Language of document : ECLI:EU:T:2023:279

URTEIL DES GERICHTS (Zehnte Kammer)

24. Mai 2023(*)

„Staatliche Beihilfen – Italienischer Luftverkehrsmarkt – Regelung über einen Ausgleich für Luftfahrtunternehmen mit von den italienischen Behörden erteilter Betriebsgenehmigung – Beschluss, keine Einwände zu erheben – Beihilfe zur Wiedergutmachung von Schäden, die durch ein außergewöhnliches Ereignis entstanden sind – Begründungspflicht“

In der Rechtssache T‑268/21,

Ryanair DAC mit Sitz in Swords (Irland), vertreten durch Rechtsanwälte E. Vahida und F.‑C. Laprévote, Rechtsanwältin V. Blanc sowie Rechtsanwälte S. Rating, I.‑G. Metaxas-Maranghidis und D. Pérez de Lamo,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch L. Flynn, C. Georgieva und F. Tomat als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Neos SpA mit Sitz in Somma Lombardo (Italien),

Blue panorama airlines SpA mit Sitz in Somma Lombardo,

Air Dolomiti SpA – Linee aeree regionali Europee mit Sitz in Villafranca di Verona (Italien),

vertreten durch Rechtsanwälte M. Merola und A. Cogoni,

Streithelferinnen,

erlässt

DAS GERICHT (Zehnte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov sowie der Richter E. Buttigieg und G. Hesse (Berichterstatter),

Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 24. November 2022

folgendes

Urteil(1)

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Ryanair DAC, die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2020) 9625 final der Europäischen Kommission vom 22. Dezember 2020 über die staatliche Beihilfe SA.59029 (2020/N) – Italien – COVID-19 betreffend eine Regelung über einen Ausgleich für Luftfahrtunternehmen mit von den italienischen Behörden erteilter Betriebsgenehmigung (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Mit dem Decreto-legge n. 34 – Misure urgenti in materia di salute, sostegno al lavoro e all’economia, nonche’ di politiche sociali connesse all’emergenza epidemiologica da COVID‑19 (Gesetzesdekret Nr. 34 über dringliche Maßnahmen im Bereich Gesundheit, Förderung von Wirtschaft und Beschäftigung sowie der Sozialpolitik infolge des epidemiologischen Ausnahmezustands im Zusammenhang mit Covid‑19) vom 19. Mai 2020 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 128 vom 19. Mai 2020, S. 1) in der durch die Legge n. 77 (Gesetz Nr. 77) vom 17. Juli 2020 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 180 vom 18. Juli 2020, S. 1) geänderten und in ein Gesetz umgewandelten Fassung (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 34) richteten die italienischen Behörden u. a. einen mit 130 Mio. Euro ausgestatteten Fonds zum Ausgleich der Schäden ein, die im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie im Luftfahrtsektor entstanden sind.

3        Am 14. August 2020 erließen die italienischen Behörden das Decreto-legge n. 104 – Misure urgenti per il sostegno e il rilancio dell’economia (Gesetzesdekret Nr. 104 über dringliche Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft und Belebung der Konjunktur) (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 203 vom 14. August 2020, S. 1). Dieses Gesetzesdekret ermächtigte den Minister der Italienischen Republik für Infrastruktur und Verkehr, bis zum Abschluss des Verfahrens gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV den Luftfahrtunternehmen, die die in Art. 198 des Gesetzesdekrets Nr. 34 genannten Bewilligungskriterien erfüllten, als Vorschuss und im Rahmen eines 50 Mio. Euro nicht übersteigenden Gesamtbetrags Subventionen zu gewähren, die über den durch das Gesetzesdekret Nr. 34 errichteten Fonds finanziert wurden.

4        Am 15. Oktober 2020 teilte die Italienische Republik der Europäischen Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV eine Beihilfemaßnahme mit. Diese Maßnahme bestand in Subventionen, die über den durch das Gesetzesdekret Nr. 34 errichteten Fonds ausgezahlt werden (im Folgenden: fragliche Maßnahme). Durch diese Maßnahme, deren Rechtsgrundlage Art. 198 des Gesetzesdekrets Nr. 34 ist, sollen die Schäden wiedergutgemacht werden, die den beihilfeberechtigten Luftfahrtunternehmen infolge der Reisebeschränkungen und der sonstigen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie verhängten Lockdown-Beschränkungen entstanden sind.

