URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
17. September 1998 (1)
„Nichtigkeitsklage Einfuhr von hochwertigem Rindfleisch (Hilton Beef)
Verordnung (EWG) Nr. 1430/79 Artikel 13 Entscheidung der Kommission,
den Erlaß von Einfuhrabgaben abzulehnen Verfahrensrechte
Offensichtlicher Beurteilungsfehler“
In der Rechtssache T-50/96
Primex Produkte Import-Export GmbH & Co. KG, Gesellschaft deutschen Rechts
mit Sitz in Bad Homburg (Deutschland),
Gebr. Kruse GmbH, Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Hamburg
(Deutschland),
Interporc Im- und Export GmbH, Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in
Hamburg (Deutschland),
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Georg M. Berrisch, Brüssel,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Guy Harles, 8-10, rue Mathias
Hardt, Luxemburg,
unterstützt durch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten zunächst durch
Stéphanie Ridley, dann durch John E. Collins, beide vom Treasury Solicitor's
Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister David Anderson,
Zustellungsanschrift: Britische Botschaft, 14, boulevard Roosevelt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater
Götz zur Hausen als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez
de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 26. Januar 1996,
K(96) 180 endg., gerichtet an die Bundesrepublik Deutschland, betreffend den
Erlaß von Einfuhrabgaben,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter R. M. Moura
Ramos und P. Mengozzi,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31.
März 1998,
folgendes
Urteil
Rechtslage
- 1.
- Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1430/79 des Rates vom 2. Juli
1979 über die Erstattung oder den Erlaß von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben (ABl.
L 175, S. 1), geändert durch Artikel 1 Absatz 6 der Verordnung (EWG) Nr.
3069/86 des Rates vom 7. Oktober 1986 (ABl. L 286, S. 1), bestimmt:
„Die Eingangsabgaben können ... bei Vorliegen besonderer Umstände erstattet
oder erlassen werden, sofern der Beteiligte nicht in betrügerischer Absicht oder
offensichtlich fahrlässig gehandelt hat.“
- 2.
- Nach Artikel 4 Nummer 2 Buchstabe c der Verordnung (EWG) Nr. 3799/86 der
Kommission vom 12. Dezember 1986 zur Durchführung der Artikel 4a, 6a, 11a und
13 der Verordnung Nr. 1430/79 (ABl. L 352, S. 19) gilt „die gutgläubige Vorlage
von Papieren zur Erlangung einer Zollpräferenzbehandlung für zum zollrechtlich
freien Verkehr angemeldete Waren, wenn sich diese Papiere später als falsch,
gefälscht oder für die Gewährung einer Zollpräferenzbehandlung ungültig
erweisen“, für sich allein nicht als besonderer Umstand im Sinne des Artikels 13
der Verordnung Nr. 1430/79.
- 3.
- Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 des Rates vom 24. Juli
1979 betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner
angeforderten Eingangs- oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem
Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung
derartiger Abgaben beinhaltet (ABl. L 197, S. 1), bestimmt:
„Die zuständigen Behörden können von einer Nacherhebung von Eingangs- oder
Ausfuhrabgaben absehen, deren Nichterhebung auf einen Irrtum der zuständigen
Behörden zurückzuführen ist, sofern dieser Irrtum vom Abgabenschuldner nicht
erkannt werden konnte und letzterer gutgläubig gehandelt und alle geltenden
Bestimmungen betreffend die Zollerklärung beachtet hat.“
- 4.
- Am 12. Oktober 1992 erließ der Rat die Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 zur
Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1; Zollkodex), der
am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Mit Artikel 251 Absatz 1 des Zollkodex wurden
u. a. die Verordnungen Nrn. 1430/79 und 1679/79 aufgehoben.
- 5.
- Die Verordnung Nr. 3799/86 wurde mit Artikel 913 der Verordnung (EWG) Nr.
2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der
Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. L 253, S. 1) mit Wirkung ab dem Inkrafttreten der
Verordnung Nr. 2454/93 am 1. Januar 1994 aufgehoben.
- 6.
- Artikel 907 dieser Verordnung bestimmt:
„Nach Anhörung einer Sachverständigengruppe, die aus Vertretern der
Mitgliedstaaten besteht und im Rahmen des Ausschusses zur Prüfung des Falles
zusammentritt, entscheidet die Kommission, ob die besonderen Umstände die
Erstattung oder den Erlaß rechtfertigen oder nicht.
Diese Entscheidung ist innerhalb von sechs Monaten nach Eingang der Vorlage
nach Artikel 905 Absatz 2 bei der Kommission zu treffen. Sieht sich die
Kommission veranlaßt, bei dem Mitgliedstaat zusätzliche Auskünfte anzufordern,
um eine Entscheidung fällen zu können, so wird die Frist von sechs Monaten um
die Zeit verlängert, die zwischen dem Zeitpunkt der Absendung des
Auskunftsersuchens der Kommission und dem Zeitpunkt des Eingangs der
Auskünfte verstrichen ist.“
- 7.
- Artikel 909 der Verordnung lautet:
„Hat die Kommission innerhalb der in Artikel 907 genannten Frist keine
Entscheidung getroffen oder dem betreffenden Mitgliedstaat innerhalb der in
Artikel 908 genannten Frist keine Entscheidung bekanntgegeben, so gibt die
Entscheidungszollbehörde dem Antrag auf Erstattung oder Erlaß statt.“
- 8.
- Artikel 904 der Verordnung sieht vor:
„Die Einfuhrabgaben werden nicht ... erlassen, wenn je nach Fall die einzige für
den Antrag auf ... Erlaß angeführte Begründung darin besteht, daß
...
c) gutgläubig Papiere zur Erlangung einer Zollpräferenzbehandlung für zum
zollrechtlich freien Verkehr angemeldete Waren vorgelegt worden sind, die
sich später als falsch, gefälscht oder für die Gewährung dieser
Zollpräferenzbehandlung ungültig erweisen.“
Sachverhalt
- 9.
- In den Jahren 1991 und 1992 wurde auf die Einfuhr hochwertigen Rindfleischs aus
Argentinien im Rahmen des Gemeinsamen Zolltarifs (Verordnung [EWG] Nr.
2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische
Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl. L 256, S. 1, mit späteren
Änderungen) ein Zollsatz von 20 % angewandt.
- 10.
- Zuzüglich zu diesem Zollsatz wurde gemäß Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr.
805/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Marktorganisation für
Rindfleisch (ABl. L 148, S. 24, mit späteren Änderungen) regelmäßig eine
Einfuhrabschöpfung erhoben, die sich bei den streitigen Einfuhren auf 10 DM/kg
belief.
- 11.
- Seit 1980 war die Gemeinschaft im Rahmen des allgemeinen Zoll- und
Handelsabkommens (GATT) verpflichtet, ein abschöpfungsfreies jährliches
gemeinschaftliches Zollkontingent für Rindfleisch u. a. aus Argentinien zu eröffnen.
- 12.
- Dementsprechend erließ der Rat für die Jahre 1991 und 1992 die Verordnungen
(EWG) Nrn. 3840/90 vom 20. Dezember 1990 (ABl. L 367, S. 6) und 3668/91 vom
11. Dezember 1991 (ABl. L 349, S. 3) zur Eröffnung eines
Gemeinschaftszollkontingents für frisches, gekühltes oder gefrorenes hochwertiges
Rindfleisch der KN-Codes 0201 und 0202 sowie für Waren der KN-Codes
0206 10 95 und 0206 29 91 (Hilton Beef). Für das im Rahmen dieser Kontingente
(Hilton-Kontingent) eingeführte Rindfleisch war nur der auf 20 % festgesetzte
Zollsatz des Gemeinsamen Zolltarifs zu entrichten (Artikel 1 Absatz 2 der zitierten
Verordnungen).
- 13.
- Für diese beiden Jahre erließ der Rat im übrigen die Verordnungen (EWG) Nrn.
2329/91 vom 25. Juli 1991 (ABl. L 214, S. 1) und 1158/92 vom 28. April 1992 (ABl.
L 122, S. 5) zur Eröffnung eines außerordentlichen autonomen Kontingents für die
Einfuhr von hochwertigem, frischem, gekühltem oder gefrorenem Rindfleisch der
KN-Codes 0201 und 0202 sowie von Erzeugnissen der KN-Codes 0206 10 95 und
0206 29 91. Mit diesen Verordnungen wurden die Hilton-Kontingente vergrößert.
- 14.
- Schließlich erließ die Kommission für denselben Zeitraum die Verordnung (EWG)
Nr. 3884/90 vom 27. Dezember 1990 über Durchführungsbestimmungen zu den
Einfuhrregelungen im Rindfleischsektor gemäß den Verordnungen (EWG) Nrn.
3840/90 und 3841/90 des Rates (ABl. L 367, S. 129) sowie die Verordnung (EWG)
Nr. 3743/91 vom 18. Dezember 1991 über Durchführungsbestimmungen zu den
Einfuhrregelungen im Rindfleischsektor gemäß den Verordnungen (EWG) Nrn.
3668/91 und 3669/91 des Rates (ABl. L 352, S. 36) (im folgenden:
Durchführungsverordnungen).
- 15.
- Im Rahmen des Hilton-Kontingents konnten somit bestimmte Mengen Hilton Beef
aus Argentinien abschöpfungsfrei in die Gemeinschaft eingeführt werden. Dafür
mußte bei der Einfuhr eine von der für die Ausstellung zuständigen Einrichtung des
Ausfuhrlandes erteilte Echtheitsbescheinigung vorgelegt werden.
- 16.
- Die Ausstellung der Echtheitsbescheinigungen in Argentinien lag bis Ende 1991 bei
der „Junta Nacional de Carnes“. Ende 1991/Anfang 1992 wurde die Ausstellung
der Echtheitsbescheinigungen auf das „Secretaría de Agricultura, Ganadería y
Pesca“ übertragen. Derartige Echtheitsbescheinigungen erhielten nur von den
argentinischen Behörden zugelassene Rindfleischexporteure.
- 17.
- Die Kommission wurde 1993 davon in Kenntnis gesetzt, daß bei den
Echtheitsbescheinigungen ein Fälschungsrisiko bestand. Sie leitete daraufhin in
Zusammenarbeit mit den argentinischen Behörden Untersuchungen ein.
