Language of document : ECLI:EU:T:2015:504

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

15. Juli 2015(*) (1)

„Wettbewerb – Kartelle – Europäische Märkte für Wärmestabilisatoren – Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Von Tochtergesellschaften begangene Zuwiderhandlung – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung der Tochtergesellschaften und der Muttergesellschaft – Überschreitung der Obergrenze von 10 % für eine der Tochtergesellschaften – Neuerlass der Entscheidung – Herabsetzung der Geldbuße für diese Tochtergesellschaft – Übertragung des herabgesetzten Geldbußenbetrags auf die andere Tochtergesellschaft und auf die Muttergesellschaft – Verteidigungsrechte – Anspruch auf rechtliches Gehör – Recht auf Akteneinsicht“

In der Rechtssache T‑189/10

GEA Group AG mit Sitz in Düsseldorf (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Kallmayer, I. du Mont und G. Schiffers,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch R. Sauer und F. Ronkes Agerbeek als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt W. Berg,

Beklagte,

wegen einer Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C (2010) 727 final der Kommission vom 8. Februar 2010, mit dem die Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/C.38.589 – Wärmestabilisatoren) geändert wurde, oder, hilfsweise, auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek, der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin) und des Richters V. Kreuschitz,

Kanzler: J. Weychert, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. September 2014

folgendes

Urteil 

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Der vorliegende Rechtsstreit betrifft den Beschluss C (2010) 727 der Kommission vom 8. Februar 2010 (im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem die Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/C.38.589 – Wärmestabilisatoren) (im Folgenden: Entscheidung) geändert wurde. Die Entscheidung wurde von der Klägerin, der GEA Group AG, in der Rechtssache T‑45/10, GEA Group/Kommission, angefochten.

2        Mit der Entscheidung legte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften einer Reihe von Unternehmen zur Last, gegen Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verstoßen zu haben, indem sie sich an zwei Komplexen wettbewerbswidriger Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen im EWR-Gebiet, zum einen im Bereich Zinnstabilisatoren und zum anderen im Bereich Epoxid-Sojaöle und Ester (im Folgenden: ESBO/Ester), beteiligt hätten.

3        In der Entscheidung wurden zwei Zuwiderhandlungen festgestellt, die zwei Kategorien von Wärmestabilisatoren betreffen, bei denen es sich um Erzeugnisse handelt, die Polyvinylchlorid(PVC)-Erzeugnissen hinzugesetzt werden, um diesen eine hohe Temperaturbeständigkeit zu verleihen (dritter Erwägungsgrund der Entscheidung).

4        Nach Art. 1 der Entscheidung bestand jede dieser Zuwiderhandlungen in der Festsetzung von Preisen, der Marktaufteilung durch Zuweisung von Lieferquoten, der Aufteilung und Zuteilung von Kunden und dem Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen, insbesondere über Kunden, Produktions- und Liefermengen.

5        Der Entscheidung zufolge waren die betreffenden Unternehmen an diesen Zuwiderhandlungen im Bereich ESBO/Ester in verschiedenen Zeiträumen zwischen dem 11. September 1991 und dem 26. September 2000 beteiligt.

6        Die Entscheidung war bezüglich jeder Zuwiderhandlung an 20 Gesellschaften gerichtet, die entweder direkt an den betreffenden Zuwiderhandlungen beteiligt waren oder als Muttergesellschaften zur Verantwortung gezogen wurden (vgl. 510. Erwägungsgrund der Entscheidung).

7        Nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. k der Entscheidung wurde die Klägerin für die vom 11. September 1991 bis zum 17. Mai 2000 auf dem Markt für ESBO/Ester begangenen Zuwiderhandlungen haftbar gemacht.

8        Ihre Haftung wurde für die vom 11. September 1991 bis zum 17. Mai 2000 von der Chemson Gesellschaft für Polymer-Additive mbH (im Folgenden: OCG) und die vom 13. März 1997 bis zum 17. Mai 2000 von der Polymer Additive Produktions- und Vertriebs Gesellschaft mbH, Arnoldstein (im Folgenden: OCA, zusammen mit OCG: Chemson) begangenen Zuwiderhandlungen festgestellt (vgl. 617. Erwägungsgrund der Entscheidung).

