Language of document : ECLI:EU:T:2023:787

Verbundene Rechtssachen C‑22/08 und C‑23/08

Athanasios Vatsouras

und

Josif Koupatantze

gegen

Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg 900

(Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Nürnberg)

„Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit – Art. 12 EG und 39 EG – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 Abs. 2 – Gültigkeitsprüfung – Staatsangehörige eines Mitgliedstaats – Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat – Höhe des Entgelts und Dauer der Tätigkeit – Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines ‚Arbeitnehmers‘ – Anspruch auf Leistungen für Arbeitsuchende“

Leitsätze des Urteils

1.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Begriff – Bestehen eines Arbeitsverhältnisses – Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten

(Art. 39 EG)

2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Unionsbürger

(Art. 39 Abs. 2 EG; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 24 Abs. 2)

3.        Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit – Verbot – Geltungsbereich

(Art. 12 EG)

1.        Unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit, wie z. B. die kurze und nicht existenzsichernde geringfügige Beschäftigung des Beschäftigten oder die wenig mehr als einen Monat dauernde Beschäftigung, lässt sich nicht ausschließen, dass diese Berufstätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und somit erlaubt, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 39 EG zuzuerkennen.

Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 39 EG ist insoweit ein Begriff des Gemeinschaftsrechts, der nicht eng auszulegen ist. Als „Arbeitnehmer“ ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

(vgl. Randnrn. 25-26, 30)

2.        In Bezug auf das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind, ist die Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz, auf den sich andere Unionsbürger als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, berufen können, die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 vorgesehen ist, wonach der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, u. a. Arbeitsuchenden während des längeren Zeitraums, während dessen sie dort ein Aufenthaltsrecht haben, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, im Einklang mit Art. 39 Abs. 2 EG auszulegen.

Insoweit können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung zu prüfen, insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung. Der Zweck der Leistung ist nach Maßgabe ihrer Ergebnisse und nicht anhand ihrer formalen Struktur zu untersuchen. Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können somit nicht als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesehen werden.

(vgl. Randnrn. 34-35, 40-42, 44-46, Tenor 1)

3.        Art. 12 EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden.

Nach Art. 12 Abs. 1 EG ist nämlich unbeschadet der Bestimmungen des EG-Vertrags in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Diese Bestimmung betrifft in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende Situationen, in denen ein Angehöriger eines Mitgliedstaats nur aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats diskriminiert wird, findet aber keine Anwendung im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen.

(vgl. Randnrn. 51-53, Tenor 2)