5        Folgende Bewilligungskriterien sieht Art. 198 des Gesetzesdekrets Nr. 34 vor: Erstens darf das Luftfahrtunternehmen keine Mittel aus einem Fonds erhalten, der durch ein anderes Gesetzesdekret errichtet wurde, das vorsah, Luftfahrtunternehmen mit von den italienischen Behörden erteilter Betriebsgenehmigung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzesdekrets gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen erfüllen, für die ihnen durch die Covid-19-Pandemie entstandenen Schäden einen Ausgleich zu leisten. Zweitens muss das Luftfahrtunternehmen über ein gültiges Luftverkehrsbetreiberzeugnis verfügen und Inhaber einer italienischen Betriebsgenehmigung sein. Drittens müssen die Maschinen des Luftfahrtunternehmens jeweils über mehr als 19 Plätze verfügen. Viertens muss das Luftfahrtunternehmen für seine Beschäftigten mit Heimatbasis in Italien sowie für die Beschäftigten von an seiner Tätigkeit beteiligten Drittunternehmen ein bestimmtes Vergütungsniveau zugrunde legen: Dieses darf nicht unter der Mindestvergütung desjenigen nationalen Tarifvertrags für den Luftverkehrsektor liegen, der zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaftsorganisationen geschlossen worden ist, die auf nationaler Ebene als am repräsentativsten erachtet werden (im Folgenden: Mindestvergütungserfordernis).

6        Am 22. Dezember 2020 entschied die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss, keine Einwände gegen die in Rede stehende Maßnahme zu erheben, da diese sowie die Bewilligungskriterien mit dem Binnenmarkt vereinbar seien.

 Anträge der Parteien

7        Die Klägerin beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission und den Streithelferinnen Neos SpA, Blue panorama airlines SpA und Air Dolomiti SpA– Linee aeree regionali Europee die Kosten aufzuerlegen.

8        Die Kommission beantragt,

–        die Klage als unbegründet abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

9        Die Streithelferinnen beantragen,

–        die Klage als unzulässig und jedenfalls als unbegründet abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

[Nicht wiedergegeben]

 Zum vierten Klagegrund: Begründungsmangel

18      Mit ihrem vierten Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass der angefochtene Beschluss mit mehreren Begründungsmängeln behaftet sei. Insbesondere könne sie dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen, warum die Kommission die Vereinbarkeit des vierten Bewilligungskriteriums der Beihilfe mit dem Unionsrecht, nämlich die Voraussetzung einer Mindestvergütung, nur im Hinblick auf die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, berichtigt in ABl. 2009, L 309, S. 87, im Folgenden: Rom‑I-Verordnung) und nicht auch im Hinblick auf die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und des freien Dienstleistungsverkehrs geprüft habe.

19      Die Kommission, unterstützt durch die Streithelferinnen, tritt diesem Vorbringen entgegen.

20      Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Unionsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 8. September 2011, Kommission/Niederlande, C‑279/08 P, EU:C:2011:551, Rn. 125 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Vor diesem Hintergrund muss der Beschluss, kein förmliches Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV einzuleiten, lediglich die Gründe enthalten, aus denen die Kommission keine ernsten Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Frage der Vereinbarkeit der betreffenden Beihilfe mit dem Binnenmarkt sieht, und selbst eine kurze Begründung dieser Entscheidung ist im Hinblick auf das Begründungserfordernis von Art. 296 AEUV als ausreichend anzusehen, wenn sie klar und eindeutig die Gründe zum Ausdruck bringt, aus denen die Kommission zu der Auffassung gelangt ist, dass keine derartigen Schwierigkeiten vorlägen, da die Frage der Stichhaltigkeit dieser Begründung mit diesem Erfordernis nichts zu tun hat (Urteile vom 27. Oktober 2011, Österreich/Scheucher-Fleisch u. a., C‑47/10 P, EU:C:2011:698, Rn. 111, und vom 12. Mai 2016, Hamr – Sport/Kommission, T‑693/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:292, Rn. 54, vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Régie Networks, C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 65, 70 und 71).