9        In der Entscheidung wurde die Klägerin als Rechtsnachfolgerin der Metallgesellschaft AG (im Folgenden: MG), der obersten Muttergesellschaft, die über den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung direkt oder über Tochtergesellschaften die Anteile an Chemson hielt, sanktioniert (vgl. Erwägungsgründe 628 bis 632 der Entscheidung).

10      Am 17. Mai 2000 veräußerte MG die OCG, die am Tag des Erlasses der Entscheidung als Aachener Chemische Werke Gesellschaft für glastechnische Produkte und Verfahren mbH (im Folgenden: ACW) firmierte (vgl. 41. Erwägungsgrund der Entscheidung).

11      Nachdem OCA im Mai 2000 aufgelöst worden war, wurden ihre Tätigkeiten von einer ab dem 30. August 2000 als Chemson Polymer-Additive AG (im Folgenden: CPA) bezeichneten Gesellschaft übernommen (vgl. 41. Erwägungsgrund der Entscheidung).

12      Die Klägerin ist 2005 aus der Fusion von MG mit einer anderen Gesellschaft hervorgegangen (vgl. 43. Erwägungsgrund der Entscheidung).

13      ACW wurde als Rechtsnachfolgerin von OCG zum einen für die Zuwiderhandlung von OCG während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung, d. h. vom 11. September 1991 bis zum 17. Mai 2000, und zum anderen für die Zuwiderhandlung von OCA vom 30. September 1999 bis zum 17. Mai 2000, als OCA die 100%ige Tochtergesellschaft von OCG war, sanktioniert (vgl. Erwägungsgründe 619 bis 621 und 632 der Entscheidung).

14      CPA wurde als Rechtsnachfolgerin von OCA zum einen für die Zuwiderhandlung von OCA vom 13. März 1997 bis zum 17. Mai 2000 und zum anderen für die Zuwiderhandlung von OCG vom 30. September 1995 bis zum 30. September 1999, als OCG die 100%ige Tochtergesellschaft von OCA war, sanktioniert (vgl. Erwägungsgründe 622 bis 627 und 632 der Entscheidung).

15      In Art. 2 Abs. 2 der Entscheidung heißt es:

„Für die … Zuwiderhandlung(en) im Bereich ESBO/Ester werden folgende Geldbußen verhängt:

31)      [die Klägerin], [ACW] und [CPA] haften gesamtschuldnerisch für 1 913 971 [Euro];

32)      [die Klägerin] und [ACW] haften gesamtschuldnerisch für 1 432 229 [Euro];

…“

16      Am 15. Dezember 2009 machte ACW die Kommission darauf aufmerksam, dass die gegen sie in der Entscheidung verhängte Geldbuße die nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) zulässige Obergrenze von 10 % ihres Umsatzes übersteige.

17      ACW machte geltend, im Geschäftsjahr 2008 habe ihr Umsatz 10 971 000 Euro betragen.

18      Da die ACW auferlegte Geldbuße diese Grenze überschritt, erließ die Kommission am 8. Februar 2010 den angefochtenen Beschluss.

19      Im angefochtenen Beschluss stellte die Kommission fest, dass die gegen ACW gesamtschuldnerisch verhängte Geldbuße die nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 erlaubte Grenze von 10 % ihres Umsatzes überschritten habe, so dass die Entscheidung abzuändern sei (vgl. zweiter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).

20      Zudem führte die Kommission darin aus, dass die Höhe der der Klägerin und CPA auferlegten Geldbuße unverändert bleibe, dass aber die Höhe der ACW auferlegten Geldbuße herabgesetzt werden müsse und dass der angefochtene Beschluss keine Auswirkungen auf die anderen Empfänger der Entscheidung habe (vgl. Erwägungsgründe 3 und 4 des angefochtenen Beschlusses).

