Language of document : ECLI:EU:C:2020:491

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 25. Juni 2020(1)

Rechtssache C393/19

Okrazhna prokuratura – Haskovo,

Apelativna prokuratura – Plovdiv

gegen

OM

(Vorabentscheidungsersuchen des Apelativen sad – Plovdiv [Berufungsgericht Plovdiv, Bulgarien])

„Vorabentscheidungsverfahren – Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht – Nationale Regelung, die die Einziehung eines zur Begehung von Schmuggel genutzten Fahrzeugs vorsieht – Fahrzeug, das einem gutgläubigen Dritten gehört – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Art. 2 Abs. 1 – Richtlinie 2014/42/EU – Art. 6“






1.        Ein Fernfahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr, der die Strecke von der Türkei nach Deutschland zurücklegte, wurde nach seiner Festnahme in Bulgarien wegen Schmuggels angeklagt und verurteilt, weil er in seinem Fahrzeug einen Münzschatz versteckt hatte. Infolge dieser Verurteilung wurde neben anderen Vermögensgegenständen die Einziehung der Zugmaschine angeordnet, deren Eigentümerin nach den Angaben des vorlegenden Gerichts „weder wusste noch hätte wissen müssen oder können, dass ihr Angestellter die Straftat begeht“.

2.        Dieses Gericht fragt nach den Auswirkungen von zwei Artikeln der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auf die auf den Fall angewandten nationalen Vorschriften. Konkret hegt es Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschriften

–      mit Art. 17 Abs. 1 der Charta, soweit das bulgarische Strafgesetzbuch auch dann die Einziehung von zur Begehung von Schmuggel genutzten Transportmitteln anordnet, wenn sie einer dritten, gutgläubigen Person gehören;

–      mit Art. 47 der Charta, soweit die dritte, gutgläubige Person, die Eigentümerin des eingezogenen Vermögensgegenstands ist, nach bulgarischem Verfahrensrecht keine Möglichkeit hat, ihren Standpunkt gegenüber dem die Einziehung anordnenden Gericht darzulegen.

3.        Auf Wunsch des Gerichtshofs beschränke ich mich auf die Prüfung der ersten Frage.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Charta

4.        Art. 17 Abs. 1 lautet:

„Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“

2.      Rahmenbeschluss 2005/212/JI(2)

5.        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) sieht vor:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

–      ‚Tatwerkzeuge‘ alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise ganz oder teilweise zur Begehung einer oder mehrerer Straftaten verwendet werden oder verwendet werden sollen;

–      ‚Einziehung‘ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt;

…“

6.        Art. 2 („Einziehung“) bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

(2)      In Verbindung mit Steuerstraftaten können die Mitgliedstaaten andere Verfahren als Strafverfahren anwenden, um den Tätern die Erträge aus der Straftat zu entziehen.“

7.        Art. 4 („Rechtsmittel“) sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle von den Maßnahmen nach den Artikeln 2 und 3 betroffenen Parteien über wirksame Rechtsmittel zur Wahrung ihrer Rechte verfügen.“

3.      Richtlinie 2014/42/EU(3)

8.        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

3.      ‚Tatwerkzeuge‘ alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise ganz oder teilweise zur Begehung einer oder mehrerer Straftaten verwendet werden oder verwendet werden sollen;

4.      ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen;

…“

9.        Art. 4 („Einziehung“) hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Tatwerkzeugen oder Erträgen entspricht, vorbehaltlich einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat, auch durch Verfahren in Abwesenheit, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

(2)      Ist eine Einziehung auf der Grundlage des Absatzes 1 nicht möglich – zumindest wenn dies auf Krankheit oder Flucht der verdächtigten oder beschuldigten Person beruht –[,] treffen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge dann eingezogen werden können, wenn ein Strafverfahren in Bezug auf eine Straftat, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, eingeleitet wurde und dieses Verfahren zu einer strafrechtlichen Verurteilung hätte führen können, wenn die verdächtigte oder beschuldigte Person vor Gericht hätte erscheinen können.“

10.      Art. 5 („Erweiterte Einziehung“) sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Vermögensgegenstände, die einer Person gehören, die wegen einer Straftat verurteilt ist, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, ganz oder teilweise eingezogen werden können, wenn ein Gericht aufgrund der Umstände des Falls, einschließlich der konkreten Tatsachen und verfügbaren Beweismittel wie der Tatsache, dass der Wert der Vermögensgegenstände in einem Missverhältnis zum rechtmäßigen Einkommen der verurteilten Person steht, zu der Überzeugung gelangt, dass die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen.

(2)      Für die Zwecke des Absatzes 1 dieses Artikels umfasst der Begriff ‚Straftat‘ mindestens Folgendes:

b)      Straftaten im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gemäß Artikel 2 des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI, zumindest in Fällen, in denen die Straftat zu einem wirtschaftlichen Vorteil geführt hat;

e)      eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens vier Jahren bedroht ist, in Übereinstimmung mit dem einschlägigen Rechtsinstrument in Artikel 3 oder, sofern in dem betreffenden Instrument kein Strafmaß genannt ist, in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht.“

11.      Art. 6 („Dritteinziehung“) lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Erträge oder andere Vermögensgegenstände eingezogen werden können, deren Wert den Erträgen entspricht, die von einer verdächtigten oder beschuldigten Person direkt oder indirekt an Dritte übertragen wurden oder die durch Dritte von einer verdächtigten oder beschuldigten Person erworben wurden, zumindest wenn diese Dritten aufgrund konkreter Tatsachen und Umstände – unter anderem dass die Übertragung oder der Erwerb unentgeltlich oder deutlich unter dem Marktwert erfolgte – wussten oder hätten wissen müssen, dass mit der Übertragung oder dem Erwerb die Einziehung vermieden werden sollte.