22      Was vorliegend die Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt betrifft, so ergibt sich zunächst aus dem angefochtenen Beschluss, dass die Kommission darin die Urteile vom 22. März 1977, Iannelli & Volpi (74/76, EU:C:1977:51, Rn. 14), und vom 15. Juni 1993, Matra/Kommission (C‑225/91, EU:C:1993:239, Rn. 41), erwähnt hat, wonach die Modalitäten einer Beihilfe, die einen etwaigen Verstoß gegen andere besondere Bestimmungen des AEU-Vertrags als die Art. 107 und 108 AEUV enthielten, möglicherweise derart untrennbar mit dem Zweck der Beihilfe verknüpft seien, dass sie nicht für sich allein beurteilt werden könnten und ihre Auswirkungen auf die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Beihilfe insgesamt zwangsläufig nach dem in Art. 108 AEUV vorgesehenen Verfahren beurteilt werden müssten (Rn. 92 des angefochtenen Beschlusses). Der angefochtene Beschluss stellt insoweit klar, dass die Italienische Republik vier Bewilligungskriterien bestimmt habe, um die potenziellen Empfänger der fraglichen Beihilfemaßnahme auszuwählen, und dass die Kommission diese vier Kriterien als für untrennbar mit der fraglichen Maßnahme verknüpft angesehen habe (Rn. 93 des angefochtenen Beschlusses).

23      Sodann hat die Kommission in Rn. 95 des angefochtenen Beschlusses darauf hingewiesen, dass es für die Prüfung des vierten Kriteriums, wonach die Empfänger ihren Beschäftigten mit Heimatbasis in Italien eine Mindestvergütung zahlen müssen, einen besonderen Grund gebe. Dieses Erfordernis sei nicht Teil des mit der fraglichen Maßnahme verfolgten Zwecks, da mit dem genannten Erfordernis das Ziel verfolgt werde, dafür Sorge zu tragen, dass die Empfänger im Einklang mit dem italienischen Recht den Schutz einer Mindestvergütung für ihre Beschäftigten mit Heimatbasis in Italien gewährleisteten. Folglich sei die Vereinbarkeit dieses Erfordernisses im Hinblick auf „andere einschlägige Bestimmungen des Unionsrechts“ zu prüfen.

24      Insoweit ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss nicht klar und eindeutig die Überlegungen der Kommission zum Ausdruck bringt, die Letztere dazu veranlasst haben, in Rn. 93 des fraglichen Beschlusses zu bejahen, dass das Mindestvergütungserfordernis untrennbar mit der fraglichen Maßnahme verknüpft sei, und gleichzeitig in Rn. 95 des genannten Beschlusses zu betonen, dass dieses Erfordernis nicht Teil des mit der Maßnahme verfolgten Zwecks sei.

25      Überdies hat die Kommission in den Rn. 96 bis 98 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass das Mindestvergütungserfordernis nur für die Arbeitnehmer mit Heimatbasis in Italien gelte. Sodann hat sie dieses Erfordernis im Hinblick auf Art. 8 der Rom‑I-Verordnung beurteilt, der für Individualarbeitsverträge besondere Kollisionsnormen enthält. Sie hat festgestellt, dass gemäß dieser Vorschrift alle Verkehrsunternehmen mit Arbeitnehmern, deren Heimatbasis sich in Italien befinde, verpflichtet seien, den durch das italienische Recht gewährten Mindestschutz unabhängig von der Nationalität des Unternehmens und von dem auf den jeweiligen Individualarbeitsvertrag anwendbaren Recht einzuhalten. Aufgrund dessen ist die Kommission in Rn. 99 des angefochtenen Beschlusses zu dem Schluss gelangt, dass das Mindestvergütungserfordernis auf den ersten Blick dem Schutz Rechnung trage, der den Arbeitnehmern nach der Rom‑I-Verordnung gewährt werde, und nicht gegen „andere unionsrechtliche Bestimmungen“ verstoße.

26      Bei dieser Argumentation hat die Kommission nicht die Gründe dargelegt, die sie zu der Annahme geführt haben, dass neben den Art. 107 und 108 AEUV im Hinblick auf die Prüfung der Vereinbarkeit des Mindestvergütungserfordernisses mit dem Unionsrecht Art. 8 der Rom‑I-Verordnung die einzige einschlägige Bestimmung sei.

