige Finanzierung der Tätigkeit aus öffentlichen Mitteln zu berücksichtigen sind“(136).
100. Im Allgemeinen handelt es sich bei im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben, deren Bestimmung für die Entscheidung maßgeblich ist, ob eine Einrichtung eine öffentliche Aufgabe erfüllt, um Aufgaben, „die zum einen auf andere Art als durch das Anbieten von Waren oder Dienstleistungen auf dem Markt erfüllt werden und die der Staat zum anderen aus Gründen des Allgemeininteresses selbst erfüllen oder bei denen er einen entscheidenden Einfluss behalten möchte“(137).
101. Ich unterbreche kurz für eine Zwischenbilanz und um einige Fragen anzusprechen: Sollten alle Einrichtungen oder Unternehmen, die mit einer öffentlichen Aufgabe, die der ersten im Urteil Altmark genannten Bedingung entspricht, oder mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, als dem Staat zuzurechnende Einrichtungen angesehen werden? Falls das eine oder das andere zu bejahen ist (und wohl auch unabhängig davon, ob dies ein hinreichendes oder nur notwendiges Erfordernis zur Erfüllung der Definitionsmerkmale ist), sollte dann als weitere Bedingung hinzutreten, dass diese öffentliche Aufgabe als solche im legislativen oder regulativen Rahmen klar festgelegt ist? Eine solche zusätzliche Bedingung könnte zur Erhöhung der Rechtssicherheit beitragen, und zwar sowohl für die betreffenden Einrichtungen bzw. das betreffende Unternehmen als auch für die Einzelpersonen, die sich auf den Grundsatz der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien berufen wollen. Sollte außerdem eine Einrichtung, sobald sie eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung in Bezug auf einige der von ihr ausgeübten Tätigkeiten ist, dem Staat bezüglich aller ihrer Tätigkeiten zugerechnet werden, oder wird damit der Anwendungsbereich übermäßig ausgedehnt?
102. Zwei Fallkonstellationen mögen an dieser Stelle die praktischen Probleme verdeutlichen, die entstehen, wenn man die Kriterien aus dem Urteil Foster in ihrer gegenwärtigen Form anwendet.
103. In meinem ersten Beispiel ist X ein Unternehmen, das Sicherheitsdienstleistungen erbringt. Es hat zwei Verträge geschlossen. Einen mit einer großen privaten Anwaltskanzlei, die sicherstellen möchte, dass in ihren Büroräumlichkeiten geeignete Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Der andere Vertrag wurde mit der Staatsregierung geschlossen, die bestimmte Wachpflichten in einer Haftanstalt mit mittlerer Sicherheitsstufe „ausgelagert“ hat. Objektiv betrachtet sind die tatsächlich erbrachten Dienstleistungen in beiden Fällen nahezu identisch. Beim ersten Vertrag handelt es sich um einen normalen privatrechtlichen Vertrag zwischen zwei Privatparteien. Beim zweiten Vertrag hat X eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen, die ihr der Staat übertragen hat. X übt im Wege der Delegation die eigenen hoheitlichen Befugnisse des Staates aus und ist im Übrigen mit besonderen Rechten ausgestattet (insbesondere mit dem Recht des Freiheitsentzugs).
104. In meinem zweiten Beispiel ist Y ein Unternehmen, das Fährverkehrsleistungen erbringt. Es verkehrt auf zwei Strecken. Eine Strecke ist populär mit vielen potenziellen Kunden sowohl für den Fracht- als auch für den Passagierbetrieb. Zwei weitere Unternehmen stehen auf dieser Route im Wettbewerb mit Y, aber es gibt immer noch lukrative Möglichkeiten, so dass Y sich je nach der Nachfragesituation aussuchen kann, wie intensiv sie die Fährverkehrsdienstleistungen erbringen will. Der Betrieb der Strecke stellt ein solides kommerzielles Geschäft dar. Die andere Route verläuft zwischen dem Festland und einer kleinen abgelegenen Insel. Der Fährdienst ist die Lebensader, die die Insel mit der übrigen Welt verbindet. Der Dienst wurde früher unter direkter kommunaler Kontrolle betrieben, jedoch hat die Kommune nunmehr den Vertrag öffentlich ausgeschrieben, um einen (einzigen) Dienstleister zu beauftragen. Der Betrieb dieser Strecke ist das genaue Gegenteil eines soliden kommerziellen Geschäfts. Der öffentliche Auftraggeber hat vorgegeben, dass der Fährbetrieb das ganze Jahr hindurch bei jeder Wetterlage und unabhängig vom Passagier- oder Frachtaufkommen auf einzelnen Schiffen und einzelnen Überfahrten aufrechterhalten wird. Y bewirbt sich um den Auftrag und erhält den Zuschlag. Beim Betrieb der ersten Strecke handelt Y als normales gewerbliches Unternehmen. Beim Betrieb der zweiten Strecke erfüllt Y eine öffentliche Aufgabe. Der Fährverkehr zu der Insel fällt eindeutig in die Kategorie der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Mit den von der Kommune gestalteten Vorgaben ist der Vertrag aus rein gewerblicher Sicht eigentlich nicht sehr attraktiv. Y mag sich zwar um eine Vorzugsbehandlung oder Ausschließlichkeitsklausel bzw. um besondere Rechte irgendwelcher Art bemüht haben, jedoch sind diese Merkmale für die Erbringung der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht unbedingt erforderlich und daher möglicherweise nicht gewährt worden.
