Language of document : ECLI:EU:C:2013:291

Rechtssache C‑87/12

Kreshnik Ymeraga u. a.

gegen

Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative [Luxemburg])

„Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat – Grundrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 8. Mai 2013

1.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Berechtigte – Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind – Voraussetzung – Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Anwendung der Richtlinie 2003/86 auf die Familienangehörigen des Unionsbürgers – Nichteinbeziehung

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Nr. 2 und Art. 3 Abs. 1; Richtlinie 2003/86 des Rates, Art. 3 Abs. 3)

2.        Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Voraussetzung für die Einbeziehung – Anwendung von Maßnahmen, die bewirken, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird – Beurteilungskriterium – Maßnahmen, die bewirken, dass der Unionsbürger gezwungen ist, das Gebiet der Union zu verlassen – Weigerung, drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren – Umstand, der zum Nachweis des Verwehrens nicht ausreicht

(Art. 20 AEUV und 21 AEUV)

3.        Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Weigerung, drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren – Sachverhalt, der nicht unter das Unionsrecht fällt – Würdigung im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention – Vom nationalen Gericht vorzunehmende Würdigung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Abs. 1)

1.        Die Richtlinien 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung und 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sind nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht begehren, um zu einem Familienangehörigen zu ziehen, der Unionsbürger ist, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

(vgl. Randnr. 33)

2.        Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Bürger der Europäischen Union ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.

Insoweit rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde.

(vgl. Randnrn. 38, 45 und Tenor)

3.        Wenn die Situation der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Staatsangehörige eines Drittstaats sind, weder unter die Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, noch unter die Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung fällt und die Weigerung eines Mitgliedstaats, den Familienangehörigen des Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, nicht zur Folge hätte, diesem den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechtes, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren, betrifft eine solche Weigerung nicht die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, so dass die Vereinbarkeit dieser Weigerung mit den Grundrechten nicht anhand der durch die Charta begründeten Rechte geprüft werden kann.

Diese Feststellung greift nicht der Frage vor, ob gestützt auf eine Prüfung im Licht der Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu deren Vertragsparteien alle Mitgliedstaaten gehören, den im Rahmen des Ausgangsverfahrens betroffenen Drittstaatsangehörigen ein Recht auf Aufenthalt nicht verweigert werden kann.

(vgl. Randnrn. 42-44)