21      Durch Art. 1 des angefochtenen Beschlusses wurde Art. 2 der Entscheidung wie folgt geändert:

„Artikel 2 Nummer 31 erhält folgenden Wortlaut:

‚31a) [die Klägerin], [ACW] und [CPA] haften gesamtschuldnerisch für 1 086 129 [Euro]

31b)      [die Klägerin] und [CPA] haften gesamtschuldnerisch für 827 842 [Euro]‘

Artikel 2 Nummer 32 erhält folgenden Wortlaut:

‚32)      [die Klägerin] haftet für 1 432 229 [Euro]‘.“

22      Der an ACW, die Klägerin und CPA gerichtete angefochtene Beschluss wurde der Klägerin am 10. Februar 2010 zugestellt.

 Verfahren und Anträge der Parteien

23      Mit Klageschrift, die am 20. April 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin Klage gegen den angefochtenen Beschluss erhoben.

24      Darin hat sie beantragt, die vorliegende Rechtssache mit der Rechtssache T‑45/10 zu verbinden.

25      Am 14. Juni 2010 sind die Parteien aufgefordert worden, zu einer möglichen Verbindung der vorliegenden Rechtssache und der Rechtssache T‑45/10 zu gemeinsamem schriftlichen Verfahren Stellung zu nehmen.

26      Die Klägerin hat ihre Stellungnahme am 22. Juni 2010 und die Kommission ihre am 5. Juli 2010 eingereicht.

27      Mit Beschluss des Präsidenten der Vierten Kammer des Gerichts vom 7. Juli 2010 ist die vorliegende Rechtssache mit der Rechtssache T‑45/10 zu gemeinsamem schriftlichen Verfahren verbunden worden.

28      Mit Fax vom 9. November 2010 an die Kanzlei des Gerichts hat die Kommission eine Berichtigung der Klagebeantwortung eingereicht.

29      Mit Fax vom 8. März 2011 an die Kanzlei des Gerichts hat die Kommission eine Berichtigung der Gegenerwiderung eingereicht.

30      Am 25. Februar 2013 ist beschlossen worden, die Parteien zu einer möglichen Verbindung der vorliegenden Rechtssache und der Rechtssache T‑45/10 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung zu hören.

31      Am 25. Februar und am 8. März 2013 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen beschlossen, den Parteien eine Reihe von Fragen zu stellen.

32      So sind die Parteien aufgefordert worden, zu einer möglichen Aussetzung des Verfahrens gemäß Art. 77 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 bis zur Verkündung der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑23l/11 P, Kommission/Siemens Österreich u. a., Stellung zu nehmen.

33      Zudem sind sie aufgefordert worden, u. a. zu den Auswirkungen des Urteils vom 22. Januar 2013, Kommission/Tomkins (C‑286/11 P, Slg, EU:C:2013:29), auf die vorliegende Rechtssache Stellung zu nehmen.

34      Die Kommission hat die Fragen des Gerichts am 18. März 2013 beantwortet.

35      Die Klägerin hat die Fragen des Gerichts am 20. März 2013 beantwortet.

36      Die Antworten der Kommission sind der Klägerin am 16. April 2013 übermittelt worden.

37      Die Antworten der Klägerin sind der Kommission am selben Tag übermittelt worden.

38      Mit Beschluss des Präsidenten der Dritten Kammer des Gerichts vom 24. April 2013 ist beschlossen worden, das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 77 Buchst. d der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 bis zum Erlass der das Verfahren beendenden Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑231/11 P, Kommission/Siemens Österreich u. a., auszusetzen.

39      Mit Fax vom 3. Mai 2013 an die Kanzlei des Gerichts hat die Kommission zu ihren Antworten auf die Fragen des Gerichts eine Berichtigung eingereicht.

40      Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Vierten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb am 1. Oktober 2013 zugewiesen worden ist.

41      Am 10. April 2014 hat der Gerichtshof das Urteil Kommission/Siemens Österreich u. a. und Siemens Transmission & Distribution (C‑231/11 P bis C‑233/11 P, Slg, EU:C:2014:256, im Folgenden: Urteil Siemens) verkündet.

