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Rechtssache C128/22

Nordic Info BV

gegen

Belgische Staat

(Vorabentscheidungsersuchen der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel, Belgien)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. Dezember 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 und 29 – Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Maßnahmen mit allgemeiner Geltung – Nationale Regelung, die zum einen ein Verbot der Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet für nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten vorsieht, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen die Verpflichtung für alle aus einem dieser Mitgliedstaaten in das nationale Hoheitsgebiet einreisenden Personen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – Schengener Grenzkodex – Art. 23 – Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit – Gleichstellung mit der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen – Art. 25 – Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie – Kontrollen, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen von Maßnahmen zum Verbot des Überschreitens der Grenzen zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Staaten des Schengen-Raums durchgeführt werden, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind“

1.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Begriff der Krankheit mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der WHO und sonstiger übertragbarer, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachter Krankheiten – Covid19 – Einbeziehung – Voraussetzungen – Krankheit, die Gegenstand einer Reihe von Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats ist – Zu nichtwirtschaftlichen Zwecken erlassene Maßnahmen – Überprüfung durch das vorlegende Gericht

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1)

(vgl. Rn. 52-54)

2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Geltungsbereich – Einbeziehung von Maßnahmen, mit denen auch das Recht auf Ausreise beschränkt wird – Begriff der Beschränkungen der Freizügigkeit – Verbot des Überschreitens der Grenzen – Verpflichtung für Reisende, die in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – Einbeziehung

(Art. 20 und 21 AEUV; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4, Art. 5, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1)

(vgl. Rn. 55, 56, 58, 59)

3.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Recht auf Ausreise und Einreise – Geltungsbereich – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und das Hoheitsgebiet dieses Staates verlassen möchte, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einreisen möchte – Einbeziehung

(Art. 20 und 21 AEUV; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1)

(vgl. Rn. 60)

4.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Bekämpfung der Covid19-Pandemie – Beschränkende Maßnahmen gegen Unionsbürger, die aus nicht wesentlichen Gründen von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, der als Hochrisikogebiet eingestuft worden ist, reisen oder aus einem solchen Mitgliedstaat kommen – Nationale Regelung mit allgemeiner Geltung, die solche Maßnahmen vorschreibt – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Beachtung der in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, der in der Charta der Grundrechte verankerten Rechte und Grundsätze sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 bis 32)

(vgl. Rn. 62, 69-76, 98, Tenor 1)

5.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Bedeutung – Maßnahmen, die geeignet sind, dem Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit zu entsprechen, auf das absolut Erforderliche beschränkt sind und nicht außer Verhältnis zu diesem Ziel stehen – Überprüfung durch das vorlegende Gericht

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 31 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 77, 81-84, 87, 90-97)

6.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen – Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen – Bekämpfung der Covid19-Pandemie – Nationale Regelung, die das Überschreiten der Binnengrenzen zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Staaten des Schengen-Raums, die als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, verbietet – Kontrollen zur Gewährleistung der Einhaltung dieser Regelung innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets – Erforderlichkeit der Durchführung dieser Kontrollen im Rahmen der Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf – Kontrollen zur Gewährleistung der Einhaltung dieser Regelung an den Binnengrenzen – Erforderlichkeit der Erfüllung der in den Art. 25 bis 28 des genannten Kodex angeführten Voraussetzungen

(Verordnung 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 22, 23 und 25)

(vgl. Rn. 104, 105, 109, 123, 128, 129, Tenor 2)

7.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen – Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen – Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets – Kontrollmaßnahmen im Rahmen der Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf – Beurteilung durch das nationale Gericht im Hinblick auf die in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i bis iv des genannten Kodex vorgesehenen Anhaltspunkte

(Verordnung 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 23 Buchst. a)

(vgl. Rn. 111-113, 117-122)

8.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen – Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit – Geltungsbereich – Begriff der ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit – Gesundheitsgefahr durch die Covid19-Pandemie – Einbeziehung

(Verordnung 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 25)

(vgl. Rn. 125-127)

Zusammenfassung

Im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie wurden durch einen belgischen Ministeriellen Erlass im Juli 2020 nicht wesentliche Reisen zwischen Belgien und den Ländern der Europäischen Union, des Schengen-Raums und dem Vereinigten Königreich untersagt, sofern diese Länder in Anbetracht ihrer epidemiologischen Lage oder des Umfangs der von ihren Behörden ergriffenen restriktiven Gesundheitsmaßnahmen in Hochrisikogebiete („rote Zonen“) eingestuft worden waren. Die belgische Regelung sah außerdem für jeden Reisenden, der aus einem dieser Länder in das nationale Hoheitsgebiet einreiste, die Verpflichtung vor, sich einem Screeningtest zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten.

