Language of document : ECLI:EU:C:2023:504

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

22. Juni 2023(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 6 – Wirksamer Zugang – Antragstellung – Nationale Regelung, die im Vorfeld außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats vorzunehmende verwaltungsrechtliche Schritte vorsieht – Zweck der öffentlichen Gesundheit“

In der Rechtssache C‑823/21

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Dezember 2021,

Europäische Kommission, vertreten durch A. Azéma, L. Grønfeldt, A. Tokár und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2023,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60), ausgelegt im Licht von Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), verstoßen hat, dass es für Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet, einschließlich an den Grenzen, Ungarns befinden, die Möglichkeit, Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu erhalten und einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von dem Erfordernis eines Vorverfahrens bei einer diplomatischen Vertretung Ungarns in einem Drittstaat abhängig gemacht hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2013/32

2        Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes.

(2)      Diese Richtlinie gilt nicht für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten.“

3        Art. 6 dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)      Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)      Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

(5)      Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

4        Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“

 Richtlinie 2013/33/EU

5        Art. 13 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96) lautet:

„Die Mitgliedstaaten können die medizinische Untersuchung von Antragstellern aus Gründen der öffentlichen Gesundheit anordnen.“

6        Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.“

7        Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst.“

 Ungarisches Recht

8        § 268 des A veszélyhelyzet megszűnésével összefüggő átmeneti szabályokról és a járványügyi készültségről szóló 2020. évi LVIII. Törvény (Gesetz Nr. LVIII von 2020 über Übergangsregelungen im Zusammenhang mit der Beendigung der Gefahrenlage und über die Epidemievorsorge) (Magyar Közlöny 2020/144, S. 3653, im Folgenden: Gesetz von 2020) sieht vor:

„(1)      Der Ausländer teilt der Asylbehörde mit, dass er nach Ungarn einreisen möchte, um dort einen Asylantrag zu stellen, indem er persönlich eine Absichtserklärung zur Stellung eines Asylantrags abgibt.

(2)      Die Absichtserklärung zur Stellung eines Asylantrags kann in Form eines an die Asylbehörde gerichteten Schriftstücks bei einer diplomatischen Vertretung Ungarns (im Folgenden: Botschaft) im Sinne von § 3 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes über die diplomatischen Vertretungen und den Auswärtigen Dienst, wie sie in der Regierungsverordnung näher bestimmt ist, mit dem von der Asylbehörde bezeichneten und veröffentlichten Inhalt abgegeben werden.

(3)      Die Asylbehörde prüft die Absichtserklärung und kann den Ausländer in den betreffenden Botschaften im Fernweg anhören.

(4)      Die Asylbehörde informiert die Botschaft innerhalb von 60 Tagen über die Erteilung eines Reisedokuments für die einmalige Einreise nach Ungarn (im Folgenden: Reisedokument) zum Zweck der Stellung eines Asylantrags.

(5)      Tritt die Asylbehörde auf der Grundlage der Absichtserklärung nicht für die Erteilung eines Reisedokuments ein, so setzt sie den Ausländer über die Botschaft davon in Kenntnis.“

9        § 269 dieses Gesetzes lautet:

„Auf der Grundlage der von der Asylbehörde gemäß § 268 Abs. 4 übermittelten Informationen erteilt die ungarische Botschaft ein Reisedokument mit einer Gültigkeitsdauer von 30 Tagen, wenn der Ausländer nicht im Besitz einer Einreiseerlaubnis für das Hoheitsgebiet Ungarns ist.“

10      § 270 des Gesetzes von 2020 bestimmt:

„(1)      Vorbehaltlich des § 271 kann der Asylantrag nach dem Verfahren der §§ 268 und 269 gestellt werden.

(2)      Ein Ausländer, der Inhaber eines Reisedokuments ist, unterrichtet die Grenzpolizei unmittelbar nach seiner Einreise über seine Absicht, einen Asylantrag zu stellen.

(3)      Die Grenzpolizei führt den Ausländer der Asylbehörde innerhalb von höchstens 24 Stunden vor.

(4)      Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann die ihm nach dem Asylgesetz zustehenden Rechte ab der Stellung seines Asylantrags bei der Asylbehörde ausüben.