(2)      Absatz 1 lässt die Rechte gutgläubiger Dritter unberührt.“

4.      Bulgarisches Recht. Nakazatelen kodeks(4)

12.      Art. 53 Abs. 1 sieht vor:

„(1)      Unabhängig von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sind zugunsten des Staates einzuziehen:

a)      die Sachen, die dem Schuldigen gehören und die für die Begehung einer vorsätzlichen Straftat bestimmt waren oder hierzu dienten …

b)      die Sachen, die dem Schuldigen gehören und Gegenstand einer vorsätzlichen Straftat waren, sofern dies im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs ausdrücklich vorgesehen ist.

(2)      Ebenfalls zugunsten des Staates sind einzuziehen:

a)      die Sachen, der Gegenstand oder das Tatwerkzeug der Straftat, deren bzw. dessen Besitz untersagt ist, und

b)      die Erträge, die unmittelbar oder mittelbar durch die Straftat erlangt wurden, wenn sie nicht zurückzugeben oder zu erstatten sind. Wenn die unmittelbar oder mittelbar erlangten Erträge verschwunden sind oder veräußert wurden, wird ihr Gegenwert eingezogen.“

13.      Nach Art. 242 Abs. 8 wird das Transportmittel, das zur Beförderung der geschmuggelten Waren gedient hat, zugunsten des Staates eingezogen, auch wenn es nicht im Eigentum des Täters steht, es sei denn, sein Wert entspricht eindeutig nicht der Schwere der Straftat.

II.    Sachverhalt (nach dem Vorlagebeschluss) und Vorlagefrage

14.      OM arbeitete für eine türkische internationale Spedition, der ein Lastzug gehört, den OM bei einer durch verschiedene Länder der Union geplanten Fahrt führte.

15.      Anfang Juni 2018 nahm eine unbekannte Person Kontakt zu OM auf und schlug ihm vor, anlässlich einer von der türkischen Stadt Istanbul zur deutschen Stadt Delmenhorst durchzuführenden Fahrt gegen Vergütung 2 940 antike Geldmünzen(5) nach Deutschland zu transportieren.

16.      OM nahm das Angebot an und brachte die Münzen nach ihrer Aushändigung in einem Hohlraum unter, der sich serienmäßig unter dem Fahrersitz befindet und für Gepäck, Werkzeug und anderes Zubehör gedacht ist, wo er sie zwischen verschiedenen Gegenständen versteckte.

17.      Am Morgen des 12. Juni 2018 passierte OM die türkische Grenzübergangsstelle „Kapakule“ und gelangte über die Grenzübergangsstelle „Kapitan Andreevo“ in das Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien. An der letztgenannten Grenzübergangsstelle wurde der Lkw untersucht, und die Grenzpolizei fand die Münzen.

18.      Die antiken Münzen, die Zugmaschine, der Anhänger, der Zündschlüssel des Fahrzeugs und der Fahrzeugschein wurden als Beweismittel sichergestellt.

19.      Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beantragte der Geschäftsführer der Eigentümerin des Fahrzeugs die Herausgabe der Zugmaschine und des Anhängers. Der Antrag wurde zunächst vom beaufsichtigenden Staatsanwalt und auf Beschwerde mit Beschluss des Okrazhen sad Haskovo (erstinstanzliches Gericht Haskovo, Bulgarien) vom 19. Oktober 2018 zurückgewiesen.

20.      Mit Urteil dieses Gerichts vom 22. März 2019 wurde OM wegen schweren Schmuggels eines Münzschatzes, dessen Wert das Tatbestandsmerkmal „in großem Umfang“ im Sinne von Art. 242 Abs. 1 Buchst. e NK erfüllt, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zu einer Geldstrafe in Höhe von 20 000 bulgarischen LEV (BGN) verurteilt.

21.      Die beschlagnahmten Münzen wurden nach Art. 242 Abs. 7 NK zugunsten des Staates eingezogen. Auch die streitgegenständliche Zugmaschine, in der die Münzen transportiert wurden, wurde gemäß Art. 242 Abs. 8 NK zugunsten des Staates eingezogen. Der Anhänger, der in keinem direkten Zusammenhang mit dem Transport stand, wurde an seinen Eigentümer herausgegeben.

22.      OM focht das im ersten Rechtszug ergangene Urteil beim Apelativen sad Plovdiv (Berufungsgericht Plovdiv, Bulgarien) an, soweit es die Einziehung der Zugmaschine betrifft.

23.      Das Berufungsgericht stellt klar, dass die Einziehung keine Strafe sei und dass sie nach Art. 242 Abs. 8 NK für die zur Begehung von Schmuggel genutzten Vermögensgegenstände zwingend anzuordnen sei.

24.      Obwohl die so angeordnete Einziehung rechtlich gedeckt ist, hat das Gericht Zweifel, ob dieser Artikel des NK, der vor dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union erlassen wurde, mit Art. 17 Abs. 1 der Charta vereinbar ist.