105. Anhand dieser beiden Illustrationen lässt sich erkennen, dass je nach den genauen Umständen ein und dieselbe Einrichtung in Bezug auf einige ihrer Tätigkeiten dem Staat zuzurechnen ist, in Bezug auf andere jedoch nicht. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Differenzierung nicht auf der Eigenschaft beruht, in der die Einrichtung handelt. Den Urteilen Marshall und Foster lässt sich entnehmen, dass es auf die Eigenschaft nicht ankommt, und in der Tat handeln bei den zwei Fallkonstellationen, die ich in meinen beiden Beispielen dargestellt habe, X und Y jeweils in derselben Eigenschaft. Der entscheidende Unterschied zwischen den Beispielen besteht vielmehr darin, dass in dem einen Fall die Einrichtung rein gewerblich handelt, während dieselbe Einrichtung in dem anderen Fall mit einer öffentlichen Aufgabe betraut ist. Aus den beiden Darstellungen ist zudem auch ersichtlich, dass X bei der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe über „besondere Rechte“ verfügt, Y hingegen nicht.
106. Vor diesem Hintergrund kehre ich jetzt wieder zu der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts zurück.
107. Erstens meine ich, dass sich das im Kern zugrunde liegende Prinzip klar aus der Rechtsprechung ergibt. Dieses lautet, dass sich ein Einzelner gegenüber dem Staat auf genaue und unbedingte Bestimmungen einer Richtlinie unabhängig davon, in welcher Eigenschaft der Staat handelt, berufen kann, weil nämlich „verhindert werden [muss], dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des [Unions]rechts Nutzen ziehen kann“(138).
108. Zweitens weise ich auf den (vielleicht offensichtlichen) Gesichtspunkt hin, dass die Gewährung von Rechten an die Einzelnen häufig ihren Preis hat. So hat etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Gewährung von Beschäftigungsschutzrechten zur Folge, dass der Arbeitgeber den betroffenen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen hat oder Schadensersatz wegen Verletzung des Arbeitsvertrags leisten muss.
109. Drittens muss die Zurechenbarkeit an den Staat für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung ein autonomer Begriff des Unionsrechts sein. Dieser Begriff ist direkt entscheidend dafür, wer sich auf unmittelbar wirksame Rechte, die von einer Richtlinie gewährt werden, die ein Mitgliedstaat nicht fristgerecht umgesetzt hat, berufen kann und wer nicht. Das grundlegende Erfordernis, dass das Unionsrecht in der gesamten Union einheitlich angewendet werden muss(139), steht der Festlegung einer Definition entgegen, deren Geltungsbereich je nach dem variieren kann, wie in den verschiedenen nationalen Rechtssystemen die Begriffe „öffentliche Dienstleistung“ oder „besondere Rechte“ oder das, was als „Staat“ im Sinne des nationalen Verfassungsrechts einzustufen ist, definiert sind.
110. Viertens muss die unionsrechtliche Definition dessen, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung darstellt, zwangsläufig gerade wegen der Vielfalt der nationalen Begrifflichkeiten und Festlegungen abstrakt formuliert sein.