(5)      Die Asylbehörde kann dem Asylbewerber per Verfügung eine Unterkunft in einer geschlossenen Aufnahmeeinrichtung zuweisen. Nach Ablauf von vier Wochen ab Antragstellung und bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen für den Gewahrsam bestimmt die Asylbehörde den Ort der Unterbringung nach den allgemeinen Vorschriften für das Asylverfahren.“

11      § 271 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)      Die Stellung eines Asylantrags ist nicht an die Abgabe einer Absichtserklärung nach § 268 gebunden bei

a)      einem subsidiär Schutzberechtigten mit Aufenthalt in Ungarn,

b)      einem bei Stellung des Asylantrags in Ungarn befindlichen Familienangehörigen einer Person, die als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des Asylgesetzes anerkannt ist, und

c)      einer Person, der gegenüber eine die persönliche Freiheit beschränkende Zwangsmaßnahme, Maßregel oder Verurteilung ergangen ist, sofern sie die ungarische Grenze nicht illegal überschritten hat.

(2)      Ein Ausländer, der die ungarische Grenze illegal überschreitet, wird von der Polizei – wenn er ihr gegenüber seine Absicht erklärt, einen Asylantrag zu stellen – an die ungarische Botschaft in dem Land verwiesen, das an die Stelle grenzt, wo der Grenzübertritt stattgefunden hat.

(3)      Im Fall des Absatzes 1 führt die Asylbehörde das Asylverfahren nach den allgemeinen Vorschriften durch.“

12      § 274 des Gesetzes von 2020 lautet:

„Die Bestimmungen dieses Kapitels gelten für die Prüfung von Asylanträgen, die nach dem Inkrafttreten der Regierungsverordnung Nr. 233/2020 (vom 26. Mai 2020) über die Vorschriften für das Asylverfahren während der Gefahrenlage, die ausgerufen wurde, um Epidemien beim Menschen als Ursache von Massenerkrankungen, die die Personen- und Vermögenssicherheit gefährden, zu vermeiden, um deren Folgen vorzubeugen und um die Gesundheit und das Leben der ungarischen Bürger zu schützen, gestellt werden.“

13      § 275 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Die Regierung ist befugt, die Liste der ungarischen Botschaften, in denen eine Absichtserklärung zur Stellung eines Asylantrags abgegeben werden kann, im Verordnungsweg festzulegen.

(2)      Der für die Einwanderungs- und Asylbehörden zuständige Minister wird ermächtigt, die für die Durchführung dieses Kapitels erforderlichen Verfahrensmodalitäten im Einvernehmen mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten im Verordnungsweg festzulegen.“

14      Nach § 1 der Regierungsverordnung Nr. 292/2020 vom 17. Juni 2020 zur Bestimmung der Botschaften für die Zwecke der Absichtserklärung zur Stellung eines Asylantrags kann eine solche Absichtserklärung bei den ungarischen Botschaften in Belgrad (Serbien) und in Kiew (Ukraine) abgegeben werden.

 Vorprozessuales Verfahren

15      Am 30. Oktober 2020 übersandte die Kommission Ungarn ein Aufforderungsschreiben, das die Vereinbarkeit mancher Bestimmungen des Gesetzes von 2020 mit Art. 6 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 18 der Charta betraf.

16      Am 21. Dezember 2020 antwortete Ungarn, dass die beanstandete ungarische Regelung unionsrechtskonform sei.

17      Am 18. Februar 2021 gab die Kommission, die sich von dieser Antwort nicht überzeugt zeigte, eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie die Auffassung vertrat, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 18 der Charta verstoßen habe, dass es für Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet, einschließlich an den Grenzen, Ungarns befänden, die Möglichkeit, um Zuerkennung des internationalen Schutzes anzusuchen, von der Voraussetzung eines Vorverfahrens bei einer diplomatischen Vertretung Ungarns in einem Drittstaat abhängig gemacht habe. Die Kommission forderte Ungarn deshalb auf, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach deren Erhalt nachzukommen.

18      Am 19. April 2021 antwortete Ungarn auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und hielt an seinem Standpunkt fest, dass die von der Kommission beanstandete ungarische Regelung unionsrechtskonform sei.

