Language of document : ECLI:EU:T:2005:166

Verbundene Rechtssachen T-111/01 und T-133/01

Saxonia Edelmetalle GmbH und J. Riedemann als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Firma ZEMAG GmbH

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Staatliche Beihilfen – Umstrukturierung – Missbräuchliche Verwendung staatlicher Beihilfen – Rückforderung von Beihilfen – Artikel 88 Absatz 2 EG – Verordnung (EG) Nr. 659/1999“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, die Beteiligten zur Äußerung aufzufordern – Form und Inhalt der Aufforderung

(Artikel 88 Absatz 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 6 Absatz 1 und 16)

2.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Keine Verpflichtung der Kommission, bei den Beteiligten zu ermitteln, wenn der Mitgliedstaat ihrer Anordnung zur Auskunftserteilung nicht nachkommt

(Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 13 Absatz 1, 14 und 16)

3.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Klagegründe, die gegenüber einer Entscheidung der Kommission über staatliche Beihilfen geltend gemacht werden können – Klagegründe, die nicht im Verwaltungsverfahren geltend gemacht worden sind – Unterscheidung zwischen zulässigem rechtlichen und unzulässigem tatsächlichen Vorbringen

(Artikel 88 Absatz 2 EG und 230 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Von der Kommission genehmigte Beihilfen – Missbräuchliche Verwendung durch den Empfänger – Beweislast der Kommission – Weigerung des betreffenden Mitgliedstaats, der Anordnung zur Auskunftserteilung Folge zu leisten – Folgen

(Artikel 88 Absatz 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 1 Buchstabe g, 13 und 16)

5.      Staatliche Beihilfen – Von der Kommission genehmigte Beihilfen – Missbräuchliche Verwendung durch den Empfänger – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

6.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Aus der Rechtswidrigkeit folgende Pflicht – Gegenstand – Wiederherstellung der früheren Lage – Entsprechende Anwendung bei missbräuchlicher Verwendung einer Beihilfe

(Artikel 88 Absatz 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 1 Buchstabe g, 14 und 16)

7.      Handlungen der Organe – Begründungspflicht – Umfang – Weigerung, in einer die Rückzahlung einer rechtswidrigen Beihilfe anordnenden Entscheidung die von dem betreffenden Mitgliedstaat auf Aufforderung gemachten Angaben zu berücksichtigen

(Artikel 253 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 10 Absatz 3 und 13 Absatz 1)

1.      Das Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen ist nach seiner allgemeinen Systematik ein Verfahren, das gegenüber dem Mitgliedstaat eröffnet wird, der nach seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen für die Gewährung der Beihilfe verantwortlich ist, und nicht gegenüber dem Beihilfeempfänger oder den Beihilfeempfängern.

Der Begriff „Beteiligte“ im Sinne des Artikels 88 Absatz 2 EG bezieht sich auf eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten. Daraus ergibt sich, dass Artikel 88 Absatz 2 EG keine individuelle Fristsetzung für die einzelnen Beteiligten verlangt. Er verpflichtet die Kommission lediglich dazu, dafür Sorge zu tragen, dass alle potenziellen Betroffenen unterrichtet werden und Gelegenheit erhalten, ihren Standpunkt geltend zu machen. Unter diesen Umständen stellt die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ein angemessenes Mittel zur Unterrichtung aller Beteiligten über die Einleitung eines Verfahrens dar. Folglich wird durch diese Lösung den Beteiligten im Wesentlichen die Rolle von Informationsquellen für die Kommission im Rahmen des gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG eingeleiteten Verwaltungsverfahrens zugewiesen.

Gewiss wird einem Beteiligten nicht schon dadurch, dass er von der Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens in Kenntnis gesetzt wird, ermöglicht, eine sachgerechte Stellungnahme abzugeben. Hierzu ergibt sich aus Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG], der gemäß Artikel 16 dieser Verordnung auch für missbräuchlich angewandte Beihilfen gilt, dass die Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens, trotz des zwangsläufig vorläufigen Charakters der in ihr enthaltenen Würdigung hinreichend präzise sein muss, um den Beteiligten zu erlauben, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten Kenntnis von den Überlegungen der Kommission erhalten.

