Language of document : ECLI:EU:C:2024:585

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

4. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Strafverfahren – Untersuchungshaft der beschuldigten Person – Auswirkungen eines Vorabentscheidungsersuchens auf das Ausgangsverfahren – Weigerung des vorlegenden Gerichts, das Verfahren in der Sache fortzusetzen, bevor die Antwort des Gerichtshofs eingegangen ist – Beschleunigungsgebot in Strafverfahren und insbesondere in Haftsachen – Ablehnungsgesuch gegen den zuständigen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit“

In der Rechtssache C‑288/24 [Stegmon](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin I (Deutschland) mit Beschluss vom 23. April 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 2024, in dem Strafverfahren gegen

M. R.,

Beteiligte:

Staatsanwaltschaft Berlin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. R. und betrifft die Rechtmäßigkeit eines Ablehnungsgesuchs der Staatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) gegen einen Richter.

 Deutsches Recht

3        Das allgemeine Beschleunigungsgebot in Strafsachen folgt aus dem im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsprinzip.

4        Nach § 24 der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. 1987 I S. 1074, 1319), geändert durch Gesetz vom 27. März 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 109) (im Folgenden: StPO), kann die Staatsanwaltschaft, der Privatkläger oder der Beschuldigte einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen; die Ablehnung findet statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.

5        Nach § 27 Abs. 1 StPO entscheidet der Spruchkörper, dem der abgelehnte Richter angehört, ohne dessen Mitwirkung über das Ablehnungsgesuch.

6        § 121 Abs. 1 StPO sieht vor, dass bis zum Erlass des Urteils der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulässt und die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Nach § 121 Abs. 3 StPO ruht der Fristablauf allerdings, sofern die Hauptverhandlung innerhalb der Sechs-Monats-Frist begonnen hat.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7        Das Ausgangsverfahren betrifft gegen M. R. erhobene Vorwürfe des Handels mit Betäubungsmitteln. Diese Vorwürfe beruhen auf Erkenntnissen aus der Auswertung von Daten, die von Mobiltelefonen mit einer Software namens „EncroChat“ stammen, die eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichte.

8        Im Rahmen dieses Verfahrens erging ein Haftbefehl gegen M. R. Er wurde erstmals am 4. Mai 2023 in Untersuchungshaft genommen.

9        Mit Beschluss vom 29. Juni 2023 ließ das Landgericht Berlin (Deutschland) erstens die Anklage unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zu. Zweitens setzte es das Verfahren aus, um dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) zu unterbreiten; dieses Ersuchen wurde bei der Kanzlei des Gerichtshofs unter dem Aktenzeichen Staatsanwaltschaft Berlin II (C‑675/23) eingetragen. Drittens hob es im Hinblick auf den ungewissen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs den Haftbefehl gegen M. R. auf.

10      Am 30. Juni 2023 legte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen diesen Beschluss Beschwerde ein, soweit der Haftbefehl aufgehoben worden war. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) trat der Beschwerde am 10. Juli 2023 bei.

11      Mit Beschluss vom 24. Juli 2023 hob das Kammergericht (Berlin, Deutschland) den Beschluss vom 29. Juni 2023, soweit damit der Haftbefehl aufgehoben worden war, auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. In den Entscheidungsgründen hieß es, dass dieser Beschluss, soweit damit das Verfahren ausgesetzt worden sei, die Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht hindere. Vielmehr erhalte das Landgericht Berlin dadurch Gelegenheit, seine Würdigung in Bezug auf die Verfahrensaussetzung vor dem Hintergrund des von ihm in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebots zu überdenken. „Vorsorglich“ werde darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft einen Aussetzungsbeschluss mit der Beschwerde anfechten könne.

12      Am 26. Juli 2023 legte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen den Beschluss vom 29. Juni 2023, soweit damit das Verfahren ausgesetzt worden war, Beschwerde ein und begründete dies damit, dass die Verfahrensaussetzung und das Fehlen von Maßnahmen zur Förderung des Verfahrens gegen das Beschleunigungsgebot verstießen. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin trat am 9. August 2023 auch dieser Beschwerde bei und führte dabei aus, dass ein Abwarten der Entscheidung des Gerichtshofs diesem Gebot zuwiderlaufe.