111. Fünftens hat sich seit dem Erlass des Urteils Foster des Gerichtshofs im Jahr 1990 vieles verändert. Zahlreiche Mitgliedstaaten erbringen vermehrt Aufgaben nicht mehr „intern“. Die Rechtsnatur der Rechtssubjekte, die sie mit diesen Aufgaben betrauen, ist ebenfalls vielgestaltiger geworden. Der Trend zur Privatisierung staatlicher Vermögenswerte und damit einhergehend der Pflichten, die zuvor dem Staat oblagen (wie dies in der Rechtssache Marshall der Fall war), ist noch keineswegs zum Stillstand gekommen, so dass es mittlerweile ebenso häufig vorkommt, dass diese Pflichten im Wege der „Umstellung auf Verträge“ oder der Konzessionserteilung auf sogenannte „öffentlich-private Partnerschaften“ übertragen werden.
112. Vorab wollen wir klarstellen, worauf es für die Zwecke der Definition nicht ankommt.
113. Zunächst ergibt sich aus dem Urteil Foster selbst und aus der nachfolgenden Rechtsprechung (vor allem aus den Urteilen Rieser Internationale Transporte und Sozialhilfeverband Rohrbach), dass die Rechtsform des Beklagten ohne Belang ist(140).
114. Sodann steht ebenfalls fest, dass „der Staat“ nicht zur Ausübung der alltäglichen Aufsicht oder Leitung des Betriebs der betreffenden Einrichtung in der Lage sein muss(141). Insoweit bin ich der Meinung, dass der Verweis in der früheren Formulierung der Kriterien auf Einrichtungen, „die der Aufsicht des Staates unterstehen“, mittlerweile überholt ist.
115. Außerdem ist offenkundig, dass in Fällen, in denen die betreffende Einrichtung doch dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht, diese Einrichtung als dem Staat zuzurechnende Einrichtung zu qualifizieren ist(142). Dies ist meiner Ansicht nach auch vollkommen berechtigt: Der Staat ist dann nämlich verpflichtet, für die Beachtung der Rechte zu zahlen, die durch die Richtlinie gewährt werden, die er in nationales Recht hätte umsetzen müssen.
116. Entsprechend ist jede Untergliederung des „Staatsapparats“ – etwa Gebietskörperschaften und dergleichen – nahezu selbstverständlich dem Staat zuzurechnen. Organisationsrechtlich können diese nämlich schlichtweg als Teil des Staates angesehen werden und sollten daher fraglos als ein solcher behandelt werden(143).
117. Meiner Meinung nach bedarf der Verweis in der früheren Formulierung der Kriterien auf Einrichtungen, „die dem Staat unterstehen“ an dieser Stelle ebenfalls einer näheren Erläuterung. Meiner Ansicht nach ergibt sich aus der nach dem Urteil Foster ergangenen Rechtsprechung, dass die Formulierung dahin zu verstehen ist, dass der Staat die Umstände und Regelungen geschaffen hat, in deren Rahmen die Einrichtungen handeln müssen.
118. Abschließend ist festzuhalten, dass auch die Frage der Finanzierung ohne Bedeutung ist. Eine Finanzierung durch den Staat ist nicht Voraussetzung dafür, um ihm zugerechnet werden zu können(144).
119. Die übrigen Kernmerkmale des Komplexes, die in ihrer Gesamtheit die Kriterien für die Entscheidung darstellen, ob eine konkrete Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dem Staat zuzurechnen ist oder nicht, beinhalten einen funktionalen Lösungsansatz („Übt die betreffende Einrichtung Funktionen aus, die in gewisser Weise ‚staatsähnlich‘ sind?“)(145). Meiner Ansicht nach erfordern diese Merkmale – zumindest was die im Urteil Foster und in der nachfolgenden Rechtsprechung formulierten Kriterien angeht –, i) dass der Staat die betreffende Einrichtung mit der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe betraut hat, die er auch selbst unmittelbar wahrnehmen könnte, und ii) dass der Staat die Einrichtung mit zusätzlichen Rechten irgendwelcher Art ausgestattet hat, die der Einrichtung die effektive Erfüllung ihrer Aufgabe ermöglichen sollen (dies ist lediglich eine andere Formulierung für „[besondere Rechte], die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“). Das erste Merkmal erfasst viele verschiedene Formen öffentlicher Aufgaben, vom Betrieb von Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen über die Unterhaltung von Haftanstalten bis hin zur Gewährleistung wesentlicher Dienste in entlegenen Gegenden des Staatsgebiets. Das zweite Merkmal ergibt sich häufig als zwangsläufige Folge der Beauftragung einer solchen Einrichtung mit einer öffentlichen Aufgabe.
120. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass das nationale Gericht zur Bestimmung, ob ein bestimmter Beklagter für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dem Staat zuzurechnen ist, folgende Kriterien zu beachten hat:
1. Die Rechtsform der betreffenden Einrichtung ist ohne Belang.
2. Es ist nicht erforderlich, dass der Staat zur Ausübung der alltäglichen Betriebsaufsicht über die betreffende Einrichtung oder zur Leitung des Betriebs der Einrichtung in der Lage ist.