Da die Kommission die Empfänger der ursprünglich durch eine frühere Entscheidung genehmigten Beihilfen durch eine im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichte Mitteilung zur Stellungnahme zum möglichen Verstoß gegen die fragliche Entscheidung wegen einer mit dieser Entscheidung unvereinbaren Verwendung dieser Beihilfen aufgefordert hat und diese Empfänger von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben, hat sie kein Recht der Beihilfeempfänger verletzt.

(vgl. Randnrn. 47-48, 50-51, 53)

2.      Aus Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] ergibt sich, dass, wenn der Mitgliedstaat es versäumt, der Anordnung der Kommission zur Erteilung bestimmter Auskünfte nachzukommen, die Kommission befugt ist, das förmliche Prüfverfahren abzuschließen und die Entscheidung über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt auf der Grundlage der verfügbaren Informationen zu erlassen. Mit dieser Entscheidung kann unter den in Artikel 14 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Voraussetzungen die Rückforderung der bereits gezahlten Beihilfe vom Empfänger angeordnet werden. Gemäß Artikel 16 der Verordnung Nr. 659/1999 gelten die Artikel 13 und 14 bei missbräuchlicher Anwendung einer Beihilfe entsprechend. Die Kommission ist nach diesen Bestimmungen nicht verpflichtet, bei den Beteiligten zu ermitteln, wenn ein Mitgliedstaat der Anordnung der Kommission zur Auskunftserteilung nicht nachkommt.

(vgl. Randnr. 58)

3.      Die Rechtmäßigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 230 EG ist nach der Sach- und Rechtslage zu beurteilen, wie sie bei Erlass des Aktes bestand. Insbesondere sind die Würdigungen, die die Kommission vorgenommen hat, nur anhand der Informationen zu prüfen, über die diese bei der Vornahme dieser Würdigungen verfügte.

Folglich kann sich ein Kläger, der sich am Prüfungsverfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG beteiligt hat, nicht auf ein Vorbringen zum Sachverhalt berufen, das der Kommission nicht bekannt war und das er dieser nicht im Verlauf des Prüfungsverfahrens mitgeteilt hatte. Dagegen ist er durch nichts daran gehindert, gegen die endgültige Entscheidung einen rechtlichen Grund vorzubringen, der im Verwaltungsverfahren nicht geltend gemacht worden ist.

Diese Lösung lässt sich, vorbehaltlich ganz außergewöhnlicher Fälle, auf den Fall ausdehnen, in dem sich ein Unternehmen nicht am Prüfungsverfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG beteiligt hat.

(vgl. Randnrn. 67-69)

4.      Aus Artikel 88 Absatz 2 EG in Verbindung mit Artikel 1 Buchstabe g und Artikel 16 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] geht hervor, dass die Kommission grundsätzlich nachweisen muss, dass Beihilfen, die sie gemäß einer früheren Entscheidung zuvor genehmigt hatte, vom Empfänger ganz oder teilweise missbräuchlich verwendet wurden. In Ermangelung dieses Nachweises wären diese Beihilfen nämlich als von ihrer früheren Genehmigungsentscheidung gedeckt anzusehen.

Gleichwohl ermächtigt die Verweisung auf Artikel 13 in Artikel 16 der Verordnung Nr. 659/1999 die Kommission, bei Nichtbefolgung der Anordnung zur Auskunftserteilung eine Entscheidung über den Abschluss des förmlichen Prüfverfahrens auf der Grundlage der verfügbaren Informationen zu erlassen. Unterlässt ein Mitgliedstaat die Erteilung hinreichend klarer und präziser Auskünfte über die Verwendung von Beihilfen, für die die Kommission auf der Grundlage der ihr vorliegenden Angaben Zweifel hinsichtlich der Beachtung ihrer vorherigen Genehmigungsentscheidung äußert, ist die Kommission somit berechtigt, die missbräuchliche Anwendung der betreffenden Beihilfen festzustellen.