13      Mit Beschluss vom 13. September 2023 hob das Kammergericht den Beschluss vom 29. Juni 2023, soweit damit das Verfahren ausgesetzt worden war, auf. Es führte dazu aus, dass eine Verfahrensaussetzung grundsätzlich nicht zur Klärung von Rechtsfragen angeordnet werden könne. Eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung über ein „Musterverfahren“, das zu einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof geführt habe, erscheine jedoch „ausnahmsweise vertretbar“. In Anbetracht des Beschleunigungsgebots setze diese Möglichkeit allerdings voraus, dass die Entscheidung des Gerichtshofs im „Musterverfahren“ unmittelbar bevorstehe und die Verzögerung für den Angeklagten keine unzumutbaren Belastungen mit sich bringe. Unter diesen Umständen sei der Beschluss vom 29. Juni 2023, soweit damit das Verfahren ausgesetzt worden sei, „ersichtlich ermessensfehlerhaft“, da nicht bekannt sei, wann mit einer Entscheidung des Gerichtshofs zu rechnen sei. Überdies sei nicht auszuschließen, dass wegen der Besonderheiten des Falls ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen erforderlich werden könnte.

14      Gleichwohl hob das Landgericht Berlin den fraglichen Haftbefehl mit Beschluss vom 20. Oktober 2023 unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot erneut auf. Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Berlin Beschwerde ein. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin trat der Beschwerde bei und führte aus, dass, wenn das Landgericht Berlin für den Fall der erneuten Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht umgehend Hauptverhandlungstermine anberaumen sollte, zu prüfen sein werde, ob dies Anlass für ein Ablehnungsgesuch biete.

15      Mit Beschluss vom 6. Dezember 2023 hob das Kammergericht den Beschluss vom 20. Oktober 2023 auf und setzte den Haftbefehl erneut in Vollzug. In diesem Beschluss führte es aus, dass der umgehenden weiteren Planung und Terminierung der Hauptverhandlung nichts entgegenstehe. Im Anschluss an diesen Beschluss forderte die Staatsanwaltschaft Berlin das Landgericht Berlin auf, die Hauptverhandlung nun so bald und so schnell wie möglich durchzuführen.

16      Mit Beschluss vom 12. März 2024 hob das Kammergericht den fraglichen Haftbefehl auf und entschied, dass das Landgericht Berlin (seit dem 1. Januar 2024: Landgericht Berlin I) das Beschleunigungsgebot nicht hinreichend beachtet habe, indem es die Hauptverhandlung nicht terminiert habe. Da es sich hierbei um einen „massiven Verstoß gegen die strengen verfassungsrechtlichen Vorgaben“ handele, der allein in den Verantwortungsbereich des Landgerichts Berlin I falle, sei das Beschleunigungsgebot in einer Weise verletzt, dass die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig sei.

17      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass M. R. wegen anderweitiger Taten eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüße. Diese Strafe ende grundsätzlich am 28. Mai 2026; eine vorzeitige Haftentlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe komme jedoch ab dem 27. Juli 2024 in Betracht.

18      In diesem Zusammenhang stellte die Staatsanwaltschaft Berlin mit Schreiben vom 28. März 2024 wegen Besorgnis der Befangenheit ein Ablehnungsgesuch gegen die Vorsitzende des Spruchkörpers des Landgerichts Berlin I, der die fraglichen Beschlüsse erlassen hatte (im Folgenden: Vorsitzende). Zur Begründung ihres Gesuchs führte sie aus, dass die Vorsitzende, obwohl die Inhaftierung des Angeklagten andauere und das Kammergericht auf die dringende Notwendigkeit einer Terminierung hingewiesen habe, immer noch keinen Termin zur Hauptverhandlung anberaumt habe.