3. Untersteht die betreffende Einrichtung dem Staat oder dessen Aufsicht, muss diese Einrichtung als dem Staat zurechenbar angesehen werden, ohne dass es der Prüfung bedarf, ob andere Kriterien erfüllt sind.
4. Gebietskörperschaften oder vergleichbare Einrichtungen sind automatisch als dem Staat zurechenbar anzusehen.
5. Es ist nicht erforderlich, dass die betreffende Einrichtung vom Staat finanziert wird.
6. Hat der Staat die betreffende Einrichtung sowohl mit der Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung betraut, die er andernfalls möglicherweise unmittelbar selbst erbringen müsste, als auch mit zusätzlichen Rechten irgendwelcher Art ausgestattet, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgabe effektiv zu erfüllen, ist die betreffende Einrichtung in jedem Fall als dem Staat zurechenbar anzusehen.
Bei seiner Prüfung hat das nationale Gericht das zugrunde liegende tragende Prinzip zu beachten, wonach sich ein Einzelner gegenüber dem Staat auf genaue und unbedingte Bestimmungen einer Richtlinie unabhängig davon berufen kann, in welcher Eigenschaft der Staat handelt, weil nämlich verhindert werden muss, dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen ziehen kann.
121. Ich setze mich mit der Frage, ob in Fällen, in denen eine Einrichtung wie oben in Nr. 120 Ziff. 6 beschrieben mit der Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung betraut worden ist, die Verleihung „besonderer Rechte“ durch den Staat unabdingbare Voraussetzung ist, nachstehend in meiner Antwort auf die dritte Frage auseinander.
Dritte Frage
122. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat einer Einrichtung (wie dem MIBI) eine weit gefasste Verantwortlichkeit übertragen hat, um vorgeblich unionsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen, genügt, um die Einrichtung als dem Staat zurechenbar für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung einstufen zu können, oder ob es außerdem erforderlich ist, dass die Einrichtung i) mit besonderen Rechten ausgestattet ist oder ii) unter direkter Leitung oder Aufsicht des Mitgliedstaats tätig ist, bevor ein Einzelner dieser Einrichtung eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung entgegenhalten kann?
123. Vorab weise ich darauf hin, dass Richtlinien in unterschiedlichster Form und in unterschiedlichstem Umfang erlassen werden. Einige, wie etwa verschiedene Richtlinien über Beschäftigungsverhältnisse, begründen – vorbehaltlich spezifischer Ausnahmen in begrenzten Fällen – Rechte und Pflichten generell für alle Arbeitnehmer und alle Arbeitgeber(146). Andere legen Rahmenbedingungen fest, innerhalb deren bestimmte aus dem Unionsrecht hergeleitete Rechte auszuüben sind(147) oder geben vor, wie bestimmte Wirtschaftssektoren zu regeln sind(148). Wieder andere verpflichten die Mitgliedstaaten, einer spezifischen Stelle bestimmte Aufgaben zu übertragen, die aufgrund der durch die Richtlinie begründeten Rechte und Pflichten erfüllt werden müssen.
124. So verhält es sich hier. Offenkundig ist die Verpflichtung, sicherzustellen, dass Fahrer gegen das Risiko versichert sind, das bei dem von Frau Farrell erlittenen Unfall zutage getreten ist, unmittelbar im Unionsrecht normiert, nämlich in Art. 1 der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie. Zuvor waren die Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 der Zweiten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie verpflichtet, einen Mechanismus zur Regelung des Eventualfalls zu schaffen, dass ein Fahrer, der gegen das von der Versicherungspflicht gedeckte Risiko nicht versichert ist, einen Unfall verursachen könnte. Gemäß diesen beiden Verpflichtungen im Verbund musste Irland gewährleisten, dass die Haftung eines Fahrers gegenüber einer Mitfahrerin in der Lage von Frau Farrell entweder vom eigenen Versicherer des Fahrers oder (falls der Fahrer nicht ermittelt oder nicht versichert ist) von der Stelle übernommen wird, die Irland mit der Regelung solcher Ansprüche beauftragt hat.