- 18.
- Beamte der Kommission waren wiederholt in Argentinien, um in Zusammenarbeit
mit dortigen Beamten den Sachverhalt zu ermitteln.
- 19.
- Eine erste Mission fand in der Zeit vom 8. bis 19. November 1993 statt. Das
Ergebnis dieser Mission wurde in einem Bericht vom 24. November 1993 (Bericht
1993) niedergelegt, der Unregelmäßigkeiten bestätigte.
- 20.
- Nach diesem Bericht haben sich die argentinischen Behörden die Frage gestellt,
warum die Unregelmäßigkeiten bei der Einfuhr des Hilton Beef in die
Gemeinschaft nicht erkannt worden seien. In Punkt 11 des Berichts heißt es, die
argentinischen Behörden „würden den zuständigen Stellen der Kommission (DG
VI) ... mehr oder weniger regelmäßig eine Liste aller in den vorangegangenen 10
Tagen für .Hilton' ausgestellten Echtheitszeugnisse übermitteln und hierbei
bestimmte Daten angeben, wie den argentinischen Ausführer, den Empfänger in
der EG, Brutto- und Nettogewicht usw. Auf Grundlage einer solchen Aufstellung
wäre es unseren Gesprächspartnern zufolge leicht gewesen, die Daten mit den
Angaben auf den bei der Einfuhr der Produkte vorgelegten Zeugnissen zu
vergleichen und festzustellen, welche hierbei nicht übereinstimmten.“
- 21.
- Eine zweite Mission fand vom 19. April bis 6. Mai 1994 in Argentinien statt. Nach
dem Bericht vom 17. August 1994 über diese Mission (Zusammenfassender
Bericht) waren über 460 argentinische Echtheitsbescheinigungen, die in den Jahren
1991 und 1992 vorgelegt worden waren, gefälscht.
- 22.
- Die Klägerinnen Primex Produkte Import-Export GmbH & Co. KG (Klägerin
Primex), Gebr. Kruse GmbH (Klägerin Gebr. Kruse) und Interporc Im- und Export
GmbH (Klägerin Interporc) sind deutsche Firmen, die u. a. auf dem Gebiet der
Einfuhr von Fleisch und Fleischprodukten tätig sind. Seit mehreren Jahren führen
sie auch Fleisch im Rahmen des Hilton-Kontingents ein.
- 23.
- Bei der Überführung des von den Klägerinnen eingeführten Hilton Beef in den
zollrechtlich freien Verkehr der Gemeinschaft wurde ihnen im Rahmen der
eröffneten Zollkontingente auf Vorlage von Echtheitsbescheinigungen eine
Befreiung von Abschöpfungen gewährt.
- 24.
- Nachdem die genannten Fälschungen aufgedeckt worden waren, erhoben die
deutschen Behörden bei den Klägerinnen die Einfuhrabgaben nach. Vom 3. März
1994 bis zum 10. Juni 1994 ergingen an die Klägerinnen Zahlungsaufforderungen
in Höhe von 90 975,30 DM (Klägerin Primex), 174 286,46 DM (Klägerin Gebr.
Kruse) und 99 966,63 DM (Klägerin Interporc).
- 25.
- Daraufhin stellten die Klägerinnen mit Schreiben vom 1. Februar 1995, vom 24.
Februar 1995 und vom 22. März 1995 bei den zuständigen deutschen Zollbehörden
Anträge auf Erlaß der Einfuhrabgaben (Erlaßanträge). Diese wurden mit
Schriftsätzen vom 6. April 1995 begründet. Nach nationalem Recht beantragten die
Klägerinnen weiterhin eine Verlängerung der Zahlungsfrist; dem wurde
stattgegeben.
- 26.
- Diese Anträge wurden dem Bundesministerium für Finanzen übermittelt. Dieses
ersuchte die Kommission um Entscheidung, ob der Erlaß der Einfuhrabgaben
gemäß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 gerechtfertigt sei. Diese Ersuchen
gingen am 1. August 1995 (Sache REM 8/95, Primex) und 21. August 1995 (Sachen
REM 11/95, Gebr. Kruse, und REM 12/95, Interporc) bei der Kommission ein.
- 27.
- Am 4. Dezember 1995 trat eine aus Vertretern aller Mitgliedstaaten bestehende
Sachverständigengruppe zusammen, um gemäß Artikel 907 der Verordnung Nr.
2454/93 zur Berechtigung des Antrags auf Erlaß der Einfuhrabgaben Stellung zu
nehmen.
- 28.
- Mit an die Bundesrepublik Deutschland gerichteter Entscheidung vom 26. Januar
1996 lehnte die Kommission die Anträge auf Erlaß der Einfuhrabgaben ab
(angefochtene Entscheidung). Die Klägerinnen erlangten hiervon am 7. Februar
1996 Kenntnis.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 29.
- Mit Klageschrift, die am 12. April 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen
ist, haben die Klägerinnen eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen
Entscheidung erhoben.
- 30.
- Mit gesondertem Schriftsatz, der am 25. Juni 1996 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen ist, haben die Klägerinnen gemäß Artikel 64 § 4 und Artikel 114 der
Verfahrensordnung beantragt, der Kommission die Vorlage bestimmter
Schriftstücke aufzugeben, die für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich
seien.
- 31.
- Mit Schriftsatz, der am 4. Juli 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist,
hat die Kommission beantragt, den Antrag der Klägerinnen auf prozeßleitende
Maßnahmen zurückzuweisen.
- 32.
- In der Zwischenzeit hatte die Klägerin Interporc mit Schreiben vom 23. Februar
1996 an die Kommission die Einsichtnahme in bestimmte Dokumente über die
Kontrolle der Einfuhren von Hilton Beef auf der Grundlage des Beschlusses
94/90/EGKS, EG, Euratom der Kommission über den Zugang der Öffentlichkeit
zu den der Kommission vorliegenden Dokumenten (ABl. L 46, S. 58) beantragt.
- 33.
- Die Generaldirektoren der GD VI und der Generaldirektion Zoll und indirekte
Steuern (GD XXI) lehnten diesen Antrag auf Einsichtnahme mit Schreiben vom
22. März 1996 bzw. 25. März 1996 weitgehend ab. Mit Schreiben vom 27. März
1996 stellte die Klägerin Interporc einen Zweitantrag zum Antrag vom 23. Februar
1996. Mit Schreiben vom 29. Mai 1996 lehnte der Generalsektretär der Kommission
den Zweitantrag ab.
- 34.
- Mit am 9. August 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift hat
die Klägerin Interporc Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung vom 29. Mai
1996 erhoben. Mit Urteil vom 6. Februar 1998 in der Rechtssache T-124/96,
Interporc/Kommission (Slg. 1998, II-231), hat das Gericht die Entscheidung der
Kommission vom 29. Mai 1996 wegen mangelhafter Begründung für nichtig erklärt.
- 35.
- Mit Antragsschrift, die am 8. Oktober 1996 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen ist, hat das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland die
Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen
beantragt. Mit Beschluß vom 30. Januar 1997 hat der Präsident der Dritten
Kammer diesem Antrag stattgegeben.
- 36.
- Mit Entscheidung des Gerichts vom 2. Juli 1997 ist der Berichterstatter der Ersten
Kammer zugeteilt worden, der infolgedessen die Rechtssache zugewiesen worden
ist.
- 37.
- Das Gericht (Erste Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters die mündliche
Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme eröffnet. Mit Schreiben vom 15.
Dezember 1997 hat es jedoch die Parteien aufgefordert, bestimmte Unterlagen
vorzulegen und einige Fragen schriftlich zu beantworten. Die Kommission und die
Klägerinnen sind dem mit Schriftsätzen nachgekommen, die am 13. Januar bzw. am
14. Januar 1998 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind.
- 38.
- Die Klägerinnen beantragen,
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
die Kommission zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
- 39.
- Die Kommission beantragt,
die Klage abzuweisen;
den Klägerinnen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 40.
- Das Vereinigte Königreich beantragt als Streithelfer, die angefochtene
Entscheidung für nichtig zu erklären.
Entscheidungsgründe
- 41.
- Die Klägerinnen machen fünf Klagegründe geltend. Sie rügen zunächst eine
Verletzung der Verfahrensrechte. Als zweites rügen sie eine Verletzung
wesentlicher Formvorschriften, da die Kommission dem Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland bei der Sitzung des Ausschusses der Experten der
Mitgliedstaaten am 4. Dezember 1995 nicht die Möglichkeit zu mündlichen
Ausführungen gegeben habe. Der dritte Klagegrund ist ein Verstoß gegen Artikel
13 der Verordnung Nr. 1430/79. An vierter Stelle wird ein Verstoß gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerügt. Fünfter Klagegrund ist die mangelhafte
Begründung. In der Sitzung haben die Klägerinnen auf den ursprünglich geltend
gemachten Klagegrund verzichtet, die Kommission habe die angefochtene
Entscheidung auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt.
Erster Klagegrund: Verletzung der Verfahrensrechte
Parteivorbringen
- 42.
- Die Klägerinnen machen geltend, die angefochtene Entscheidung sei
formfehlerhaft, da sie keine Gelegenheit gehabt hätten, ihren Standpunkt
gegenüber der Kommission unmittelbar vorzutragen.
- 43.
- Nach der Rechtsprechung sei die Gewährung rechtlichen Gehörs in allen
Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen
könnten, ein elementarer Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der auch dann
sichergestellt werden müsse, wenn eine Regelung für das fragliche Verfahren fehle
(Urteil des Gerichtshofes vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-135/92,
Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 39).
- 44.
- Die Verfahrensrechte umfaßten nicht nur das Recht, seine Auffassung
wiederzugeben, sondern auch das Recht, vor dem Erlaß der Entscheidung über alle
wichtigen Umstände (Urteil des Gerichtshofes vom 27. Juni 1991 in der
Rechtssache C-49/88, Al-Jubail Fertilizer/Rat, Slg. 1991, I-3187) und rechtlichen
Erwägungen, auf die die Kommission ihre Entscheidung stützen wolle, informiert
zu werden. Im vorliegenden Fall hätten die Klägerinnen den Zusammenfassenden
Bericht erst nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens erhalten, obwohl die
Kommission ihre Vorwürfe, daß die Klägerinnen nicht mit der erforderlichen
Sorgfalt gehandelt hätten, offenbar auf diesen Bericht gestützt habe.