25.      Konkret ist es der Ansicht, dass die Einziehung des zur Begehung von Schmuggel genutzten Transportmittels zugunsten des Staates, wenn sein Eigentümer nicht an der Straftat beteiligt war, ein Ungleichgewicht zwischen dem Interesse eines Eigentümers, der von der Begehung der Straftat nichts weiß, und dem Interesse des Staates an der Beschlagnahme eines bei der Begehung einer Straftat genutzten Tatmittels mit sich bringen könne.

26.      Darüber hinaus hebt es hervor, dass nach nationalem Recht eine Anhörung des Eigentümers des Transportmittels in dem Verfahren, in dem die Einziehung angeordnet werde, nicht vorgesehen sei, was im Widerspruch zu Art. 47 der Charta und dem Recht auf einen effektiven Rechtsschutz stehen könne.

27.      Vor diesem Hintergrund legt das Apelativen sad Plovdiv (Berufungsgericht Plovdiv) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

1.      Ist Art. 17 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass wegen einer Beeinträchtigung des ausgewogenen Verhältnisses zwischen dem Allgemeininteresse und dem Erfordernis des Schutzes des Eigentumsrechts eine nationale Regelung wie die nach Art. 242 Abs. 8 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) (NK) der Republik Bulgarien unzulässig ist, wonach ein zur Begehung schweren Schmuggels genutztes Transportmittel, das einer dritten Person gehört, die weder wusste noch hätte wissen müssen oder können, dass ihr Angestellter die Straftat begeht, zugunsten des Staates einzuziehen ist?

2.      Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die nach Art. 242 Abs. 8 NK unzulässig ist, wonach ein Transportmittel, das im Eigentum einer Person steht, bei der es sich nicht um die Person handelt, die die Tat begangen hat, eingezogen werden kann, ohne dass der unmittelbare Zugang des Eigentümers zu den Gerichten zur Darlegung seines Standpunkts gewährleistet ist?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

28.      Der Vorlagebeschluss ist am 21. Mai 2019 beim Gerichtshof eingegangen.

29.      Die Staatsanwaltschaft Haskovo, die Staatsanwaltschaft Plovdiv, die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

A.      Zur Zulässigkeit

30.      Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob die Art. 17 Abs. 1 und 47 der Charta einer nationalen Regelung (Art. 242 Abs. 8 NK) entgegenstehen, die die Einziehung von Vermögensgegenständen erlaubt, die zur Begehung von Schmuggel genutzt wurden, obwohl sie einem Dritten gehören, der daran nicht beteiligt war.

31.      Da die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51) Adressaten der Charta sind, reicht die isolierte Anführung eines ihrer Artikel nicht aus, um eine Vorlagefrage zu begründen, wenn nicht eine Verbindung zu anderen unionsrechtlichen Bestimmungen besteht.

32.      Im Vorlagebeschluss wird allerdings der 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42 genannt. Diese Richtlinie weist eine Verbindung mit dem Sachverhalt des Rechtsstreits auf, da sie a) Mindestvorschriften für die Einziehung von Tatwerkzeugen festlegt und b) vorschreibt, dass gerichtliche Rechtsbehelfe vorgesehen werden, um die Rechte Dritter zu schützen.

33.      Allerdings ist in Anbetracht der im Übereinkommen, den Rahmenbeschlüssen und den Richtlinien geregelten Straftaten, die in der erschöpfenden Liste ihres Art. 3 aufgeführt sind, fraglich, ob die Richtlinie 2014/42 im vorliegenden Fall anwendbar ist. Nur wenn der hier sanktionierte Münzschmuggel unter einen dieser Verstöße (z. B. unter die, die unter den Rahmenbeschluss 2008/841/JI(6) fallen) gefasst werden kann, würde der geschilderte Sachverhalt in ihren Anwendungsbereich fallen.

34.      Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht allerdings Auslegungshinweise zu Unionsvorschriften geben, die es in seinem Vorlagebeschluss nicht angeführt hat(7). Er hat dies erst kürzlich getan, als er ein anderes Vorabentscheidungsersuchen beantwortete(8), mit dem ihn ein bulgarisches Gericht nach der Auslegung der Richtlinie 2014/42 fragte. Der Gerichtshof entschied sich in jener Rechtssache, ihm die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2005/212 an die Hand zu geben, da die Richtlinie 2014/42 nicht anwendbar war(9).

35.      Der Rahmenbeschluss 2005/212 wurde durch die Richtlinie 2014/42 zum Teil ersetzt, ohne dass diese Änderung seine Art. 2, 4 und 5 betraf, die weiterhin in Kraft sind(10). Die Kommission weist darauf hin, dass die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2014/42 der Grund sei, aus dem einige der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2005/212 nicht durch sie ersetzt worden seien.

36.      Nach dem Rahmenbeschluss 2005/212 (Art. 2 Abs. 1) trifft „[j]eder Mitgliedstaat … die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, … ganz oder teilweise eingezogen werden können“.

37.      Anders als nach dem Kriterium der Richtlinie 2014/42, das ihren Anwendungsbereich wie soeben geschildert beschränkt, kann der Rahmenbeschluss 2005/212 auf einen in Bulgarien begangenen Schmuggel angewandt werden, da das NK ihn mit Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren bedroht.

38.      Zusammenfassend ist meines Erachtens in dieser Rechtssache zur Beseitigung der Zweifel des vorlegenden Gerichts der Rahmenbeschluss 2005/212 auszulegen(11). Gleichzeitig ermöglicht seine Anwendbarkeit die Feststellung eines unmittelbaren Zusammenhangs mit einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts, „der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“(12), und öffnet daher die Tür zur Berufung auf die Charta.