Während dieses Zeitraums führten die belgischen Behörden Kontrollen durch, um die Einhaltung dieser Maßnahmen zu überprüfen.

Vom 12. bis 15. Juli 2020 gehörte Schweden zu den als Hochrisikogebiete eingestuften Ländern. Die Nordic Info BV, eine auf Reisen nach und von Skandinavien spezialisierte Agentur, stornierte alle für die Sommersaison von Belgien nach Schweden geplanten Reisen, um den belgischen Bestimmungen nachzukommen.

Die genannte Reiseagentur erhob sodann bei der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr aufgrund der Fehler entstanden sei, die der belgische Staat bei der Ausarbeitung der in Rede stehenden Regelung begangen habe.

Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof zum einen wissen, ob eine solche allgemeine Regelung eines Mitgliedstaats mit den Bestimmungen der Richtlinie 2004/38(1) vereinbar ist, die die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen regeln, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen werden(2). Zum anderen möchte es vom Gerichtshof wissen, ob das Verbot des Überschreitens der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Länder des Schengen-Raums, die als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex(3) über das Nichtvorhandensein von Kontrollen an den Binnengrenzen, ihre mögliche vorübergehende Wiedereinführung und die Ausübung der polizeilichen Befugnisse(4) vereinbar ist.

Mit seinem Urteil bejaht der Gerichtshof diese beiden Fragen und erläutert die Voraussetzungen, denen eine solche nationale Regelung entsprechen muss.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Rechtmäßigkeit – im Hinblick auf die Richtlinie 2004/38 – der von einem Mitgliedstaat im Zusammenhang mit einer Pandemie wie der Covid‑19-Pandemie erlassenen Maßnahmen, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird, führt der Gerichtshof aus, dass die nationale Regelung, die diese Maßnahmen vorsieht, alle in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere das Diskriminierungsverbot, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss.

Insoweit stellt der Gerichtshof erstens klar, dass in Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, auch wenn diese Bestimmungen zu einem Kapitel der Richtlinie 2004/38 mit der Überschrift „Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ gehören, ausdrücklich die „Freizügigkeit“ genannt ist, so dass diese Bestimmungen beide Komponenten dieser Freiheit, nämlich das Recht auf Einreise und das Recht auf Ausreise, abdecken und es den Mitgliedstaaten somit erlauben, Maßnahmen zu erlassen, mit denen beide Rechte aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkt werden. Die die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen, die ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach diesen Bestimmungen erlassen kann, können daher nicht nur in einem Verbot bestehen, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, um, wie im vorliegenden Fall, nicht wesentliche Reisen zu unternehmen, sondern auch in einer Verpflichtung für Reisende, die in dieses Hoheitsgebiet einreisen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten.

Zweitens steht keine dieser beiden Bestimmungen dem entgegen, dass solche beschränkenden Maßnahmen in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen werden, der unterschiedslos jede Person betrifft, die sich in einer von diesem Rechtsakt erfassten Situation befindet. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die Krankheiten, die solche Maßnahmen rechtfertigen können – nämlich übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten wie Covid‑19 –, schon aufgrund ihrer charakteristischen Merkmale ganze Bevölkerungen unabhängig von den Verhaltensweisen der Individuen, aus denen diese sich zusammensetzen, betreffen können.

Drittens betont der Gerichtshof, dass sämtliche in den Art. 30 bis 32 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Bedingungen und Garantien trotz ihrer Formulierung, die auf den ersten Blick auf Einzelfallentscheidungen zugeschnitten ist, auch dann zu beachten sind, wenn die beschränkenden Maßnahmen in Form von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung erlassen werden. Somit ist nach Art. 30 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie jeder Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, mit dem die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen erlassen werden, der Öffentlichkeit im Rahmen einer amtlichen Veröffentlichung des ihn erlassenden Mitgliedstaats und über eine ausreichende amtliche Verlautbarung in den Medien in der Weise mitzuteilen, dass der Inhalt und die Wirkungen dieses Rechtsakts ebenso verstanden werden können wie die genauen Gründe der öffentlichen Gesundheit, auf die dieser Rechtsakt gestützt wird. Zudem muss der Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, damit die in Art. 30 Abs. 3 und Art. 31 der Richtlinie vorgesehenen Garantien eingehalten werden, im Rahmen eines gerichtlichen und gegebenenfalls verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs angefochten werden können, dessen Ausübungsmodalitäten der Öffentlichkeit mitzuteilen sind. Bei solchen restriktiven Maßnahmen muss außerdem das in der Charta verankerte Diskriminierungsverbot beachtet werden.