- 45.
- Die Kommission verkenne die Funktion der Verfahrensgarantien, wenn sie
vorbringe, diese würden nur dazu dienen, die entscheidende Behörde von den
Tatsachen und Argumenten in Kenntnis zu setzen, die der Antragsteller für
relevant halte. Er diene auch dazu, den Klägerinnen eine vollständige Kenntnis der
Fakten zu verschaffen, auf die sie ihren Erlaßantrag stützen könnten.
- 46.
- Zwar habe der Gerichtshof die alten Verfahrensvorschriften, die keine Möglichkeit
vorgesehen hätten, die Abgabepflichtigen vor der Kommission zu hören, für mit
dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärt (Urteil des Gerichtshofes vom 13.
November 1984 in den Rechtssachen 98/83 und 230/83, Van Gend &
Loos/Kommission, Slg. 1984, 3763). Nach Artikel F Absatz 2 des Vertrages über
die Europäische Union, der mittlerweile angenommen worden sei, achtete die
Union jedoch die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 gewährleistet
seien. Das fragliche Verfahren sei mit Artikel 6 dieser Konvention nicht zu
vereinbaren und verstoße insbesondere gegen Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c,
wonach jeder das Recht habe, „sich selbst zu verteidigen“. Die Kommission stütze
sich zu Unrecht auf das Urteil vom 6. Juli 1983 in den Rechtssachen C-121/91 und
C-122/91 (CT Control [Rotterdam] und JCT Benelux/Kommission, Slg. 1993,
I-3873, Randnr. 52), da dieses Urteil nicht mehr dem gegenwärtigen Stand des
Gemeinschaftsrechts entspreche.
- 47.
- Die Verfahrensrechte seien im vorliegenden Fall besonders deshalb zu beachten,
weil die Kommission „als Richter in eigener Sache“ gehandelt habe. Sie habe den
Umfang ihres Fehlverhaltens und die Folgerungen, die sich daraus ergäben, selbst
beurteilt.
- 48.
- Die Kommission bestreitet, Verfahrensrechte verletzt zu haben. Die
Verfahrensvorschriften sähen zur Zeit keine Beteiligung des Abgabenschuldners im
Verwaltungsverfahren vor der Kommission vor. Das Gericht habe in seinem Urteil
vom 9. November 1995 in der Rechtssache T-346/94 (France-aviation/Kommission,
Slg. 1995, II-2841) die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2454/93 nicht
beanstandet und auch nicht für unzulänglich gehalten.
- 49.
- Wie der Gerichtshof im Urteil CT Control (Rotterdam) und JCT
Benelux/Kommission, Randnr. 52, entschieden habe, unterscheide sich das im
Antidumpingbereich geltende Verfahren erheblich von dem Verfahren im Bereich
des Erlasses der Einfuhrabgaben. Es sei daher unzulässig, auf die Verfahrensrechte
im Antidumpingverfahren zu verweisen, um die im vorliegenden Fall anwendbaren
Verfahrensvorschriften zu kritisieren.
- 50.
- Die angefochtene Entscheidung sei im Unterschied zur Lage in der Rechtssache
France-aviation/Kommission nicht auf unvollständige Akten gestützt gewesen.
Sowohl der Kommission als auch den Mitgliedern der in Artikel 907 der
Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehenen Sachverständigengruppe hätten nämlich
nicht nur die Vorlage des betreffenden Mitgliedstaats, sondern auch die
Erlaßanträge samt Begründung vorgelegen.
- 51.
- Im Einklang mit den Anforderungen der Rechtsprechung hätten sich beim Erlaß
der angefochtenen Entscheidung alle von den Klägerinnen selbst für wesentlich
gehaltenen Umstände in den Akten befunden (Urteil des Gerichtshofes vom 17.
März 1983 in der Rechtssache 294/81, Control Data Belgium/Kommission, Slg.
1983, 911, sowie Urteile Van Gend & Loos/Kommission, Randnr. 9, und CT
Control [Rotterdam] und JCT Benelux/Kommission, Randnr. 48).
- 52.
- Die Klägerinnen verkennten mit dem ersten Klagegrund die Funktion der
Verfahrensgarantien im Bereich des Erlasses von Einfuhrabgaben. Diese sollten nur
die Kommission von den Fakten und Argumenten in Kenntnis setzen, die der
Antragsteller für relevant halte, nicht aber diesem Kenntnis von den Umständen
verschaffen, auf die die Kommission dann ihre Entscheidung stützen könne.
- 53.
- Zwar müsse der Abgabenschuldner die Möglichkeit haben, zu den Unterlagen
Stellung zu nehmen, auf die die Kommission ihre Entscheidung stütze (Urteil des
Gerichtshofes vom 21. November 1991 in der Rechtssache C-269/90, Technische
Universität München, Slg. 1991, I-5469, Randnr. 25, und Urteil France-aviation/Kommission, Randnr. 32). Dies bedeute jedoch nicht, daß er sich auch zu
anderen als denjenigen Unterlagen müsse äußern können, auf die die Kommission
die angefochtene Entscheidung gestützt hat.
- 54.
- Das Vorbringen, die Kommission sei als „Richter in eigener Sache“ tätig, treffe
nicht zu. Es sei nicht zu beanstanden, daß eine Verwaltungsbehörde über die Frage
der Nacherhebung von Abgaben entscheide.
- 55.
- Schließlich habe der Anwalt der Klägerinnen vor dem Erlaß der angefochtenen
Entscheidung mehrfach Gespräche mit den Dienststellen der Kommission über die
Angelegenheit geführt.
- 56.
- Der Klagegrund sei daher zurückzuweisen.
Rechtliche Würdigung
- 57.
- Das Zollverwaltungsverfahren für den Erlaß von Einfuhrabgaben besteht aus zwei
getrennten Phasen. Die erste Phase findet auf nationaler Ebene statt. Der
Abgabenpflichtige muß seinen Erlaßantrag bei der nationalen Verwaltung stellen.
Hält diese den Antrag für unberechtigt, so kann sie nach geltendem Recht eine
entsprechende Entscheidung erlassen, ohne die Kommission zu befassen. Diese
Entscheidung kann im nationalen Rechtsweg angefochten werden. Hält die
nationale Verwaltung den Antrag jedoch für berechtigt oder ist sie sich darüber im
unklaren, so muß sie ihn der Kommission zur Entscheidung vorlegen. Die zweite
Verfahrensphase findet also auf Gemeinschaftsebene statt, wobei die nationalen
Behörden der Kommission die Akten übermitteln. Diese entscheidet nach
Anhörung einer aus Vertretern aller Mitgliedstaaten zusammengesetzten
Sachverständigengruppe über die Berechtigung des Erlaßantrags.
- 58.
- Die Verordnung Nr. 2454/93 sieht nur Kontakte zwischen dem Abgabepflichtigen
und der nationalen Verwaltung zum einen und zwischen dieser und der
Kommission zum anderen vor (Urteil France-aviation/Kommission, Randnr. 30).
Der betroffene Mitgliedstaat ist nach geltendem Recht somit der einzige
Gesprächspartner der Kommission. Die Verfahrensvorschriften der Verordnung Nr.2454/93 sehen insbesondere kein Anhörungsrecht des Abgabenpflichtigen im
Verwaltungsverfahren vor der Kommission vor.
- 59.
- Nach ständiger Rechtsprechung ist jedoch die Beachtung der Verfahrensrechte in
allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen
können, ein elementarer Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der auch dann
sichergestellt werden muß, wenn es an einer Regelung für das betreffende
Verfahren fehlt (Urteile des Gerichtshofes vom 24. Oktober 1996 in der
Rechtssache C-32/95 P, Kommission/Lisrestal u. a., Slg. 1996, I-5373, Randnr. 21,
vom 12. Februar 1992 in den Rechtssachen C-48/90 und C-66/90, Niederlande
u. a./Kommission, Slg. 1992, I-565, Randnr. 44, und Fiskano/Kommission,
Randnr. 39).
- 60.
- Angesichts des Beurteilungsspielraums, über den die Kommission bei der
Anwendung der auf Billigkeitserwägungen beruhenden Generalklausel des Artikels
13 der Verordnung Nr. 1430/79 verfügt, ist die Beachtung des Rechts auf Anhörung
in den Verfahren wegen Erlasses oder Erstattung von Eingangsabgaben von
besonderer Bedeutung (Urteil France-aviation/Kommission, Randnr. 34, ebenso
Urteil Technische Universität München, Randnr. 14).
- 61.
- Die Wahrung der Verfahrensrechte verlangt, daß jeder, der durch eine
Entscheidung beschwert werden kann, zumindest zu den Gesichtspunkten muß
Stellung nehmen können, auf die die Kommission ihre beschwerende Entscheidung
stützt (in diesem Sinne Urteile Kommission/Lisrestal u. a., Randnr. 21, und
Fiskano/Kommission, Randnr. 40).
- 62.
- Im Wettbewerbsrecht ist es ständige Rechtsprechung, daß das Recht auf
Akteneinsicht mit der Wahrung der Verfahrensrechte eng verknüpft ist. Die
Akteneinsicht gehört nämlich zu den Verfahrensgarantien, die das Recht auf
Anhörung schützen sollen (Urteile des Gerichts vom 18. Dezember 1992 in den
Rechtssachen T-10/92, T-11/92, T-12/92 und T-15/92, Cimenteries CBR
u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Randnr. 38, und vom 29. Juni 1995 in der
Rechtssache T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Randnr. 69).
- 63.
- Diese Erwägungen können auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Die
Wahrung der Verfahrensrechte erfordert somit nicht nur, daß der Betroffene die
Gelegenheit erhält, sich zur Relevanz der Sachumstände zu äußern, sondern auch,
daß er zumindest zu den Unterlagen Stellung nehmen kann, auf die sich das
Gemeinschaftsorgan stützt (Urteile Technische Universität München, Randnr. 25,
und France-aviation/Kommission, Randnr. 32).
- 64.
