Language of document : ECLI:EU:C:2017:739

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 5. Oktober 2017(1)

Rechtssache C473/16

F

gegen

Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (vormals Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal)

(Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2011/95/EU – Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 4 – Prüfung der Tatsachen und Umstände – Art und Weise der Prüfung – Psychologische Tests – Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 1 – Würde des Menschen – Art. 7 – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“






1.        Wie haben die nationalen Behörden die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Asylbewerbers zu prüfen, der als Grund für die Gewährung von Asyl die Furcht geltend macht, in seinem Herkunftsland aus Gründen seiner sexuellen Orientierung verfolgt zu werden? Steht das Unionsrecht insbesondere der Heranziehung psychologischer Sachverständigengutachten durch diese Behörden entgegen?

2.        Dies sind im Kern die Fragen, die das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) aufwirft.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2011/95/EU(2)

3.        Nach Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. d bezeichnet der Ausdruck

„‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …“.

4.        Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(5)      Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a)      der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b)      alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c)      festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d)      der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und

e)      die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

2.      Richtlinie 2013/32/EU(3)

5.        Art. 10 („Anforderungen an die Prüfung von Anträgen“) Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a)      die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

d)      die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, unter anderem medizinischen, kulturellen, religiösen, kinder- oder geschlechtsspezifischen Fragen, den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.“

B.      Nationales Recht

6.        § 6 Abs. 1 des A menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) bestimmt:

„Ungarn erkennt einen Ausländer als Flüchtling an, bei dem die in Art. XIV Abs. 3 des Grundgesetzes festgelegten Voraussetzungen vorliegen.“

7.        § 7 Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:

„Die Asylbehörde erkennt – außer in den in § 8 Abs. 1 genannten Fällen – einen Ausländer als Flüchtling an, bei dem in Übereinstimmung mit Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention die in § 6 Abs. 1 genannten Voraussetzungen vorliegen.“

8.        § 41 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Im Asylverfahren kommen zum Nachweis oder zur Glaubhaftmachung, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling, subsidiär Schutzberechtigter oder Asylberechtigter in der Person des Antragstellers vorliegen, insbesondere die nachfolgenden Beweismittel in Betracht:

a)      die vom Antragsteller als Fluchtgrund genannten Tatsachen und Umstände sowie die sie stützende Schriftstücke;

c)      einschlägige und aktuelle Informationen über das Herkunftsland des Antragstellers, einschließlich der Rechts- und sonstigen für die Rechtssubjekte verbindlichen Vorschriften des Herkunftslandes sowie die Art und Weise ihrer Anwendung.“

II.    Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

9.        Der Antragsteller (im Folgenden: F), ein nigerianischer Staatsangehöriger, beantragte im April 2015 beim (jetzigen) Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (ungarisches Einwanderungs- und Asylamt, im Folgenden: Amt) die Anerkennung als Flüchtling. In seiner ersten Anhörung brachte er Befürchtungen zum Ausdruck, im Fall seiner Rückkehr in sein Herkunftsland wegen seiner Homosexualität verfolgt zu werden.

10.      Im anschließenden Asylverfahren prüfte das Amt die Glaubwürdigkeit des Antragstellers durch mehrere persönliche Anhörungen. Das Amt beauftragte nachfolgend auch einen Psychologen mit einer Prüfung der Persönlichkeit von F, der seine sexuelle Orientierung entnommen werden konnte. Der Psychologe kam nach einer Exploration und einer Persönlichkeitsprüfung, einem „Zeichne-einen-Menschen-im-Regen [Draw-a-Person-in-the-Rain]“-Test, einem Rorschach-Test sowie einem Szondi-Test (zusammen im Folgenden: in Rede stehende Tests) zu dem Schluss, dass die Ergebnisse der Tests die Behauptung des Klägers nicht belegten, dass er homosexuell sei.

11.      Mit Bescheid vom 1. Oktober 2015 wies das Amt das Asylersuchen von F ab.

12.      Gegen diese Entscheidung erhob F Klage beim Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged). Er hat insbesondere geltend gemacht, dass die Durchführung der in Rede stehenden Tests eine Verletzung seiner Grundrechte darstelle und diese Tests jedenfalls zum Nachweis der sexuellen Orientierung ungeeignet seien. In dem anschließenden Verfahren hat dieses Gericht das Institut für forensische Sachkunde und Forschung mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens über diese Fragen beauftragt.

