URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
29. September 1999 (1)
„Beamte Waisengeld“
In der Rechtssache T-68/97
Martin Neumann
und
Irmgard Neumann-Schölles, Beamtin der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften,
wohnhaft in Karlsruhe (Deutschland), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Hans-Josef Rüber, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Ernest Arendt,
8-10, rue Mathias Hardt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater
Julian Currall und Christine Berardis-Kayser, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwalt Bertrand Wägenbaur, Hamburg,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Waisengeld an Martin
Neumann
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Potocki sowie der Richter C. W. Bellamy und
M. Vilaras,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24.
Februar 1999
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- Nach Artikel 79 Absatz 1 des Statuts der Beamten der Europäischen
Gemeinschaften (Statut) hat die Witwe eines Beamten oder eines ehemaligen
Beamten unter den in Anhang VIII Kapitel 4 vorgesehenen Bedingungen Anspruch
auf ein Witwengeld in Höhe von 60 v. H. des nach dem Dienstalter bemessenen
Ruhegehalts oder des Ruhegehalts wegen Dienstunfähigkeit, das ihr Ehegatte
bezogen hat oder das ihm zugestanden hätte, wenn er ohne die Voraussetzung
einer Mindestdienstzeit oder eines Mindestalters zum Zeitpunkt seines Todes
hierauf Anspruch gehabt haben würde.
- 2.
- Gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts erhält die Witwe eines
Beamten, der sich bei seinem Tod in einer der dienstrechtlichen Stellungen nach
Artikel 35 des Statuts befand, sofern die Ehe mindestens ein Jahr gedauert hat,
vorbehaltlich des Artikels 1 Absatz 1 und des Artikels 22 des Anhangs VIII ein
Witwengeld in Höhe von 60 v. H. des Ruhegehalts, das an den Beamten gezahlt
worden wäre, wenn er ohne Voraussetzung einer Mindestdienstzeit oder eines
Mindestalters im Zeitpunkt seines Todes hierauf Anspruch gehabt hätte.
- 3.
- In Artikel 80 Absatz 1 des Statuts heißt es: „Stirbt ein Beamter oder ein
Ruhegehaltsberechtigter, ohne einen Ehegatten zu hinterlassen, der Anspruch auf
Witwengeld hat, so erhalten seine im Sinne von Anhang VII Artikel 2
unterhaltsberechtigten Kinder ein Waisengeld nach Anhang VIII Artikel 21.“
- 4.
- Artikel 80 Absatz 2 des Statuts bestimmt: „Kinder, die die gleichen Bedingungen
erfüllen, haben den gleichen Anspruch, wenn ein
hinterbliebenenversorgungsberechtigter Ehegatte stirbt oder eine neue Ehe
eingeht.“
- 5.
- Artikel 80 Absatz 3 des Statuts lautet: „Stirbt ein Beamter oder ein Empfänger
eines Ruhegehalts oder eines Ruhegehalts wegen Dienstunfähigkeit, ohne daß die
in Absatz 1 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, so haben dessen als
unterhaltsberechtigt anerkannte Kinder im Sinne des Artikels 2 des Anhangs VII
nach Maßgabe des Artikels 21 des Anhangs VIII Anspruch auf ein Waisengeld; das
Waisengeld beläuft sich jedoch auf die Hälfte des sich nach dem letztgenannten
Artikel ergebenden Betrags.“
- 6.
- Artikel 80 Absatz 4 des Statuts bestimmt: „Stirbt der Ehegatte eines Beamten oder
ehemaligen Beamten, der ein Ruhegehalt nach der Dienstzeit oder wegen
Dienstunfähigkeit bezieht, und war dieser Ehegatte weder Beamter noch
Bediensteter auf Zeit, so erhalten die im Sinne von Artikel 2 des Anhangs VII
unterhaltsberechtigten Kinder des überlebenden Ehegatten ein Waisengeld in Höhe
des doppelten Betrags der Kinderzulage.“
- 7.
- Als unterhaltsberechtigtes Kind gilt nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des
Anhangs VII des Statuts „das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt
angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten, wenn es von dem
Beamten tatsächlich unterhalten wird“.
- 8.
- Nach Artikel 21 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Anhangs VIII des Statuts beträgt das
Waisengeld nach Artikel 80 Absätze 1, 2 und 3 des Statuts für das erste verwaiste
Kind 8/10 des Witwengeldes, auf das die Witwe des Beamten oder ehemaligen
Beamten, dem ein Ruhegehalt nach der Dienstzeit oder wegen Dienstunfähigkeit
zustand, Anspruch gehabt hätte; hierbei bleiben die Kürzungen nach Artikel 25 des
Anhangs VIII außer Betracht.
- 9.
- Nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlieren die Rechtsnachfolger eines
verstorbenen Beamten oder ehemaligen Beamten, dem ein Ruhegehalt nach der
Dienstzeit oder wegen Dienstunfähigkeit zustand, die die Festsetzung ihrer
Versorgungsansprüche nicht innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden
Jahres beantragen, ihre Ansprüche, es sei denn, daß sie den Antrag nachweislich
infolge höherer Gewalt nicht fristgemäß stellen konnten.
Sachverhalt
- 10.