(vgl. Randnrn. 86, 93)

5.      Umfasst die Prüfung, die die Kommission vorzunehmen hat, die Berücksichtigung und Würdigung komplexer wirtschaftlicher Tatsachen und Gegebenheiten, muss sich die Nachprüfung durch das Gericht, da der Gemeinschaftsrichter seine Würdigung nicht an die Stelle der Würdigung der Kommission setzen kann, auf die Einhaltung der Vorschriften über das Verfahren und die Begründung, die Richtigkeit der Tatsachen und darauf beschränken, ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder Ermessensmissbrauch vorliegt. Dies ist der Fall, wenn sich die Prüfung durch die Kommission auf die Frage erstreckt, ob Beihilfen, die sie zuvor genehmigt hatte, von ihrem Empfänger ganz oder teilweise missbräuchlich verwendet wurden.

(vgl. Randnrn. 90-91)

6.      Nach dem Gemeinschaftsrecht kann die Kommission, wenn sie feststellt, dass Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sind, dem Mitgliedstaat, der sie gezahlt hat, aufgeben, sie von den Empfängern zurückzufordern. Die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe im Wege der Rückforderung ist die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit und zielt auf die Wiederherstellung der früheren Lage ab. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die fraglichen Beihilfen, gegebenenfalls zuzüglich Verzugszinsen, vom Empfänger oder, mit anderen Worten, von den Unternehmen, die den tatsächlichen Nutzen davon hatten, zurückgezahlt wurden. Durch diese Rückzahlung verliert nämlich der Empfänger den Vorteil, den er auf dem Markt gegenüber seinen Konkurrenten besaß, und die Lage vor der Zahlung der Beihilfe wird wiederhergestellt. Folglich besteht das Hauptziel der Rückerstattung einer zu Unrecht gezahlten staatlichen Beihilfe darin, die Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen, die durch den mit der rechtswidrigen Beihilfe verbundenen Wettbewerbsvorteil verursacht wurde.

Für die Rückzahlung von einem Mitgliedstaat gezahlter Beihilfen, die aufgrund einer von der Kommission erlassenen Entscheidung gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG und Artikel 1 Buchstabe g der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] als missbräuchlich angewandt angesehen werden, kann grundsätzlich nichts anderes gelten. Insoweit genügt die Feststellung, dass Artikel 16 der Verordnung Nr. 659/1999 u. a. vorsieht, dass Artikel 14 dieser Verordnung, der die Rückforderung einer für rechtswidrig erklärten Beihilfe vom Empfänger verlangt, im Fall der missbräuchlichen Anwendung einer Beihilfe entsprechend gilt. Folglich ist eine missbräuchlich angewandte Beihilfe, um die Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen, die durch den mit ihr verbundenen Wettbewerbsvorteil verursacht wurde, grundsätzlich von dem Unternehmen zurückzufordern, das den tatsächlichen Nutzen davon hatte, wobei es sich um ein anderes Unternehmen handeln kann, als dasjenige, das in der Entscheidung, mit der die Beihilfe genehmigt wurde, als Empfänger bezeichnet ist.

(vgl. Randnrn. 111-115, 125)

7.      Die Begründung einer Entscheidung genügt den Anforderungen des Artikels 253 EG nur, wenn sie der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst ist und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringt, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und der Gemeinschaftsrichter seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, sie muss vielmehr anhand nicht nur des Wortlauts des Rechtsaktes, sondern auch seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet beurteilt werden.

Die Kommission kann insoweit zwar im Rahmen einer von ihr nach Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] erlassenen Anordnung gemäß Artikel 13 Absatz 1 dieser Verordnung „[b]ei Nichtbefolgen der Anordnung zur Auskunftserteilung“ eine Entscheidung über den Abschluss des Prüfverfahrens auf der Grundlage der verfügbaren Informationen erlassen, sie ist jedoch nicht von der Verpflichtung befreit, rechtlich hinreichend zu erläutern, warum sie der Annahme ist, dass die von einem Mitgliedstaat in Beantwortung der Anordnung gemachten Angaben der von ihr beabsichtigten endgültigen Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden können. Eine solche Situation kann nämlich nicht derjenigen gleichgestellt werden, in der ein Mitgliedstaat der Kommission in Beantwortung einer Anordnung nach Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 keinerlei Auskünfte erteilt und in der die Begründung auf den Hinweis beschränkt werden kann, dass der Mitgliedstaat dieser Anordnung nicht nachgekommen ist.

(vgl. Randnrn. 138, 145)