27      Insoweit ist festzustellen, dass der Schluss, zu dem die Kommission in Rn. 99 des angefochtenen Beschlusses gelangt ist und wonach das Mindestvergütungserfordernis nicht gegen „andere unionsrechtliche Bestimmungen“ verstoße, nicht begründet wurde. Denn die Kommission hat außer Art. 8 der Rom‑I-Verordnung keine andere Vorschrift des Unionsrechts angeführt, anhand deren sie dieses Erfordernis geprüft hätte. Somit hat die Kommission die Gründe, derentwegen sie davon ausgegangen war, dass das Mindestvergütungserfordernis nicht gegen „andere unionsrechtliche Bestimmungen“ verstoße, nicht klar und transparent dargelegt.

28      Dieser Begründungsmangel wird im Übrigen durch den in den Rn. 94 und 95 des angefochtenen Beschlusses geschilderten Umstand veranschaulicht, dass die Kommission bei der Prüfung des Mindestvergütungserfordernisses den „Kontext“ berücksichtigt hat, nämlich die Beschwerde der italienischen Vereinigung von Billigfluggesellschaften (Aicalf), die Art. 203 des Gesetzesdekrets Nr. 34 betraf. Dessen Wortlaut ähnelt dem Art. 198 dieses Gesetzesdekrets, mithin der Rechtsgrundlage für die fragliche Maßnahme. Der Inhalt dieser Beschwerde war der Klageschrift als Anhang beigefügt.

29      Dieser Beschwerde zufolge war die in Rede stehende italienische Regelung rechtswidrig. Denn sie sehe vor, dass Luftfahrtunternehmen an ihre Arbeitnehmer mit Heimatbasis in Italien eine Vergütung zahlen müssten, die nicht geringer ausfallen dürfe als die Mindestvergütung nach demjenigen für den Luftverkehrsektor einschlägigen Tarifvertrag, der zwischen den Gewerkschaftsorganisationen und den Arbeitgebern geschlossen worden sei, die auf nationaler Ebene als am repräsentativsten erachtet würden. Die Aicalf machte geltend, dass der nationale Tarifvertrag, auf den diese Regelung Bezug nehme, von einem Berufsverband ausgehandelt worden sei, der insofern nicht repräsentativ sei, als seine Mitglieder nur für 11,3 % des gesamten italienischen Luftverkehrs stünden. Bei dieser Regelung handele es sich um eine den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 56 AEUV mittelbar diskriminierende Beschränkung.

30      Die Beschwerde stützte sich u. a. auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere auf die Urteile vom 11. Dezember 2007, International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union (C‑438/05, EU:C:2007:772), vom 18. Dezember 2007, Laval un Partneri (C‑341/05, EU:C:2007:809), vom 3. April 2008, Rüffert (C‑346/06, EU:C:2008:189), und vom 18. September 2014, Bundesdruckerei (C‑549/13, EU:C:2014:2235). Insoweit machte die Aicalf geltend, der Gerichtshof habe bereits nationale Maßnahmen geprüft, mit denen ausländische Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet worden seien, die in den nationalen Tarifverträgen festgelegten Lohnbedingungen zu beachten, und habe diese Maßnahmen für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt.

31      Vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses war die Kommission also auf Art. 203 des Gesetzesdekrets Nr. 34, dessen Wortlaut dem in der fraglichen Maßnahme vorgesehenen Mindestvergütungserfordernis ähnelt, und auf die Frage aufmerksam gemacht worden, ob die fragliche Maßnahme insbesondere im Hinblick auf Art. 56 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Zudem verfügte sie über die insoweit relevanten Informationen.

32      Erst recht vor diesem Hintergrund befand sich die Kommission in einer Lage, in der sie sich dazu äußern musste, ob Art. 56 AEUV als „andere unionsrechtliche Bestimmung“, anhand deren sie möglicherweise die Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt prüfen musste, von Relevanz war.

33      Somit macht die Klägerin zutreffend geltend, dass sie dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen könne, weshalb die Kommission die Vereinbarkeit des Mindestvergütungserfordernisses mit dem Unionsrecht allein im Hinblick auf Art. 8 der Rom‑I-Verordnung und nicht auch insbesondere im Hinblick auf den in Art. 56 AEUV verankerten Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs geprüft habe.