13.      Das von diesem Institut vorgelegte Sachverständigengutachten befand die in Rede stehenden Tests entgegen der Ansicht des Antragstellers für geeignet, die sexuelle Orientierung einer Person mit hinreichender Sicherheit zu bestimmen. Auch stelle die Durchführung dieser Tests für sich genommen keine Verletzung der Menschenwürde des Antragstellers dar.

14.      Das Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged) gelangte zu der Auffassung, dass es angesichts dessen, dass es nicht über die notwendigen wissenschaftlichen und fachlichen Kenntnisse verfüge, um die Feststellungen der Sachverständigen zu überprüfen, von diesen Feststellungen nicht abweichen könne. Die in Rede stehenden Tests hätten ferner keinen medizinischen Charakter, weil die Psychologie zu den Geisteswissenschaften zähle; sie seien auch nicht mit denjenigen vergleichbar, die der Gerichtshof im Urteil A u. a. für mit dem Unionsrecht unvereinbar befunden habe(4).

15.      Vor diesem Hintergrund und aufgrund seiner Zweifel in Bezug auf die richtige Auslegung des Unionsrechts hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen, dass ihm nicht entgegensteht, wenn in Bezug auf Asylbewerber, die zur Gruppe der lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und intersexuellen Menschen (im Folgenden: LGBTI) gehören, forensische psychologische Gutachten eingeholt und berücksichtigt werden, die auf einem projektiven Persönlichkeitstest beruhen und bei deren Ausführung keine Fragen zu den sexuellen Gewohnheiten des Asylbewerbers gestellt werden und dieser keiner körperlichen Untersuchung unterzogen wird?

2.      Wenn das in der 1. Frage genannte Gutachten als Nachweis nicht in Frage kommt, ist dann der im Licht von Art. 1 der Charta verstandene Art. 4 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen, dass es sowohl für die nationalen Behörden als auch die Gerichte überhaupt keine Möglichkeit gibt, die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Asylbewerbers, der Asyl mit der Begründung beantragt, wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt zu werden, durch fachgutachterliche Methoden zu prüfen, unabhängig von den jeweiligen Merkmalen der fachgutachterlichen Methode?

16.      Mit Schreiben vom 19. Juni 2017 hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof darüber unterrichtet, dass es die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen dahin zu ändern wünsche, dass sie sich anstatt auf Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG auf Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU beziehen sollten.

17.      F, die ungarische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. F, die ungarische und die französische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 13. Juli 2017 ferner mündlich vorgetragen.

III. Würdigung

18.      Mit seinen beiden Fragen, die ich zusammen prüfen werde, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, wie die nationalen Behörden die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Asylbewerbers zu prüfen haben, der als Grund für die Gewährung von Asyl die Furcht geltend macht, aus Gründen seiner sexuellen Orientierung verfolgt zu werden. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere in Erfahrung bringen, ob Art. 4 der Richtlinie 2011/95 in seiner Auslegung im Licht von Art. 1 der Charta die nationalen Behörden hindert, ein psychologisches Sachverständigengutachten heranzuziehen.

A.      Vorbemerkungen

19.      Bevor ich die durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen konkreten Fragen näher prüfe, halte ich es für sinnvoll, die wesentlichen Bestimmungen des Unionsrechts sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesen Bestimmungen kurz in Erinnerung zu bringen. Der Gerichtshof hat nämlich in mehreren Rechtssachen bereits wichtige Klarstellungen dazu vorgenommen, welche Verpflichtungen die Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz haben.

20.      Nach Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Anträge auf internationalen Schutz „einzeln, objektiv und unparteiisch“ geprüft und entschieden werden. Nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 müssen die zuständigen Behörden bei der Prüfung der Anträge u. a. alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen und die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigen.

21.      Diese Prüfung setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen. Der erste Abschnitt betrifft die Feststellung der tatsächlichen Umstände, die Beweise zur Stützung des Antrags darstellen können, während der zweite Abschnitt die rechtliche Würdigung dieser Umstände betrifft, die in der Entscheidung besteht, ob die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes in Anbetracht der Umstände, die einen konkreten Fall auszeichnen, erfüllt sind(5).

