Language of document : ECLI:EU:C:2023:553

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

6. Juli 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich – Klägergerichtsstand – Voraussetzung – Gewöhnlicher Aufenthalt des Antragstellers im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts während der gesamten Frist unmittelbar vor Antragstellung“

In der Rechtssache C‑462/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 25. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juli 2022, in dem Verfahren

BM

gegen

LO

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von LO, vertreten durch Rechtsanwältin B. Ackermann,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, S. Duarte Afonso und J. Ramos als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold und W. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BM und seiner Ehefrau LO wegen eines bei den deutschen Gerichten gestellten Antrags auf Auflösung ihrer Ehe.

 Rechtlicher Rahmen

3        Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.“

4        Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

a)      die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

…“

5        In Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung heißt es:

„(1)       Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

a)      in dessen Hoheitsgebiet

–        beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder

–        die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

–        der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

–        im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

–        der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder

–        der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, dort sein ‚domicile‘ hat;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6        BM, ein deutscher Staatsangehöriger, und LO, eine polnische Staatsangehörige, schlossen im Jahr 2000 in Polen die Ehe. Sie lebten dort mit ihren Kindern bis mindestens Juni 2012.

7        BM machte am 27. Oktober 2013 beim Amtsgericht Hamm (Deutschland) ein Scheidungsverfahren anhängig, wobei er geltend machte, dass er im Juni 2012 die Ehewohnung verlassen und sich seither im Haus seiner Eltern in seiner Geburtsstadt in Deutschland niedergelassen habe.

8        LO rügte die fehlende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Wesentlichen mit der Begründung, dass BM, nachdem er die Ehewohnung verlassen habe, während des größten Teils des Jahres 2013 einen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen beibehalten habe.

9        In Anbetracht der von den Parteien des Ausgangsverfahrens vorgelegten Beweise gab das Amtsgericht Hamm der von LO erhobenen Einrede der Unzuständigkeit statt und wies den Scheidungsantrag von BM als unzulässig zurück.

10      Diese Entscheidung wurde in der Beschwerdeinstanz durch das Oberlandesgericht Hamm (Deutschland) bestätigt.

11      Dieses Gericht entschied im Wesentlichen, dass BM zwar zum Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrags, d. h. am 27. Oktober 2013, einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland erlangt habe, entgegen den Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 aber nicht nachgewiesen habe, dass er während der gesamten sechs Monate vor diesem Zeitpunkt, d. h. seit dem 27. April 2013, einen solchen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt habe.

12      Der Bundesgerichtshof (Deutschland), bei dem BM gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm (Deutschland) Rechtsbeschwerde einlegte, ist der Auffassung, dass die Entscheidung über diese Rechtsbeschwerde von der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 abhänge. Konkret fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Antragsteller einen gewöhnlichen Aufenthalt im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts ab dem Beginn der in dieser Bestimmung festgelegten Fristen nachweisen muss oder ob ein schlichter Aufenthalt ausreicht, sofern dieser spätestens zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Auflösung der Ehe zu einem gewöhnlichen Aufenthalt wird.

13      Insoweit ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass trotz des Wortlauts von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 der teleologischen und restriktiven Auslegung des in dieser Bestimmung verankerten Klägergerichtsstands der Vorzug zu geben sei, um die Rechte des Ehegatten, der Antragsgegner sei, nicht zu beeinträchtigen. Nach diesem Ansatz müsste der Antragsteller nachweisen, dass er ab dem Beginn der maßgeblichen Frist im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt habe. Diese Auslegung trüge auch zu einer besseren Vorhersehbarkeit und einheitlichen Anwendung der Zuständigkeitskriterien bei. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stützen bestimmte kontextuelle Gesichtspunkte diese Auslegung. Es verweist dazu u. a. auf die spanische und die französische Fassung des von Frau Borrás erstellten erläuternden Berichts zu dem Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen, dem sogenannten Brüssel‑II-Übereinkommen (ABl. 1998, C 221, S. 27).