- Die Klägerinnen werfen der Kommission schwerwiegende Versäumnisse bei der
Kontrolle des Hilton-Kontingents vor. Daher muß die Kommission, um das
Anhörungsrecht wirksam werden zu lassen, auf Antrag Einsicht in alle
nichtvertraulichen Verwaltungspapiere geben, die die angefochtene Entscheidung
betreffen. Es läßt sich nämlich nicht ausschließen, daß Papiere, die die Kommission
für unerheblich hält, für die Klägerinnen von Interesse sind. Könnte die
Kommission aus dem Verwaltungsverfahren einseitig Papiere ausschließen, die ihr
möglicherweise zum Nachteil gereichen, könnte dies die Verfahrensrechte
desjenigen erheblich verletzen, der einen Erlaß der Einfuhrabgaben beantragt
(ebenso Urteil ICI/Kommission, Randnr. 93).
- 65.
- Im vorliegenden Fall hat das Bundesministerium der Finanzen in der
Stellungnahme zu den Erlaßanträgen, die es bei der Übermittlung der Akten an die
Kommission abgab, ausgeführt, den Klägerinnen sei weder Fahrlässigkeit noch
betrügerische Absicht vorzuwerfen.
- 66.
- In der angefochtenen Entscheidung wird den Klägerinnen zum ersten Mal
vorgeworfen, sie hätten es an der erforderlichen Sorgfalt fehlen lassen, da sie es
versäumt hätten, selbst alle erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen gegenüber ihren
Vertragspartnern und Mittelspersonen in Argentinien zu treffen; insbesondere
hätten sie es unterlassen, die Wege, auf denen die Echtheitsbescheinigungen zu
ihnen gelangt seien, unmittelbar zu kontrollieren (22. Begründungserwägung der
Entscheidung), obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätten, Sicherheitsvorkehrungen
zu treffen (16. Begründungserwägung).
- 67.
- Das Gericht hat in seinem Urteil France-aviation/Kommission (Randnr. 36)
ausgeführt, wenn die Kommission beabsichtige, von der Stellungnahme der
zuständigen nationalen Behörden in der Frage abzuweichen, ob der Betroffene
offensichtlich fahrlässig gehandelt habe, sei sie verpflichtet, ihn hierzu anhören zu
lassen. Eine solche Entscheidung setze nämlich eine komplexe rechtliche
Würdigung voraus, die nur aufgrund aller relevanten Tatsachen vorgenommen
werden könne.
- 68.
- Diese Erwägungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen, obwohl den
Klägerinnen nur mangelnde Sorgfalt vorgeworfen wird. Die Kommission hat
nämlich die Erlaßanträge gemäß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79
hauptsächlich wegen dieses Vorwurfs abgelehnt, obwohl nach dieser Bestimmung
das Fehlen „offensichtlicher Fahrlässigkeit“ des Betroffenen entscheidend ist.
- 69.
- Aus den Akten ergibt sich, daß die Kommission es den Klägerinnen nicht
ermöglicht hat, in dem vor ihr ablaufenden Verfahren Stellung zu nehmen und sich
zu den Vorwürfen mangelnder Sorgfalt zu äußern.
- 70.
- Wenn der Anwalt der Klägerinnen mit den Dienststellen der Kommission auch
Gespräche geführt hat, so hatten diese doch die Vorwürfe in der 16. und der 22.
Begründungserwägung der angefochtenen Entscheidung nicht zum Gegenstand. Auf
eine entsprechende Frage des Gerichts haben die Klägerinnen vorgebracht, ohne
daß die Kommission dem widersprochen hätte, daß die Fragen der mangelnden
Sorgfalt oder der offensichtlichen Fahrlässigkeit der Klägerinnen oder der
Importeure im allgemeinen bei diesen Gesprächen nicht angesprochen worden
seien.
- 71.
- Die angefochtene Entscheidung ist somit in einem Verfahren ergangen, in dem
wesentliche Formvorschriften verletzt wurden.
- 72.
- Der erste Klagegrund Verletzung der Verfahrensrechte ist somit berechtigt.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79
Vorbringen der Klägerinnen und des Streithelfers
- 73.
- Die Klägerinnen machen geltend, die Kommission habe gegen Artikel 13 der
Verordnung Nr. 1430/79 verstoßen, da sie das Vorliegen „besonderer Umstände“
im Sinne dieser Bestimmung verneint habe. Beim Erlaß der angefochtenen
Entscheidung habe die Kommission insbesondere ihre eigenen groben
Pflichtverletzungen bei der Überwachung der Einfuhren im Rahmen des
Hilton-Kontingents und der damit verbundenen Rechtsfolgen nicht richtig bewertet.
- 74.
- Da Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 eine auf Billigkeitserwägungen
beruhende Generalklausel darstelle, müsse die Nacherhebung von Einfuhrabgaben
auf die Fälle beschränkt werden, in denen die Zahlung dieser Abgaben
gerechtfertigt und mit den elementaren Rechtsgrundsätzen vereinbar sei (Urteil des
Gerichtshofes vom 1. April 1993 in der Rechtssache C-250/91, Hewlett Packard
France, Slg. 1993, I-1819, Randnr. 46). Die Kommission verfüge bei der
Anwendung von Artikel 13 über keinen Beurteilungsspielraum (vgl. zu Artikel 5
Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 das Urteil des Gerichtshofes vom 22.
Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 23).
- 75.
- Die Kommission sei verpflichtet gewesen, die Einfuhren im Rahmen des
Hilton-Kontingents angemessen zu überwachen. Diese Verpflichtung ergebe sich
insbesondere aus den Durchführungsverordnungen. Der gemeinsame Artikel 6
Absatz 1 dieser Verordnungen verpflichte die Mitgliedstaaten, der Kommission
regelmäßig die im Rahmen des Hilton-Kontingents erfolgten Einfuhren mitzuteilen.
Nur die Kommission sei daher in der Lage, die Menge des tatsächlich eingeführten
Hilton Beef zu bestimmen und darüber zu wachen, daß diese Menge das
Kontingent nicht überschreite.
- 76.
- Die Klägerinnen werfen sowohl der Kommission wie den argentinischen Behörden
Fehlverhalten vor.
Fehlverhalten der Kommission
- 77.
- Die Klägerinnen werfen der Kommission insbesondere vor, während des Jahres die
Mängel nicht kontinuierlich überwacht zu haben, die im Rahmen des
Hilton-Kontingents eingeführt werden konnten, und die regelmäßigen Mitteilungen
der Mitgliedstaaten über die Einfuhren von Hilton Beef nicht mit denjenigen der
argentinischen Behörden über die Ausfuhren abgeglichen zu haben.
- 78.
- Außerdem habe die Kommission den nationalen Behörden weder Namen noch
Unterschriftsproben der zur Ausstellung von Echtheitsbescheinigungen befugten
Personen und auch nicht die Daten über die Ausfuhren aus Argentinien mitgeteilt.
Das habe die nationalen Behörden daran gehindert, die Gültigkeit der
Echtheitsbescheinigungen bei den streitigen Einfuhren wirksam zu kontrollieren.
- 79.
- Überdies sei die Kommission bereits 1989 in der Lage gewesen, erhebliche
Kontingentsüberschreitungen festzustellen. Hätte sie damals Untersuchungen dieser
Unregelmäßigkeiten vorgenommen, hätte die Einfuhr von Mehrmengen mit
gefälschten Echtheitsbescheinigungen in den Jahren 1991 und 1992 verhindert
werden können.
- 80.
- Im übrigen habe die Kommission selbst anerkannt, daß es bei der Kontrolle des
Kontingents zu Nachlässigkeiten gekommen sei. Das ergebe sich insbesondere aus
dem Bericht von 1993 sowie aus einem an den Generaldirektor der GD XXI
gerichteten Vermerk des Generaldirektors der GD VI vom 8. April 1994, in dem
Mängel des alten Kontrollsystems anerkannt worden seien.
- 81.
- Das Fehlverhalten der Kommission habe erst die Voraussetzungen dafür
geschaffen, daß es zu Fälschungen in dem heute festgestellten Umfang habe
kommen können. Es stelle „besondere Umstände“ im Sinne des Artikels 13 der
Verordnung Nr. 1430/79 dar.
Fehlverhalten der argentinischen Behörden
- 82.
- Die Klägerinnen tragen vor, auch den argentinischen Behörden sei Fehlverhalten
bei der Überwachung und Kontrolle der Durchführung des Hilton-Kontingents
vorzuwerfen. Sie hätten einerseits für die Erstellung der Echtheitsbescheinigungen
Formulare verwendet, die nicht gegen Fälschungen geschützt gewesen seien, und
andererseits Blankoformulare an argentinische Exporteure verteilt. Im übrigen habe
die Übertragung der Befugnisse von der Junta Nacional de Carnes auf das
Secretaría de Agricultura, Ganadería y Pesca zu monatelanger Verwirrung über die
Kompetenzaufteilung und die jeweiligen Zuständigkeiten geführt, was
Unregelmäßigkeiten erleichtert habe.
- 83.
- Die Kommission müsse für das Fehlverhalten der argentinischen Behörden
einstehen, da sie diesen in voller Sachkenntnis die Verwaltung des
Hilton-Kontingents übertragen habe.
- 84.
- Entgegen der Auffassung der Kommission sei der Hinweis auf Artikel 904
Buchstabe c der Verordnung Nr. 2454/93 verfehlt. Die Klägerinnen beriefen sich
gerade nicht nur darauf, daß sie die gefälschten Echtheitsbescheinigungen im guten
Glauben vorgelegt hätten; vielmehr hätten sie auch eine Reihe anderer Faktoren
angeführt, insbesondere das Fehlverhalten der Kommission.
- 85.
- Die fraglichen Fälschungen gehörten nicht zum normalen Geschäftsrisiko. Die
Kommission berufe sich zu Unrecht auf das Urteil des Gerichtshofes vom 11.
Dezember 1980 in der Rechtssache 827/79 (Acampora, Slg. 1980, 3731). Damals
sei es um einen einzelnen Einfuhrvorgang gegangen, so daß der Kommission gerade
nicht habe vorgeworfen werden können, die fraglichen Fälschungen nicht erkannt
zu haben. Im vorliegenden Fall habe das Fehlverhalten der Kommission hingegen
während mehrerer Jahre fortgesetzte Fälschungen ermöglicht. Daher überschritten
die festgestellten Fälschungen das normale Geschäftsrisiko.
- 86.