- Der am 26. August 1970 geborene Kläger zu 1) Martin Neumann ist der Sohn von
Günther Neumann und der Klägerin zu 2) Irmgard Neumann. Die Klägerin zu 2)
ist Beamtin der Kommission.
- 11.
- Die Ehegatten Neumann wurden 1976 geschieden.
- 12.
- Die Klägerin zu 2) heiratete am 7. Juni 1991 Willi Schölles, einen Beamten der
Kommission, mit dem sie seit 1982 zusammengelebt hatte. Herr Schölles hatte drei
Kinder aus einer vorhergehenden Ehe.
- 13.
- Herr Schölles verstarb am 25. April 1992.
- 14.
- Die Klägerin zu 2) beantragte bei der Kommission mit Schreiben vom 11. Juni 1992
Hinterbliebenenversorgung.
- 15.
- Die Kommission lehnte es mit Schreiben vom 17. August 1992 ab, der Klägerin zu
2) Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, da ihre Ehe mit Herrn Schölles zum
Zeitpunkt von dessen Tod nicht, wie Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des
Statuts dies voraussetze, mindestens ein Jahr gedauert habe.
- 16.
- Mit Schreiben vom 4. Mai 1995 ersuchte die Klägerin zu 2) die Kommission, die
Angelegenheit erneut zu prüfen.
- 17.
- Mit Schreiben vom 22. Juni 1995 teilte die Kommission der Klägerin zu 2) mit, daß
sie die Angelegenheit erneut geprüft habe. Sie hielt an ihrer Weigerung, der
Klägerin zu 2) gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts
Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, fest und fügte hinzu: „Dagegen hat Ihr
Sohn Martin, der von dem Beamten vor dessen Tod unterhalten wurde, nach
hiesiger Auffassung gemäß Artikel 80 Anspruch auf Waisengeld in Höhe des
doppelten Betrages der Kinderzulage. In der Anlage sind die für die Gewährung
des Waisengeldes auszufüllenden Dokumente beigefügt.“
- 18.
- Mit Schreiben vom 30. Juni 1995 übersandte die Klägerin zu 2) der Kommission
eine Erklärung über die persönliche Situation ihres Sohnes, die dieser entsprechend
dem Schreiben vom 22. Juni 1995 ausgefüllt hatte.
- 19.
- Mit einem an die Klägerin zu 2) gerichteten Schreiben vom 10. August 1995 lehnte
die Kommission die Gewährung von Waisengeld für deren Sohn mit der
Begründung ab, nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlören die
Rechtsnachfolger eines verstorbenen Beamten, die die Festsetzung ihrer
Versorgungsansprüche nicht innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden
Jahres beantragten, ihre Ansprüche.
- 20.
- Am 11. September 1995 legte die Klägerin zu 2) gegen diese Entscheidung
Beschwerde mit der Begründung ein, sie habe am 11. Juni 1992
„Hinterbliebenenversorgung“ beantragt; dieser Begriff umfasse Waisenrenten.
- 21.
- Die Kommission gab dieser Beschwerde mit Bescheid vom 13. November 1995 statt
und teilte der Klägerin zu 2) mit, daß eine neue Entscheidung über das Waisengeld
erlassen werde.
- 22.
- Mit Schreiben vom 20. März 1996 an die Klägerin zu 2) lehnte die Kommission die
Gewährung von Waisengeld für deren Sohn mit der Begründung ab, dieser sei vor
dem Tod von Herrn Schölles nicht von letzterem unterhalten worden. Die Last des
Unterhalts für das Kind werde im Prinzip von den leiblichen Eltern getragen, und
Günther Neumann sei nicht von seiner Unterhaltspflicht befreit worden.
- 23.
- Am 17. Juni 1996 legte die Klägerin zu 2) Beschwerde gegen diesen zweiten
ablehnenden Bescheid ein und führte aus, ihr Sohn habe Anspruch auf Waisengeld
gemäß Artikel 80 Absatz 1 des Statuts, da es nach Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs
VII des Statuts nur darauf ankomme, ob das Kind von dem Beamten tatsächlich
unterhalten worden sei. Herr Schölles habe in erheblichem Umfang
Unterhaltsleistungen für den Kläger zu 1) erbracht, da Günther Neumann nicht in
der Lage gewesen sei, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen. Eine Erklärung von
Günther Neumann betreffend seine finanzielle Situation war der Beschwerde
beigefügt.
- 24.
- Günther Neumann verstarb am 5. August 1996.
- 25.
- Die Kommission wies die Beschwerde vom 17. Juni 1996 mit Entscheidung vom 29.
November 1996, mitgeteilt am 17. Dezember 1996, u. a. mit der Begründung
zurück, der Kläger zu 1) sei nicht Waise im Sinne des Artikels 21 Absatz 1 des
Anhangs VIII des Statuts.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 26.
- Die Kläger haben mit Klageschrift, die am 13. März 1997 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
- 27.
- Die Kläger beantragen,
die Kommission zu verurteilen, an den Kläger zu 1) ein Waisengeld gemäß
Artikel 80 des Statuts zu zahlen;
der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 28.
- Die Kommission beantragt,
die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen;
über die Kosten nach Rechtslage zu befinden.
- 29.
- In ihrer Gegenerwiderung beantragt die Kommission,
der Klägerin zu 2) die der Kommission verursachten Kosten aufzuerlegen
und im übrigen nach Rechtslage zu entscheiden.