125. Als Mitgliedstaat hatte Irland die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten zur Umsetzung der letztgenannten Verpflichtung. So hätte es etwa einem Ressort der Regierung selbst (wie etwa dem Verkehrsministerium) die Verantwortung für die Erfüllung von Ansprüchen der durch nicht versicherte Fahrer Geschädigten übertragen können. Irland hätte eine neue eigenständige öffentlich-rechtliche Stelle schaffen und sie mit dieser Aufgabe betrauen können – oder Irland konnte so verfahren, wie es das tatsächlich letztlich auch getan hat, nämlich einer bestehenden privatrechtlichen Stelle mit artverwandten Aufgaben zusätzlich die neuen aus Art. 1 der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie erwachsenden Verantwortlichkeiten übertragen.
126. Zweitens handelt es sich hier – wie die Kommission zutreffend ausführt – insofern um einen ungewöhnlichen Fall, als Zweck des MIBI u. a. genau die Bearbeitung von Ansprüchen ist, die Personen, die durch nicht versicherte Fahrer geschädigt wurden, geltend machen. In diesem konkreten Kontext stellt sich die Frage, ob das MIBI auch diesen spezifischen Anspruch zu erfüllen hat, obwohl Irland zur maßgeblichen Zeit nicht alle seine unionsrechtlichen Verpflichtungen korrekt in nationales Recht umgesetzt und dem MIBI die Verantwortung für die Übernahme dieser Haftung (noch) nicht übertragen hatte. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von Sachverhalten wie dem dem Urteil Marshall zugrunde liegenden(149), bei dem der Beklagte aus anderen Gründen in einem vollkommen anderen Kontext als dem Staat zurechenbar angesehen wurde und daher verpflichtet war, den unmittelbar anwendbaren Arbeitnehmerrechten, die Frau Marshall aus Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207 herleiten konnte, Wirkung zu verleihen. Vorliegend gehörte das unmittelbar wirksame Recht, das Frau Farrell nach Art. 1 der Dritten Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie geltend machen möchte (Schadensersatz für Verletzungen, die sie als Fahrzeuginsassin in einem Kraftfahrzeug erlitt), gerade zu der Art von Rechten, für deren Bearbeitung Irland bereits eine Auffanghaftpflicht des MIBI für Fälle vorgesehen hatte, in denen der Fahrer nicht ermittelt oder nicht versichert ist.
127. Dennoch ist die dritte Frage für die Anwendung des Unionsrechts innerhalb der gesamten Union von genereller Bedeutung. Ich möchte daher dem Gerichtshof (Große Kammer) dringend empfehlen, sie nicht in einem engen Sinne zu beantworten (indem er z. B. darauf abstellt, dass alle in Irland tätigen Kfz-Versicherungsunternehmen Mitglieder des MIBI sein müssen, was als eine Variante des Themas „besondere Rechte“ verstanden werden könnte(150)), sondern sich vielmehr mit der (wesentlichen) Grundsatzfrage des vorlegenden Gerichts auseinanderzusetzen.
128. Wie in meiner Antwort auf die zweite Frage dargelegt, genügt die Ausstattung mit besonderen Rechten oder der Umstand, dass die Einrichtung unmittelbar dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht, um die betreffende Einrichtung dem Staat zuzurechnen. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eines dieser Merkmale ein notwendiger Faktor der zugrunde liegenden Gleichung ist. Oder genügt es, dass die Verpflichtung zur Erfüllung von Aufgaben, die andernfalls der Mitgliedstaat selbst durchführen müsste, der betreffenden Einrichtung übertragen wurde?
129. In diesem Zusammenhang gewinnt vor allem der Begriff „besondere Rechte“ Bedeutung. Um die Funktion dieses Begriffs zu verstehen, ist es sachdienlich, sich noch einmal dem Urteil Foster zuzuwenden.
130. Wie ich oben in Nr. 52 ausgeführt habe, wollte der Gerichtshof keineswegs eine erschöpfende und endgültige Liste von Kriterien festlegen. Er fasste vielmehr die bisherige Rechtsprechung in einer Formel zusammen.
131. So hat der Gerichtshof in Rn. 18 des Urteils Foster darauf hingewiesen, er habe in einer Reihe von Rechtssachen anerkannt, dass eine vertikale unmittelbare Wirkung zum Tragen kommen könne, wenn Organisationen oder Einrichtungen „dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind“(151). In Rn. 19 hat er vier Rechtssachen angeführt. Bei drei dieser Rechtssachen ging es um Einrichtungen (Finanzbehörden, Gebietskörperschaften und eine öffentlich-rechtliche Krankenanstalt), die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstanden und somit die Kriterien erfüllten. Die ersten beiden hätten die Kriterien vielleicht auch aufgrund der Rechte erfüllt, die ihnen offensichtlich zustanden, für die öffentlich-rechtliche Krankenanstalt gilt dies hingegen nicht. Die vierte Rechtssache (Johnston) betraf einen verfassungsmäßig unabhängigen Hoheitsträger, der mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betraut ist. Zu diesem Zweck war er übrigens mit besonderen Rechten ausgestattet worden.