22.      Was die Flüchtlingseigenschaft angeht, kommt es entscheidend darauf an, dass die zuständigen Behörden feststellen, ob der Antragsteller eine „begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder bei Staatenlosen im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts), hat(6). Dass Homosexuelle in diesem Sinne als eine bestimmte soziale Gruppe angesehen werden können, ist allgemein anerkannt(7).

23.      Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten, alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist dann Pflicht des Mitgliedstaats, die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte unter Mitwirkung des Antragstellers zu prüfen.

24.      Ergänzend gilt nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 jedoch, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie den Grundsatz anwenden, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn eine Reihe bestimmter, kumulativer Voraussetzungen erfüllt ist. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere, dass festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen und dass die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.

25.      Dementsprechend hat der Gerichtshof im Urteil A u. a.(8) darauf hingewiesen, dass die Aussagen von Asylbewerbern zu ihrer sexuellen Ausrichtung eines Nachweises bedürfen können, wenn die Voraussetzungen nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 nicht erfüllt sind. Diese Aussagen können somit in den Worten des Gerichtshofs „im Verfahren der Prüfung der Ereignisse und Umstände gemäß Art. 4 der Richtlinie [2011/95] nur den Ausgangspunkt“ bilden(9).

26.      Es ist unbestritten, dass in keinem Instrument des Unionsrechts spezifische Regeln dafür festgelegt sind, in welcher Art und Weise die nationalen Behörden Informationen und Nachweise, auf die die Antragsteller sich stützen, und insbesondere die Glaubwürdigkeit der Antragsteller zu prüfen haben. Insoweit verfügen die Mitgliedstaaten also über einen gewissen Spielraum(10). Gleichwohl muss die Art und Weise, in der vorgegangen wird, mit den Bestimmungen der Richtlinien 2011/95 und 2013/32 sowie, wie aus den Erwägungsgründen 16 bzw. 60 dieser Richtlinien deutlich wird, mit den durch die Charta garantierten Grundrechten, wie dem in Art. 1 der Charta verankerten Recht auf Wahrung der Menschenwürde und dem in Art. 7 der Charta garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Einklang stehen(11).

27.      Vor diesem Hintergrund werde ich die im vorliegenden Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen prüfen.

B.      Heranziehung psychologischen Sachverstands

28.      Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist klarzustellen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die nationalen Behörden bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz wegen der sexuellen Orientierung psychologischen Sachverstand hinzuziehen können.

29.      Zunächst lassen Sie mich jedoch noch einmal betonen, dass bei der nach den Bestimmungen der Richtlinien 2011/95 und 2013/32 vorzunehmenden Prüfung die zentrale Frage diejenige ist, ob die vom Antragsteller behauptete Furcht vor Verfolgung begründet ist. Mit anderen Worten müssen die zuständigen Behörden ermitteln, ob die festgestellten Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden(12). Selbst wenn ein Asylbewerber eine Furcht vor Verfolgung aus Gründen seiner sexuellen Orientierung behauptet, ist es nicht stets erforderlich, seine echte sexuelle Orientierung festzustellen, wie von der französischen und der niederländischen Regierung vorgetragen.

30.      Beispielsweise mag es Länder geben, in denen – trotz bestehender Gesetze, die Homosexualität verbieten – für bestimmte homosexuelle Personen (z. B. weil das Gesetz nicht systematisch angewendet wird(13) und aufgrund ihres sozialen, wirtschaftlichen und familiären Hintergrundes, des Ortes, an dem sie leben, usw.(14)) keine echte Gefahr einer Verfolgung besteht. Andererseits mag es Situationen geben, in denen allein ein Verhalten, das von einem traditionellen Standpunkt betrachtet als nicht geschlechtskonform wahrgenommen wird(15), eine tatsächliche Gefahr für den Betroffenen begründen kann, physisch oder psychisch Schaden zu erleiden(16).

31.      Gleichwohl möchte ich betonen, dass nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 die für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit haben müssen, in bestimmten, u. a. geschlechtsspezifischen, Fragen den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.

32.      Insoweit ist die erste Frage, die sich stellt, ob die zuständigen Behörden u. a. auch psychologischen Sachverstand einholen können.