- Die Kommission bemühe sich, in ihrer Klagebeantwortung Gründe nachzuschieben
und/oder die Begründung der angefochtenen Entscheidung durch eine
Neubegründung zu ersetzen. Zum einen bringe sie eine neue rechtliche
Begründung hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale eines Abgabenerlasses nach
Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 vor, zum anderen mache sie den
Klägerinnen den neuen Vorwurf einer offensichtlichen Fahrlässigkeit im Sinne
dieser Bestimmung. Da diese Behauptungen in der angefochtenen Entscheidung
nicht ausgeführt seien, seien sie unzulässig.
- 87.
- In der Sache setze die Kommission zu Unrecht den Begriff der „offensichtlichen
Fahrlässigkeit“ im Sinne des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79 mit dem
Begriff des guten Glaubens nach Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79
gleich. Diese beiden Bestimmungen verfolgten zwar dasselbe Ziel; die verwendeten
Begriffe seien gleichwohl schon allein deswegen nicht identisch, weil Artikel 13
einen wesentlich weiteren Anwendungsbereich habe als Artikel 5 Absatz 2 (vgl.
hierzu das Urteil des Gerichtshofes vom 15. Dezember 1983 in der Rechtssache
283/82, Schoellershammer/Kommission, Slg. 1983, 4219).
- 88.
- Den Klägerinnen könne zudem keine offensichtliche Fahrlässigkeit vorgeworfen
werden. Sie hätten keine Zweifel an der Echtheit der Echtheitsbescheinigungen
gehabt. Sie hätten auch keine solchen Zweifel haben müssen, da es keine
Anzeichen für Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Auch habe es sich nicht um
Fälschungen im Einzelfall, sondern um Fälschungen im großen Stil gehandelt. Im
übrigen hätten die in die Fälschungen verwickelten Firmen hochwertiges Fleisch
nicht nur mit gefälschten Echtheitsbescheinigungen geliefert. Meistens hätten sie
auch größere Mengen hochwertiges Fleisch mit echten Echtheitsbescheinigungen
geliefert.
- 89.
- Entgegen dem Vorbringen der Kommission hätten die Klägerinnen praktisch keine
Möglichkeit gehabt, sich gegen ihre Vertragspartner zu schützen. Es sei ihnen, die
ihren Sitz in Europa hätten, auch unmöglich gewesen, festzustellen, von wem die
Exporteure die Echtheitsbescheinigungen erhalten hätten.
- 90.
- Obwohl der Kommission alle erheblichen Papiere vorlägen, habe sie nichts
vorgebracht, was ihren Vorwurf hätte stützen können, die Klägerinnen hätten nicht
mit der erforderlichen Sorgfalt gehandelt.
- 91.
- Die Nacherhebung der Abgaben bei den Klägerinnen sei nicht gerechtfertigt, da
der Tatbestand des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79 erfüllt sei. Daher sei
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären.
- 92.
- Das Vereinigte Königreich macht geltend, die Kommission habe rechtsfehlerhaft
angenommen, daß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 nicht anwendbar sei,
hilfsweise, sie habe ihr Ermessen im Rahmen von Artikel 13 offensichtlich
fehlerhaft gebraucht.
- 93.
- Die angefochtene Entscheidung leide an einem grundlegenden Mangel, weil die
Kommission nicht genügend berücksichtigt habe, daß sie selbst zu den Problemen
der Klägerinnen beigetragen habe. Die Argumentation und das Ergebnis der
angefochtenen Entscheidung seien offensichtlich fehlerhaft, da die Kommission den
Wirtschaftsteilnehmern gegenüber für die Aufdeckung betrügerischer Handlungen
verantwortlich gewesen sei und da sie ihre Kontrollpflichten aus den
Durchführungsverordnungen verletzt habe.
- 94.
- Angesichts der Verantwortung, die die Kommission bei der Durchführung und der
Überwachung des Kontingents übernommen habe, und des Fehlverhaltens, das ihr
bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung anzulasten sei, wäre eine Versagung
des Erlasses rechtlich nicht gerechtfertigt. Eine solche Versagung würde völlig
unschuldige Wirtschaftsteilnehmer treffen, was dem allgemeinen Billigkeitsziel des
Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79 unmittelbar zuwiderliefe.
Vorbringen der Beklagten
- 95.
- Die Kommission vertritt die Auffassung, ihre Einschätzung, daß der vorliegende
Sachverhalt keinen besonderen Umstand darstelle, der einen Erlaß der
Einfuhrabgaben rechtfertige, treffe zu.
- 96.
- Unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofes Hewlett Packard France, Randnr.
46, und vom 14. Mai 1996 in den Rechtssachen C-153/94 und C-204/94 (Faroe
Seafood u. a., Slg. 1996, I-2465, Randnr. 83) macht sie geltend, die
Voraussetzungen des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79 müßten im Licht des
Artikels 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 gesehen werden.
- 97.
- Daraus ergebe sich, daß ein Erlaß von Eingangsabgaben nur gerechtfertigt sei,
wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt seien: Die Nichterhebung müsse auf
einem Irrtum der zuständigen Behörden beruhen, der Abgabenschuldner müsse
gutgläubig gehandelt haben, der Irrtum der zuständigen Behörden dürfe also für
ihn nicht erkennbar gewesen sein, und er müsse alle geltenden Bestimmungen über
die Zollerklärung beachtet haben (vgl. auch Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b des
Zollkodex). Entgegen dem Vortrag der Klägerinnen seien die beiden Vorschriften
generell vergleichbar, da sie das gleiche Ziel verfolgten (Urteil Hewlett Packard
France, Randnr. 46), oder sogar austauschbar (Urteil des Gerichts vom 5. Juni 1996
in der Rechtssache T-75/95, Günzler Aluminium/Kommission, Slg. 1996, II-497,
Randnr. 55).
- 98.
- Eine enge Auslegung dieser Voraussetzungen sei geboten, um eine einheitliche
Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen (Urteil des Gerichtshofes vom
27. Juni 1991 in der Rechtssache C-348/89, Mecanarte, Slg. 1991, I-3277,
Randnr. 33).
- 99.
- Das Vorbringen der Klägerinnen zur Frage eines Irrtums der zuständigen Behörden
sei unzulässig, da es zum ersten Mal in der Erwiderung vorgebracht worden sei.
- 100.
- Zudem sei den zuständigen Behörden kein Irrtum im Sinne von Artikel 5 Absatz
2 der Verordnung Nr. 1697/79 unterlaufen. Das berechtigte Vertrauen des
Abgabenschuldners sei nämlich nur schutzwürdig, wenn die zuständigen Behörden
selbst die Grundlage für das Vertrauen geschaffen hätten. Der Irrtum müsse auf
ein Handeln der Behörden selbst zurückzuführen sein (Urteile Hewlett Packard
France, Randnr. 16, Faroe Seafood u. a., Randnr. 91, Mecanarte, Randnr. 23). Das
sei nicht der Fall, wenn die zuständigen Behörden durch unrichtige Erklärungen des
Ausführers, deren Gültigkeit sie nicht festzustellen oder zu prüfen hätten,
irregeführt würden.
- 101.
- Diese Beurteilung ergebe sich auch aus Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c der
Verordnung Nr. 3799/86 und aus Artikel 904 Buchstabe c der Verordnung Nr.
2454/93. Danach gelte nämlich die gutgläubige Vorlage von gefälschten Papieren
für sich allein nicht als besonderer Umstand, der den Erlaß rechtfertige. Die
Tatsache, daß die Echtheitsbescheinigungen von den deutschen Zollbehörden
anfangs als gültig angenommen worden seien, habe bei den Klägerinnen kein
berechtigtes Vertrauen schaffen können (Urteil Faroe Seafood u. a., Randnr. 93).
- 102.
- Nach der Rechtsprechung habe zum einen die Gemeinschaft nicht die nachteiligen
Folgen des rechtswidrigen Verhaltens der Lieferanten von
Gemeinschaftsangehörigen zu tragen, zum anderen müsse ein umsichtiger und mit
der Rechtslage vertrauter Unternehmer bei der Wirtschaftlichkeitsberechnung des
Handels mit Waren, für die möglicherweise Zollpräferenzen gewährt würden, die
Risiken abschätzen können, die dem in Aussicht genommenen Markt anhafteten,
und sie als Teil der normalen Unzuträglichkeiten des Geschäftslebens in Kauf
nehmen (Urteile Acampora, Randnr. 8). Unter Berufung auf ein Fehlverhalten der
Kommission versuchten die Klägerinnen daher zu Unrecht, der Konsequenz dieser
Rechtsprechung zu entgehen.
- 103.
- Die Vorwürfe der Klägerinnen seien nicht geeignet, ihr Geschäftsrisiko zu
beseitigen oder einzugrenzen (vgl. auch Urteil Van Gend & Loos/Kommission,
Randnrn. 16 und 17). Das Kontrollsystem sei allein darauf ausgerichtet gewesen,
sicherzustellen, daß nur im Rahmen des Kontingents eingeführtes Fleisch von der
Abschöpfung befreit werde. Soweit der Rindfleischmarkt in der Gemeinschaft nicht
bedroht gewesen sei, habe eine Überschreitung des Kontingents die Kommission
nicht unbedingt sofort zum Erlaß einschlägiger Maßnahmen veranlassen müssen.
- 104.
- Das Kontrollsystem habe insbesondere nicht zum Ziel gehabt, die Betroffenen zu
unterrichten oder gar gegen mögliche betrügerische Handlungen zu schützen,
sondern das gute Funktionieren des Kontingents zu überprüfen. Eine Verpflichtung
der Kommission gegenüber den Betroffenen habe somit nicht bestanden.
- 105.
- Das Verhalten der Dienststellen der Kommission im Zusammenhang mit der
Überwachung der Ausschöpfung des Hilton-Kontingents, das die Klägerinnen
rügten, stelle keinen besonderen Umstand im Sinne der geltenden Regelung dar.
Die Kommission weist ausdrücklich die Behauptungen zurück, sie selbst habe die
Fälschung von Echtheitsbescheinigungen ermöglicht. Auch fehle es an einer
Kausalität zwischen dem Verhalten der Kommission und dem Entstehen der
Einfuhrabschöpfungen.
- 106.