- 30.
- Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Zweite Kammer) beschlossen,
das mündliche Verfahren ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Die
mündliche Verhandlung hat am 24. Februar 1999 stattgefunden.
Zulässigkeit
Vorbringen der Parteien
- 31.
- Die Kommission macht geltend, daß die Klage unzulässig sei.
- 32.
- Erstens hätten weder die Klägerin zu 2) noch der Kläger zu 1) in dem Jahr nach
dem Tod von Herrn Schölles gemäß Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts einen
Antrag auf Waisengeld gemäß Artikel 90 Absatz 1 des Statuts gestellt (vgl. Urteil
des Gerichts vom 1. Dezember 1994 in der Rechtssache T-79/92,
Ditterich/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-907, Randnr. 44, und Beschluß des Gerichts
vom 15. Februar 1995 in der Rechtssache T-112/94, Moat/Kommission, Slg. ÖD
1995, II-135, Randnr. 20).
- 33.
- Ein gemäß Artikel 90 Absatz 1 des Statuts gestellter Antrag müsse den Empfänger
nämlich in die Lage versetzen, den Inhalt des Ersuchens zu erkennen (Urteil des
Gerichts vom 3. April 1990 in der Rechtssache T-135/89, Pfloeschner/Kommission,
Slg. 1990, II-153, Randnr. 17). Das Schreiben vom 11. Juni 1992 enthalte jedoch
weder den Begriff „Waisengeld“ noch sei es vom Kläger zu 1) unterschrieben
worden. Die Kommission habe dieses Schreiben nur als Antrag der Klägerin zu 2)
auf Witwengeld verstehen können.
- 34.
- Im übrigen zeige das Schreiben der Kommission vom 17. August 1992, das nicht
auf die Frage des Anspruchs auf Waisengeld eingehe, daß die Kommission das
Schreiben vom 11. Juni 1992 nicht als Antrag auf Gewährung von Waisengeld an
den Kläger zu 1) verstanden habe. Aus dem Schreiben der Klägerin zu 2) vom 4.
Mai 1995 gehe hervor, daß auch diese es nicht in diesem Sinne verstanden habe.
In diesem Schreiben, in dem sich die Klägerin erstmals seit ihrem Schreiben vom
11. Juni 1992 wieder an die Kommission gewandt habe, sei von „Waisengeld“ nicht
die Rede.
- 35.
- Die Klägerin zu 2) habe in ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 nicht als Vertreterin
des Klägers zu 1) gehandelt, dessen Name im übrigen nicht erwähnt worden sei.
Jedenfalls sei die gegenteilige Behauptung der Kläger unerheblich, da die Klägerin
zu 2) dieses angebliche Vertretungsverhältnis gegenüber der Kommission weder in
ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 noch in sonstiger Weise offengelegt habe. Im
übrigen habe auch kein Anlaß für eine Vertretung bestanden, da der Kläger zu 1)
längst volljährig gewesen sei.
- 36.
- Der Einwand, der Kläger zu 1) persönlich habe keinen Antrag nach Artikel 42 des
Anhangs VIII des Statuts stellen dürfen, weil er aufgrund des Testaments des
Herrn Schölles nicht dessen „Rechtsnachfolger“ sei, sei zurückzuweisen. Denn das
Statut sei als autonomer Rechtstext in seinem eigenen Zusammenhang und gemäß
seinen eigenen Zielen auszulegen (Urteil des Gerichts vom 6. April 1990 in der
Rechtssache T-43/89, Gill/Kommission, Slg. 1990, II-173, Randnr. 20).
Rechtsnachfolger im Sinne des Artikels 42 des Anhangs VIII des Statuts seien all
jene Personen, die von einem Beamten kraft des Statuts Rechte für sich in
Anspruch nehmen könnten, hier also die beiden Kläger.
- 37.
- Zweitens wäre, auch wenn man unterstellen wollte, daß die Klägerin zu 2) mit dem
Schreiben vom 11. Juni 1992 einen Antrag auf Gewährung von Waisengeld an den
Kläger zu 1) gestellt habe, dieser Antrag entweder durch das Schreiben vom 17.
August 1992 oder implizit, d. h. nach Ablauf der in Artikel 90 Absatz 1 des Statuts
vorgesehenen Frist von vier Monaten abgelehnt worden. Gegen diese Entscheidung
sei innerhalb der in Artikel 90 Absatz 2 des Statuts vorgesehenen Frist von drei
Monaten keine Beschwerde eingelegt worden.
- 38.
- Weder der in dem Schreiben der Klägerin zu 2) vom 30. Juni 1995 gestellte Antrag
auf Waisengeld noch die diesen Antrag zurückweisende Entscheidung vom 10.
August 1995 bewirke die Neueröffnung der Fristen (Urteile des Gerichts vom 7.
Februar 1991 in der Rechtssache T-58/89, Williams/Rechnungshof, Slg. 1991, II-77,
Randnr. 39, vom 25. September 1991 in der Rechtssache T-54/90,
Lacroix/Kommission, Slg. 1991, II-749, Randnr. 24, und vom 10. April 1992 in der
Rechtssache T-15/91, Bollendorf/Parlament, Slg. 1992, II-1679, Randnr. 22).
- 39.