33.      Ich sehe keinen Grund, warum die zuständigen Behörden grundsätzlich nicht auch Rat von Personen sollten einholen können, die in der Psychologie(17), der Wissenschaft des menschlichen Geistes und Verhaltens, ausgebildet und qualifiziert sind. Meines Erachtens dürfte nicht jede Art von psychologischer Untersuchung, wo sie für sachdienlich gehalten wird, stets und notwendigerweise mit der Menschenwürde unvereinbar sein. Im Gegenteil kann nicht ausgeschlossen werden, dass jedenfalls in bestimmten Situationen die Unterstützung von Psychologen für die über einen Antrag auf internationalen Schutz entscheidenden Behörden oder die diese Entscheidung überprüfenden nationalen Gerichte und, möglicherweise, auch für die Antragsteller selbst hilfreich sein könnte.

34.      Beispielsweise könnte die Anwesenheit eines Psychologen bei den Anhörungen es einem Antragsteller, der behauptet, verfolgt worden zu sein oder Schaden erlitten zu haben (oder eine Verfolgung lediglich im Fall seiner Rückkehr in sein Herkunftsland befürchtet), erleichtern, offen über seine Erfahrungen in der Vergangenheit oder seine Befürchtungen zu sprechen, so dass die Behörden sich möglicherweise ein vollständigeres und authentischeres Bild von der Situation machen können(18). Schließlich muss nach Art. 4 der Richtlinie 2013/32 die für die Prüfung der Anträge zuständige nationale Behörde „zur Erfüllung ihrer Aufgaben … angemessen ausgestattet [sein] und über kompetentes Personal in ausreichender Zahl [verfügen]“. Insbesondere müssen die Personen, von denen die Antragsteller befragt werden, „allgemeine Kenntnisse über die Probleme erworben haben, die die Fähigkeit des Antragstellers, angehört zu werden, beeinträchtigen könnten“.

35.      Darüber hinaus könnten die Behörden die Unterstützung eines Psychologen auch als möglicherweise hilfreich dafür ansehen, die generelle Glaubwürdigkeit eines Antragstellers zu prüfen. Dies ist ein wichtiger Aspekt der von den zuständigen Behörden durchgeführten Prüfung, da im Fall der Feststellung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers (und gleichzeitiger Erfüllung der sonstigen kumulativen Voraussetzungen nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95) die sexuelle Orientierung, die der Antragsteller angibt, auch wenn hierfür Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, keines Nachweises bedarf.

36.      Ich bin hingegen nicht davon überzeugt, dass ein psychologisches Sachverständigengutachten ausgehend von einer Analyse der Persönlichkeit des Antragstellers mit hinreichender Sicherheit feststellen kann, ob die sexuelle Orientierung, die ein Antragsteller angibt, zutreffend ist. Erstens zeigt eine kursorische Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur, dass nach einer Reihe von Studien im Bereich Psychologie homosexuelle Männer und Frauen von heterosexuellen Männern und Frauen aus psychologischer Sicht nicht voneinander unterscheidbar sind(19).

37.      Zweitens erscheint mir unabhängig von der wissenschaftlichen Grundlage hierfür ungewiss, ob eine auf projektiven Persönlichkeitstests beruhende Analyse zur Feststellung der sexuellen Orientierung eines Menschen mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist. Wenn ich dies richtig verstehe, sollen die versteckten Konflikte oder Emotionen, die eine solche Analyse aufdecken soll, aus Sicht der sie durchführenden Psychologen die vom Antragsteller angegebene sexuelle Orientierung entweder bestätigen oder in Frage stellen. Eine solche Art von Analyse dürfte meines Erachtens jedoch unweigerlich mit der Heranziehung stereotyper Vorstellungen von den Verhaltensweisen Homosexueller verbunden sein. In der Tat war die ungarische Regierung auf eine in der mündlichen Verhandlung an sie gerichtete Frage hin bemüht zu erläutern, warum die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Analyse nicht mit der Heranziehung stereotyper Vorstellungen verbunden gewesen sei. Es handelt sich indes um eine Art von Analyse, die der Gerichtshof im Urteil A u. a. bereits für problematisch befunden hat, sofern sie nicht erlaubt, die individuelle Situation und persönlichen Umstände des Antragstellers uneingeschränkt zu berücksichtigen(20).