42      Am selben Tag hat der Gerichtshof das Urteil Areva u. a./Kommission (C‑247/11 P und C‑253/11 P, Slg, EU:C:2014:257, im Folgenden: Urteil Areva) verkündet.

43      Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen hat das Gericht die Parteien am 23. April 2014 aufgefordert, schriftlich zur Auswirkung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), auf die vorliegende Rechtssache Stellung zu nehmen.

44      Am 8. Mai 2014 hat die Klägerin ihre Stellungnahme zur Auswirkung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), auf die vorliegende Rechtssache eingereicht.

45      Am selben Tag hat die Kommission ihre Stellungnahme zur Auswirkung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), auf die vorliegende Rechtssache eingereicht.

46      Die Antwort der Klägerin zur Auswirkung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), auf die vorliegende Rechtssache ist der Kommission am 14. Mai 2014 übermittelt worden.

47      Die Antwort der Kommission zur Auswirkung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), auf die vorliegende Rechtssache ist der Klägerin am selben Tag übermittelt worden.

48      Mit Beschluss des Präsidenten der Vierten Kammer des Gerichts vom 21. Mai 2014 sind die vorliegende Rechtssache und die Rechtssache T‑45/10 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden worden.

49      Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht am 22. Mai 2014 beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen, und die Parteien aufgefordert, schriftlich zur Auswirkung des Urteils Areva, oben in Rn. 42 angeführt (EU:C:2014:257), insbesondere der Rn. 132, 137 und 138 dieses Urteils, auf die vorliegende Rechtssache Stellung zu nehmen.

50      Am 6. Juni 2014 hat die Kommission ihre Stellungnahme zur Auswirkung des Urteils Areva, oben in Rn. 42 angeführt (EU:C:2014:257), auf die vorliegende Rechtssache eingereicht.

51      Am selben Tag hat die Klägerin ihre Stellungnahme zur Auswirkung des Urteils Areva, oben in Rn. 42 angeführt (EU:C:2014:257), auf die vorliegende Rechtssache eingereicht.

52      Die Antwort der Klägerin zur Auswirkung des Urteils Areva, oben in Rn. 42 angeführt (EU:C:2014:257), auf die vorliegende Rechtssache ist der Kommission am 16. Juni 2014 übermittelt worden.

53      Die Antwort der Kommission zur Auswirkung des Urteils Areva, oben in Rn. 42 angeführt (EU:C:2014:257), auf die vorliegende Rechtssache ist der Klägerin am selben Tag übermittelt worden.

54      Die Parteien haben in der Sitzung vom 24. September 2014 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.

55      Die Klägerin beantragt,

–        Art. 1 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit eine Geldbuße gegen sie verhängt wird;

–        hilfsweise, die in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

56      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

57      Heute hat das Gericht im Urteil GEA Group/Kommission (T‑45/10) die Klage gegen die Entscheidung abgewiesen.

 Rechtliche Würdigung

58      Mit der vorliegenden Klage beantragt die Klägerin in erster Linie, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, und hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen.

59      Die Klägerin stützt ihre Klage auf fünf Gründe.

60      Im Rahmen des ersten Klagegrundes trägt sie vor, dass die Kommission ihre Verteidigungsrechte verletzt habe, da sie vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses weder gehört worden sei noch Zugang zu den Akten gehabt habe und die Kommission die ihr gegenüber obliegende Neutralitätspflicht verletzt habe.

61      Für die Zwecke der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses macht die Klägerin erstens eine Verletzung ihres Anhörungsrechts dahin gehend geltend, dass die Kommission sie vor Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht aufgefordert habe, ihren Standpunkt geltend zu machen, obwohl sich ihre rechtliche Lage durch diesen Beschluss in Bezug auf die Regressmöglichkeiten gegen eine ihrer Mitschuldnerinnen, nämlich ACW, geändert habe.

62      Sodann macht die Klägerin geltend, sie habe keine Akteneinsicht gehabt, da sie nicht über den bevorstehenden Erlass des angefochtenen Beschlusses informiert worden sei.