- Drittens sei der Klageantrag, der darauf gerichtet sei, die Kommission zu
verurteilen, an den Kläger zu 1) Waisengeld zu zahlen, unzulässig, denn das
Gemeinschaftsgericht dürfe einem Gemeinschaftsorgan keine Anweisungen erteilen,
da es sonst in dessen Zuständigkeitsbereich eingreifen würde (siehe zuletzt Urteil
des Gerichts vom 16. April 1997 in der Rechtssache T-66/95,
Kuchlenz-Winter/Kommission, Slg. 1997, II-637, Randnr. 26).
- 40.
- Viertens habe die Klägerin zu 2) kein Rechtsschutzinteresse, da die Klage
ausschließlich auf Zahlung von Waisengeld an ihren Sohn Martin Neumann
gerichtet sei; daran ändere auch der Umstand nichts, daß die Kommission die
vorprozessuale Korrespondenz an die Klägerin zu 2) gerichtet habe.
- 41.
- Die Kläger machen zunächst geltend, das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11.
Juni 1992 stelle einen Antrag auf Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1)
dar, der von der Klägerin zu 2) in ihrer Eigenschaft als dessen Vertreterin
innerhalb der in Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts genannten Frist gestellt
worden sei. Ferner sei nicht zutreffend, daß die Klage unzulässig sei, weil die
Entscheidung vom 17. August 1992 bestandskräftig geworden sei, denn die
Kommission habe die Angelegenheit mehrfach erneut geprüft und neue
Entscheidungen getroffen. Schließlich sei der Antrag auf Verurteilung der
Kommission zur Zahlung von Waisengeld an den Kläger zu 1) zulässig, und die
Klägerin zu 2) habe ein Rechtsschutzinteresse.
Würdigung durch das Gericht
Zum Streitgegenstand
- 42.
- Der Antrag der Kläger auf Gewährung von Waisengeld ist dahin auszulegen, daß
er auf die Aufhebung der Entscheidung vom 29. November 1996 über die
Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin zu 2) vom 17. Juni 1996 gegen die
Entscheidung vom 20. März 1996 gerichtet ist, mit der die Gewährung von
Waisengeld an den Kläger zu 1) abgelehnt worden war, nicht aber auf
Verpflichtung der Kommission zu einem Tun.
- 43.
- Da die Verwaltungsbeschwerde und ihre Zurückweisung durch die
Anstellungsbehörde nach ständiger Rechtsprechung Bestandteile eines komplexen
Verfahrens sind, in dessen Rahmen eine Klage gegen die Zurückweisung der
Beschwerde bewirkt, daß das Gericht mit der beschwerenden Handlungen befaßt
wird, gegen die die Beschwerde eingelegt worden war (Urteile des Gerichts vom
16. November 1996 in der Rechtssache T-36/94, Capitanio/Kommission, Slg. ÖD
1996, II-1279, Randnr. 33, und vom 9. Juli 1997 in der Rechtssache T-156/95,
Echauz Brigaldi u. a./Kommission, Slg. ÖD 1997, II-509, Randnr. 23), ist der Antrag
auch auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 20. März 1996
gerichtet.
- 44.
- Folglich ist Klagegegenstand die Aufhebung der Entscheidungen vom 20. März
1996 und 29. November 1996. In diesem Sinne ausgelegt, sind die Anträge der
Kläger zulässig.
Zur Einhaltung des Artikels 42 des Anhangs VIII des Statuts
- 45.
- Nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlieren die Rechtsnachfolger eines
verstorbenen Beamten, die die Festsetzung ihrer Versorgungsansprüche nicht
innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden Jahres beantragen, ihre
Ansprüche, es sei denn, daß sie den Antrag nachweislich infolge höherer Gewalt
nicht fristgemäß stellen konnten.
- 46.
- Die Kommission hat sich in ihren Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29.
November 1996 nicht darauf berufen, daß diese Vorschrift nicht eingehalten
worden sei.
- 47.
- Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage sind jedoch nach ständiger
Rechtsprechung zwingenden Rechts (vgl. z. B. Urteil des Gerichtshofes vom 16.
Dezember 1960 in der Rechtssache 6/60, Humblet/Etat belge, Slg. 1960, 1165, 1188,
und Urteil des Gerichts vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache T-465/93, Murgia
Messapica/Kommission, Slg. 1994, II-361, Randnr. 24).
- 48.
- Auch Artikel 42 des Anhangs VII des Statuts ist zwingendes Recht; er steht nicht
zur Disposition der Parteien oder der Gerichts, da er die Klarheit und Sicherheit
von Rechtsstellungen gewährleisten soll.
- 49.
- Somit ist das Vorbringen zu prüfen, daß Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts
nicht eingehalten worden sei.
- 50.
- In ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 beantragte die Klägerin zu 2)
Hinterbliebenenversorgung.
- 51.
- Die Kommission hat die Behauptung der Kläger nicht bestritten, daß der deutsche
Begriff „Hinterbliebenenversorgung“ sowohl Witwen- als auch Waisenrenten
umfasse.
- 52.