19      Da die Ausführungen Ungarns die Kommission nicht überzeugten, beschloss diese am 15. Juli 2021, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Parteien

20      Nach Ansicht der Kommission hat Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32, ausgelegt im Licht von Art. 18 der Charta, verstoßen, dass es für Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet, einschließlich an den Grenzen, Ungarns befinden, die Möglichkeit, Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes zu erhalten und einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von dem Erfordernis eines Vorverfahrens bei einer diplomatischen Vertretung Ungarns in einem Drittstaat abhängig gemacht hat.

21      Die Kommission macht geltend, die Richtlinie 2013/32, die die Verfahrensregeln festlege, die erforderlich seien, um dem in Art. 18 der Charta anerkannten Asylrecht Wirkung zu verleihen, verpflichte die Mitgliedstaaten, allen Personen, die sich in ihrem Hoheitsgebiet, einschließlich an ihren Grenzen, befänden, das Recht zu garantieren, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Im Übrigen dürfe ein Mitgliedstaat den Zeitpunkt, zu dem die betreffende Person in die Lage versetzt werde, ihren Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, nicht in ungerechtfertigter Weise hinauszögern, da andernfalls die praktische Wirksamkeit von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 missachtet würde.

22      Erstens ergebe sich aber aus dem Gesetz von 2020, dass die Erklärung von Drittstaatsangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet Ungarns oder an den Grenzen dieses Mitgliedstaats befänden, dass sie die Beantragung von internationalem Schutz beabsichtigten, nicht als Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 angesehen werde. Vielmehr müssten die betreffenden Drittstaatsangehörigen das Hoheitsgebiet Ungarns verlassen, um persönlich eine Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat abzugeben, woraufhin sie gegebenenfalls ein Reisedokument erhalten könnten, das sie berechtige, ein Verfahren auf internationalen Schutz in Ungarn einzuleiten.

23      Diese Verpflichtung der internationalen Schutz beantragenden Personen, das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen, um Zugang zum Asylverfahren zu haben, könne nicht nur mit der in Art. 9 der Richtlinie 2013/32 verbürgten Berechtigung dieser Antragsteller zum Verbleib im Mitgliedstaat, sondern auch mit dem Refoulement-Verbot unvereinbar sein.

24      Außerdem könnten die ungarischen Behörden den Antrag auf Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet ablehnen, ohne den Verpflichtungen Ungarns im Zusammenhang mit dem internationalen Schutz Rechnung zu tragen.

25      Zweitens erkenne die Kommission an, dass die Covid‑19-Pandemie Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus erfordere. Die Mitgliedstaaten könnten jedoch nur solche Maßnahmen ergreifen, die im Hinblick auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit erforderlich und verhältnismäßig seien. Derartige Maßnahmen dürften daher nicht bewirken, dass der Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes verhindert werde.

26      In diesem Zusammenhang habe die Kommission den Mitgliedstaaten praktische Hinweise an die Hand gegeben, mit denen sie die Mitgliedstaaten auf die Möglichkeit verschiedener Maßnahmen aufmerksam gemacht habe, wie z. B. die Verlängerung der Frist für die Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz, die Einreichung von Anträgen online oder auf dem Postweg, die Durchführung von persönlichen Anhörungen per Videokonferenz oder die Verlängerung der Frist für die Prüfung der Anträge.

27      Drittens könne das Gesetz von 2020 nicht auf der Grundlage von Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden. Es obliege nämlich dem Mitgliedstaat, der sich auf die in diesem Artikel vorgesehene Ausnahme berufe, den Beweis zu erbringen, dass der Rückgriff auf diese Ausnahme für die Wahrnehmung seiner Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit notwendig sei. Ungarn habe jedoch keine entsprechenden Beweise vorgelegt.

28      Ungarn entgegnet erstens, dass das Gesetz von 2020 infolge des Ausbruchs der Covid‑19-Pandemie erlassen worden sei, um die Bevölkerung dieses Mitgliedstaats und der Europäischen Union zu schützen.

29      Nach diesem Gesetz und seinen Durchführungsmaßnahmen müsse der Drittstaatsangehörige bei einem epidemiologischen Risiko persönlich eine Absichtserklärung bei den ungarischen Botschaften in Belgrad oder in Kiew abgeben, bevor er das Asylverfahren in Ungarn einleiten könne.