14      Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass die von ihm vorgeschlagene Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 insbesondere im deutschsprachigen Schrifttum umstritten sei und jedenfalls weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entschieden worden sei noch eindeutig aus ihr abgeleitet werden könne.

15      Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Beginnt die Wartefrist von einem Jahr bzw. sechs Monaten gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 für den Antragsteller erst mit der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts zu laufen, oder genügt es, wenn bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist zunächst nur ein schlichter Aufenthalt des Antragstellers im Staat des angerufenen Gerichts besteht und sich sein Aufenthalt erst danach im Zeitraum bis zur Antragstellung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verfestigt?

 Zur Vorlagefrage

16      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens anhand von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 geprüft worden ist und dass das vorlegende Gericht die Feststellung, dass BM am 27. April 2013 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland erlangt habe, für fehlerfrei gehalten hat. Daher ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass sie sich nur auf diese Bestimmung bezieht.

17      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe davon abhängig macht, dass der Antragsteller, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, den Nachweis erbringt, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erlangt hat, oder dahin, dass er diese Zuständigkeit davon abhängig macht, dass dieser Antragsteller nachweist, dass der Aufenthalt, den er in diesem Mitgliedstaat erlangt hat, während des der Einreichung seines Antrags unmittelbar vorausgehenden Mindestzeitraums von sechs Monaten zu einem gewöhnlichen Aufenthalt geworden ist.

18      Art. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 legt allgemeine Zuständigkeitskriterien im Bereich der Ehescheidung, der Trennung ohne Auflösung des Ehebands und der Ungültigerklärung einer Ehe fest. Diese objektiven, alternativen und abschließenden Kriterien beruhen auf der Notwendigkeit einer an die spezifischen kollisionsrechtlichen Bedürfnisse im Bereich der Auflösung einer Ehe angepassten Regelung (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Während Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster bis vierter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ausdrücklich auf die Kriterien des gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten bzw. des Antragsgegners Bezug nimmt, erlaubt Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich dieser Verordnung die Anwendung der Zuständigkeitsregel des Klägergerichtsstands (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Diese Zuständigkeitsregel soll ein Gleichgewicht herstellen zwischen der Freizügigkeit der Personen innerhalb der Europäischen Union, indem insbesondere die Rechte des Ehegatten geschützt werden, der infolge der Ehekrise den Mitgliedstaat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, und der Rechtssicherheit, insbesondere für den anderen Ehegatten, indem gewährleistet wird, dass eine tatsächliche Beziehung zwischen dem Antragsteller und dem Mitgliedstaat besteht, dessen Gerichte für die Entscheidung über die Auflösung der Ehe zuständig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 verleiht nämlich den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Auflösung der betreffenden Ehe, wenn sich der Antragsteller, wie diese Bestimmung vorsieht, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats „seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor [seiner] Antragstellung“ „aufgehalten hat“ und er – wie im Ausgangsverfahren – Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 26 bis 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts besteht kein Zweifel daran, dass der Antragsteller nach dieser Bestimmung zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Auflösung der Ehe einen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts nachweisen muss, was BM im Ausgangsverfahren vor dem Oberlandesgericht Hamm getan habe.

23      Denn die sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebende internationale Zuständigkeit schließt, da sie durch das Kriterium des „gewöhnlichen Aufenthalts“ bestimmt wird, aus, dass sie von einem Kriterium abhängt, das auf dem einfachen Aufenthalt eines der Ehegatten beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2021, IB [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Scheidung], C‑289/20, EU:C:2021:955, Rn. 46).

24      Daraus folgt, dass ein Ehegatte, der sich auf die Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 berufen möchte, notwendig nachweisen muss, dass er zum Zeitpunkt der Einreichung seines Antrags auf Auflösung der Ehe seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats hat, dessen Staatsangehöriger er ist, was im vorliegenden Fall unstreitig ist.