- Im übrigen ist Kapitel 4 des Anhangs VIII des Statuts, der sowohl die Gewährung
von Witwengeld (Artikel 17 bis 20) als auch die von Waisengeld (Artikel 21) regelt,
im deutschen Text mit „Hinterbliebenenversorgung“ überschrieben. Des weiteren
bezieht sich Artikel 40 des Anhangs VIII, der die Feststellung der Ansprüche der
Beamten regelt, allgemein auf die Feststellung der Ansprüche auf
Hinterbliebenenversorgung, ohne zwischen Witwengeld und Waisengeld zu
unterscheiden.
- 53.
- Daher ist das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11. Juni 1992 so zu verstehen, daß
es die Gewährung sämtlicher unter den Begriff „Hinterbliebenenversorgung“
fallender Rentenansprüche betrifft, also nicht nur das Witwengeld, sondern auch
das Waisengeld.
- 54.
- Aus den Akten geht ferner hervor, daß die Klägerin zu 2) ihre Korrespondenz mit
der Kommission nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen ihres
Sohnes, des Klägers zu 1), führte.
- 55.
- Folglich ist das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11. Juni 1992 als Antrag
anzusehen, der nicht nur auf Gewährung von Witwengeld, sondern auch auf
Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) gerichtet ist und den die Klägerin
zu 2) als Vertreterin des letzteren innerhalb der Jahresfrist des Artikels 42 des
Anhangs VIII des Statuts gestellt hat.
- 56.
- Dem entspricht es, daß die Kommission in ihrem Schreiben vom 13. November
1995 diese Auslegung des Schreibens vom 11. Juni 1992 ausdrücklich akzeptiert und
ihre Meinung insoweit weder in ihrer Entscheidung vom 20. März 1996 noch in der
streitigen Entscheidung vom 29. September 1996 geändert hat.
- 57.
- Demnach ist das Vorbringen, Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts sei nicht
eingehalten worden, zurückzuweisen.
Zur Klagefrist
- 58.
- Die Kommission bringt vor, daß die Klage unzulässig sei, da gegen die 1992
erfolgte implizite Zurückweisung des Antrags auf Gewährung von Waisengeld im
Schreiben vom 11. Juni 1992 keine Beschwerde gemäß Artikel 90 Absatz 2 des
Statuts eingelegt worden sei. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine
Anfechtungsklage gegen eine wiederholende Verfügung unzulässig, wenn die
frühere Entscheidung nicht fristgerecht angefochten wurde. Eine wiederholende
Verfügung liegt vor, wenn eine Maßnahme gegenüber der früheren Entscheidung
nichts Neues enthält und ihr keine erneute Prüfung der Situation des Adressaten
vorausgegangen ist (Urteil des Gerichts vom 21. Oktober 1998 in der Rechtssache
T-100/96, Vicente-Nuñez/Kommission, Slg. ÖD 1998, II-1779, Randnr. 37, vgl. auch
Urteile des Gerichts vom 3. März 1994 in der Rechtssache T-82/92, Cortez-Jiminez/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-237, Randnr. 14, und vom 8. Juli 1998 in der
Rechtssache T-130/96, Aquilino/Rat, Slg. ÖD 1998, II-1017, Randnr. 34).
- 59.
- Im vorliegenden Fall hat die Kommission die Angelegenheit fünfmal erneut
geprüft; zum erstenmal auf den Antrag der Klägerin zu 2) vom 4. Mai 1995, was
sie dazu veranlaßte, in ihrem Schreiben vom 22. Juni 1995 von einem Anspruch des
Klägers zu 1) auf Waisengeld auszugehen, zum zweitenmal im Rahmen ihres
Schreibens vom 10. August 1995, in dem sie die Gewährung von Waisengeld mit
der Begründung ablehnte, Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts sei nicht
eingehalten worden, zum drittenmal auf die Beschwerde der Klägerin zu 2) vom
11. September 1995, was sie dazu veranlaßte, in ihrer Entscheidung vom 13.
November 1995 ihr Schreiben vom 10. August 1995 zurückzunehmen und der
Klägerin zu 2) den Erlaß einer neuen Entscheidung anzukündigen, zum viertenmal
im Rahmen ihrer Entscheidung vom 20. März 1996, mit dem sie die Gewährung
von Waisengeld mit der Begründung ablehnte, daß der Kläger zu 1) von Herrn
Schölles nicht unterhalten worden sei, und schließlich, als sie auf die Beschwerde
der Klägerin zu 2) vom 17. Juni 1996 die Entscheidung vom 29. November 1996
erließ, mit der sie die Beschwerde u. a. mit der Begründung zurückwies, der Kläger
zu 1) sei nicht Waise im Sinne des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts.
- 60.
- Folglich sind die Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29. November 1996,
die beide nach wiederholter Neuprüfung erlassen wurden und neue Gesichtspunkte
enthielten, keine wiederholenden Verfügungen, sondern eigenständige
Entscheidungen, die die vorangegangenen Entscheidungen ersetzen. Die Kläger
haben daher zu Recht Beschwerde gegen die Entscheidung vom 20. März 1996
eingelegt und anschließend innerhalb der Dreimonatsfrist nach Artikel 91 Absatz
3 des Statuts die Entscheidung vom 29. November 1996 angefochten.
- 61.
- Die Klage, die am 13. März 1997 beim Gericht eingegangen ist, wurde innerhalb
von drei Monaten nach der am 17. Dezember 1996 erfolgten Mitteilung der
Entscheidung vom 29. November 1996 erhoben.
- 62.