30      Das Gesetz von 2020 erlaube es jedoch bestimmten Personengruppen, ihren Antrag auf internationalen Schutz unmittelbar in Ungarn zu stellen. Dies gelte für Personen, die sich seit Langem in diesem Mitgliedstaat aufhielten und von denen aus epidemiologischer Sicht offensichtlich keine Gefahr ausgehe. Außerdem seien rechtmäßig in der Ukraine ansässige Drittstaatsangehörige angesichts der großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, die vor dem Krieg in der Ukraine flöhen, ebenfalls von dieser Verpflichtung zur vorherigen Absichtserklärung befreit. Darüber hinaus genössen die betreffenden Drittstaatsangehörigen als Flüchtlinge, die vor einem bewaffneten Konflikt flöhen, vorübergehenden Schutz.

31      Zweitens folge aus dem Völkerrecht, dass jeder Staat das Recht habe, die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu gestatten oder zu verweigern. Keine Bestimmung des Unionsrechts oder des Völkerrechts verlange, dass Ausländer, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Staates aufhielten, ohne Weiteres in das eigene Hoheitsgebiet aufgenommen würden.

32      Im Übrigen falle das im Gesetz von 2020 vorgesehene Verfahren laut Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 nicht in deren Anwendungsbereich. Schließlich unterlägen Drittstaatsangehörige, die die Grenze eines Mitgliedstaats noch nicht erreicht hätten, nicht den unionsrechtlichen Asylvorschriften.

33      Drittens habe sich die epidemiologische Lage, auch in Ungarn, in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 erheblich verschlechtert, und die Kommission habe diesen drastischen Veränderungen keine Rechnung getragen. Die geltenden Unionsrechtsvorschriften hätten keinen angemessenen Schutz der Unionsbürger zu gewährleisten vermocht.

34      Aufgrund dieser epidemiologischen Lage hätten mehrere Mitgliedstaaten die Einreise aus Drittstaaten in ihr Hoheitsgebiet stark eingeschränkt, und die große Mehrheit der Mitgliedstaaten habe auch die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und sogar die Freizügigkeit innerhalb ihres Hoheitsgebiets beschränkt. Außerdem hätten mehrere Mitgliedstaaten die Kontrollen an ihren Binnengrenzen wieder eingeführt.

35      Viertens stelle das Gesetz von 2020 eine Umsetzung der sich aus dem Magyarország Alaptörvénye (ungarisches Grundgesetz) ergebenden Verpflichtung dar, die territoriale Souveränität und die Selbstbestimmung zu gewährleisten.

36      Fünftens und letztens habe Ungarn die wichtigsten Bestimmungen des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), wie es durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt worden sei, in den Verfassungsrang erhoben. Im Übrigen könne die im Gesetz von 2020 vorgesehene Absichtserklärung bei der ungarischen Botschaft in Serbien abgegeben werden. Dieser Drittstaat sei jedoch nicht nur Vertragspartei des genannten Abkommens, sondern auch ein Bewerberland für den Beitritt zur Union und damit ein sicherer Herkunftsstaat. Aus diesem Grund bestehe keine Gefahr eines Refoulement. Außerdem stehe das Gesetz von 2020 der wiederholten Abgabe der Absichtserklärung nicht entgegen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

37      Vorab ist festzustellen, dass sich aus der Akte des Gerichtshofs sowie aus der vor ihm abgehaltenen mündlichen Verhandlung ergibt, dass nach der von der Kommission beanstandeten ungarischen Regelung ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der sich im Hoheitsgebiet Ungarns befindet oder an den Grenzen dieses Mitgliedstaats vorstellig wird und dort um internationalen Schutz ansuchen möchte, grundsätzlich verpflichtet ist, sich zuvor zur ungarischen Botschaft in Belgrad oder Kiew zu begeben, um dort persönlich eine Absichtserklärung abzugeben. Nach Prüfung dieser Erklärung können die zuständigen ungarischen Behörden entscheiden, dem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen ein Reisedokument zu erteilen. Dieses Dokument ermöglicht die Einreise nach Ungarn, damit dort ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gestellt werden kann, wenn die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet nicht anderweitig gestattet ist.