38.      In diesem Licht ist die zweite Frage, die sich stellt, unter welchen Voraussetzungen ein psychologisches Sachverständigengutachten zulässig ist und insbesondere, ob dieses Sachverständigengutachten auf Tests der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art gestützt werden darf.

C.      Voraussetzung der Einwilligung

39.      Zunächst sind psychologische Untersuchungen meines Erachtens nur zulässig, wenn der Antragsteller seine Einwilligung gegeben hat und wenn sie in einer Art und Weise durchgeführt werden können, die die Würde des Antragstellers und sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens wahrt.

40.      Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/32 sieht vor, dass wenn „die Asylbehörde dies für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz … für erforderlich [hält], … die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Zustimmung des Antragstellers eine medizinische Untersuchung des Antragstellers im Hinblick auf Anzeichen auf eine in der Vergangenheit erlittene Verfolgung oder einen in der Vergangenheit erlittenen ernsthaften Schaden [veranlassen]. Die Mitgliedstaaten können stattdessen vorsehen, dass der Antragsteller eine solche medizinische Untersuchung veranlasst.“

41.      Außerdem bestimmt Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 2 derselben Richtlinie – der ärztliche Untersuchungen unbegleiteter Minderjähriger betrifft – dass „[d]ie ärztliche Untersuchung … unter uneingeschränkter Achtung der Würde der Person und mit den schonendsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften, die so weit wie möglich ein zuverlässiges Ergebnis gewährleisten, durchgeführt [wird]“.

42.      Die Richtlinie 2013/32 enthält keine entsprechenden Bestimmungen für Untersuchungen durch Psychologen. Die wesentlichen Grundsätze nach Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 haben jedoch in gewissem Umfang auch für psychologische Untersuchungen Geltung(21).

43.      Psychologische Untersuchungen können für den Antragsteller seelisch genauso belastend sein wie medizinische Untersuchungen in physischer Hinsicht. Sie stellen ferner eindeutig einen Eingriff in sein Privatleben dar(22). Deshalb bedarf es in diesem Kontext meines Erachtens der Einwilligung des Antragstellers dazu, solche Untersuchungen an sich vornehmen zu lassen. Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass es in einer Situation wie derjenigen eines Asylbewerbers in der Praxis eher schwierig sein mag, eine Einwilligung zu verweigern. Dies gilt zumal angesichts dessen, dass es häufig schwierig sein mag, Nachweise für seine sexuelle Orientierung beizubringen(23). Dies macht es meines Erachtens noch wichtiger, dass erstens eine Weigerung, solche Untersuchungen an sich vornehmen zu lassen, respektiert wird. Voraussetzung für eine echte Einwilligung ist natürlich, dass dem Asylbewerber eine hinreichende Kenntnisnahme und ein hinreichendes Verständnis von allen Aspekten und Auswirkungen der psychologischen Untersuchungen ermöglicht worden sein muss(24). Zweitens ist von äußerster Wichtigkeit, dass diese Untersuchungen in einer Art und Weise durchgeführt werden, die die Würde des Antragstellers und sein Privat- und Familienleben achtet(25).

44.      Diese Auslegung wird auch durch den 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 bestätigt, wonach „[b]estimmte Antragsteller … unter Umständen besondere Verfahrensgarantien, unter anderem aufgrund … ihrer sexuellen Ausrichtung … [benötigen]. Diese Antragsteller sollten eine angemessene Unterstützung erhalten, einschließlich ausreichend Zeit, um die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie das Verfahren effektiv in Anspruch nehmen und die zur Begründung ihres Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Angaben machen können.“ Dieser Erwägungsgrund bestätigt den sensiblen Charakter aller Ermittlungen in Bezug auf die Sexualität eines Menschen.

45.      Natürlich kann eine Weigerung des Antragstellers, eine solche Untersuchung an sich vornehmen zu lassen – wenn Sorge dafür getragen wird, die Untersuchung in einer die Würde des Antragstellers und sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienleben wahrenden Art und Weise durchzuführen – die Behörden nicht daran hindern, über den Antrag zu entscheiden(26). Dies bedeutet, dass soweit die Mitgliedstaaten den Grundsatz anwenden, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und die Voraussetzungen nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 nicht erfüllt sind, eine Weigerung des Antragstellers bestimmte Folgen haben kann, die der Antragsteller selbst zu tragen hat.