- Das Vorbringen, die Klagefrist sei nicht eingehalten worden, ist daher
zurückzuweisen.
Zum Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu 2)
- 63.
- Zum einen ist die Entscheidung vom 29. November 1996 an die Klägerin zu 2)
gerichtet und stellt eine ausdrückliche Zurückweisung ihrer Beschwerde vom 17.
Juni 1996 gegen die Entscheidung vom 20. März 1996 dar, die ebenfalls an sie
gerichtet gewesen war und mit der ihr Antrag auf Gewährung von Waisengeld an
ihren Sohn Martin Neumann abgelehnt worden war. Zum anderen geht aus den
Akten hervor, daß sich die Kommission während des gesamten
Verwaltungsverfahrens an die Klägerin zu 2) als Vertreterin ihres Sohnes Martin
gewandt hat. Zum dritten könnte die Gewährung von Waisengeld an den Kläger
zu 1) auch finanzielle Auswirkungen auf die Klägerin zu 2) haben, da sie im
maßgeblichen Zeitraum ihren Sohn unterhielt.
- 64.
- Daher hat die Klägerin zu 2) ein Rechtsschutzinteresse bezüglich der Aufhebung
der Entscheidungen vom 20. März 1996 und 29. November 1996.
- 65.
- Nach alledem ist die Klage insgesamt zulässig.
Begründetheit
Vorbringen der Parteien
- 66.
- Die Kläger machen geltend, die Voraussetzungen für die Gewährung des
Waisengeldes nach Artikel 80 Absatz 1 des Statuts seien erfüllt.
- 67.
- Die Kommission führt aus, der Kläger zu 1) habe keinen Anspruch auf Waisengeld
gemäß Artikel 80 Absätze 1 und 3 des Statuts.
- 68.
- Zum einen ergebe sich aus dem Wortlaut des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts und
insbesondere aus seinem Verweis auf die im Sinne von Anhang VII Artikel 2
unterhaltsberechtigten Kinder des verstorbenen Beamten, daß diese Bestimmung
nur die eigenen Kinder des Beamten, d. h. seine leiblichen oder adoptierten Kinder
betreffe. Der Kläger zu 1) sei im Verhältnis zu Herrn Schölles weder das eine noch
das andere.
- 69.
- In der mündlichen Verhandlung hat sich die Kommission u. a. auf den deutschen
Text des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts bezogen, in dem es „seine ...
unterhaltsberechtigten Kinder“ heiße.
- 70.
- Zum zweiten sei der Kläger zu 1) nicht Waise, da seine beiden leiblichen Eltern
zum Zeitpunkt des Todes von Herrn Schölles am Leben gewesen seien und dieser
ihn nicht adoptiert habe.
- 71.
- Zum dritten lägen die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorbringen, es reiche
aus, daß der Kläger zu 1) tatsächlich von Herrn Schölles unterhalten worden sei,
nicht vor. Nach den eigenen Worten der Klägers stehe fest, daß dieser von der
Klägerin zu 2) und Herrn Schölles gemeinsam unterhalten worden sei. Im übrigen
sei bei der Frage des Umfangs des von Herrn Schölles gewährten tatsächlichen
Unterhalts zu berücksichtigen, daß Herr Schölles drei unterhaltsberechtigte Kinder
aus erster Ehe gehabt habe. Der Kläger zu 1) sei ein unterhaltsberechtigtes Kind
im Sinne des Artikels 2 des Anhangs VII des Statuts gewesen, weil die Klägerin zu
2) seine leibliche Mutter sei, nicht dagegen, weil ihn Herr Schölles tatsächlich
unterhalten habe.
- 72.
- Zum vierten würde, selbst wenn Herr Neumann finanziell nicht in der Lage
gewesen sei, seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn nach dem
Tod von Herrn Schölles zu genügen, die Zahlung eines Waisengeldes darauf
hinauslaufen, daß die Gemeinschaft diese Verpflichtung de facto übernehme,
obwohl Herr Neumann weder europäischer Beamter gewesen noch mit einer
europäischen Beamtin verheiratet gewesen sei und zwischen der Gemeinschaft und
Herrn Neumann keinerlei dienstrechtliche Beziehungen bestünden. Die Bejahung
eines Anspruchs auf Waisengeld, sobald ein Kind tatsächlich von einem
verstorbenen Beamten unterhalten worden sei, würde dazu führen, daß das Kind
die jeweiligen Unterhaltszahlungen seiner unterhaltspflichtigen leiblichen Eltern mit
einer Waisenrente der Gemeinschaften kumulieren würde.
- 73.
- Zum fünften stehe fest, daß die Klägerin zu 2) als Beamtin der Kommission über
ein eigenes Einkommen verfüge, Haushaltszulage erhalten habe und bis 1996
Kinder- und Schulzulage bezogen habe. Sie sei daher nach dem Ableben von Herrn
Schölles in der Lage gewesen, finanziell für den Unterhalt ihres Sohnes
aufzukommen. Die Umstände des vorliegenden Falles seien somit nicht diejenigen,
die der Gemeinschaftsgesetzgeber im Auge gehabt habe, der von der im Zeitpunkt
der Schaffung des Artikels 2 Absatz 2 des Anhangs VII des Statuts sehr
verbreiteten Konstellation ausgegangen sei, daß der Ehegatte des
Gemeinschaftsbeamten nicht berufstätig sei und mithin nicht über entsprechende
eigene Einkünfte verfüge.