19      Der Umstand, dass die Vorsitzende diesen Hinweis bewusst nicht beachtet und dadurch die Aufhebung des Haftbefehls verschuldet habe, biete Grund zu der Annahme, dass sie ihre Entscheidungen nicht mehr an den Vorgaben der Obergerichte ausrichte, sondern nur noch eigene Interessen verfolge. Diese Interessen stünden im Zusammenhang mit der von ihr aufgeworfenen und aus ihrer Sicht entscheidungserheblichen Frage nach der Verwertbarkeit bestimmter Beweismittel. Aspekte der Verfahrenssicherung und des Beschleunigungsgebots berücksichtige sie nicht, da sie ihre Verfahrensführung ausschließlich danach ausrichte, erst eine Hauptverhandlung anzuberaumen, wenn der Gerichtshof über ihr Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Staatsanwaltschaft Berlin II (C‑675/23) entschieden habe.

20      Gemäß § 27 Abs. 1 StPO hat die Kammer des Landgerichts Berlin I, der die Vorsitzende angehört, über das in Rn. 18 des vorliegenden Beschlusses genannte Gesuch zu entscheiden. Anstelle der Vorsitzenden wirkt dabei ihr Vertreter mit.

21      In diesem Zusammenhang weist das Landgericht Berlin I, bei dem es sich – in der Zusammensetzung, wie in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Beschlusses dargelegt – um das vorlegende Gericht handelt, darauf hin, dass die Vorsitzende die im Ausgangsverfahren getroffenen Entscheidungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs begründet habe. Aus dieser ergebe sich, dass ein Richter, der ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht habe, vor Abschluss des Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht durch das Rechtsmittelgericht angewiesen oder durch Androhung von „Disziplinarstrafen“ veranlasst werden dürfe, das Ausgangsverfahren fortzusetzen. Vielmehr müsse er die Entscheidung des Gerichtshofs abwarten und dürfe bis dahin nur Verfahrenshandlungen vornehmen, die in keinem Zusammenhang mit den Vorlagefragen stünden. Dies gelte auch in Haftsachen.

22      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, diese Rechtsprechung des Gerichtshofs gelte auch in Strafsachen, zumal der Gerichtshof in einem Eilvorabentscheidungsverfahren oder einem beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren entscheiden könne.

23      Unter diesen Umständen hat das Landgericht Berlin I beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 267 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er das vorlegende Gericht berechtigt oder sogar verpflichtet, bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in Bezug auf das Ausgangsverfahren keine Verfahrenshandlungen vorzunehmen, die einen Zusammenhang zu den Vorlagefragen aufweisen?

2.      Verbietet es Art. 267 AEUV, eine Besorgnis der Befangenheit allein darauf zu stützen, dass ein Richter die Entscheidung des Gerichtshofs über sein Vorabentscheidungsersuchen abwartet?

3.      Gilt dies jeweils auch für eine strafrechtliche Haftsache, für die ein besonderes Beschleunigungsgebot gilt?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

24      In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht beantragt, auf die vorliegende Rechtssache das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs anzuwenden oder sie, hilfsweise, gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung beschleunigt zu behandeln.

25      Angesichts der Entscheidung des Gerichtshofs, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, hat sich dieser Antrag erledigt.

 Zu den Vorlagefragen

26      Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann.

27      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die vom vorlegenden Gericht mit seinen drei Vorlagefragen erbetene Auslegung des Unionsrechts klar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann und dass daher Art. 99 der Verfahrensordnung in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden ist.

28      Soweit das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen möchte, ob die Antworten auf die erste und die zweite Frage auch für eine strafrechtliche Haftsache gelten, für die ein besonderes Beschleunigungsgebot gilt, so ist dieser Aspekt bei der Behandlung der ersten beiden Fragen zu berücksichtigen und nicht gesondert zu prüfen.

 Zur ersten Frage

29      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund der Inhaftierung des Beschuldigten einem Beschleunigungsgebot unterliegt, ein nationales Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, das Ausgangsverfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen fortsetzt, indem es Verfahrenshandlungen vornimmt, die einen Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufweisen.

30      Als Erstes ist in Bezug auf Art. 267 AEUV darauf hinzuweisen, dass das Schlüsselelement des durch die Verträge geschaffenen Gerichtssystems in dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 176, sowie Urteile vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 71, und vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 26).