25      Dagegen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass zweifelhaft sei, ob die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Voraussetzung, dass sich der Antragsteller „seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor [seiner] Antragstellung“ in dem betreffenden Mitgliedstaat „aufgehalten hat“, bedeute, dass der Antragsteller lediglich nachweisen müsse, dass er seinen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats begründet habe, sofern dieser Aufenthalt während des dem Antrag auf Auflösung der Ehe unmittelbar vorausgehenden Mindestzeitraums von sechs Monaten zu einem gewöhnlichen Aufenthalt geworden sei, oder vielmehr, dass der Antragsteller einen gewöhnlichen Aufenthalt ab Beginn und während des gesamten seinem Antrag unmittelbar vorausgehenden Mindestzeitraums von sechs Monaten nachweisen muss.

26      Mangels einer Definition in der Verordnung Nr. 2201/2003 oder eines ausdrücklichen Verweises auf das Recht der Mitgliedstaaten, um den Sinn und die Tragweite des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ und insbesondere des Begriffs „Aufenthalt“ zu bestimmen, sind diese unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Kontexts der Bestimmungen, in denen sie genannt werden, sowie der Ziele dieser Verordnung autonom und einheitlich auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2021, IB [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Scheidung], C‑289/20, EU:C:2021:955, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Insoweit ergibt sich zwar aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003, dass die Zuständigkeit des Gerichts des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller einen gewöhnlichen Aufenthalt haben muss, von der Voraussetzung abhängt, dass er sich mindestens sechs Monate unmittelbar vor der Einreichung seines Antrags auf Auflösung der Ehe „dort aufgehalten hat“. Wie die polnische Regierung und die Europäische Kommission einräumen, bedeutet die Bezugnahme auf einen einfachen Aufenthalt nicht zwangsläufig, dass der Antragsteller für den gesamten seinem Antrag unmittelbar vorausgehenden Mindestzeitraum von sechs Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt nachweisen muss.

28      Allerdings kann angesichts des Kontexts, in den sich Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 einfügt, und der mit dieser Verordnung verfolgten Ziele das Erfordernis, dass sich der Antragsteller seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Antragstellung in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhalten muss, nicht unabhängig von dem ebenfalls in dieser Bestimmung genannten Kriterium des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ausgelegt werden.

29      So ist erstens festzustellen, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung darauf abzielt, innerhalb der Union die Kriterien für die Begründung der internationalen Zuständigkeit in Ehesachen zu vereinheitlichen, die alle, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf dem Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ beruhen. Nach der allgemeinen Systematik dieser Bestimmung kann der Begriff „Aufenthalt“ keinen anderen Gehalt haben, je nachdem, ob er im zweiten oder im sechsten Gedankenstrich dieser Bestimmung verwendet wird, unabhängig davon, dass dieser Begriff – anders als in den anderen Fassungen dieses zweiten Gedankenstrichs in den Amtssprachen der Union zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung – in der deutschen Fassung nicht isoliert verwendet wird.

30      Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung ist das Gericht des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet „die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen [sich] dort noch [aufhält]“. Insoweit impliziert die Verwendung des Ausdrucks „[sich] dort noch [aufhält]“, der, mit Ausnahme der deutschen Fassung, in den Fassungen in den Amtssprachen der Union zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung verwendet wird, eine zeitliche Kontinuität zwischen diesem Aufenthalt und dem „gewöhnlichen Aufenthalt“, den „die Ehegatten zuletzt beide … hatten“, so dass der Ehegatte, der im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats geblieben ist, dort seinen eigenen gewöhnlichen Aufenthalt behält, ohne dass die deutsche Fassung dieser Bestimmung dem entgegensteht.