- Auf die Vorwürfe, die Kommissionsdienststellen hätten nicht alles getan, um
Unregelmäßigkeiten zu verhindern, erwidert die Kommission, daß sie für
Fälschungen nicht finanziell einstehen müsse, die vielleicht hätten vermieden
werden können, wenn die zuständigen Behörden in kürzerer Zeit strengere
Maßnahmen ergriffen hätten. In fast allen Sektoren gebe es Regelungen, nach
denen die zuständigen Behörden gewisse Überwachungsaufgaben hätten. Die
Gefahr, Unannehmlichkeiten zu erleiden, die vielleicht nicht aufgetreten wären,
wenn die Überwachung vollständig wirksam gewesen wäre, treffe gleichwohl immer
den Betroffenen.
- 107.
- Im übrigen habe die Kommission nach der damals geltenden Regelung immer erst
nach Ablauf des Kalenderjahres vom Umfang der von den argentinischen Behörden
ausgestellten Echtheitsbescheinigungen erfahren. Daher seien etwaige
Kontingentsüberschreitungen erst gegen Ende des betreffenden Jahres bzw. am
Anfang des folgenden Jahres feststellbar gewesen, so daß sie nicht mehr hätten
verhindert werden können.
- 108.
- Außerdem sei der Abgleich nicht einfach gewesen. Zum einen seien die Ausfuhren
nicht notwendigerweise gleichzeitig mit der Mitteilung durch die argentinischen
Behörden erfolgt. Zum anderen sei die Angabe des vorgesehenen
Einfuhrmitgliedstaats in der Bescheinigung nicht bindend gewesen, so daß die
Ausfuhr häufig in einen anderen als den in der Bescheinigung angegebenen
Mitgliedstaat erfolgt sei.
- 109.
- Zwar sei es 1989 zu Überschreitungen des Kontingents gekommen. Dies habe sich
jedoch mit Verwechslungen mit Echtheitsbescheinigungen für andere
Fleischeinfuhren erklären lassen. Nachdem die Kommissionsdienststellen 1993 auf
Fälschungen von Echtheitsbescheinigungen hingewiesen worden seien, hätten sie
sofort reagiert. Von schwerwiegenden Versäumnissen könne daher keine Rede sein.
Im übrigen hätten die Überschreitungen in den Jahren 1991 und 1992 nur geringen
Umfang gehabt.
- 110.
- Mangels eines Irrtums der zuständigen Behörden sei die erste der drei kumulativen
Voraussetzungen des Artikels 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 nicht erfüllt.
- 111.
- Auch die zweite Voraussetzung, die Gutgläubigkeit des Abgabenschuldners, sei
nicht erfüllt. Zwar werde den Klägerinnen in der angefochtenen Entscheidung
keine „offensichtliche Fahrlässigkeit“ vorgeworfen, wohl aber mangelnde Sorgfalt
(siehe 16. und 22. Begründungserwägung). So heiße es in der
22. Begründungserwägung, daß die Klägerinnen nicht selbst alle erforderlichen
Vorkehrungen gegenüber ihren Vertragspartnern und Maklern in Argentinien
getroffen hätten und daß sie es insbesondere unterlassen hätten, unmittelbar zu
überprüfen, auf welchen Wegen die Echtheitsbescheinigungen zu ihnen gelangt
seien.
- 112.
- Aufgrund ihrer Kenntnis des Kontingentsystems und ihrer Berufserfahrung sei es
den Klägerinnen ohne weiteres möglich gewesen, Maßnahmen zu treffen, um die
Verwendung gefälschter Echtheitsbescheinigungen zu vermeiden. Das hätten sie
unterlassen, obwohl sie angesichts der gegebenen wirtschaftlichen Interessen sich
der Gefahr von Fälschungen hätten bewußt sein müssen. Die Klägerinnen hätten
sich bei ihren Geschäften in großem Umfang auf Broker in Argentinien gestützt.
Daß zwischen dem Schlachthof und dem Importeur ein weiterer Geschäftspartner
zwischengeschaltet worden sei, hätte den Importeur zu größerer Wachsamkeit
veranlassen müssen.
- 113.
- Die Fälschung der Echtheitsbescheinigungen hätte aufgedeckt werden können,
wenn die Klägerinnen bei der Prüfung Sorgfalt hätten walten lassen. Sie hätten die
Originale der Echtheitsbescheinigungen erhalten. Bei Zweifeln an ihrer Gültigkeit
hätten sie sich über diese Gewißheit verschaffen müssen (Urteile Hewlett Packard
France, Randnr. 24, und Faroe Seafood u. a., Randnr. 100).
- 114.
- Der Klagegrund gehe damit fehl, da der Tatbestand des Artikels 13 der
Verordnung Nr. 1430/79, dem gerecht werden müsse, wer einen Erlaß der
Einfuhrabgaben erlangen wolle, im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei, da die
zuständigen Behörden keinen Irrtum im Sinne des Artikels 5 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 1697/79 begangen und die Klägerinnen nicht gutgläubig gehandelt
hätten.
Rechtliche Würdigung
- 115.
- Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei Artikel 13 der Verordnung Nr.
1430/79 um eine auf Billigkeitserwägungen beruhende Generalklausel, die andere
als die praktisch häufig vorkommenden Fälle erfassen soll, für die bei Erlaß der
Verordnung eine besondere Regelung geschaffen werden konnte (Urteile des
Gerichtshofes vom 12. März 1987 in den Rechtssachen 244/85 und 245/85,
Cerealmangimi und Italgrani/Kommission, Slg. 1987, 1303, Randnr. 10, und vom 18.
Januar 1996 in der Rechtssache C-446/93, SEIM, Slg. 1996, I-73, Randnr. 41). Sie
findet insbesondere Anwendung, wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen
Wirtschaftsteilnehmer und Verwaltung unbillig wäre, den Wirtschaftsteilnehmer
einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten
hätte (Urteil des Gerichtshofes vom 26. März 1987 in der Rechtssache 58/86,
Coopérative agricole d'approvisionnement des Avirons, Slg. 1987, 1525,
Randnr. 22).
- 116.
- Die Kommission hat somit bei der Entscheidung, ob besondere Umstände im Sinne
dieses Artikels 13 vorliegen, den gesamten Sachverhalt zu würdigen (vgl. Urteil des
Gerichtshofes vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 160/84, Oryzomyli Kavallas
u. a./Kommission, Slg. 1986, 1633, Randnr. 16). Sie verfügt insoweit zwar über
einen Beurteilungsspielraum (Urteil France-aviation/Kommission, Randnr. 34), muß
dabei aber das Interesse der Gemeinschaft an der Beachtung der
Zollbestimmungen und das Interesse des gutgläubigen Importeurs daran, keine
Nachteile zu erleiden, die über das normale Geschäftsrisiko hinausgehen,
gegeneinander abwägen. Daher darf sie sich bei der Prüfung der Berechtigung
eines Erlaßantrags nicht damit begnügen, das Verhalten der Importeure in
Rechnung zu stellen. Sie muß auch die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens
oder Fehlverhaltens auf die fragliche Situation würdigen.
- 117.
- Sind die beiden Tatbestandsmerkmale des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79
das Vorliegen besonderer Umstände und das Fehlen einer betrügerischen Absicht
oder einer offensichtlichen Fahrlässigkeit des Betroffenen erfüllt, so hat der
Abgabenpflichtige Anspruch auf die Erstattung oder den Erlaß der
Einfuhrabgaben; andernfalls verlöre diese Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit
(vgl. zur Anwendung des Artikels 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 die
Urteile des Gerichtshofes Mecanarte, Randnr. 12, vom 4. Mai 1993 in der
Rechtssache C-292/91, Weis, Slg. 1993, I-2219, Randnr. 15, und Faroe Seafood
u. a., Randnr. 84).
- 118.
- Daher ist die Auffassung der Kommission zurückzuweisen, ein Erlaß der
Einfuhrabgaben sei nur gerechtfertigt, wenn die drei Voraussetzungen des Artikels
5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 die Nichterhebung beruhe auf einem
Irrtum der zuständigen Behörden; der Abgabenschuldner habe gutgläubig
gehandelt, der Irrtum der zuständigen Behörde sei für ihn also nicht erkennbar
gewesen; und er habe alle geltenden Bestimmungen betreffend die Zollerklärung
beachtet kumulativ erfüllt seien.
- 119.
- Der Gerichtshof hat zwar entschieden, daß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79
und Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 dasselbe Ziel verfolgten, die
Nachentrichtung von Ein- oder Ausfuhrabgaben auf Fälle zu beschränken, in denen
eine solche Zahlung gerechtfertigt und mit einem elementaren Grundsatz wie dem
Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar sei (Urteil Hewlett Packard France,
Randnr. 46); er hat die beiden Bestimmungen jedoch nicht als deckungsgleich
angesehen.
- 120.
- Der Gerichtshof hat nur erwogen, daß die Erkennbarkeit des Irrtums der
zuständigen Behörden im Sinne des Artikels 5 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1697/79 der offenkundigen Fahrlässigkeit oder der betrügerischen Absicht im Sinne
des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1430/79 entspreche, so daß dessen
Voraussetzungen im Licht der Voraussetzungen des Artikels 5 Absatz 2 gewürdigt
werden müßten.
- 121.
- Selbst wenn den zuständigen Behörden also kein Irrtum im Sinne des Artikels 5
Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 unterlaufen ist, schließt das nicht von
vornherein aus, daß sich der Betroffene hilfsweise auf Artikel 13 der Verordnung
Nr. 1430/79 berufen und dabei geltend machen kann, besondere Umstände
rechtfertigten den Erlaß der Einfuhrabgaben.
- 122.
- Die Auffassung der Kommission verkennt die Zwecke der beiden Bestimmungen.
Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1697/79 soll das berechtigte Vertrauen des
Abgabenpflichtigen in die Richtigkeit aller Gesichtspunkte schützen, die in die
Entscheidung über die Nachforderung der Zölle eingehen (Urteil Faroe Seafood
u. a., Randnr. 87). Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 stellt hingegen eine auf
Billigkeitserwägungen beruhende Generalklausel dar. Artikel 13 verlöre diesen
seinen Charakter, wenn der Tatbestand des Artikels 5 Absatz 2 stets erfüllt sein
müßte.
- 123.