46.      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge hatte F eingewilligt, eine psychologische Untersuchung an sich vornehmen zu lassen. Es ist indes Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Untersuchung in einer Art und Weise durchgeführt wurde, die die Würde von F und sein Privat- und Familienleben wirklich wahrte(27).

D.      Heranziehung psychologischer Tests

47.      Zweitens sollten die psychologischen Untersuchungen, die von den durch die Behörden beauftragten Sachverständigen durchzuführen sind, auf Methoden, Grundsätzen und Konzepten beruhen, die wissenschaftlich allgemein anerkannt oder jedenfalls hinreichend zuverlässig sind. Außerdem müssen diese Methoden, Grundsätze und Konzepte im Licht der Umstände des Falles für die von den Behörden gewünschte Art der Untersuchung relevant sein. Die psychologischen Untersuchungen sollten somit zu hinreichend zuverlässigen Ergebnissen führen können(28).

48.      Meines Erachtens kann auf einer umstrittenen oder nicht anerkannten wissenschaftlichen Grundlage durchgeführten Untersuchungen von den Behörden kaum ein Beweiswert zugemessen werden. Ebenso können Untersuchungen, die grundsätzlich auf allgemein anerkannten Methoden, Grundsätzen und Konzepten beruhen, jedoch falsch oder im falschen Kontext angewendet worden sind, nicht zu hinreichend zuverlässigen Ergebnissen führen.

49.      Es ist eindeutig nicht Sache des Gerichtshofs, zur Zuverlässigkeit und Aussagefähigkeit der konkreten, im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arten von Tests Stellung zu nehmen(29). Es wird demzufolge Sache des vorlegenden Gerichts sein, insbesondere darüber zu entscheiden, ob die im Fall von F eingesetzten Tests („Zeichne-einen-Menschen-im-Regen [Draw-a-Person-in-the-Rain]“-, Rorschach- und Szondi-Tests) – wie von der ungarischen Regierung vorgetragen – auf Methoden, Grundsätzen und Konzepten beruhen, die wissenschaftlich allgemein anerkannt sind, oder – wie von F vorgebracht – in der wissenschaftlichen Literatur sehr umstritten sind.

E.      Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf

50.      Drittens darf, wenn es sich um ein nationales Gericht handelt, das zum Zweck der Überprüfung einer Entscheidung der Behörden über einen Antrag auf internationalen Schutz ein Sachverständigengutachten anfordert, dieses Gericht nicht davon ausgehen, dass es unter allen Umständen rechtlich oder tatsächlich an die Feststellungen des Sachverständigen (und erst recht nicht an die Feststellungen der Sachverständigen, die die zuständigen Behörden im Verwaltungsverfahren beauftragt hatten) gebunden ist.

51.      Nach Art. 46 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32 müssen Antragsteller auf internationalen Schutz das Recht auf „einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht“ u. a. gegen Entscheidungen über ihren Antrag haben. Dieser Rechtsbehelf muss „eine umfassende … Prüfung [vorsehen], die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt“(30).

52.      Art. 46 der Richtlinie 2013/32 – insbesondere in seiner Auslegung im Licht von Art. 47 der Charta – setzt somit voraus, dass die nationalen Gerichte eine eingehende, unabhängige und kritische Überprüfung aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Aspekte vornehmen können(31). Dies schließt meines Erachtens notwendigerweise die Möglichkeit ein, die Feststellungen von Sachverständigen – die ein neben den sonstigen Beweismitteln zu prüfendes Beweismittel darstellen – dann außer Acht zu lassen, wenn ein Richter sie beispielsweise für voreingenommen, unbegründet oder auf umstrittenen Methoden und Theorien basierend hält.

53.      Insoweit fällt es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie und vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats zu, die Modalitäten der Beweiserhebung, die vor dem zuständigen nationalen Gericht zulässigen Beweismittel oder die Grundsätze für die Würdigung der Beweiskraft der vorgelegten Beweismittel durch dieses Gericht sowie das erforderliche Beweismaß festzulegen(32). Nach dem Grundsatz der Effektivität hat der Gerichtshof jedoch festgestellt, dass Beweisregelungen vom nationalen Gericht nicht in einer Weise angewendet werden dürfen, die darauf hinausliefe, dass dies praktisch der Schaffung unbegründeter Vermutungen gleichkäme, die geeignet wären, gegen die in unionsrechtlichen Rechtsakten vorgesehenen Beweisregeln zu verstoßen, oder aber darauf, die Wirksamkeit der in diesen Rechtsakten vorgesehenen materiellen Regeln zu beeinträchtigen(33). Dieses Problem könnte dann auftreten, wenn die nationalen Gerichte innerstaatliche Beweisregelungen in einer zu wenig strengen Weise anwendeten, indem sie nicht stichhaltige oder unzureichende Beweise ausreichen ließen.