B.      Zur Sache

39.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Eigentümerin der Zugmaschine (des Lkw) „weder wusste noch hätte wissen müssen oder können, dass ihr Angestellter die Straftat begeht“. Es handelt sich mithin um einen gutgläubigen Dritten, dem ein Vermögensgegenstand entzogen wird, ohne dass er an der Begehung der Straftat beteiligt war. Nur der unmittelbare Täter verwendete das Transportmittel als Tatwerkzeug für den Schmuggel des Münzschatzes.

40.      Um feststellen zu können, ob sich ein Eigentümer, der sich in dieser Situation befindet, auf Art. 17 Abs. 1 der Charta berufen kann, ist zunächst auf den Inhalt des Rahmenbeschlusses 2005/212 einzugehen.

41.      Art. 1 vierter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses definiert die Einziehung als eine „Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt“.

42.      Diese Bestimmung enthält keine Bezugnahme auf das Eigentum an den eingezogenen Vermögensgegenständen. Sie schließt es grundsätzlich nicht aus, dass sie einem Dritten gehören, der weder als Täter noch sonst an der Straftat beteiligt ist.

43.      Der subjektive Anwendungsbereich der Einziehung lässt sich anhand einiger Passagen des Rahmenbeschlusses 2005/212 näher bestimmen:

–      Nach Art. 2 Abs. 2 können „den Tätern [einer Steuerstraftat] die Erträge aus der Straftat“ entzogen werden.

–      In Art. 3 Abs. 1 heißt es, „dass Vermögensgegenstände einer Person … eingezogen werden können, die für eine Straftat … verurteilt wurde“.

–      Art. 3 Abs. 3 spricht von der Einziehung von Vermögensgegenständen, „die von einer der betreffenden Person sehr nahe stehenden Person erworben wurden[,] sowie Vermögensgegenstände[n], die an eine juristische Person übertragen wurden, auf die die betreffende Person [unmittelbar oder mittelbar] einen maßgeblichen Einfluss ausübt“.

–      Schließlich wird im dritten Erwägungsgrund ausgeführt, dass „eine Verbesserung und erforderlichenfalls Annäherung der einzelstaatlichen Vorschriften über Beschlagnahmen und die Einziehung von Erträgen aus Straftaten unter Berücksichtigung der Rechte Dritter, die gutgläubig gehandelt haben, erfolgen“ soll.

44.      Der Rahmenbeschluss 2005/212 bot daher eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass eine Einziehung grundsätzlich Vermögensgegenstände betreffen muss, die dem Täter der Straftat gehören, ermöglichte aber gleichzeitig, sie auf Vermögensgegenstände Dritter zu erstrecken.

45.      Diese Dritten können sich in sehr unterschiedlichen Situationen befinden. Es wäre naiv, zu verkennen, dass in vielen Fällen die unmittelbaren Täter (Teilnehmer, Verdächtigte, Beschuldigte) von Straftaten versuchen, gerade zur Vermeidung der Einziehung ihrer Vermögensgegenstände einen Dritten vorzuschieben(13).

46.      Dritte können daher, auch wenn sie nicht unmittelbare Täter einer Straftat sind,

–      zu einem gewissen Grad beispielsweise als Anstifter, Gehilfe oder Begünstigende an ihr oder ihrer Vorbereitung beteiligt gewesen sein,

–      Eigentümer von Gegenständen sein, deren Besitz verboten ist, wie z. B. verbotene Waffen, Drogen oder andere Gegenstände, die konkret für die Begehung von Straftaten bestimmt sind und dabei verwendet werden,

–      die Vermögensgegenstände in Kenntnis ihrer rechtswidrigen Herkunft gerade deshalb erworben haben, um ihre Einziehung zu vermeiden.

47.      In diesen (und vielleicht in einigen vergleichbaren) Fällen steht einer Einziehung der beschlagnahmten Vermögensgegenstände nichts entgegen, auch wenn sie anderen Personen als dem unmittelbaren Täter der Straftat gehören.

48.      Ein anderes Bild ergibt sich, wenn es sich um gutgläubige Dritte handelt, deren Rechtsstellung besonders geprüft werden muss.

1.      Rechte gutgläubiger Dritter bei Einziehung ihrer Vermögensgegenstände

49.      Der Unionsgesetzgeber zog den (formellen und materiellen) Schutz der Rechte gutgläubiger Dritter in Betracht, wie im dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2005/212 zum Ausdruck kommt und in der Richtlinie 2014/42 geregelt wurde.

50.      Dieser Schutz berührt sowohl das (materielle) Eigentumsrecht, das in Art. 17 der Charta niedergelegt ist, als auch das (formelle) Recht gemäß Art. 47 der Charta, zu seiner Verteidigung ein Gericht anzurufen. Ich werde nur auf Ersteres eingehen(14).

51.      Die Bestimmungen der Richtlinie 2014/42 über gutgläubige Dritte können, obwohl sie im vorliegenden Fall keine Anwendung finden, bei der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2005/212 herangezogen werden, denn beide verfolgen den gleichen Zweck, der im Rahmenbeschluss bereits latent vorhanden war.