34      Nach alledem ist die Kommission eine Erklärung schuldig geblieben, weswegen neben den Art. 107 und 108 AEUV die einzige andere einschlägige Bestimmung, anhand deren sie ihrer Auffassung nach die Vereinbarkeit des Mindestvergütungserfordernisses mit dem Unionsrecht prüfen musste, Art. 8 der Rom‑I-Verordnung sei und dass es auf „andere unionsrechtliche Bestimmungen“ nicht ankomme, insbesondere nicht auf Art. 56 AEUV, in dem der freie Dienstleistungsverkehr verankert ist. Unter diesen Umständen kann das Gericht nicht überprüfen, ob das Mindestvergütungserfordernis mit „anderen unionsrechtlichen Bestimmungen“ vereinbar war, und mithin nicht überprüfen, ob die fragliche Maßnahme insgesamt mit dem Binnenmarkt vereinbar war.

35      Dieses Ergebnis wird nicht durch die Tatsache, auf die in Rn. 94 des angefochtenen Beschlusses hingewiesen wird, in Frage gestellt, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses wegen der mit der Beschwerde gerügten Regelung kein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen die Italienische Republik eingeleitet worden war. Denn gemäß der Systematik von Art. 258 AEUV ist die Kommission nicht zur Durchführung eines solchen Verfahrens verpflichtet. Sie verfügt insoweit über ein Ermessen (Urteil vom 14. Oktober 2010, Deutsche Telekom/Kommission, C‑280/08 P, EU:C:2010:603, Rn. 47). Somit bedeutet der Umstand, dass die Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, nicht, dass die in Rede stehende italienische Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Folglich ist diese Klarstellung für die Frage, ob der angefochtene Beschluss unzureichend begründet ist, ohne Belang.

36      Was die Ausführungen in Rn. 99 des angefochtenen Beschlusses angeht, wonach „[e]s … Sache der zuständigen italienischen Behörden und gegebenenfalls der italienischen Gerichte [ist], dafür Sorge zu tragen, dass [das Mindestvergütungserfordernis] unionsrechtskonform durch- und ausgeführt wird“, ist darauf hinzuweisen, dass für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt ausschließlich die Kommission zuständig ist, die dabei der Kontrolle durch die Unionsgerichte unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2012, Mitteldeutsche Flughafen und Flughafen Leipzig-Halle/Kommission, C‑288/11 P, EU:C:2012:821, Rn. 79). Daher wird die Kommission dadurch, dass die italienischen Behörden oder Gerichte dafür Sorge tragen können, dass dieses Erfordernis unionsrechtskonform durch- und ausgeführt wird, nicht von ihrer Verpflichtung befreit, die Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt gegebenenfalls auch anhand anderer Bestimmungen des Unionsrechts als der Art. 107 und 108 AEUV zu beurteilen. Folglich sind die Ausführungen in Rn. 99 des angefochtenen Beschlusses für die Frage, ob der angefochtene Beschluss unzureichend begründet ist, ebenfalls ohne Belang.

37      Schließlich kann nach ständiger Rechtsprechung die Begründung nicht zum ersten Mal und nachträglich vor dem Unionsgericht erfolgen, sofern nicht außergewöhnliche Umstände gegeben sind (vgl. Urteil vom 20. September 2011, Evropaïki Dynamiki/EIB, T‑461/08, EU:T:2011:494, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung). Mithin können die Ausführungen der Kommission in der Klagebeantwortung und in der mündlichen Verhandlung, wonach die fragliche Maßnahme nicht gegen den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs verstoße und die Prüfung „anderer unionsrechtlicher Bestimmungen“ nicht erforderlich gewesen sei, nicht im Lauf des Verfahrens die Begründung des angefochtenen Beschlusses ergänzen.

38      Folglich ist der angefochtene Beschluss insofern für nichtig zu erklären, als die Kommission gegen die ihr gemäß Art. 296 AEUV obliegende Begründungspflicht verstoßen hat.

[Nicht wiedergegeben]

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zehnte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C(2020) 9625 final der Kommission vom 22. Dezember 2020 über die staatliche Beihilfe SA.59029 (2020/N) – Italien – COVID-19 betreffend eine Regelung über einen Ausgleich für Luftfahrtunternehmen mit von den italienischen Behörden erteilter Betriebsgenehmigung wird für nichtig erklärt.

2.      Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Ryanair DAC.

3.      Die Neos SpA, die Blue panorama airlines SpA und die Air Dolomiti SpA – Linee aeree regionali Europee tragen ihre eigenen Kosten.

Kornezov

Buttigieg

Hesse

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. Mai 2023.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.


1      Es werden nur die Randnummern des vorliegenden Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.