Viertens und letztens muss nach Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 jede aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassene Maßnahme, die die Freizügigkeit beschränkt, im Hinblick auf das verfolgte Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verhältnismäßig sein, wobei die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme auch unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips zu beurteilen ist. Das Erfordernis des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gebietet konkret die Prüfung, ob solche Maßnahmen erstens zur Erreichung der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, im vorliegenden Fall des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, geeignet sind, zweitens auf das absolut Erforderliche beschränkt sind, was bedeutet, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln, die die den Betroffenen garantierten Rechte und Freiheiten weniger beeinträchtigen, erreicht werden kann, und drittens nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung stehen, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere des Eingriffs in diese Rechte und Freiheiten impliziert.

Was die Kontrollen anbelangt, mit denen die Einhaltung der streitigen Regelung sichergestellt werden soll, so sind solche Kontrollen nach Auffassung des Gerichtshofs innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets nur unter der Voraussetzung möglich, dass es sich dabei um die Ausübung polizeilicher Befugnisse im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelt. In dem Fall, dass diese Kontrollen unmittelbar an den Binnengrenzen erfolgen, ist es erforderlich, dass der Mitgliedstaat alle in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen erfüllt, wobei die von einer Pandemie wie der Covid‑19-Pandemie ausgehende Gefahr einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 dieses Kodex entspricht.

Was zum einen Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten das Recht garantiert, innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets, einschließlich der Grenzgebiete, Kontrollen durchzuführen, die durch die Ausübung polizeilicher Befugnisse gerechtfertigt sind, sofern diese Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie eine Grenzübertrittskontrolle hat, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Zu diesem Zweck liefert Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i bis iv des Schengener Grenzkodex Anhaltspunkte, die es ermöglichen, die Mitgliedstaaten bei der Durchführung solcher polizeilichen Befugnisse zu leiten.

Was erstens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i des Schengener Grenzkodex betrifft, müssen sich insoweit die mit den Kontrollen verfolgten Ziele von denen unterscheiden, die mit Grenzübertrittskontrollen verfolgt werden, d. h. den Zielen, sich zu vergewissern, dass die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus ihm ausreisen dürfen. Nach Auffassung des Gerichtshofs scheint dies hier der Fall zu sein, da der Hauptzweck der Kontrollen zur Gewährleistung der Einhaltung der in Rede stehenden belgischen Regelung darin bestand, dringlich die Ausbreitung von Covid‑19 innerhalb der belgischen Bevölkerung zu begrenzen.

Was zweitens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex betrifft, genügt es, dass diese Kontrollen im Hinblick auf Umstände, die objektiv die Gefahr einer schwerwiegenden und ernsthaften Beeinträchtigung der öffentlichen Gesundheit, die von einem Mitgliedstaat nach dieser Bestimmung geltend gemacht werden kann, begründeten, und auf der Grundlage der allgemeinen Kenntnisse beschlossen und durchgeführt wurden, die die Behörden über die Ein- und Ausreisegebiete des nationalen Hoheitsgebiets hatten, durch die eine große Zahl der Reisenden, die von dem genannten Verbot betroffen waren, wahrscheinlich reisen würden.

Was drittens die Anhaltspunkte in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. iii und iv des Schengener Grenzkodex betrifft, müssen sämtliche im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen zum einen nach dem Zufallsprinzip und somit „auf der Grundlage von Stichproben“ durchgeführt worden sein und zum anderen in einer Weise konzipiert und durchgeführt worden sein, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet. Zum letztgenannten Punkt stellt der Gerichtshof klar, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen einer Pandemie wie der Covid‑19-Pandemie über einen gewissen Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen verfügen.

Zum anderen wird das vorlegende Gericht in dem Fall, dass es sich erweisen sollte, dass die in Rede stehenden Kontrollen an den Binnengrenzen durchgeführt wurden, zu prüfen haben, ob das Königreich Belgien sämtliche in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit beachtet hat. Der Gerichtshof stellt insoweit klar, dass eine Pandemie von einem Ausmaß wie dem der Covid‑19-Pandemie als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 dieses Kodex eingestuft werden kann, da sie ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft berühren kann, nämlich das Interesse, das Leben der Bürger zu sichern, und darüber hinaus sogar das Überleben eines Teils der Bevölkerung, insbesondere der am stärksten gefährdeten Personen, berührt.


1      Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).


2      Es handelt sich insbesondere um die Art. 27 und 29 dieser Richtlinie.


3      Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69) in der durch die Verordnung (EU) 2017/2225 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 (ABl. 2017, L 327, S. 1).


4      Dies bezieht sich konkret auf die Art. 22, 23 und 25 dieses Kodex.