52.      Im 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42 heißt es, dass sie „sich nicht nur erheblich auf die Rechte verdächtiger oder beschuldigter Personen aus[wirkt], sondern auch auf die Rechte strafrechtlich nicht verfolgter Dritter“. Diese Dritte müssen „ein Recht auf Anhörung [haben, wenn sie] geltend machen, dass sie die Eigentümer der betreffenden Vermögensgegenstände sind oder dass sie andere Eigentumsrechte (‚dingliche Rechte‘, ‚ius in re‘) … haben“.

53.      Im Einklang mit diesem Erwägungsgrund widmet die Richtlinie 2014/42 eine Bestimmung (Art. 6) der Dritteinziehung. Danach gilt:

–      Abs. 1 betrifft Vermögensgegenstände, „deren Wert den Erträgen entspricht, die von einer verdächtigten oder beschuldigten Person direkt oder indirekt an Dritte übertragen wurden oder die durch Dritte von einer verdächtigten oder beschuldigten Person erworben wurden …“(15).

–      Gemäß Abs. 2 bleiben die „Rechte gutgläubiger Dritter“ unberührt.

54.      Diese Regelung ersetzt Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/212. Dieser Artikel ist zwar nicht mehr in Kraft, aber es wäre meines Erachtens ein Irrtum, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Möglichkeit, vor dem Hintergrund des Rahmenbeschlusses 2005/212 Vermögensgegenstände Dritter einzuziehen, entfallen ist.

55.      Ich bin im Gegenteil der Ansicht, dass die Behandlung der Einziehung von Vermögensgegenständen Dritter in der Richtlinie 2014/42, auch wenn sie formell von der Regelung im Rahmenbeschluss 2005/212 getrennt ist, beim Verständnis der Reichweite des Rahmenbeschlusses hilfreich sein kann(16).

56.      Nichts steht folglich einer Auslegung von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dahin entgegen, dass er die Einziehung von Vermögensgegenständen Dritter gestattet, ausgenommen, sie sind gutgläubig.

57.      Von dieser Prämisse ausgehend wurden Merkmale des durch Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierten Eigentumsrechts im Urteil vom 21. Mai 2019(17) zusammengefasst, in dem der Gerichtshof:

–      anerkennt, dass der Schutz, den diese Bestimmung gewährt, nicht generell die Entziehung von Eigentum verbietet, sofern sie aus Gründen des öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist; hierbei ist Art. 52 Abs. 1 der Charta zu berücksichtigen(18),

–      feststellt, dass sich aus „Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta … zum einen [ergibt], dass bei Berufung auf einen Grund des öffentlichen Interesses zur Rechtfertigung einer Entziehung von Eigentum der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf diesen Grund und die von ihm abgedeckten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen gewahrt sein muss“,

–      ausführt, dass „eine solche Lesart [bedeutet], dass das durch Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta garantierte Eigentumsrecht verletzt würde, wenn kein eine Eigentumsentziehung rechtfertigender Grund des öffentlichen Interesses vorliegt oder zwar vorliegt, aber die in der genannten Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind“(19).

58.      In Anbetracht dessen bin ich der Auffassung, dass die Einziehung von Vermögensgegenständen, die einem gutgläubigen Dritten gehören und als Tatwerkzeug verwendet worden sind, in der Regel nicht in Betracht kommt.

59.      Von dieser Regel können jedoch aus Gründen des öffentlichen Interesses in einer nationalen Vorschrift, die berechtigte Ziele des Allgemeininteresses verfolgt, für deren Erreichung geeignet ist und nicht über das hierzu erforderliche Maß hinausgeht, Ausnahmen vorgesehen werden(20). Daneben muss für die Entziehung ein Ausgleich durch Zahlung einer rechtzeitigen angemessenen Entschädigung geschaffen werden(21).

60.      Jedenfalls halte ich es für angebracht, in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Überlegung zum Begriff des guten Glaubens anzustellen. Ich räume ein, dass es sich um ein ausgesprochen kasuistisches Terrain handelt und es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob in gutem Glauben gehandelt wurde oder nicht (im vorliegenden Fall bestätigt es dies in den eindringlichen Worten, die weiter oben zitiert worden sind)(22). Damit möchte ich deutlich machen, dass das Fehlen von Vorsatz nicht ausreicht: Der gute Glaube kann unter gewissen Umständen auch bei grober Fahrlässigkeit entfallen.

61.      So lässt sich beispielsweise das Verhalten eines Dritten, der zwar nicht weiß, ob das Fahrzeug, das er einem anderen leiht, zur Begehung einer konkreten Straftat des Schmuggels (oder des Handelns mit Drogen) verwendet wird, es aber verleiht, obwohl er mühelos erkennen kann, dass der Entleiher diesen Tätigkeiten gewohnheitsmäßig nachgeht, kaum als gutgläubig bezeichnen.

2.      Einziehung von Transportmitteln gutgläubiger Dritter im nationalen Recht

62.      Die Erstreckung der Einziehung auf Transportmittel (Kraftfahrzeuge, Schiffe und Flugzeuge), die bei der Begehung von Straftaten verwendet wurden, ist etwas, das grundsätzlich der jeweilige Staat regeln muss(23). Aus der Sicht des Rahmenbeschlusses 2005/212 spricht nichts dagegen, diese Transportmittel unter die Tatwerkzeuge zu fassen, mit denen eine Straftat begangen wurde oder werden sollte.

63.      Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass Art. 242 Abs. 8 NK in diesem Fall anzuwenden und daher die Zugmaschine des Lastzugs einzuziehen ist, obwohl sie im Eigentum eines gutgläubigen Dritten steht.

