Language of document : ECLI:EU:T:2024:334

Rechtssache T116/22

Belavia – Belarusian Airlines AAT

gegen

Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 29. Mai 2024

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen und Belassung auf den Listen – Organisation von Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union oder Beitrag zu diesen Aktivitäten – Profitieren vom Lukaschenko-Regime – Beurteilungsfehler“

1.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren der Gelder bestimmter Personen und Organisationen angesichts der Lage in Belarus – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung nachzuweisen – Aufnahme in die Listen aufgrund eines Bündels genauer, konkreter und übereinstimmender Indizien

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419 des Rates, Anhang)

(vgl. Rn. 26-29)

2.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Kriterien für den Erlass der restriktiven Maßnahmen – Natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union organisieren – Begriff – Beurteilungsfehler – Fehlen

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419des Rates, Anhang)

(vgl. Rn. 45, 48-52, 57-60, 63-66)

3.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren der Gelder bestimmter Personen und Organisationen angesichts der Lage in Belarus – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung nachzuweisen – Umfang des Ermessensspielraums der betreffenden zuständigen Behörde – Relevanz der im Rahmen einer vorherigen Aufnahme vorgebrachten Beweise mangels Änderung der Begründung, Veränderungen der Situation des Klägers oder Weiterentwicklung des Kontextes in Belarus – Veränderungen der Situation des Klägers und Weiterentwicklung des Kontextes in Belarus

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419des Rates, Anhang)

(vgl. Rn. 76-84)

4.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Kriterien für den Erlass der restriktiven Maßnahmen – Natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die vom Lukaschenko-Regime profitieren oder es unterstützen – Begriff ‚Profitieren‘ – Beurteilungsfehler – Fehlen

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch den Beschluss [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen Nrn. 765/2006 und 2023/419des Rates, Anhang)

(vgl. Rn. 92-100)

Zusammenfassung

Das Gericht weist mit seinem Urteil die von der Belavia – Belarusian Airlines AAT erhobene Nichtigkeitsklage gegen die Maßnahmen ab, mit denen diese Gesellschaft im Jahr 2021(1) vom Rat der Europäischen Union in die Liste der Personen und Organisationen, gegen die angesichts der Lage in Belarus restriktive Maßnahmen erlassen wurden, aufgenommen und im Jahr 2023(2) darauf belassen wurde. In dieser Rechtssache hat das Gericht erstmalig die Gelegenheit, das in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i des Beschlusses 2012/642(3) vorgesehene Aufnahmekriterium betreffend das Organisieren von Aktivitäten des Lukaschenko-Systems zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union auszulegen.

Diesem Urteil liegt eine Reihe von restriktiven Maßnahmen zugrunde, die die Europäische Union seit 2004 aufgrund der Lage in Belarus in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eingeführt hat. Die Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin, einer staatlichen Fluggesellschaft, wurden mit der Begründung eingefroren, dass die Klägerin vom Lukaschenko-Regime profitiere und dieses unterstütze und dass sie zu dessen Aktivitäten zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union beitrage, indem sie sich an der Beförderung von Drittstaatsangehörigen, die die Außengrenzen der Union überschreiten wollten, aus dem Mittleren Osten nach Belarus beteilige.

Würdigung durch das Gericht

Was als Erstes die erstmalige Aufnahme der Klägerin in die Listen auf der Grundlage des in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i des Beschlusses 2012/642 vorgesehenen Kriteriums betrifft, so verfügte der Rat nach Auffassung des Gerichts über ein Bündel von hinreichend genauen, konkreten und übereinstimmenden Indizien, um festzustellen, dass Drittstaatsangehörige, die beabsichtigten, die Außengrenzen der Union zu überschreiten, ohne die geltenden Vorschriften einzuhalten, mit Flügen der Klägerin aus dem Libanon, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei nach Minsk (Belarus) geflogen sind. Im Übrigen verfügte der Rat über hinreichende Indizien für die Behauptung, dass die Klägerin, um das zu erleichtern, die Zahl der Flüge auf bestehenden Strecken erhöhte und dass lokale Reiseveranstalter als Vermittler agierten und Flugscheine der Klägerin an die vorgenannten Personen verkauften und damit der Klägerin halfen, im Hintergrund zu bleiben.

Das Gericht weist sodann die Argumente zurück, mit denen sich die Klägerin gegen dieses Indizienbündel wendet. So machte die Klägerin erstens insbesondere geltend, dass sie im Jahr 2021 weniger Passagiere befördert habe als andere Fluggesellschaften, die ebenfalls die Flugstrecken zwischen Istanbul (Türkei) und Minsk sowie zwischen Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und Minsk bedient hätten, und dass die Zahl der von ihr auf der Strecke zwischen Beirut (Libanon) und Minsk beförderten Personen geringer sei als die Zahl der Personen auf anderen Strecken von oder in andere Drittstaaten als den Libanon. Das Gericht stellt jedoch fest, dass diese Umstände nicht belegen, dass die Klägerin, soweit sie selbst Personen aus dem Libanon, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei nach Belarus befördert hat, nicht zu Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union beigetragen hat. Zudem stieg nach den von der Klägerin vorgelegten Daten im Jahr 2021 die Zahl der von ihr von Istanbul bzw. Beirut nach Minsk beförderten Passagiere erheblich.