54.      Die nationalen Gerichte müssen dementsprechend dafür Sorge tragen, dass die ihnen vorgelegten Beweise tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um die aus ihnen gezogene Schlussfolgerung zu rechtfertigen(34). Sie haben sicherzustellen, dass sie ihre eigene freie Würdigung bezüglich der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, erst dann vornehmen, wenn sie sich, nachdem sie von sämtlichen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln und den von ihnen ausgetauschten Argumenten Kenntnis genommen haben, angesichts der Gesamtheit der für den bei ihnen anhängigen Fall maßgeblichen Umstände in der Lage sehen, zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen(35).

55.      Die gegenteilige Ansicht würde im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass der Richter seine Rolle aufgibt und die in Art. 46 der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich vorgesehenen Garantien ihre Wirksamkeit verlieren. Dies gilt insbesondere für Sachverständigengutachten, die zu Rechtsfragen Stellung nehmen. Beispielsweise ist darauf hinzuweisen, dass der vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged) im Ausgangsverfahren beauftragte Sachverständige festgestellt hat, dass die Art und Weise, in der die Untersuchung von F durch die von den ungarischen Behörden beauftragten Psychologen durchgeführt worden sei, nicht gegen Grundrechte von F verstoßen habe. Dies dürfte indes eine rechtliche Beurteilung sein, die den zuständigen Richtern obliegt und nicht einem im Verfahren beauftragten Sachverständigen(36).

IV.    Ergebnis

56.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in seiner Auslegung im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hindert die Behörden nicht daran, ein psychologisches Sachverständigengutachten, insbesondere zur Prüfung der generellen Glaubwürdigkeit eines Antragstellers auf internationalen Schutz, heranzuziehen, sofern i) die Untersuchung des Antragstellers mit dessen Einwilligung erfolgt und in einer Art und Weise durchgeführt wird, die die Würde des Antragstellers und sein Privat- und Familienleben achtet, ii) das Gutachten auf Methoden, Grundsätzen und Konzepten beruht, die hinreichend zuverlässig und für die Umstände des Falles relevant sind und zu hinreichend zuverlässigen Ergebnissen führen können, und iii) die Feststellungen des Sachverständigen für die nationalen Gerichte, die die Entscheidung über den Antrag überprüfen, nicht bindend sind.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. 2011, L 337, S. 9).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


4      Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406).


5      Urteil vom 22. November 2012, M. (C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 64).


6      Vgl. Art. 2 Buchst. d und Art. 9 bis 12 der Richtlinie 2011/95.


7      Vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch Urteil vom 7. November 2013, X u. a. (C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 41 bis 49).


8      Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 51).


9      Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 49).


10      Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in den verbundenen Rechtssachen A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2111, Nr. 32).


11      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 53).


12      Vgl. Urteil vom 7. November 2013, X u. a. (C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Vgl. z. B. Urteil des EGMR vom 19. April 2016, A.N./Frankreich (CE:ECHR:2016:0419DEC001295615, § 41).


14      Vgl. z. B. Urteil des EGMR vom 11. Januar 2007, Salah Sheekh/Niederlande (CE:ECHR:2007:0111JUD000194804, §§ 138 bis 149).


15      Dieses Verhalten könnte u. a. die Art und Weise betreffen, wie eine Person sich kleidet, spricht oder handelt (z. B. dass sie mit homosexuellen Personen Kontakt pflegt und Zeit verbringt oder sich für LGBTI-Rechte einsetzt).


16      Vgl. in diesem Sinne Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in den verbundenen Rechtssachen A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2111, Nr. 34).


17      Zum Erfordernis einer ordnungsgemäßen Qualifikation vgl. entsprechend Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32.


18      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache M. (C‑277/11, EU:C:2012:253, Nr. 66).