38      Drittstaatsangehörige oder Staatenlose im Sinne des § 271 Abs. 1 des Gesetzes von 2020 sind jedoch nicht an dieses Vorverfahren gebunden. So ist die Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft für einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen entbehrlich, wenn er subsidiären Schutz genießt und seinen Aufenthalt in Ungarn hat, wenn er Familienangehöriger eines Flüchtlings oder subsidiär Schutzberechtigten ist und sich bei Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz in Ungarn befand oder aber – außer im Fall eines illegalen Grenzübertritts nach Ungarn – wenn ihm gegenüber eine seine persönliche Freiheit beschränkende Zwangsmaßnahme, Maßregel oder Verurteilung ergangen ist.

39      Im Übrigen macht Ungarn geltend, dass nach einer am 24. Februar 2022 erlassenen und in Kraft getretenen Regierungsverordnung rechtmäßig in der Ukraine ansässige Drittstaatsangehörige oder Staatenlose nunmehr ebenfalls vom Durchlaufen des betreffenden Vorverfahrens befreit seien.

40      Was den letzten Punkt betrifft, ist nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist befand. Ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt, ist daher anhand des zu diesem Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Rechts zu beurteilen (Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Daraus folgt, dass der Gerichtshof bei der Prüfung der Vereinbarkeit des Gesetzes von 2020 mit den von der Kommission angeführten Bestimmungen des Unionsrechts die oben in Rn. 39 angesprochene Änderung nicht berücksichtigen kann, da sie nach Ablauf der Frist eintrat, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war.

42      Ausgehend von dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2013/32 nach ihrem Art. 3 Abs. 1 für alle Anträge auf internationalen Schutz gilt, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden. Dagegen gilt diese Richtlinie nach ihrem Art. 3 Abs. 2 nicht für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten.

43      Im Übrigen ergibt sich aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen – auch an den Grenzen eines Mitgliedstaats –, indem er bei einer der in diesem Artikel genannten Behörden seine Absicht bekundet, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen, ohne dass die Bekundung dieser Absicht von irgendeiner Verwaltungsformalität abhängig gemacht werden darf. Dieses Recht ist ihm auch zuzuerkennen, wenn er sich illegal im Hoheitsgebiet aufhält und ohne dass es auf die Erfolgsaussichten eines solchen Antrags ankommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 97 und 98, sowie vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 136).

44      Das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, ist eine Voraussetzung für die tatsächliche Beachtung der Rechte darauf, dass dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie 2013/32 festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann, und letztlich für die Wirksamkeit des Rechts, in einem Mitgliedstaat um Asyl nachzusuchen, wie es in Art. 18 der Charta garantiert und in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 näher bestimmt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 102, und vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 132).

45      Im Übrigen erwirbt der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose mit der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz die Eigenschaft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne der Richtlinie 2013/32 und muss gemäß Art. 9 dieser Richtlinie grundsätzlich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 137 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass mit der Richtlinie 2013/32 das Ziel verfolgt wird, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten, und zwar schon ab der Phase der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz (Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Unter diesem Blickwinkel müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gewährleisten, dass die Betroffenen das Recht auf Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz auch an den Grenzen der Mitgliedstaaten wirksam ausüben können, sobald sie eine entsprechende Absicht bekunden. Ein Mitgliedstaat darf daher den Zeitpunkt, zu dem der Betroffene in die Lage versetzt wird, seinen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, nicht ungerechtfertigt hinauszögern, da er sonst der praktischen Wirksamkeit dieses Art. 6 nicht gerecht würde (Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 103 und 106).

48      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die §§ 268 bis 270 des Gesetzes von 2020 für Drittstaatsangehörige und für Staatenlose gelten, die sich im Hoheitsgebiet Ungarns befinden oder an dessen Grenzen vorstellig werden und ihre Absicht bekunden wollen, in diesem Mitgliedstaat internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen. Daraus folgt, dass diese Personen entgegen dem Vorbringen Ungarns voll und ganz in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, wie er in deren Art. 3 Abs. 1 definiert ist.

49      Der Umstand, dass die besagten Personen nach ungarischem Recht das Hoheitsgebiet Ungarns oder die Grenze dieses Mitgliedstaats verlassen müssen, um persönlich eine vorherige Absichtserklärung bei einer Botschaft dieses Mitgliedstaats, in Serbien oder in der Ukraine, abzugeben, kann daran nichts ändern. Genauer kann, anders als Ungarn geltend macht, diese Verpflichtung nicht zum Ergebnis haben, dass bei diesen Personen davon auszugehen wäre, dass sie sich auf ein Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 beschränkten.