31      Um die praktische Wirksamkeit dieses Verfahrens zu wahren, bindet der Beschluss oder das Urteil, den bzw. das der Gerichtshof in Beantwortung des an ihn gerichteten Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts erlassen hat, dieses Gericht bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Februar 1977, Benedetti, 52/76, EU:C:1977:16, Rn. 26, und vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 27).

32      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese praktische Wirksamkeit nicht gefährdet, wenn das nationale Gericht zwischen dem Tag, an dem ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet wird, und dem Tag, an dem der Gerichtshof dieses Ersuchen beantwortet, Verfahrenshandlungen vornimmt, die erforderlich sind und Aspekte ohne Bezug zu den Vorlagefragen betreffen, nämlich Verfahrenshandlungen, die dieses Gericht nicht daran hindern würden, der späteren Entscheidung des Gerichtshofs im Rahmen des bei ihm anhängigen Verfahrens nachzukommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2023, BK und ZhP [Teilweise Aussetzung des Ausgangsverfahrens], C‑176/22, EU:C:2023:416, Rn. 28 und 30).

33      Dagegen dürfen solche Verfahrenshandlungen nicht vorgenommen werden, wenn die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen dadurch gegenstandslos werden und ihre Bedeutung für das beim nationalen Gericht anhängige Verfahren verlieren könnten. Solche Handlungen könnten dieses Gericht nämlich daran hindern, der Entscheidung nachzukommen, mit der der Gerichtshof diese Fragen beantwortet. In einem solchen Fall würde die praktische Wirksamkeit des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus der Zusammenarbeit beeinträchtigt; zudem ist der Gerichtshof nicht dafür zuständig, im Vorabentscheidungsverfahren Antworten zum bloßen Zweck der Beratung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2024, AVVA u. a. [Verhandlung per Videokonferenz, wenn keine Europäische Ermittlungsanordnung vorliegt], C‑255/23 und C‑285/23, EU:C:2024:462, Rn. 38 bis 40).

34      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – in Bezug auf das gerichtliche Verfahren – niedergelegte Recht der Beschuldigten darauf, dass ihre Sache innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt wird, im Bereich des Strafrechts nicht nur während des gerichtlichen Verfahrens, sondern auch im Ermittlungsverfahren zu beachten ist, sobald die betreffende Person einer Beschuldigung ausgesetzt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 71, sowie Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 32).

35      Da die Wahrung dieses Rechts erst recht im Fall der Inhaftierung geboten ist, ist in Art. 267 Abs. 4 AEUV ausdrücklich vorgesehen, dass der Gerichtshof, wenn eine Vorlagefrage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird, innerhalb kürzester Zeit zu entscheiden hat.

36      Gerade um die Wahrung dieses Rechts zu gewährleisten, können im Übrigen das beschleunigte und das Eilverfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingeleitet werden, wenn sich das Vorabentscheidungsersuchen, das eine inhaftierte Person betrifft, auf die Freilassung dieser Person auswirken kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 33 bis 35, sowie Urteil vom 17. März 2021, JR [Haftbefehl – Verurteilung in einem EWR-Drittstaat], C‑488/19, EU:C:2021:206, Rn. 36 bis 40).

37      Dagegen kann der bloße Umstand, dass eine Person wegen einer Verurteilung ohne Bezug zu der Rechtssache, in der ein Vorabentscheidungsersuchen ergeht, eine Freiheitsstrafe verbüßt, für sich genommen keine Eilbehandlung dieser Rechtssache gebieten (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 1. Oktober 2018, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny w Płocku, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2018:923, Rn. 23).

38      Ferner obliegt es in erster Linie dem mit einem dringlichen Rechtsstreit befassten nationalen Gericht, das am besten in der Lage ist, die sich für die Parteien stellenden konkreten Fragen zu beurteilen, und das es für erforderlich erachtet, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen, bis zur Entscheidung des Gerichtshofs alle angemessenen einstweiligen Anordnungen zu treffen, um die volle Wirksamkeit der von ihm selbst zu erlassenden Entscheidung, aber auch die Wirksamkeit der Rechte der Betroffenen sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2014, Kušionová, C‑34/13, EU:C:2014:2189, Rn. 66, Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. April 2018, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2018:253, Rn. 15, sowie Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Februar 2021, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2021:149, Rn. 33).