- Bei der Prüfung der Frage, ob die Kommission einen offensichtlichen
Beurteilungsfehler begangen hat, als sie den Tatbestand des Artikels 13 der
Verordnung Nr. 1430/79 nicht erfüllt sah, ist zunächst das zweite
Tatbestandsmerkmal Fehlen einer betrügerischen Absicht und einer
offensichtlichen Fahrlässigkeit der Klägerinnen , dann das erste
Tatbestandsmerkmal Vorliegen besonderer Umstände zu erörtern.
Das Fehlen einer betrügerischen Absicht und einer offensichtlichen Fahrlässigkeit
- 124.
- Betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit im Sinne des Artikels 13
der Verordnung Nr. 1430/79 wird den Klägerinnen weder in der angefochtenen
Entscheidung noch in den Schriftsätzen der Kommission vorgeworfen. Die
Kommission hat auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung im
Gegenteil ausdrücklich erklärt, sie behaupte nicht, daß die Klägerinnen
offensichtliche Fahrlässigkeit gezeigt hätten.
- 125.
- Entgegen dem Vorbringen der Kommission läßt sich im übrigen bei den
Klägerinnen auch kein Mangel an Sorgfalt feststellen.
- 126.
- Zunächst ergibt sich aus den Akten, daß die Klägerinnen bis zur Eröffnung der
Untersuchungen durch die Kommission im Jahr 1993 (siehe Randnr. 17) keine
Kenntnis von Fälschungen der Echtheitsbescheinigungen oder von
Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit diesen hatten.
- 127.
- Zur Art der Fälschung ist zu sagen, wie bereits im Urteil des Gerichts vom 19.
Februar 1998 in der Rechtssache T-42/96 (Eyckeler & Malt/Kommission, Slg. 1998,
II-401, Randnrn. 143 und 144) festgestellt wurde, daß für eine gegebene Ausfuhr
im allgemeinen zwei Fassungen der Echtheitsbescheinigung mit derselben Nummer
erstellt wurden. Nach dem gemeinsamen Artikel 4 der Durchführungsverordnungen
trugen beide einen Stempel und eine Unterschrift, die beide anscheinend von
derselben zuständigen ausstellenden Stelle der Junta Nacional de Carnes bzw. des
Secretaría de Agricultura, Ganadería y Pesca stammten.
- 128.
- Ein Vergleich der Unterschriften auf den verschiedenen Fassungen einer
gegebenen Bescheinigung zeigt im übrigen, daß diese auf den ersten Blick identisch
oder zumindest sehr ähnlich sind.
- 129.
- Schließlich enthielten beide identische Angaben zum Zeitpunkt und zum Ort der
Ausstellung, zum argentinischen Exporteur, zum Empfänger in der Gemeinschaft
und zum Schiff, auf dem die Ausfuhr erfolgen sollte. Die Angaben in den beiden
Fassungen unterschieden sich nur hinsichtlich des angegebenen Gewichts. Die mit
„duplicado“ überschriebene Fassung war für die argentinischen Behörden bestimmt
und gab ein erheblich geringeres Gewicht als die für den Importeur bestimmte
Originalbescheinigung an. Auf der Fassung „duplicado“ wurden Gewichtsangaben
von 600 bis 2 000 kg gemacht, auf dem Original Angaben in der Größenordnung
von 10 000 kg, was den tatsächlich in die Gemeinschaft ausgeführten Mengen
entsprach. Zur fraglichen Zeit wurde Hilton Beef normalerweise in Containern mit
einem Fassungsvermögen von ungefähr 10 000 kg transportiert.
- 130.
- Nach dem Zusammenfassenden Bericht der Kommission wurde die Fälschung der
Papiere dadurch erleichtert, daß die Formularsätze nicht numeriert waren, daß die
Zahl der Formulare nicht berücksichtigt wurde und daß die Exporteure sie selbst
ausfüllten. Nach dem Bericht 1993 kommt hinzu, daß während mehrerer Monate
im Anschluß an die Übertragung der Erstellung der Echtheitsbescheinigungen von
der Junta Nacional de Carnes auf das Secretaría de Agricultura, Ganadería y Pesca
(vgl. Randnr. 16) die Kompetenzen und Modalitäten nicht klar bestimmt waren, so
daß Wirtschaftsteilnehmer die geltenden Bestimmungen umgehen und daraus einen
Vorteil ziehen konnten.
- 131.
- Die Akten enthalten Hinweise darauf, daß die zuständige argentinische Behörde
eine Bescheinigung mit einer Bescheinigungsnummer für ein geringes Gewicht
erstellt, diese Bescheinigung zu den Akten genommen und bestimmten
argentinischen Schlachthäusern eine Bescheinigung mit derselben Nummer sowie
den Stempeln und der Unterschrift ohne Angabe der Menge überlassen hat. Die
Schlachthäuser konnten anschließend größere Mengen angeben, die den tatsächlich
ausgeführten Mengen entsprachen. Der Zusammenfassende Bericht kam im
übrigen zu dem Ergebnis, daß Bedienstete des Zolles und der argentinischen
Veterinärdienststellen bei der Beladung offensichtlich „ein Auge zugedrückt“
hätten.
- 132.
- Unter den Umständen des vorliegenden Falles konnten die Klägerinnen bei
Anwendung verkehrserforderlicher Sorgfalt die fraglichen Fälschungen nicht
erkennen, da eine solche Überprüfung nicht im Bereich ihrer Möglichkeiten lag.
Die Klägerinnen bringen zu Recht vor, daß die gefälschten
Echtheitsbescheinigungen nicht als solche erkennbar gewesen seien. Im übrigen ist
den Akten nichts dafür zu entnehmen, daß die Klägerinnen Zweifel an der
Gültigkeit der Echtheitsbescheinigungen hätten haben müssen.
- 133.
- Schließlich sind zwei Feststellungen zum Preis angebracht, den die Klägerinnen für
das streitige Fleisch zahlten.
- 134.
- Zunächst ist unbestritten, daß wegen des Wegfalls der Einfuhrabschöpfungen im
Hilton-Kontingent die für Hilton Beef gezahlten Preise über den Preisen von
Rindfleisch ohne Echtheitsbescheinigung lagen. Hierzu machen die Klägerinnen
geltend, ohne daß die Kommission dem widerspräche, daß der Preisunterschied
zwischen diesen beiden Sorten Fleisch annähernd den Abschöpfungen entspreche,
die bei der Einfuhr von anderem Rindfleisch als Hilton Beef zu zahlen seien.
- 135.
- Dann hat die Kommission auch dem Vortrag der Klägerinnen nicht widersprochen,
daß die Preise für Hilton Beef, das mit Echtheitsbescheinigungen importiert worden
sei, die sich später als gefälscht herausgestellt hätten, in etwa den Preisen
entsprochen hätten, die für Hilton Beef mit gültigen Echtheitsbescheinigungen
gezahlt wurden.
- 136.
- Diese Feststellungen belegen den guten Glauben der Klägerinnen bei den streitigen
Einfuhren.
- 137.
- Da die Klägerinnen ihre Kaufverträge nach gängiger Handelspraxis geschlossen und
die streitigen Einfuhren entsprechend vorgenommen haben, war es Sache der
Kommission, eine offensichtliche Fahrlässigkeit zu beweisen.
- 138.
- Die Kommission hat diesen Beweis nicht einmal angetreten. Auf eine
entsprechende Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hat sie nur die
Behauptungen in der angefochtenen Entscheidung wiederholt, daß die Klägerinnen
nicht mit aller erforderlichen Sorgfalt vorgegangen seien, indem sie gegenüber ihren
Vertragspartnern und Mittelspersonen in Argentinien nicht alle erforderlichen
Sicherheitsmaßnahmen getroffen und die Wege, auf denen die
Echtheitsbescheinigungen zu ihr gelangten, nicht unmittelbar kontrolliert hätten.
- 139.
- Somit stellt das Verhalten der Klägerinnen weder mangelnde Sorgfalt noch
betrügerische Absicht noch offensichtliche Fahrlässigkeit im Sinne des Artikels 13
der Verordnung Nr. 1430/79 dar.
Die besonderen Umstände
- 140.
- Nach der einschlägigen Regelung und gemäß ständiger Rechtsprechung stellt es
keine besonderen Umstände dar, die einen Erlaß der Einfuhrabgaben rechtfertigen,
daß gutgläubig Papiere zur Erlangung einer Zollpräferenzbehandlung für zum
zollrechtlich freien Verkehr angemeldete Waren vorgelegt worden sind, die sich
später als gefälscht erweisen (Artikel 4 Nummer 2 Buchstabe c der Verordnung Nr.
3799/86, Artikel 904 Buchstabe c der Verordnung Nr. 2454/93, Urteile Van Gend
& Loos/Kommission, Randnr. 16, Acampora, Randnr. 8, und vom 17. Juli 1997 in
der Rechtssache C-97/95, Pascoal & Filhos, Slg. 1997, I-4209, Randnrn. 57 bis 60).
- 141.
- Die Klägerinnen machen jedoch nicht nur geltend, daß sie bei den streitigen
Einfuhren gefälschte Papiere guten Glaubens vorgelegt hätten. In erster Linie
stützen sie die Erlaßanträge auf schwerwiegendes Fehlverhalten insbesondere der
Kommission bei der Überwachung der Durchführung des Hilton-Kontingents, das
die Fälschungen erleichtert habe.
- 142.
- Die genannten Bestimmungen stehen demgemäß entgegen dem Vorbringen der
Kommission einem Erlaß der Einfuhrabgaben nicht entgegen.
- 143.
- Nach Artikel 155 EG-Vertrag und dem Grundsatz der ordentlichen Verwaltung war
die Kommission verpflichtet, eine ordnungsgemäße Durchführung des Hilton-Kontingents sicherzustellen und darüber zu wachen, daß dieses nicht überschritten
werde (ebenso Urteil des Gerichtshofes vom 15. Januar 1987 in der Rechtssache
175/84, Krohn/Kommission, Slg. 1987, 97, Randnr. 15).
- 144.
- Diese Überwachungspflicht ergab sich auch aus den Durchführungsverordnungen.