50      Im Übrigen können die zuständigen ungarischen Behörden, wie oben in Rn. 37 ausgeführt, nach den §§ 268 bis 270 des Gesetzes von 2020 grundsätzlich nur dann davon ausgehen, dass ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gestellt wurde, wenn die betreffende Person zuvor eine Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat abgegeben und ein Reisedokument für die Einreise nach Ungarn erhalten hat.

51      Eine solche Voraussetzung ist jedoch in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 nicht vorgesehen und läuft dem mit dieser Richtlinie verfolgten und oben in Rn. 46 beschriebenen Ziel zuwider, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten.

52      Außerdem führt die von der Kommission beanstandete Regelung dazu, dass mit Ausnahme der in § 271 Abs. 1 des Gesetzes von 2020 genannten Personen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich im Hoheitsgebiet Ungarns aufhalten oder an den Grenzen dieses Mitgliedstaats vorstellig werden, ohne sich an das nach diesem Gesetz vorgeschriebene Vorverfahren gehalten zu haben, die tatsächliche Inanspruchnahme ihres in Art. 18 der Charta verbürgten Rechts, bei diesem Mitgliedstaat um Asyl anzusuchen, vorenthalten wird.

53      Insbesondere ergibt sich, wie Ungarn in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof eingeräumt hat, im Umkehrschluss aus § 271 Abs. 1 Buchst. c des Gesetzes von 2020, dass Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die die ungarische Grenze illegal überschritten haben und denen ihre Freiheit entzogen ist, keine Möglichkeit haben, in Ungarn Asyl zu beantragen. Einerseits sind sie nämlich nach diesem § 271 nicht davon befreit, persönlich eine Absichtserklärung bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew abgeben zu müssen, und andererseits ist es ihnen faktisch unmöglich, eine solche Absichtserklärung persönlich abzugeben, solange ihr Freiheitsentzug andauert.

54      Allerdings macht Ungarn erstens geltend, dass das mit den §§ 268 bis 270 des Gesetzes von 2020 eingerichtete Verfahren aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sei, genauer gesagt, um der Ausbreitung der Covid‑19-Pandemie entgegenzuwirken.

55      Hierzu ist festzustellen, dass aus Art. 35 der Charta sowie Art. 9 AEUV, Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 AEUV hervorgeht, dass bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und ‑maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen ist (Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Wie oben in Rn. 47 in Erinnerung gerufen, dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 2013/32 lediglich nicht den Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf internationalen Schutz in ihrem Hoheitsgebiet oder an ihren Grenzen gestellt werden kann, ungerechtfertigt hinauszögern.

57      Folglich hindert besagter Art. 6 die Mitgliedstaaten nicht daran, ausnahmsweise die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz von besonderen Modalitäten abhängig zu machen, mit denen die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit in ihrem Hoheitsgebiet eingedämmt werden soll, sofern die betreffenden Modalitäten im Hinblick auf dieses Ziel tauglich und nicht unverhältnismäßig sind.

58      Dies ist jedoch bei dem mit den §§ 268 bis 270 des Gesetzes von 2020 eingerichteten Verfahren nicht der Fall.

59      Ist es für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in Ungarn aufhalten oder an seinen Grenzen vorstellig werden, zwingend, sich zur Botschaft dieses Mitgliedstaats in Belgrad oder in Kiew zu begeben, damit sie anschließend nach Ungarn zurückkehren können, um dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, so liegt darin nämlich ein offensichtlich unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht dieser Personen, wie es in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 verankert ist, ab ihrer Ankunft an einer ungarischen Grenze einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, sowie in ihr Recht gemäß Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie, während der Prüfung ihres Antrags grundsätzlich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbleiben zu dürfen.

60      Im Übrigen kann mit dieser zwingenden Vorgabe nicht das Ziel erreicht werden, der Ausbreitung der Covid‑19-Pandemie entgegenzuwirken, da damit Drittstaatsangehörige oder Staatenlose gezwungen werden, sich an einen anderen Ort zu begeben, wodurch sie potenziell dieser Krankheit ausgesetzt werden, die sie in der Folge in Ungarn weiterverbreiten könnten.