63      Schließlich macht sie geltend, die Kommission habe ihr gegenüber ihre Neutralitätspflicht verletzt, indem sie die Geldbuße, die in der Entscheidung, die gegenüber CPA und ACW bestandskräftig geworden sei, da diese sie nicht angefochten hätten, verhängt worden sei, zu ihrem Nachteil und zugunsten von ACW, der einzigen Beteiligten, die in das Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, eingebunden gewesen sei, umverteilt habe.

64      Nach Ansicht der Kommission wurden die Rechte der Klägerin auf Anhörung und Akteneinsicht im Rahmen des Verfahrens, das zum Erlass der Entscheidung geführt hat, beachtet. Der angefochtene Beschluss betreffe die Klägerin nicht, da er keine Änderung der Sachverhaltsfeststellungen und der Höhe der Geldbuße enthalte.

65      Die ungewisse und indirekte Auswirkung des angefochtenen Beschlusses auf die Regressmöglichkeiten der Klägerin habe für die Kommission nicht die Pflicht begründet, sie anzuhören, und die Kommission sei auch nicht verpflichtet gewesen, sich nach nationalen Regressrechtsbestimmungen zu richten.

66      Überdies habe die Kommission bezüglich der Anwendung der 10%-Obergrenze über keinerlei Ermessensspielraum verfügt.

67      Zur Würdigung des ersten Klagegrundes ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Anhörungsrecht, das wesentlicher Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, einen allgemeinen Grundsatz des Rechts der Europäischen Union darstellt, der in jedem Verfahren – auch verwaltungsrechtlicher Natur –, das zu Sanktionen, insbesondere Geldbußen führen kann, zu beachten ist, und dass dieser Grundsatz u. a. voraussetzt, dass dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, 85/76, Slg, EU:C:1979:36, Rn. 9, vom 7. Juni 1983, Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg, EU:C:1983:158, und vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg, EU:C:2004:6, Rn. 64 bis 66).

68      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Akteneinsicht, das mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einhergeht, ebenfalls beinhaltet, dass die Kommission dem betreffenden Unternehmen die Möglichkeit geben muss, sämtliche Schriftstücke der Untersuchungsakte zu prüfen, die für seine Verteidigung erheblich sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Corus UK/Kommission, C‑199/99 P, Slg, EU:C:2003:531, Rn. 125 bis 128, Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Rn. 67 angeführt, EU:C:2004:6, Rn. 68, und vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission, T‑30/91, Slg, EU:T:1995:115, Rn. 81).

69      Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 spiegelt diesen Grundsatz wider, soweit er vorsieht, dass an die Parteien eine Mitteilung der Beschwerdepunkte zu senden ist, in der alle wesentlichen Gesichtspunkte, auf die sich die Kommission in diesem Stadium des Verfahrens stützt, klar bezeichnet sein müssen, damit die Betroffenen die Verhaltensweisen, die ihnen die Kommission zur Last legt, und die Beweise, über die diese verfügt, tatsächlich erkennen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg, EU:C:2002:582, Rn. 315 und 316, und Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Rn. 67 angeführt, EU:C:2004:6, Rn. 66 und 67).

70      Im Übrigen erfordert die Wahrung der Verteidigungsrechte u. a., dass dem von einer Untersuchung betroffenen Unternehmen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit gegeben wird, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände und zu den Schriftstücken, die die Kommission zur Stützung ihrer Behauptung, dass ein Verstoß gegen den Vertrag vorliege, herangezogen hat, sachgerecht Stellung zu nehmen (Urteile Musique Diffusion française u. a./Kommission, oben in Rn. 67 angeführt, EU:C:1983:158, Rn. 10, vom 25. Januar 2007, Dalmine/Kommission, C‑407/04 P, Slg, EU:C:2007:53, Rn. 44, und vom 10. Mai 2007, SGL Carbon/Kommission, C‑328/05 P, Slg, EU:C:2007:277, Rn. 71).

71      Im vorliegenden Fall ist indessen festzustellen, dass die Klägerin weder gehört wurde noch Zugang zu den Akten hatte.