Würdigung durch das Gericht
- 74.
- Artikel 80 Absatz 1 des Statuts lautet:
„Stirbt ein Beamter oder ein Ruhegehaltsberechtigter, ohne einen Ehegatten zu
hinterlassen, der Anspruch auf Witwengeld hat, so erhalten seine im Sinne von
Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder ein Waisengeld nach Anhang
VIII Artikel 21.“
- 75.
- Im vorliegenden Fall steht fest, daß Herr Schölles, ein Beamter der Kommission,
innerhalb eines Jahres nach seiner Heirat mit der Klägerin zu 2) starb, die daher
gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts keinen Anspruch auf
Witwengeld hatte. Unter diesen Umständen erhalten nach Artikel 80 Absatz 1 des
Statuts „seine im Sinne von Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder“
ein Waisengeld.
- 76.
- Als unterhaltsberechtigtes Kind gilt nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des
Anhangs VII des Statuts „das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt
angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten, wenn es von dem
Beamten tatsächlich unterhalten wird“.
- 77.
- Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann Artikel 80 Absatz 1 des Statuts
in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII nicht dahin
ausgelegt werden, daß er sich nur auf die leiblichen oder adoptierten Kinder des
betreffenden Beamten bezieht und die Kinder von dessen Ehegatten ausschließt,
da Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII ausdrücklich auf das
„eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind ... seines
Ehegatten“ verweist.
- 78.
- Im übrigen steht die Auffassung der Kommission, daß aufgrund des Adjektivs
„seine“ in der deutschen Fassung des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts lediglich die
leiblichen oder adoptierten Kinder des Beamten in den Genuß des Waisengelds
kommen, im Widerspruch zum Wortlaut des Artikels 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des
Anhangs VII des Statuts, der ausdrücklich die leiblichen oder an Kindes Statt
angenommenen Kinder des Ehegatten des Beamten nennt.
- 79.
- Zudem ist das Gemeinschaftsrecht einheitlich auszulegen; das verbietet es, im
Zweifelsfall eine Sprachfassung einer Bestimmung für sich allein zu betrachten,
zwingt vielmehr dazu, diese unter Berücksichtigung der Fassungen in den anderen
Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (Urteile des Gerichtshofes vom 12. Juli
1979 in der Rechtssache 9/79, Koschniske, Slg. 1979, 2717, Randnr. 6, und vom 2.
April 1998 in der Rechtssache C-296/95, EMU Tabac u. a., Slg. 1998, I-1605,
Randnr. 36). In den übrigen Sprachfassungen des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts
heißt es im Französischen „les enfants reconnus a sa charge“, im Englischen „the
dependent children“, im Dänischen „de børn, han har forsørgerpligt over for“, im
Spanischen „los hijos a su cargo“, im Griechischen „ôá ... óõíôçñïýìåíá ôÝêíá“,
im Niederländischen „de kinderen ... te zijnen laste zijn“, im Italienischen „i figli
riconsciuti a suo carico“, im Portugiesischen „os filhos que sejam considerados
como estando a seu cargo“ und im Schwedischen „de underhållsberättigade
barnen“. Die finnische Fassung enthält den bestimmten Artikel nicht.
- 80.
- Alle übrigen Sprachfassungen mit Ausnahme der finnischen, die neutral ist, stehen
also mit der Auslegung im Einklang, daß die betreffenden Vorschriften „die“
unterhaltsberechtigten Kinder des betreffenden Beamten meinen. Unter diesen
Umständen kann die deutsche Fassung jedenfalls nicht allein gegenüber allen
anderen Sprachfassungen den Ausschlag geben (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom
17. Juli 1997 in der Rechtssache C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997,
I-4411, Randnrn. 12 und 15).
- 81.
- Was die Frage betrifft, ob der Kläger zu 1) von Herrn Schölles vor dessen Tod
„tatsächlich unterhalten“ wurde, hat die Kommission ihren in der Entscheidung
vom 20. März 1999 eingenommenen Standpunkt, daß dies nicht der Fall sei, in der
Entscheidung vom 29. November 1996 nicht aufrechterhalten. In der Entscheidung
vom 29. November 1996 hat die Kommission nämlich eingeräumt, daß der Kläger
zu 1) seit 1982 tatsächlich von seiner Mutter und von Herrn Schölles unterhalten
worden sei und daß Günter Neumann zu keinem Zeitpunkt Unterhaltsleistungen
an seinen Sohn erbracht habe.
- 82.
- Nach der Rechtsprechung der Gerichtshofes ist ein Kind, das tatsächlich
gemeinsam von einem Beamten und einer anderen Person (im vorliegenden Fall
dem Ehegatten des Beamten) unterhalten wird, als unterhaltsberechtigtes Kind des
betreffenden Beamten im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs VII des
Statuts anzusehen (Urteil des Gerichtshofes vom 28. November 1991 in der
Rechtssache C-132/90 P, Schwedler/Parlament, Slg. 1991, I-5745, Randnrn. 16 und
17). Im übrigen braucht nicht festgestellt zu werden, ob das Kind von einer der
betreffenden Personen „überwiegend unterhalten“ wird (Urteil des Gerichts vom
3. März 1993 in der Rechtssache T-69/91, Peroulakis/Kommission, Slg. 1993, II-185,
Randnr. 36).