Zweitens ist das Vorbringen der Klägerin, dass ihre Flüge, die den Libanon, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Türkei bedienten, nicht vom belarussischen Staat gechartert worden seien und ihre Beförderungsleistungen als solche zudem profitabel gewesen seien, nicht geeignet, zu belegen, dass diese Flüge und Leistungen nicht Teil der Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union waren. So geht aus den in den Akten befindlichen Beweisen hervor, dass das Lukaschenko-Regime die Beförderung von Drittstaatsangehörigen nach Belarus auf dem Luftweg durch die Förderung der Ausstellung von Visa für Belarus organisierte, dass diese Maßnahme einen Anstieg der Nachfrage nach Luftbeförderungsdiensten nach Belarus zur Folge hatte und dass Fluggesellschaften von der kommerziellen Durchführung von Flügen, die diese Nachfrage befriedigten, profitierten.

Drittens schließt die Tatsache, dass die Klägerin die bei der Abfertigung ihrer Passagiere erforderlichen Kontrollen, insbesondere in Bezug auf die Visumspflicht, durchgeführt hat, nicht aus, dass sie sich an Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union beteiligt hat.

Schließlich stellt das Gericht fest, dass sich aus den vom Rat vorgelegten Unterlagen nicht ergibt, dass die Klägerin, wie aus der streitigen Begründung hervorgeht, neue Flugstrecken geöffnet habe, um die Beförderung von Drittstaatsangehörigen nach Belarus zu erleichtern. Diese Feststellung reicht jedoch nicht aus, um zu einer Nichtigerklärung der ursprünglichen Rechtsakte zu gelangen. Die Gründe, die der Rat zur Untermauerung seiner Einschätzung angeführt hat, dass die Klägerin zu Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des illegalen Überschreitens der Außengrenzen der Union beigetragen hat, die hinreichend genau und konkret sowie frei von Fehlern bei der Tatsachenbeurteilung und von Rechtsfehlern sind, stellen für sich genommen eine ausreichende Grundlage dar, um die Aufnahme des Namens der Klägerin in die streitigen Listen zu rechtfertigen.

Was als Zweites die Belassung des Namens der Klägerin auf den Listen auf der Grundlage desselben Kriteriums betrifft, weist das Gericht darauf hin, dass es dem Rat obliegt, bei der regelmäßigen Überprüfung der restriktiven Maßnahmen eine aktualisierte Bewertung der Lage vorzunehmen und eine Bilanz der Auswirkungen der zuvor erlassenen Maßnahmen auf die betroffenen Personen und Einrichtungen im Hinblick auf die Ziele der Maßnahmen vorzunehmen. Zur Rechtfertigung dieser Belassung kann sich der Rat auf die gleichen Beweise stützen, die die erstmalige Aufnahme gerechtfertigt haben, wenn die Gründe für die Aufnahme unverändert sind und sich zudem der Kontext nicht in einer Weise weiterentwickelt hat, dass diese Beweise obsolet geworden wären. Der Rat räumt implizit ein, dass die Beweise, die den Erlass der ursprünglichen Rechtsakte in Bezug auf die von der Klägerin aus dem Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten durchgeführten Flüge gerechtfertigt hatten, obsolet geworden sind. Im Übrigen ist das Gericht der Auffassung, dass der Umstand, dass die Klägerin weiterhin Flüge auf der Strecke zwischen Istanbul und Minsk durchführte, nicht ausreicht, um die Belassung ihres Namens auf den Listen zu rechtfertigen. Folglich hat der Rat nicht rechtlich hinreichend bewiesen, dass die Klägerin am Tag des Erlasses der Fortsetzungsrechtsakte aufgrund der von ihr auf der Strecke zwischen Istanbul und Minsk durchgeführten Flüge weiterhin an Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes zur Erleichterung des rechtswidrigen Überschreitens der Außengrenzen der Union beteiligt war.

Hingegen ist das Gericht der Auffassung, dass der Rat über ein Bündel von Indizien verfügte, die hinreichend konkret, genau und übereinstimmend waren, um zu belegen, dass die Klägerin einen konkreten Nutzen aus den öffentlichen Erklärungen von Präsident Lukaschenko gezogen hat, in denen er ankündigte, dass der belarussische Staat ihr jede mögliche Unterstützung leisten werde.


1      Durchführungsbeschluss (GASP) 2021/2125 des Rates vom 2. Dezember 2021 zur Durchführung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2021, L 430 I, S. 16) und Durchführungsverordnung (EU) 2021/2124 des Rates vom 2. Dezember 2021 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2021, L 430 I, S. 1).


2      Beschluss (GASP) 2023/421 des Rates vom 24. Februar 2023 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine (ABl. 2023, L 61, S. 41) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/419 des Rates vom 24. Februar 2023 zur Durchführung des Artikels 8a der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine (ABl. 2023, L 61, S. 20).


3      Beschluss 2012/642/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2012, L 285, S. 1) und Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1014/2012 des Rates vom 6. November 2012 (ABl. 2012, L 307, S. 1) geänderten Fassung.