72      Daher ist der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, wenn die Klägerin hinreichend belegt hat, dass sie sich ohne diese Verfahrensfehler, d. h. wenn sie gehört worden wäre und Zugang zu den Akten gehabt hätte, besser hätte verteidigen können. Sie braucht hingegen nicht darzutun, dass der angefochtene Beschluss ohne die Fehler einen anderen Inhalt gehabt hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2013, Fluorsid und Minmet/Kommission, T‑404/08, Slg, EU:T:2013:321, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung). In zeitlicher Hinsicht ist hierbei auf das Verwaltungsverfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, abzustellen, d. h. auf die Zeit vor dem Erlass dieses Beschlusses am 8. Februar 2010 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2006, Archer Daniels Midland/Kommission, T‑329/01, Slg, EU:T:2006:268, Rn. 377).

73      Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, streitig war, welche Pflichten der Kommission hinsichtlich des Gesamtschuldverhältnisses zwischen gesamtschuldnerisch haftenden Gesellschaften obliegen, soweit diese ein Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV bilden.

74      Erst mit Urteil vom 3. März 2011, also mehr als ein Jahr nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, hat das Gericht nämlich entschieden, dass es ausschließlich der Kommission im Rahmen der Ausübung ihrer Befugnis zur Verhängung von Geldbußen nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 obliegt, den jeweiligen Anteil der einzelnen Gesellschaften an den Beträgen zu bestimmen, die gegen sie als Gesamtschuldner festgesetzt worden sind, soweit sie zu ein und demselben Unternehmen gehörten, und dass diese Aufgabe nicht den nationalen Gerichten überlassen werden kann (Urteil vom 3. März 2011, Siemens und VA Tech Transmission & Distribution/Kommission, T‑122/07 bis T‑124/07, Slg, EU:T:2011:70, Rn. 157).

75      Diese Frage war zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, umso streitiger, als das Urteil Siemens und VA Tech Transmission & Distribution/Kommission, oben in Rn. 74 angeführt (EU:T:2011:70), vom Gerichtshof aufgehoben worden ist und dieser entschieden hat, dass die Aufteilung der Geldbuße zwischen Gesamtschuldnern ausschließlich in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt (Urteil Siemens, oben in Rn. 41 angeführt, EU:C:2014:256, Rn. 62).

76      Somit hätte sich die Klägerin zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, und vor der Verkündung des Urteils Siemens, oben in Rn. 41 angeführt (EU:C:2014:256), dagegen wenden können, dass ihr die Herabsetzung der Geldbuße von ACW, mit der sie gesamtschuldnerisch für die von ACW begangene Zuwiderhandlung sanktioniert wurde, da sie zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung ein Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV gebildet hatten, nicht zugutekam.

77      Folglich hätte sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, besser verteidigen können, wenn sie gehört worden wäre und Zugang zu den Akten gehabt hätte.

78      Zweitens ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die mit dem angefochtenen Beschluss gegen die Klägerin verhängte Geldbuße höher ist als die gegen ihre Tochtergesellschaften verhängte Geldbuße, obwohl ihre Haftung vollständig aus der Haftung dieser Tochtergesellschaften abgeleitet wird.

79      Nach der Entscheidung belief sich die gegen die Klägerin verhängte Geldbuße nämlich auf insgesamt 3 346 200 Euro und die gegen ihre Tochtergesellschaften verhängte auf zusammengerechnet 5 278 171 Euro (1 913 971 Euro entfielen auf CPA und 3 346 200 Euro auf ACW), während sich diese Beträge nach dem angefochtenen Beschluss auf 3 346 200 Euro bzw. 3 000 100 Euro belaufen (1 913 971 Euro entfallen auf CPA und 1 086 129 Euro auf ACW).

80      Indessen war zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, streitig, ob gegen eine Muttergesellschaft für das rechtswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft eine Geldbuße verhängt werden kann, deren Betrag den der gegen die Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße übersteigt, obwohl die Haftung dieser Muttergesellschaft vollständig aus der Haftung ihrer Tochtergesellschaft abgeleitet wird.