31      Folglich ist im spezifischen Kontext der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit im Bereich der Auflösung der Ehe nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 keine Unterscheidung zwischen den Begriffen „Aufenthalt“ und „gewöhnlicher Aufenthalt“ vorzunehmen, die dazu führen würde, dass das Kriterium für die Bestimmung dieser Zuständigkeit abgeschwächt würde.

32      Zweitens kann, wie die polnische und die portugiesische Regierung im Wesentlichen geltend machen, wenn von der Person, die die Auflösung der Ehe beantragt, verlangt wird, dass sie nachweist, dass sie ab dem Beginn des in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Mindestzeitraums von sechs Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts erlangt hat, die Wahrung der Rechtssicherheit gewährleistet werden und gleichzeitig die Freizügigkeit der Personen innerhalb der Union sowie die Möglichkeit, die Auflösung der Ehe zu erreichen, erhalten werden, ohne diesen Antragsteller unangemessen zu bevorzugen, da der Klägergerichtsstand eine für ihn bereits günstige Zuständigkeitsregel darstellt; dies kann durch die von BM vor dem vorlegenden Gericht geltend gemachte alternative – flexiblere – Auslegung dieser Bestimmung nicht gewährleistet werden.

33      So trägt dieses Erfordernis zunächst dazu bei, den Umstand auszugleichen, dass das in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Zuständigkeitskriterium im Unterschied zu den anderen in den ersten vier Gedankenstrichen von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung aufgeführten Zuständigkeitskriterien weder von der Zustimmung der Ehegatten noch vom Vorliegen einer besonderen Verbindung mit ihrem gegenwärtigen oder früheren gemeinsamen Lebensort abhängt. Vom Antragsteller den Nachweis zu verlangen, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts hatte, beruht daher auf der Notwendigkeit, dass der Antragsteller in der Lage sein muss, für den gesamten betreffenden Zeitraum nachzuweisen, dass er eine tatsächliche Bindung zu diesem Mitgliedstaat im Sinne der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hat.

34      Sodann könnten die Ziele der Vorhersehbarkeit sowie der einheitlichen Auslegung und Anwendung in der Union, die für die Festlegung der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Kriterien für die Begründung der Zuständigkeit in Ehesachen maßgebend sind, nicht erreicht werden, wenn vom Antragsteller lediglich der Nachweis eines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts für eine mehr oder weniger kurze Zeit während des seinem Antrag auf Auflösung der Ehe unmittelbar vorausgehenden Mindestzeitraums von sechs Monaten verlangt würde. In diesem Fall würde sich nämlich die ausreichende Dauer des vom Antragsteller geforderten gewöhnlichen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts zwangsläufig von Fall zu Fall und je nach Einzelfallbeurteilung des jeweils angerufenen nationalen Gerichts ändern.

35      Dagegen werden die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Ziele dadurch erreicht, dass der Antragsteller nachweisen muss, dass er ab dem Beginn des in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Mindestzeitraums von sechs Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts erlangt hat.

36      Schließlich ist zu betonen, dass in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 2201/2003 verfolgten und in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannten Ziels eines Gleichgewichts zwischen der Freizügigkeit der Personen innerhalb der Union und dem Erfordernis der Rechtssicherheit das in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis dem Antragsteller keine unverhältnismäßige Belastung auferlegt, die ihn davon abhalten könnte, sich auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung vorgesehene Zuständigkeit zu stützen.

37      Daraus folgt, dass gemäß dem Zuständigkeitskriterium, auf dem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 beruht, der Ehegatte, der sich auf diese Bestimmung berufen möchte, notwendig einen gewöhnlichen Aufenthalt im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts ab Beginn des in dieser Bestimmung genannten Mindestzeitraums von sechs Monaten nachweisen muss.

38      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe davon abhängig macht, dass der Antragsteller, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, den Nachweis erbringt, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erlangt hat.

 Kosten

39      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

er die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe davon abhängig macht, dass der Antragsteller, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, den Nachweis erbringt, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erlangt hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.