64.      Es erinnert daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in einem Urteil aus dem Jahr 2015(24) festgestellt habe, dass eine auf der Grundlage dieser Vorschrift in Bulgarien verfügte Einziehung gegen Art. 1 des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Menschenrechtskommission verstoße, dessen Inhalt sich mit dem von Art. 17 Abs. 1 der Charta (Eigentumsrecht) decke.

65.      Die Staatsanwaltschaft Plovdiv, die sich in ihren schriftlichen Erklärungen auf dasselbe Urteil beruft, führt zur Stützung ihres Standpunkts zur Gültigkeit der Einziehung ein weiteres, neueres Urteil des EGMR(25) an, das eine Einziehung betrifft, die in Bulgarien auf der Grundlage von Art. 233 Abs. 6 (früher Abs. 3) des Zakon za mitnitsite (Zollgesetz)(26) angeordnet wurde, der ihren Angaben zufolge für den Zollbereich eine ähnliche Regelung vorsehe wie Art. 242 Abs. 8 NK(27).

66.      Tatsächlich sind beide Urteile für die Antwort des Gerichtshofs auf die erste Vorlagefrage (im Hinblick auf Art. 52 Abs. 3 der Charta) nur von beschränkter Bedeutung:

–      Im Urteil Atanasov gelangte der EGMR zwar nicht zu der Feststellung, dass die Anwendung von Art. 233 Abs. 3 des Zollgesetzes gegen das Eigentumsrecht verstoßen habe. Dies lag aber daran, dass er den Eingriff in dieses Recht für gerechtfertigt hielt, da Herr Atanasov ein Zollvergehen begangen habe(28).

–      Im Urteil Ünsped, dem ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde liegt wie der vorliegenden Rechtssache (Einziehung eines Lkw, in dem Drogen transportiert wurden und dessen Eigentümer nicht an der Straftat beteiligt war, auf der Grundlage von Art. 242 Abs. 8 NK), richtet der EGMR, nachdem er die allgemeinen Grundsätze bezüglich des Schutzes des Eigentumsrechts geprüft hat, sein Augenmerk vornehmlich auf verfahrensrechtliche Gesichtspunkte(29).

67.      Nach dem Urteil Ünsped hätten die nationalen Behörden das Maß an Verschulden oder Sorgfalt des Eigentümers in Bezug auf den eingezogenen Vermögensgegenstand oder zumindest das Verhältnis zwischen dem an den Tag gelegten Verhalten und der Straftat berücksichtigen müssen(30). Da sie dies nicht getan hätten und vor allem dem Eigentümer nicht die Möglichkeit gegeben hätten, die Einziehung seiner Vermögensgegenstände aufgrund des Strafverfahrens anzufechten, sei das durch Art. 1 des Protokolls Nr. 1 geschützte Recht verletzt worden(31).

68.      Da die verfahrensrechtlichen Gesichtspunkte dieses Vorabentscheidungsersuchens in der zweiten Vorlagefrage behandelt werden, muss sich die Erörterung der ersten darauf konzentrieren, ob die Einziehung von für Schmuggel verwendeten Transportmitteln, die einem gutgläubigen Dritten gehören, hinreichend begründet und verhältnismäßig ist.

69.      Im Vorlagebeschluss wird auf diese etwaige Rechtfertigung nicht eingegangen, und die bulgarische Regierung hat sich nicht am Vorabentscheidungsverfahren beteiligt, um sie zu stützen. Die bulgarischen Staatsanwälte, die im Rahmen dieses Verfahrens schriftliche Erklärungen eingereicht haben, haben sie hingegen angesprochen. Zudem haben sie weitere Argumente zugunsten der These vorgebracht, die sie im Strafverfahren im ersten und im zweiten Rechtszug vertreten hatten.

70.      Von diesen Argumenten (die insbesondere die Staatsanwaltschaft Plovdiv vorbringt) ist das, nach dem die Einziehung gültig sei, weil Art. 242 Abs. 8 NK eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Bestimmung sei, die ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolge, meines Erachtens von vornherein zurückzuweisen. Das vorlegende Gericht fragt gerade nach der Vereinbarkeit dieser Bestimmung in der von ihm vorgenommenen Auslegung mit dem Unionsrecht.

71.      Ebenso wenig ist es vertretbar, zur Verteidigung der angewendeten Vorschrift zu behaupten, dass sie auf internationale Verpflichtungen Bulgariens zurückgehe und die Einziehung eine Form des gesetzlichen Erwerbs (und des entsprechenden Verlusts) von Eigentum sei, die nicht in die Zuständigkeit der Union falle.

72.      Insoweit erinnere ich lediglich daran, dass der Rahmenbeschluss 2005/212 im Rahmen der Befugnisse der Union erlassen wurde und die Achtung des Eigentums Teil von Art. 17 der Charta ist, die in den Mitgliedstaaten unter den weiter oben dargestellten Voraussetzungen anwendbar ist. Die angesprochenen internationalen Verpflichtungen begründen keine Verpflichtung zur Einziehung von Vermögensgegenständen gutgläubiger Dritter.

73.      Zu dem Vorbringen, nach dem bulgarischen Gesetz über Schuldverhältnisse und Verträge könne das Unternehmen, das Eigentümer des Fahrzeugs sei, den Fahrer auf Ersatz des ihm aus der Einziehung entstandenen Schadens verklagen (so dass ihm im eigentlichen Sinne keine Rechte entzogen worden seien, da es gegen die verurteilte Person einen Anspruch auf eine entsprechende Entschädigung habe), genügt der Hinweis auf die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen)(32) gegenüber einer derartigen Argumentation.