132. Meines Erachtens hat sich der Gerichtshof mit dem Verweis auf die Rechtssache Johnston einen Sachverhalt ausgesucht, bei dem die Kriterien erfüllt sind, die der Gerichtshof soeben dargelegt hatte, und zwar nicht (wie bei den anderen Beispielsfällen) deshalb, weil die betreffende Einrichtung „dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht, sondern weil sie mit „besonderen Rechten“ ausgestattet ist. Dadurch hat der Gerichtshof ein wesentliches Merkmal jener Rechtssache hervorgehoben.
133. In diesem Kontext ist es interessant, dass im Urteil Johnston der Ausdruck „besondere Rechte“ tatsächlich gar nicht verwendet wird. Vielmehr wählt der Gerichtshof dort die Bezeichnung „Hoheitsträger, der vom Staat mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betraut ist“(152). Der Gerichtshof fügt hinzu, dass ein solcher Hoheitsträger „aus der Missachtung des [Unions]rechts durch den Staat, von dem er seine Stellung herleitet, keinen Nutzen ziehen [kann]“.
134. An dieser Stelle sind einige weitere Punkte zu beachten.
135. Erstens ist im Urteil Foster (und übrigens auch in der nachfolgenden Rechtsprechung) nicht festgelegt, was der Ausdruck „besondere Rechte“ eigentlich bedeutet. Es heißt lediglich, dass solche Rechte „über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“. Da die im Urteil Foster aufgestellten Kriterien innerhalb der gesamten Union einheitlich anzuwenden sind, muss der Begriff – wenn das Merkmal weiterhin zu den Kriterien gehören soll – eine autonome Bedeutung im Unionsrecht haben. Dennoch hat 20 Jahre nach dem Erlass des Urteils Foster ein Begriff, der einem einzigen nationalen Rechtssystem entliehen ist(153), immer noch keine klare, unionsrechtlich autonome Bedeutung erlangt.
136. Zweitens lässt meine Untersuchung der nach dem Urteil Foster ergangenen Rechtsprechung(154) keine durchgängig angewendete Methode für die Prüfung und Ermittlung der besonderen Rechte im Einzelfall erkennen. Einrichtungen, die für den Straßenbau oder die Energieversorgung verantwortlich sind(155), der alleinige Konzessionsinhaber für die Erbringung öffentlicher Telekommunikationsdienstleistungen(156), das Privatunternehmen, das ein nationales Mautsystem für Autobahnen betreibt(157), Sozialhilfeverbände(158), eine öffentlich-rechtliche Krankenanstalt(159), eine auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit tätige Einrichtung(160) und der Postdienst eines Mitgliedstaats(161) hatten allesamt öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Den Sachverhaltsangaben in den Urteilen lässt sich wesentlich weniger eindeutig entnehmen, dass die Einrichtungen unbedingt auch mit besonderen Rechten ausgestattet waren. Im Urteil Portgás(162) hat der Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass die Ausstattung einer Einrichtung mit besonderen und ausschließlichen Befugnissen gemäß einem Konzessionsvertrag nicht bedeutet, dass die Einrichtung unbedingt über besondere Rechte verfügt, und hat diese konkrete Frage an das nationale Gericht zur näheren Prüfung verwiesen(163).
137. Drittens mögen zwar zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe häufig zusätzliche Befugnisse irgendwelcher Art notwendig sein, es steht jedoch nicht fest, dass sie in allen Fällen erforderlich sind. Am deutlichsten wird das Vorhandensein solcher Befugnisse vielleicht bei Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. In vielen Wirtschaftssektoren (wie z. B. in den Bereichen der Telekommunikations-, Wasser-, Gas- und Stromversorgung) kann der Staat heutzutage besondere oder ausschließliche Rechte gewähren(164).
138. Ich gelange zu dem Ergebnis, dass das Erfordernis, dass die betreffende Einrichtung auch mit „besonderen Rechten“ ausgestattet ist, um dem Staat zugerechnet zu werden, nicht erforderlich und daher ungerechtfertigt ist.
139. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass nicht jede Person oder Einrichtung, die Tätigkeiten im Allgemeininteresse ausübt, dem Staat zuzurechnen ist. Ich möchte hierzu Folgendes anmerken.
140. Erstens muss es sich um eine „Einrichtung“ handeln, worunter ich eine juristische Person verstehe. Eine natürliche Person kann niemals dem Staat zuzurechnen sein.
141. Zweitens ist in Fällen, in denen eine Einrichtung mehrere Funktionen erfüllt, von denen einige eine Aufgabe betreffen, die der Staat der Einrichtung übertragen hat, andere hingegen nicht, kann die Einrichtung nur im Hinblick auf die erstgenannte Kategorie von Funktionen dem Staat zuzurechnen sein. Insoweit befürworte ich also einen abweichenden Ansatz von dem, den der Gerichtshof in Rechtssachen betreffend die öffentliche Auftragsvergabe verfolgt hat(165). Während eine Einrichtung, die ein „öffentlicher Auftraggeber“ im Sinne der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe ist, infolgedessen stets jenen konkreten Bereich des Unionsrechts zu beachten und einzuhalten hat(166), gibt es bei einer Einrichtung, die für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dem Staat zuzurechnen ist, potenziell viel mehr und weniger klar umrissene unionsrechtliche Vorschriften, die ihr von einer Privatperson entgegengehalten werden können. Daher erscheint es unangebracht, in solchen Fällen nach dem Motto „einmal erfasst, immer erfasst“ zu verfahren.
142. Drittens muss die anvertraute Aufgabe die Kerntätigkeit der betreffenden Einrichtung oder gegebenenfalls ihrer betreffenden Untergliederung darstellen.
143. Viertens muss die betreffende Einrichtung eine Tätigkeit ausüben, die im Allgemeininteresse liegt. Es muss sich um eine Aufgabe handeln, die ihr vom betreffenden Mitgliedstaat anvertraut worden ist und die, wenn sie nicht von der Einrichtung erfüllt würde, stattdessen vom Staat selbst wahrgenommen würde.
144. Dabei umfasst der Begriff „Aufgabe“ Tätigkeiten, die aus anderen als rein gewerblichen Gründen ausgeübt werden. Mit anderen Worten, es muss in irgendeiner Form eine Dienstleistung im Allgemeininteresse vorliegen. So fällt etwa ein nationaler Postdienst mit der Verpflichtung, Post landesweit an jede Anschrift zuzustellen, in diese Kategorie, die Bereitstellung eines örtlichen Zustelldienstes, der ausschließlich in Gewinnerzielungsabsicht durchgeführt wird, hingegen nicht.
145. Ich möchte hinzufügen, dass die Auffassung darüber, was eine im Allgemeininteresse erfüllte Aufgabe darstellt, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variieren kann(167). So mag z. B. ein Mitgliedstaat es für seine Pflicht erachten, dafür zu sorgen, dass alle seine Bürger an ein Glasfaserbreitbandnetz angeschlossen sind, während ein anderer Mitgliedstaat entscheiden mag, dass dies allein eine Sache der Marktkräfte ist. Im erstgenannten Fall dürfte eine mit dieser Aufgabe betraute Einrichtung dem Staat zuzurechnen sein. Im letztgenannten Fall wird dies auf ein Unternehmen des Privatsektors, das dieselbe Versorgungsleistung erbringt, nicht zutreffen.
146. Meiner Meinung nach muss aus Gründen der Rechtssicherheit sowohl für die betreffenden Einrichtungen als auch für die Einzelnen, die eine Klage gegen diese erheben wollen, die öffentliche Ausgabe als solche durch die einschlägigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften klar definiert sein.
147. Dementsprechend schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte Frage dahin zu beantworten, dass die in der Antwort auf die zweite Frage dargelegten Kriterien auch dann Anwendung finden, wenn ein Mitgliedstaat einer Einrichtung eine weit gefasste Verantwortlichkeit übertragen hat, um vorgeblich unionsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen. Es ist nicht erforderlich, dass eine solche Einrichtung mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.
Nachtrag
148. Die Erarbeitung der vorliegenden Schlussanträge und des Vorschlags einer Antwort auf die drei Vorlagefragen erfolgte zwangsläufig vor dem Hintergrund der (verzwickten) Frage, ob der Gerichtshof im Urteil Faccini Dori(168) zu Recht eine horizontale unmittelbare Wirkung verneint hat(169), und zwar entgegen der von Generalanwalt Lenz in jener Rechtssache(170) ausgesprochenen Empfehlung und entgegen der Argumentation von zwei anderen Generalanwälten in vorausgegangenen Rechtssachen(171). Ich bin von der Arbeitshypothese ausgegangen, dass der Gerichtshof den vorliegenden Fall nicht als geeigneten Anlass zur Eröffnung einer erneuten Diskussion ansehen wird.