- 83.
- Das erstmals vor dem Gericht vorgebrachte Argument, Herr Schölles hätte nicht
zum tatsächlichen Unterhalt des Klägers zu 1) beitragen können, da er drei
unterhaltsberechtigte Kinder aus erster Ehe gehabt habe, ist zurückzuweisen, da die
Kommission die Behauptung der Kläger nicht bestritten hat, daß die drei Kinder
von Herrn Schölles seit vielen Jahren, das jüngste seit 1985, volljährig seien.
- 84.
- Folglich war der Kläger zu 1) nach dem Tod von Herrn Schölles als
unterhaltsberechtigtes Kind des verstorbenen Beamten im Sinne von Artikel 2 des
Anhangs VII des Statuts anzusehen.
- 85.
- Was das Argument der Kommission betrifft, daß der Kläger zu 1) keinen Anspruch
auf Waisengeld habe, weil er nicht „Waise“ sei, solange seine beiden leiblichen
Eltern noch lebten, so ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 80 Absatz 1 des
Statuts, daß ein Kind „Waisen“geld erhält, wenn feststeht, daß es zum Zeitpunkt
des Todes des verstorbenen Beamten diesem gegenüber unterhaltsberechtigt war.
Diese Vorschrift betrifft nämlich nicht die Gewährung einer Rente an eine
„Waise“, sondern an ein „unterhaltsberechtigtes Kind“.
- 86.
- Insbesondere aus Artikel 80 Absätze 1, 3 und 4 des Statuts geht hervor, daß der
Anspruch auf „Waisen“geld mit dem Ableben eines der betreffenden Ehegatten
entsteht, ohne daß das Kind beide Eltern verloren haben müßte. Im übrigen folgt
aus diesen Vorschriften, die alle auf Artikel 2 des Anhangs VIII des Statuts
verweisen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber den Tod eines Beamten, der
tatsächlich das eheliche, nichteheliche oder an Kindes Statt angenommene Kind
seines Ehegatten unterhalten hat, bezüglich der Gewährung von Waisengeld dem
Tod eines „Elternteils“ gleichstellen wollte. Daß zum Zeitpunkt des Todes von
Herrn Schölles der leibliche Vater des Klägers zu 1), Günter Neumann, noch am
Leben war, aber nicht zum Unterhalt seines Sohnes beitrug, nimmt dem letzteren
nicht den Anspruch auf das Waisengeld nach Artikel 80 Absatz 1 des Statuts.
- 87.
- Das Argument der Kommission, dieses Ergebnis laufe darauf hinaus, daß die
Gemeinschaft die gesetzliche Unterhaltspflicht von Günter Neumann gegenüber
seinem Sohn übernehme, liegt daher neben der Sache, da in allen Absätzen des
Artikels 80 des Statuts gerade der Wille des Gemeinschaftsgesetzgebers zum
Ausdruck kommt, dem Kind des Ehegatten eines verstorbenen Beamten einen
Anspruch auf Waisengeld zu verleihen, sofern das Kind tatsächlich von dem
betreffenden Beamten unterhalten wurde.
- 88.
- Was schließlich den Umstand betrifft, daß die Klägerin zu 2) als Beamtin der
Kommission selbst Familienzulagen erhalten hat und über ein eigenes Einkommen
verfügt, so hängt nach Artikel 80 des Statuts die Gewährung der dort genannten
Waisenrenten nicht von der finanziellen Lage des Ehegatten im konkreten Fall ab.
Soweit die Kommission der Auffassung ist, daß die betreffenden Vorschriften den
gegenwärtigen sozialen Erfordernissen nicht mehr angemessen sind, ist es ihre
Sache, dem Rat geeignete Änderungen des Statuts vorzuschlagen.
- 89.
- Nach alledem sind die Entscheidungen vom 20. März 1996 und 29. November 1996,
mit denen die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) abgelehnt wird,
aufzuheben.
Kosten
- 90.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung
kann das Gericht auch der obsiegenden Partei die Kosten auferlegen, die sie der
Gegenpartei ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat.
- 91.
- In ihrer Gegenerwiderung macht die Kommission geltend, daß ihr die Klägerin zu
2), indem sie eine Klage erhoben habe und an ihr festhalte, unnötige Kosten
verursacht habe, die ihr nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung aufzuerlegen
seien.
- 92.
- Die Klägerin zu 2) hat in ihrer Klageschrift darauf hingewiesen, daß sie als Klägerin
auftrete, weil die streitige Entscheidung an sie gerichtet sei, daß sie aber bereit sei,
aus dem Verfahren auszuscheiden, sofern die Kommission einräume, daß sie sie als
Vertreterin ihres Sohnes angesehen habe. Dies hat die Kommission jedoch nicht
getan.
- 93.
- Das Gericht hat bereits festgestellt, daß die Klägerin zu 2) ein eigenes
Rechtsschutzinteresse hatte.
- 94.
- Daher ist Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung nicht anzuwenden.
- 95.
- Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr somit sämtliche
Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29. November 1996, mit
denen die Kommission die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu
1) abgelehnt hat, werden aufgehoben.
2. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. September 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Potocki