74.      Um auf die Rechtfertigung der Maßnahme zurückzukommen: Die Einziehung ist dem Wesen nach darauf gerichtet, den Vermögensanreiz für Straftäter zunichtezumachen, denen sämtliche Vermögensgegenstände, Tatwerkzeuge und Erträge aus der Straftat entzogen werden. Diese an die Kriminalitätsbekämpfung anknüpfende Rechtfertigung liegt grundsätzlich nicht vor, wenn die beschlagnahmten Gegenstände einem gutgläubigen Dritten gehören.

75.      Die Staatsanwaltschaft Haskovo führt aus, dass eine Abschaffung dieser im Gesetz geregelten Folge einen Anreiz für die organisierte Kriminalität schüfe, bei der Begehung von Schmuggel fremde Transportmittel zu verwenden. Die Antwort auf diese (legitime) Sorge ist in der Ermittlung der Verbindungen zwischen den Eigentümern dieser Transportmittel und den Tätern zu suchen, auch unter Verschärfung der Kriterien für die Feststellung des guten Glaubens dieser Eigentümer(33).

76.      Wenn das nationale Recht die Einziehung der verwendeten Transportmittel auch dann zwingend vorsieht, wenn ihre Eigentümer tatsächlich gutgläubig gehandelt haben (oder gar ihnen selbst ihr Fahrzeug entzogen wurde: Man denke an den Fall einer Person, der ihr Auto gestohlen wurde, das später zur Begehung von Schmuggel verwendet wird), macht es von einem Rechtsinstrument Gebrauch, dass für die Enteignung dieser Vermögensgegenstände nicht geeignet ist.

77.      Für die Umwandlung der Einziehung in einen zwangsweisen Entzug des Eigentums bedarf es unter diesen Umständen eines hinreichenden Grundes zu seiner Rechtfertigung und letztendlich der Aktivierung der in Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 2 der Charta vorgesehenen Entschädigungsgarantie.

V.      Ergebnis

78.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich vor, die erste Frage des Apelativen sad Plovdiv (Berufungsgericht Plovdiv, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung entgegensteht, wonach ein zur Begehung schweren Schmuggels genutztes Transportmittel, das einer dritten Person gehört, die weder wusste noch hätte wissen müssen oder können, dass es zur Begehung der Straftat verwendet wird, zugunsten des Staates eingezogen werden kann.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39).


4      Strafgesetzbuch (im Folgenden: NK).


5      In ihren schriftlichen Erklärungen spricht die Staatsanwaltschaft Plovdiv von „Bronzemünzen aus der antiken Stadt Amisos, die aus dem II. und I. Jahrhundert vor Christus stammen“. Dem Vorlagebeschluss zufolge ergibt sich aus dem archäologisch-numismatischen Wertgutachten, dass die Münzen echt seien und archäologische Objekte darstellten. Es handele sich, wie in dem Gutachten ausgeführt wird, um einen geschichtlich außerordentlich wertvollen Fund.


6      Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42).


7      „Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung einer bestimmten Unionsrechtsvorschrift beschränkt hat, hindert dies demzufolge den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen“. Urteil vom 18. September 2019, VIPA (C‑222/18, EU:C:2019:751, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Urteil vom 19. März 2020, Agro In 2001 (C‑234/18, EU:C:2020:221, Rn. 46 bis 50).


9      Ebd. (Rn. 47): „… [H]andlungen, wie sie im Vorlagebeschluss beschrieben werden, [gehören] nicht zu den Straftaten, die in den Anwendungsbereich der in Art. 3 der Richtlinie 2014/42 erschöpfend aufgeführten Rechtsinstrumente fallen, so dass der Gegenstand des … eingeleiteten Verfahrens vom materiellen Anwendungsbereich dieser Richtlinie nicht erfasst wird.“


10      Ebd. (Rn. 48).


11      Der Gerichtshof richtete an die Parteien und die am Vorabentscheidungsverfahren beteiligten Staaten eine Frage und forderte sie auf, zu diesem Punkt Stellung zu nehmen.


12      Urteil vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24).


13      Vgl. 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42.


14      Vgl. Nr. 3 dieser Schlussanträge.


15      „… zumindest wenn diese Dritten aufgrund konkreter Tatsachen und Umstände … wussten oder hätten wissen müssen, dass mit der Übertragung oder dem Erwerb die Einziehung vermieden werden sollte“. Es ist eine dreifache Prüfung vorzunehmen: i) Bei der verdächtigten oder beschuldigten Person müssen die Voraussetzungen für die Anordnung der Einziehung vorliegen, ii) die verdächtigte oder beschuldigte Person muss die Vermögensgegenstände auf einen Dritten übertragen haben, iii) dem Dritten war bekannt oder hätte bekannt sein müssen, dass mit der Übertragung die Vermeidung der Einziehung bezweckt wurde (Nitu, D., „Extended and third party confiscation in the European Union“, in Rossi, F. [Hrsg.], Improving confiscation procedures in the European Union, Jovene Editore, Neapel, 2019, S. 78).


16      Der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42 lautet: „Die Mitgliedstaaten können die Dritteinziehung gegebenenfalls nach Maßgabe des nationalen Rechts als eine Maßnahme definieren, die der direkten Einziehung untergeordnet ist oder eine Alternative dazu darstellt.“


17      Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432).