149. Meines Erachtens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, da die Rechtsform des Beklagten unerheblich ist – und zwar seit dem Urteil Foster selbst –, für die Frage, ob der Beklagte dem Staat zuzurechnen ist, der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass eine Einrichtung des Privatrechts verpflichtet sein kann, im Fall einer Klage einer anderen Privatperson den in einer Richtlinie vorgesehenen unmittelbar wirksamen Rechten Wirkung zu verschaffen. Damit hat der Gerichtshof in Wirklichkeit selbst bereits eine begrenzte Form von horizontaler unmittelbarer Wirkung gutgeheißen.
150. Im Wesentlichen gibt es drei Ansätze, die zur Beseitigung der durch das Fehlen einer allgemeinen horizontalen unmittelbaren Wirkung entstandenen Regelungslücke verfolgt werden können (und wurden): i) ein weiter Ansatz bei der Festlegung dessen, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung darstellt, ii) ein Ansatz, bei dem der Grundsatz der „interprétation conforme“ bis an die Grenzen ausgereizt wird, und iii) als Auffanglösung eine staatliche Schadensersatzpflicht. Unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes des Einzelnen ist die gegenwärtige Rechtslage alles andere als befriedigend. Sie schafft eine komplexe Situation für Kläger und Unsicherheit für Beklagte. Ich möchte mich früheren Generalanwälten anschließen und den Gerichtshof ersuchen, sich erneut mit den im Urteil Faccini Dori(172) angeführten Gründen für die Ablehnung einer horizontalen unmittelbaren Wirkung auseinanderzusetzen und diese kritisch zu überprüfen(173).
Ergebnis
151. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Supreme Court of Ireland (Oberster Gerichtshof, Irland) aufgeworfenen Fragen wie folgt zu beantworten:
1. Die Kriterien im Urteil Foster u. a.(174) zur Beurteilung der Frage, was eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist, sind nicht in Rn. 20, sondern in Rn. 18 des genannten Urteils zu finden. Die dort aufgestellten Kriterien sind weder kumulativ noch alternativ zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine nicht erschöpfende Aufzählung der Merkmale, die für diese Beurteilung von Bedeutung sein können.
2. Zur Bestimmung, ob ein bestimmter Beklagter für die Zwecke der vertikalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dem Staat zuzurechnen ist, hat das nationale Gericht folgende Kriterien zu beachten:
i) Die Rechtsform der betreffenden Einrichtung ist ohne Belang.
ii) Es ist nicht erforderlich, dass der Staat zur Ausübung der alltäglichen Betriebsaufsicht über die betreffende Einrichtung oder zur Leitung des Betriebs der Einrichtung in der Lage ist.
iii) Untersteht die betreffende Einrichtung dem Staat oder dessen Aufsicht, muss diese Einrichtung als dem Staat zurechenbar angesehen werden, ohne dass es der Prüfung bedarf, ob andere Kriterien erfüllt sind.
iv) Gebietskörperschaften oder vergleichbare Einrichtungen sind automatisch als dem Staat zurechenbar anzusehen.
v) Es ist nicht erforderlich, dass die betreffende Einrichtung vom Staat finanziert wird.
vi) Hat der Staat die betreffende Einrichtung sowohl mit der Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung betraut, die er andernfalls möglicherweise unmittelbar selbst erbringen müsste, als auch mit zusätzlichen Rechten irgendwelcher Art ausgestattet, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgabe effektiv zu erfüllen, ist die betreffende Einrichtung in jedem Fall als dem Staat zurechenbar anzusehen.
Bei seiner Prüfung hat das nationale Gericht das zugrunde liegende tragende Prinzip zu beachten, wonach sich ein Einzelner gegenüber dem Staat auf genaue und von keiner Bedingung abhängige Bestimmungen einer Richtlinie unabhängig davon berufen kann, in welcher Eigenschaft der Staat handelt, weil verhindert werden muss, dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen zieht.
3. Die in der Antwort auf die zweite Frage dargelegten Kriterien finden auch dann Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat einer Einrichtung eine weit gefasste Verantwortlichkeit übertragen hat, um vorgeblich unionsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen. Es ist nicht erforderlich, dass eine solche Einrichtung mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den allgemeinen Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.