39      Folglich ist das nationale Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, zwar verpflichtet, die Antwort des Gerichtshofs auf sein Vorabentscheidungsersuchen abzuwarten; es ist ihm jedoch unbenommen, anstelle der Inhaftierung eine andere Maßnahme zu treffen, die geeignet ist, die Wahrung der Grundrechte des Verdächtigen oder Beschuldigten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 41).

40      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund der Inhaftierung des Beschuldigten einem Beschleunigungsgebot unterliegt, ein nationales Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, das Ausgangsverfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen fortsetzt, indem es Verfahrenshandlungen vornimmt, die einen Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufweisen.

 Zur zweiten Frage

41      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Richter allein deshalb mit Erfolg abgelehnt werden kann, weil er die Entscheidung des Gerichtshofs über das ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen abwartet, obwohl das Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft.

42      Art. 267 AEUV verleiht den nationalen Gerichten eine unbeschränkte Befugnis zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom 16. Januar 1974, Rheinmühlen-Düsseldorf, 166/73, EU:C:1974:3, Rn. 3, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 91).

43      Eine Vorschrift des nationalen Rechts oder eine nationale Praxis kann ein nationales Gericht somit nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, die dem durch Art. 267 AEUV errichteten System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den mit dieser Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Januar 1974, Rheinmühlen-Düsseldorf, 166/73, EU:C:1974:3, Rn. 4, vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 und 33, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 93). Ebenso muss es einem nationalen Gericht, um die Wirksamkeit dieser Befugnis zu gewährleisten, möglich sein, ein Vorabentscheidungsersuchen nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 93).

44      Der Gerichtshof hat aus den vorstehenden Erwägungen gefolgert, dass eine nationale Vorschrift oder Praxis, die insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu vermeiden, dass ihm die Zuständigkeit entzogen wird, die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse beschneidet und als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hemmt (vgl. u. a. Urteile vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 94).

45      Der Entzug der Zuständigkeit für das betreffende Verfahren ist aber gerade die Konsequenz einer erfolgreichen Ablehnung wegen Befangenheit. Könnte ein nationaler Richter allein deshalb abgelehnt werden, weil er beschlossen hat, zur inhaltlichen Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens keine Verhandlung anzuberaumen, solange der Gerichtshof nicht auf das in diesem Verfahren an ihn gerichtete Vorabentscheidungsersuchen geantwortet hat, so könnte dies einige nationale Richter folglich davon abhalten, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

46      Zudem darf die den nationalen Gerichten durch Art. 267 AEUV eingeräumte Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nicht durch die Anwendung nationaler Vorschriften in Frage gestellt werden, nach denen das nationale Rechtsmittelgericht die Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof beschlossen wird, abändern, außer Kraft setzen und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgeben kann, das nationale Verfahren, das ausgesetzt worden war, fortzusetzen (Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 98, und Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 40).

47      Auch der Umstand, dass die Person, um die es im Ausgangsverfahren geht, inhaftiert ist, ist aus den in den Rn. 35, 36, 38 und 39 des vorliegenden Beschlusses dargelegten Gründen nicht geeignet, den Umfang der dem nationalen Gericht in Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse zu ändern.

48      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Richter allein deshalb mit Erfolg abgelehnt werden kann, weil er die Entscheidung des Gerichtshofs über das ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen abwartet, obwohl das Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft.

 Kosten

49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) beschlossen:

1.      Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund der Inhaftierung des Beschuldigten einem Beschleunigungsgebot unterliegt, ein nationales Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, das Ausgangsverfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen fortsetzt, indem es Verfahrenshandlungen vornimmt, die einen Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufweisen.

2.      Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Richter allein deshalb mit Erfolg abgelehnt werden kann, weil er die Entscheidung des Gerichtshofs über das ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen abwartet, obwohl das Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft.

Luxemburg, den 4. Juli 2024

Der Kanzler

 

Für den Kammerpräsidenten

A. Calot Escobar

 

K. Jürimäe


*      Verfahrenssprache: Deutsch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.