18      Ebd. (Rn. 87 und 88).


19      Ebd. (Rn. 89).


20      Ebd. (Rn. 94): „… ein Mitgliedstaat [muss] neben den Rechtfertigungsgründen, die er geltend machen kann, geeignete Beweise oder eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen“.


21      Ebd. (Rn. 126): „… eine nationale Rechtsvorschrift, die zu einer Entziehung von Eigentum führt, [muss] klar und genau vorsehen …, dass diese Entziehung einen Anspruch auf eine Entschädigung begründet und welche Bedingungen für sie gelten.“


22      Nrn. 1 und 39 dieser Schlussanträge.


23      In einigen Ländern wird eine Einziehung nur angeordnet, wenn das Fahrzeug als Tatwerkzeug für eine Straftat verwendet wird, die als solche den Transport bestimmter Gegenstände voraussetzt (z. B. Drogen, die in seinem Innenraum versteckt werden), so dass dieses Fahrzeug einen unverzichtbaren Faktor der Deliktsdynamik darstellt.


24      Urteil vom 13. Oktober 2015, Ünsped Paket Servisi San. VE TİC. A.Ş./Bulgarien (CE:ECHR:2015:1013JUD000350308, im Folgenden: Urteil Ünsped).


25      Der Sachverhalt bestand in der Einfuhr eines Fahrzeugs unter Missachtung der Zollbestimmungen, die zu seiner Einziehung führte, da es als Schmuggelgut betrachtet wurde.


26       Zollgesetz, DV Nr. 15 vom 6. Februar 1998. Nach diesem Artikel unterliegen „Waren, die Gegenstand des Schmuggels sind, ungeachtet der Eigentumsverhältnisse der Einziehung; falls sie nicht vorhanden sind oder veräußert wurden, wird der Ersatz ihres Wertes, der – bei Einfuhr – ihrem Zollwert oder – bei Ausfuhr – ihrem Warenwert entspricht, angeordnet“.


27      Urteil vom 7. Dezember 2017, Atanasov/Bulgarien (CE:ECHR:2017:1207JUD000604608, im Folgenden: Urteil Atanasov).


28      Ebd. (§§ 38 bis 49). Er stellt klar, dass die bulgarischen Behörden in jenem Fall Gründe für die Annahme gehabt hätten, dass der Kläger das Fahrzeug der zollamtlichen Überwachung entzogen habe, da er es rechtswidrig in ihr Hoheitsgebiet eingeführt habe, und ihnen daher nicht vorgeworfen werden könne, dass sie es als Schmuggelgut eingestuft hätten. Zudem würdigt er die beruflichen Umstände des Klägers und führt aus, dass von ihm verlangt werden könne, das Verwaltungsverfahren und die Folgen eines Verstoßes gegen dieses Verfahren zu kennen.


29      Der EGMR nimmt eine Abwägung des angemessenen Gleichgewichts zwischen dem Eingriff und der Erreichung des verfolgten Ziels vor und stellt, obwohl er der Ansicht ist, dass es berechtigt sei, fest, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet worden sei, da der Eigentümer nach bulgarischem Recht die Einziehung seines Vermögensgegenstands nicht wirksam habe anfechten können.


30      Urteil Ünsped (§ 45): „Nor did [the national courts] examine the conduct of the confiscated lorry’s owner or the relationship between the conduct of the latter and the offence. There is no evidence before this Court suggesting that the owner could or should have known of an offence being committed and the owner was clearly not given an opportunity to put its case“.


31      Ebd. (§ 38): Art. 1 des Protokolls enthält zwar keine Verfahrensvoraussetzung, aber die Rechtsprechung hat das Erfordernis aufgestellt, dass Personen, die von Maßnahmen betroffen sind, die sich auf ihr Eigentum auswirken, über angemessene Möglichkeiten verfügen müssen, um ihre Rechtsauffassung gegenüber den zuständigen Behörden verteidigen zu können.


32      Urteil vom 21. Mai 2019 (C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 127 und 128): „Insoweit genügt der … Verweis auf die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften nicht den Anforderungen von Art. 17 Abs. 1 der Charta. Auch wenn es einem Mitgliedstaat im Licht dieser Bestimmung rechtlich möglich wäre, die Entschädigung für die Entziehung von Eigentum, für die er selbst allein verantwortlich ist, Privatpersonen zu überlassen, ist festzustellen, dass mit einem solchen Verweis … den Inhabern von [Rechten] die Last auferlegt würde, eine ihnen möglicherweise … geschuldete Entschädigung mittels Verfahren, die sich als langwierig und kostspielig erweisen können, zu erhalten. Solche zivilrechtlichen Vorschriften ermöglichen es nicht, leicht und mit hinreichender Genauigkeit oder Vorhersehbarkeit festzustellen, ob am Ende eines solchen Verfahrens tatsächlich eine Entschädigung erlangt werden kann und welche Form und Höhe sie gegebenenfalls hat.“


33      So könnte beispielsweise bei Transportmitteln vorgegangen werden, die aufgrund ihrer Eigenschaften für die Begehung von Schmuggel besonders geeignet sind, wie Boote, die so leistungsstark sind, dass sie der Zollüberwachung auf See entkommen können. In diesen Fällen steht der Regelung der Vermutung (iuris tantum), wonach derjenige, der ein solches Boot einem Dritten überlässt, nicht gutgläubig handelt, mit der die Beweislast umgekehrt würde, nichts entgegen.