19      Vgl. z. B. American Psychological Association, Report of the American Psychological Association Task Force on Appropriate Therapeutic Responses to Sexual Orientation, Washington, 2009.


20      Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 60 bis 62).


21      Beispielsweise ist darauf hinzuweisen, dass medizinische und psychologische Behandlungen und Verfahren nach Grundsatz 18 („Schutz vor medizinischen Misshandlungen“) der Yogyakarta-Grundsätze gleich behandelt werden. Grundsatz 18 lautet: „Niemand darf dazu gezwungen werden, wegen seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität irgendeine Form medizinischer oder psychologischer Behandlung, Verfahren oder Tests an sich vornehmen oder sich in eine medizinische Einrichtung einweisen zu lassen. Unabhängig von jeder gegenteiligen Einstufung sind die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität eines Menschen für sich genommen keine Krankheit und bedürfen keiner Behandlung, Heilung oder Unterdrückung …“ Die Yogyakarta-Grundsätze zur Anwendung des internationalen Rechts der Menschenrechte auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität („Principles on the Application of International Human Rights Law in relation to Sexual Orientation and Gender Identity“) wurden 2007 angenommen und sind, auch wenn sie rechtlich nicht verbindlich sind, als sachdienliche Auslegungshilfen für Menschenrechtsübereinkommen oder ‑gesetze allgemein anerkannt.


22      Vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 5. Juli 1999, Matter/Slowakei (CE:ECHR:1999:0705JUD003153496), und Urteil des EGMR vom 27. November 2003, Worwa/Polen (CE:ECHR:2003:1127JUD002662495).


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 19. April 2016, A.N./Frankreich (CE:ECHR:2016:0419DEC001295615, § 44).


24      Vgl. hierzu z. B. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Homophobie, Transphobie und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung und der Geschlechtsidentität – Aktualisierung 2010, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2010, S. 60.


25      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 64).


26      Vgl. entsprechend Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32.


27      Auf diesen Punkt werde ich unten in Nr. 55 der vorliegenden Schlussanträge zurückkommen.


28      Vgl. entsprechend Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32.


29      Ebenso wie die französische, die ungarische und die niederländische Regierung sowie die Kommission und anders als F verstehe ich Rn. 59 des Urteils vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406), nicht dahin, dass psychologische Tests von vornherein verboten wären. Die Feststellungen des Gerichtshofs zu dieser Frage betrafen meines Erachtens nur die konkreten Tests, um die es in der fraglichen Rechtssache ging.


30      Hervorhebung nur hier.


31      Vgl. entsprechend Urteil vom 28. Juli 2011, Samba Diouf (C‑69/10, EU:C:2011:524, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2017, W u. a. (C‑621/15, EU:C:2017:484, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Vgl. Urteil vom 21. Juni 2017, W u. a. (C‑621/15, EU:C:2017:484, Rn. 34).


34      Vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, W u. a. (C‑621/15, EU:C:2017:484, Rn. 35 und 36).


35      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2017, W u. a. (C‑621/15, EU:C:2017:484, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36      Hierzu heißt es beispielsweise in den Leitlinien zur Rolle gerichtlich beauftragter Sachverständiger in gerichtlichen Verfahren in Mitgliedstaaten des Europarats: „Der/die Sachverständige muss solche Tatsachen feststellen und dem Gericht vorlegen, die sich nur Fachleuten erschließen, die eine fachliche, objektive Betrachtung vornehmen. Er/sie vermittelt dem Richter wissenschaftliches und/oder fachliches Wissen, das dem Richter dann ermöglicht, eine objektive und eindeutige Tatsachenermittlung und ‑bewertung vorzunehmen. Der/die Sachverständige ist weder in der Lage noch ist es in irgendeiner Weise seine/ihre Aufgabe, die Zuständigkeit des Richters für die Würdigung und Bewertung der Tatsachen zu übernehmen, die Grundlage des Urteils des Gerichts ist. … Der Sachverständige ist somit lediglich ein Gehilfe oder ein Berater des Richters, nicht mehr. Die Rolle des Sachverständigen unterscheidet sich daher von der des Richters, der derjenige ist, der über Rechtsfragen entscheidet“ (Leitlinien, angenommen von der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz, Europarat, am 11. und 12. Dezember 2014, Nrn. 16 und 17).