61      Außerdem hat Ungarn weder dargetan noch überhaupt vor dem Gerichtshof vorgetragen, dass für das ungarische Hoheitsgebiet in Bezug auf Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die in diesem Mitgliedstaat um internationalen Schutz ansuchen möchten, keine andere Maßnahme zur Bekämpfung der Ausbreitung der Covid‑19-Pandemie in geeigneter Weise erlassen werden konnte.

62      Es ist aber namentlich darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2013/33 Personen, die internationalen Schutz beantragen, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einer medizinischen Untersuchung unterziehen können. Darüber hinaus spricht keine Bestimmung dieser Richtlinie oder der Richtlinie 2013/32 gegen Verfahren, bei denen die betreffenden Antragsteller auf Abstand gehalten oder isoliert werden und mit denen die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit verhindert werden soll, sofern mit diesen Verfahren ein solches Ziel in sachgerechter, verhältnismäßiger und diskriminierungsfreier Weise verfolgt wird und die den Antragstellern in Art. 17 Abs. 2 und Art. 19 der Richtlinie 2013/33 zuerkannten Rechte gewährleistet sind.

63      Hinzu kommt, dass nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 ein Antrag auf internationalen Schutz unter Verwendung eines Formblatts gestellt werden kann und dass nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie gesundheitliche Probleme der Person, die internationalen Schutz beantragt, es rechtfertigen können, von der persönlichen Anhörung zum Inhalt des Antrags abzusehen. Jedenfalls sollte eine solche Anhörung aus der Ferne durchgeführt werden können, wie es die Kommission in ihren Hinweisen zur Umsetzung der Asylverfahren im Rahmen der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie (2020/C 126/02) (ABl. 2020, C 126, S. 12) vorschlägt.

64      Daraus folgt, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten entgegen dem Vorbringen Ungarns Maßnahmen gestattet, mit denen sich die Wirksamkeit des Rechts jedes Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, im Hoheitsgebiet oder an den Grenzen der Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, mit der Bekämpfung ansteckender Krankheiten angemessen in Einklang bringen lässt.

65      Soweit Ungarn zweitens auch Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anführt, um den Erlass des Gesetzes von 2020 zu rechtfertigen, ist klarzustellen, dass nach Art. 72 AEUV die Bestimmungen von Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berühren.

66      Obschon es Sache der Mitgliedstaaten ist, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, bedeutet dies jedoch nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären. Der AEU‑Vertrag sieht nämlich, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in ganz bestimmten Fällen vor. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem AEU‑Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahme vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme (Urteil vom 30. Juni 2022, Valstybės sienos apsaugos tarnyba u. a., C‑72/22 PPU, EU:C:2022:505, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Außerdem ist die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme eng auszulegen. Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV nicht als Ermächtigung der Mitgliedstaaten verstanden werden darf, allein unter Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (Urteil vom 30. Juni 2022, Valstybės sienos apsaugos tarnyba u. a., C‑72/22 PPU, EU:C:2022:505, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Folglich obliegt dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, der Nachweis, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen (Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 216 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Ungarn hat sich jedoch im Rahmen der vorliegenden Klage, um zu begründen, dass das Gesetz von 2020 mit dem Unionsrecht vereinbar sei, lediglich allgemein auf die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit berufen, ohne darzutun, dass es angesichts der Lage, die bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist in seinem Hoheitsgebiet herrschte, erforderlich gewesen wäre, speziell von den Anforderungen des Art. 6 der Richtlinie 2013/32 abzuweichen.

70      Nach alledem hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 verstoßen, indem es für bestimmte Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in seinem Hoheitsgebiet oder an seinen Grenzen befinden, die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von der vorherigen Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat und von der Erteilung eines Reisedokuments für die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet abhängig gemacht hat.

 Kosten

71      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission seine Verurteilung in die Kosten beantragt hat, sind Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Ungarn hat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes verstoßen, indem es für bestimmte Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in seinem Hoheitsgebiet oder an seinen Grenzen befinden, die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von der vorherigen Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat und von der Erteilung eines Reisedokuments für die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet abhängig gemacht hat.

2.      Ungarn trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.