81      Dies war umso streitiger, als erstens nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden wurde, dass, wenn die Haftung von Muttergesellschaften für die begangene Zuwiderhandlung vollständig von der Haftung einer Tochtergesellschaft abgeleitet wird, die ihnen nacheinander gehört hat, die Gesamtsumme der Beträge, die gegen die Muttergesellschaften festgesetzt werden, nicht den Betrag übersteigen darf, der gegen diese Tochtergesellschaft festgesetzt wird (Urteile Areva, oben in Rn. 42 angeführt, EU:C:2014:257, Rn. 137 und 138, und vom 24. März 2011, Tomkins/Kommission, T‑382/06, Slg, EU:T:2011:112, Rn. 57).

82      Zweitens hat der Gerichtshof nach Erlass des angefochtenen Beschlusses im Hinblick auf die Zahlung von Geldbußen wegen Wettbewerbsverstößen entschieden, dass sich das Gesamtschuldverhältnis, das zwischen zwei eine wirtschaftliche Einheit bildenden Gesellschaften besteht, nicht auf eine Form von Bürgschaft reduzieren lässt, die die Muttergesellschaft leistet, um die Zahlung der gegen die Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße zu garantieren, und dass somit das Vorbringen, wonach die Muttergesellschaft nicht zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt werden könne, die höher sei als die gegen ihre Tochtergesellschaft verhängte, als unbegründet zurückzuweisen ist (Urteile vom 26. November 2013, Kendrion/Kommission, C‑50/12 P, Slg, EU:C:2013:771, Rn. 58, und vom 19. Juni 2014, FLS Plast/Kommission, C‑243/12 P, Slg, EU:C:2014:2006, Rn. 107).

83      Somit hätte sich die Klägerin zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, gegen die Höhe der Geldbuße, die gegen sie festgesetzt werden sollte, im Vergleich zu der Höhe der gegen ihre Tochtergesellschaften wegen deren rechtswidrigen Verhaltens verhängten Geldbußen wenden können.

84      Folglich hätte sich die Klägerin zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, besser verteidigen können, wenn sie gehört worden wäre und Zugang zu den Akten gehabt hätte.

85      Drittens ist ebenfalls ergänzend darauf hinzuweisen, dass das Gericht nach Erlass des angefochtenen Beschlusses im Rahmen der Anwendung der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3) entschieden hat, dass, wenn die Verantwortlichkeit einer Muttergesellschaft allein von der Beteiligung ihrer Tochtergesellschaft an dem Kartell abgeleitet wird, eine Herabsetzung der Geldbuße, die dieser aufgrund eines von ihr gemäß dieser Mitteilung gestellten Antrags gewährt wurde, auch der Muttergesellschaft zugutekommen muss (Urteil vom 16. September 2013, Laufen Austria/Kommission, T‑411/10, Slg [Auszüge], Rechtsmittel anhängig, EU:T:2013:443, Rn. 228).

86      Somit hätte die Klägerin zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, geltend machen können, dass ihr die von der Kommission zugunsten ihrer Tochtergesellschaft ACW ins Auge gefasste Herabsetzung zugutekommen müsse.

87      Folglich hätte sich die Klägerin zur Zeit des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, besser verteidigen können, wenn sie gehört worden wäre und Zugang zu den Akten gehabt hätte.

88      Daher ist dem ersten Klagegrund stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er die Klägerin betrifft, ohne dass über diesen Klagegrund, soweit er eine der Kommission obliegende Neutralitätspflicht betrifft, und die anderen Klagegründe entschieden zu werden braucht.

 Kosten

89      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C (2010) 727 der Kommission vom 8. Februar 2010, mit dem die Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/C.38.589 – Wärmestabilisatoren) geändert wurde, wird für nichtig erklärt, soweit sie die GEA Group AG betrifft.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

Prek

Labucka

Kreuschitz

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.


1 – Das vorliegende Urteil wird in Auszügen veröffentlicht.