Im gemeinsamen Artikel 6 Absatz 1 dieser Verordnungen heißt es: „Die
Mitgliedstaaten teilen der Kommission in Zeitabschnitten von zehn Tagen,
spätestens aber nach vierzehn Tagen, nach Ursprungsland und Code derKombinierten Nomenklatur aufgegliedert, die Menge der in Artikel 1 genannten
Erzeugnisse mit, die in den freien Verkehr gelangt sind.“ Diese Bestimmung wäre
sinnlos, wenn sie nicht mit der Verpflichtung der Kommission einherginge, die
korrekte Durchführung des Kontingents zu überwachen.
- 145.
- Im übrigen ergibt sich aus den Papieren, die die Kommission auf Verlangen des
Gerichts vorgelegt hat, daß die argentinischen Behörden in den Jahren 1991 und
1992 der Kommission regelmäßig Listen mit den während der letzten zehn Tage
vor ihrer Absendung erteilten Echtheitsbescheinigungen übermittelten, in denen sie
insbesondere die Nummer der Bescheinigung, den argentinischen Exporteur, den
Adressaten in der Gemeinschaft sowie das Nettogewicht der ausgeführten Mengen
angaben. Weiter übermittelten die argentinischen Behörden die Namen und
Unterschriftsproben der argentinischen Beamten, die für die Unterzeichnung der
Echtheitsbescheinigungen zuständig waren.
- 146.
- Damit verfügte allein die Kommission über die Daten, um die Verwendung des
Hilton-Kontingents wirksam zu überwachen. Daraus ergab sich eine besondere
Verpflichtung, die richtige Durchführung des Kontingents zu überwachen.
- 147.
- Nach den Akten lassen sich bei der Überwachung der Durchführung des Hilton-Kontingents während der fraglichen Zeit erhebliche Mängel feststellen, die der
Kommission anzulasten sind.
- 148.
- Zunächst hat die Kommission in den Jahren 1991 und 1992 die Auskünfte der
argentinischen Behörden über das Ausfuhrvolumen im Rahmen des Kontingents
sowie die erteilten Echtheitsbescheinigungen nicht korrekt und regelmäßig mit den
entsprechenden Auskünften der Mitgliedstaaten abgeglichen. Hätte die Kommission
einen solchen Abgleich vorgenommen, so hätten die Betrügereien aller
Wahrscheinlichkeit nach viel eher erkannt werden können.
- 149.
- In Wirklichkeit überwachte die Kommission die Einfuhren nur oberflächlich und
unvollständig.
- 150.
- So hat die Kommission die ihr übersandten Erklärungen erst zu Beginn des
folgenden Jahres in Listen zusammengefaßt, so daß mengenmäßige Differenzen
und gegebenenfalls Überschreitungen erst zu diesem Zeitpunkt festgestellt werden
konnten. Aus diesem Grunde konnte sie im Laufe eines gegebenen Jahres die
Mitgliedstaaten von der möglichen Erschöpfung des Kontingents für dieses Jahr
nicht unterrichten.
- 151.
- Zudem handelte es sich nur um handschriftliche Listen. Hätte die Kommission die
vorliegenden Daten EDV-mäßig verarbeitet, wäre die Überwachung wesentlich
wirksamer gewesen. Zudem hätte sie ohne besondere Schwierigkeiten der Probleme
Herr werden können, die sich daraus ergaben, daß die Angaben des vorgesehenen
Einfuhrmitgliedstaats in den Echtheitsbescheinigungen nicht verbindlich waren, so
daß eine Ausfuhr nach einem anderen als dem in der Bescheinigung angegebenen
Mitgliedstaat erfolgen konnte.
- 152.
- Weiter hat die Kommission die Unterschriftsproben der argentinischen Beamten,
die zur Unterzeichnung der Echtheitsbescheinigungen befugt waren, weder den
Mitgliedstaaten bekanntgegeben noch im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften veröffentlichen lassen. Damit wurde den nationalen Behörden ein
möglicherweise wirksames Mittel vorenthalten, Fälschungen rechtzeitig zu
erkennen.
- 153.
- Zum dritten hat die Kommission auf frühere Feststellungen, daß das Hilton-Kontingent überschritten worden sei, nicht reagiert.
- 154.
- Aus dem Zusammenfassenden Bericht ergibt sich, daß die Untersuchung in
Argentinien im Jahr 1993 zu der Feststellung führte, daß mehr als 460
Echtheitsbescheinigungen, die 1991 und 1992 vorgelegt worden waren, gefälscht
waren. Folglich waren in diesen beiden Jahren 4 500 Tonnen Rindfleisch mit
falschen Bescheinigungen in die Gemeinschaft eingeführt worden; die darauf nicht
erhobenen Abschöpfungen beliefen sich auf ungefähr 18 Millionen ECU.
- 155.
- Unbestritten war die Kommission bereits 1989 auf erhebliche Überschreitungen
gestoßen. Wie sich aus Randnummer 178 des Urteils Eyckeler & Malt/Kommission
ergibt, hat die Kommission anerkannt, daß das Hilton-Kontingent allein in jenem
Jahr um mehr als 3 000 Tonnen überschritten worden war.
- 156.
- Daß die Kommission hierauf nicht reagiert hat, stellt ein erhebliches Fehlverhalten
dar. Aus den festgestellten Unregelmäßigkeiten hätte sie schließen müssen, daß
verstärkte Überwachungsmaßnahmen erforderlich waren. Schon damals hätte sie
Nachforschungen anstellen müssen, um die genauen Ursachen der
Überschreitungen festzustellen.
- 157.
- Hätte die Kommission rechtzeitig wirksamere Überwachungsmaßnahmen getroffen,
um den Problemen zu begegnen, die mit den 1989 festgestellten Überschreitungen
des Kontingents zusammenhingen, hätten die in den Jahren 1991 und 1992
begangenen Fälschungen wahrscheinlich nicht den später festgestellten Umfang von
ungefähr 10 % des Hilton-Kontingents erreicht. Im übrigen hätten die Verluste der
Wirtschaftsteilnehmer daher mit Sicherheit begrenzt werden können.
- 158.
- Daß kein wirksames Überwachungssystem eingeführt wurde, hat zusammen mit
dem übrigen bei der Überwachung des Hilton-Kontingents festgestellten
Fehlverhalten dazu geführt, daß die Fälschungen andauern und den hier
festgestellten Umfang annehmen konnten.
- 159.
- Wie bereits festgestellt (vgl. Randnr. 134), lag der Marktpreis von Hilton Beef mit
gültiger Echtheitsbescheinigung in der Regel erheblich über demjenigen von Fleisch
ohne diese Bescheinigung, wobei der Preisunterschied sich daraus erklärte, daß für
Rindfleisch, das außerhalb des Hilton-Kontingents eingeführt wurde,
Abschöpfungen in Höhe von etwa 10 DM/kg zu zahlen waren (vgl. Randnr. 10).
- 160.
- Die Preise, die die Klägerinnen für eingeführtes Rindfleisch mit gefälschten
Echtheitsbescheinigungen zahlten, entsprachen in etwa denjenigen, die für Hilton
Beef mit gültigen Bescheinigungen verlangt wurden; die Kommission bestreitet das
nicht (vgl. auch Randnr. 135).
- 161.
- Daher tragen die Klägerinnen vor, aufgrund des erhöhten Preises für Hilton Beef,
wenn es auch mit gefälschten Bescheinigungen eingeführt worden sei, hätten sie
wirtschaftlich bereits einen Preis gezahlt, der im Großen und Ganzen die
Abschöpfung auf die streitige Einfuhr umfasse; die Kommission bestreitet das nicht.
- 162.
- Sicherlich ist das Vertrauen eines Abgabepflichtigen in die Gültigkeit einer
Echtheitsbescheinigung, die sich bei einer späteren Überprüfung als falsch
herausstellt, in der Regel vom Gemeinschaftsrecht nicht geschützt, sondern gehört
zum Geschäftsrisiko (Urteile Van Gend & Loos/Kommission, Randnr. 17,
Acampora, Randnr. 8, Mecanarte, Randnr. 24, und Pascoal & Filhos, Randnrn. 59
und 60).
- 163.
- Im vorliegenden Fall konnten die Fälschungen jedoch nur deshalb zu erheblichen
Überschreitungen des Hilton-Kontingents führen, weil die Kommission ihrer Pflicht
zur Überwachung der Durchführung des Kontingents während der Jahre 1991 und
1992 nicht nachgekommen ist. Daher überschritten diese im übrigen sehr
professionell vorgenommenen Fälschungen das normale Geschäftsrisiko, das die
Klägerinnen nach der in Randnummer 161 zitierten Rechtsprechung zu tragen
haben.
- 164.
- Da Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 Anwendung findet, wenn es angesichts
des Verhältnisses zwischen Wirtschaftsteilnehmer und Verwaltung unbillig wäre,
den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem
Gang der Dinge nicht erlitten hätte (Urteil Coopérative agricole
d'approvisionnement des Avirons, Randnr. 22), ist der vorliegende Sachverhalt nach
alledem durch besondere Umstände im Sinne der genannten Bestimmung
gekennzeichnet, die einen Erlaß der Einfuhrabgaben rechtfertigen.
- 165.
- Die Kommission hat daher einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als
sie annahm, die mangelhafte Überwachung der Durchführung des Kontingents
könne niemals besondere Umstände darstellen.
- 166.
- Somit ist neben dem ersten auch der dritte Klagegrund Verstoß gegen Artikel 13
der Verordnung Nr. 1430/79 begründet.
- 167.
- Über den zweiten Verletzung wesentlicher Formvorschriften , den vierten
Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den fünften
Klagegrund Verletzung der Begründungspflicht braucht daher nicht mehr
erkannt zu werden; vielmehr ist die angefochtene Entscheidung für nichtig zu
erklären.
Kosten
- 168.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung trägt die unterliegende Partei die
Kosten, wenn dies beantragt ist. Da die Kommission unterlegen ist, ist sie
entsprechend dem Antrag der Klägerinnen in die Kosten zu verurteilen.
- 169.
- Das Vereinigte Königreich trägt als Streithelfer gemäß Artikel 87 § 4 Absatz 1 der
Verfahrensordnung seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Erste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Entscheidung der
Kommission vom 26. Januar 1996 betreffend den Erlaß von
Einfuhrabgaben wird für nichtig erklärt.
2. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt seine
eigenen Kosten.
Vesterdorf Moura Ramos Mengozzi
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf