Language of document : ECLI:EU:T:2011:277

Rechtssache T‑191/06

FMC Foret, SA

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Wasserstoffperoxid und Perborat – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Dauer der Zuwiderhandlung – Unschuldsvermutung – Verteidigungsrechte – Geldbußen – Mildernde Umstände“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Begriff – Willensübereinstimmung bezüglich des künftigen Marktverhaltens – Einbeziehung

(Art. 81 Abs. 1 EG)

2.      Wettbewerb – Kartelle – Abgestimmte Verhaltensweise – Begriff – Erteilung von Auskünften zur Vorbereitung einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung – Hinreichende Feststellung

(Art. 81 Abs. 1 EG)

3.      Wettbewerb – Kartelle – Komplexe Zuwiderhandlung, die Merkmale der Vereinbarung und der abgestimmten Verhaltensweise aufweist – Einheitliche Qualifizierung als „Vereinbarung und/oder abgestimmte Verhaltensweise“ – Zulässigkeit

(Art. 81 Abs. 1 EG)

4.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Verwendung von Erklärungen, die andere an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen im Rahmen der Mitteilung über die Zusammenarbeit abgegeben haben, als Beweismittel – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 81 EG; Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission)

5.      Wettbewerb – Kartelle – Beweis – Einziges Beweismittel – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art 81 Abs. 1, EG)

6.      Wettbewerb – Kartelle – Beweis – Von der Kommission angeführte Indizien – Teilnahme an Zusammenkünften mit wettbewerbswidrigem Zweck

(Art. 81 Abs. 1 EG)

7.      Wettbewerb – Kartelle – Beweis – Eidliche Aussagen und Aussagen bei Anhörungen

(Art. 81 EG)

8.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nichtanwendbarkeit von Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 19 Abs. 1)

9.      Wettbewerb – Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Wettbewerbsfeindlichkeit – Hinreichende Feststellung

(Art. 81 Abs. 1 EG)

10.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Umfang – Unterbliebene Übermittlung eines Schriftstücks – Folgen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 2)

11.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Übermittlung der Antworten auf eine Mitteilung der Beschwerdepunkte – Voraussetzungen – Grenzen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 2)

12.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Bestimmung der für die Verteidigung nützlichen Schriftstücke allein durch die Kommission – Unzulässigkeit – Ausschluss von entlastenden Schriftstücken aus der Akte – Rechtswidrigkeit der Entscheidung der Kommission – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 2)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Höchstbetrag – Berechnung – Zu berücksichtigender Umsatz

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2)

14.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 3)

15.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 3 erster Gedankenstrich)

16.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Mildernde Umstände – Von den kartellinternen Vereinbarungen abweichendes Verhalten

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 3)

1.      Eine Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG liegt schon dann vor, wenn die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten.

Vom Abschluss einer Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG kann ausgegangen werden, wenn hinsichtlich der Wettbewerbsbeschränkung als solcher ein übereinstimmender Wille vorliegt, selbst wenn die einzelnen Gesichtspunkte der beabsichtigten Beschränkung noch Gegenstand von Verhandlungen sind.

(vgl. Randnrn. 97 und 98)

2.      Bei der abgestimmten Verhaltensweise handelt es sich um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt.

Art. 81 Abs. 1 EG steht jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern entgegen, durch die entweder das Marktverhalten eines tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerbers beeinflusst oder ein solcher Wettbewerber über das Marktverhalten, zu dem der betreffende Wirtschaftsteilnehmer selbst entschlossen ist oder das er in Erwägung zieht, ins Bild gesetzt wird, wenn diese Fühlungnahme eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt.

Der Umstand, dass ein Unternehmen seinen Wettbewerbern zur Vorbereitung einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung Auskünfte erteilt, genügt als Beweis für das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise im Sinne von Art. 81 EG.

(vgl. Randnrn. 99 bis 101)

3.      Die Begriffe Vereinbarung und abgestimmte Verhaltensweise im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG erfassen Formen der Kollusion, die in ihrer Art übereinstimmen, und unterscheiden sich nur in ihrer Intensität und ihren Ausdrucksformen.

Bei einer komplexen Zuwiderhandlung, an der über mehrere Jahre mehrere Hersteller beteiligt waren und deren Ziel die gemeinsame Regulierung des Marktes war, kann von der Kommission nicht verlangt werden, dass sie die Zuwiderhandlung entweder als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert, da jedenfalls beide Formen der Zuwiderhandlung von Art. 81 EG umfasst werden.

Die doppelte Qualifizierung der Zuwiderhandlung als Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte Verhaltensweise ist so zu verstehen, dass sie sich auf einen Komplex von Einzelakten bezieht, von denen einige als Vereinbarung und andere als abgestimmte Verhaltensweise im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG anzusehen sind, der für diesen Typ einer komplexen Zuwiderhandlung keine spezifische Qualifizierung vorschreibt.

(vgl. Randnrn. 102 bis 104)

4.      Die Aussagen von beschuldigten Unternehmen im Rahmen von Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung sind kritisch zu betrachten und können im Allgemeinen nicht ohne Untermauerung akzeptiert werden. Eine Erklärung, die ein der Beteiligung an einer Absprache beschuldigtes Unternehmen abgibt und deren Richtigkeit von den beschuldigten Unternehmen bestritten wird, kann nämlich nicht als hinreichender Beweis für die Begehung einer Zuwiderhandlung durch diese anderen Unternehmen angesehen werden, wenn sie nicht durch andere Beweismittel untermauert wird.

Bei der Prüfung des Beweiswerts der Aussagen von Unternehmen, die einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt haben, berücksichtigt das Gericht insbesondere zum einen den Umfang von übereinstimmenden Indizien, die für die Richtigkeit dieser Aussagen sprechen, und zum anderen das Fehlen von Indizien dafür, dass diese Unternehmen die Neigung haben, die Bedeutung ihres eigenen Tatbeitrags als so klein wie möglich und den der anderen als so groß wie möglich darzustellen.

(vgl. Randnrn. 119 bis 121)

5.      Das Unionsrecht kennt keinen Grundsatz, der die Kommission daran hindert, aus nur einem Schriftstück auf die Existenz einer Zuwiderhandlung zu schließen, sofern sein Beweiswert außer Zweifel steht und es für sich allein das Vorliegen der fraglichen Zuwiderhandlung mit Sicherheit bestätigt.

Zwar kommt dies bei einfachen Aussagen eines beschuldigten Unternehmens, die, soweit sie von anderen betroffenen Unternehmen bestritten werden, durch weitere unabhängige Beweismittel untermauert werden müssen, im Allgemeinen nicht in Betracht.

Bei einer besonders glaubwürdigen Aussage des kooperierenden Unternehmens ist diese Feststellung jedoch zu relativieren; denn in solchen Fällen ist ein geringerer Grad der Erhärtung erforderlich, sowohl was die Genauigkeit als auch was die Intensität angeht.

Wenn das Vorliegen und bestimmte spezifische Aspekte der geheimen Absprachen, die in der im Rahmen der Kooperation gemachten Aussage erwähnt werden, durch ein Bündel übereinstimmender Indizien erhärtet werden, kann diese Aussage nämlich allein ausreichen, um andere Aspekte der angefochtenen Entscheidung zu belegen. Die Kommission kann sich in einem solchen Fall ausschließlich auf diese Aussage stützen, vorausgesetzt, es bestehen keine Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt und sie ist nicht unbestimmt.

Außerdem kann einer Aussage eines Unternehmens, auch wenn sie hinsichtlich der spezifischen Aspekte, die mit ihr bescheinigt werden, nicht erhärtet wird, ein gewisser Beweiswert für die Erhärtung des Vorliegens der Zuwiderhandlung zukommen, nämlich im Rahmen des Bündels übereinstimmender Indizien, die von der Kommission insoweit festgestellt werden. Soweit ein Schriftstück nämlich spezielle Informationen enthält, die mit den in anderen Schriftstücken enthaltenen Informationen übereinstimmen, können sich die Beweismittel gegenseitig verstärken.

(vgl. Randnrn. 122 bis 126)

6.      In Wettbewerbssachen muss es zulässig sein, dass die Kommission von Zeiten, für die sich die Beweise ziemlich häufen, auf andere Zeiten schließt, für die die einzelnen Beweise etwas rarer sind. Es bedarf schon einer wirklich stichhaltigen Erklärung, um ein Gericht davon zu überzeugen, dass während eines bestimmten Abschnitts einer Serie von Treffen etwas ganz anderes stattgefunden hat als das, was bei früheren und späteren Treffen geschah, wenn die Treffen mit demselben Teilnehmerkreis unter gleichartigen äußeren Umständen und unbestritten mit demselben Ziel abgehalten wurden.

Außerdem ist, wenn ein Unternehmen, auch ohne eine aktive Rolle zu spielen, an einem Treffen teilgenommen hat, bei dem eine rechtswidrige Abstimmung erörtert wurde, davon auszugehen, dass es an dieser Abstimmung teilnahm, sofern es nicht beweist, dass es sich offen von ihr distanzierte oder die anderen Teilnehmer darüber informierte, dass es an dem fraglichen Treffen aus anderen Beweggründen teilnahm als diese.

Wenn die Kommission nachweist, dass ein Unternehmen an rechtswidrigen Gesprächen teilgenommen hat, es diesem obliegt, Indizien dafür vorzutragen, dass seine Teilnahme an diesen Treffen ohne jede wettbewerbswidrige Absicht erfolgte.

(vgl. Randnrn. 127, 159, 160, 204 und 236)

7.      Einer eidliche Aussage, die vor Gericht oder gegebenenfalls im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegenüber dem Staatsanwalt gemacht wird, kann angesichts der möglichen strafrechtlichen Folgen für einen Beteiligten, der im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gelogen hat, weshalb eine solche Aussage verlässlicher ist als eine einfache Erklärung, ein höherer Beweiswert zukommen. Bei schriftlichen Erklärungen der Mitarbeiter eines Unternehmens, die der Kommission im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vorgelegt worden sind, und bei deren Aussagen bei der Anhörung vor der Kommission sind diese Erwägungen aber nicht einschlägig. Es kann also nicht geltend gemacht werden, solche Erklärungen hätten, da sie beeidet abgegeben worden seien, einen hohen Beweiswert, und die Kommission sei daher gegebenenfalls verpflichtet, zu beweisen, dass die Zeugen falsch „geschworen“ hätten.

(vgl. Randnrn. 132 und 133)

8.      Die Kommission hat in Wettbewerbssachen während des Verwaltungsverfahrens nicht die Möglichkeit, die Vernehmung von Personen als Zeugen unter Eid zu erzwingen.

Zudem ist die Kommission nur dann zur Anhörung von Personen oder Personenvereinigungen, die ein ausreichendes Interesse glaubhaft machen, verpflichtet, wenn diese tatsächlich ihre Anhörung beantragen. Sie hat also einen angemessenen Ermessensspielraum bei der Entscheidung darüber, ob eine Anhörung der Personen, deren Aussage für die Ermittlung des Sachverhalts wichtig sein kann, möglicherweise von Interesse ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt nämlich nicht, dass die Kommission von den Betroffenen benannte Zeugen anhört, wenn sie den Sachverhalt für hinreichend geklärt hält.

Die Kommission muss, auch wenn sie kein Gericht im Sinne von Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist und die von ihr verhängten Geldbußen keinen strafrechtlichen Charakter haben, gleichwohl im Verwaltungsverfahren die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten.

Die Tatsache, dass die Kommission nach dem Wettbewerbsrecht der Union nicht verpflichtet ist, Entlastungszeugen vorzuladen, deren Anhörung beantragt wird, stellt jedoch keinen Verstoß gegen diese Grundsätze dar. Die Kommission ist nämlich, auch wenn sie natürliche oder juristische Personen anhören kann, sofern sie dies für erforderlich hält, nicht berechtigt, Belastungszeugen ohne deren Einverständnis vorzuladen. Da das Verfahren vor der Kommission ein reines Verwaltungsverfahren ist, braucht sie dem betroffenen Unternehmen nicht die Möglichkeit zu geben, einen bestimmten Zeugen zu befragen und dessen Aussagen im Stadium der Ermittlungen zu analysieren. Es genügt, dass die von der Kommission verwerteten Aussagen in den der Klägerin übermittelten Akten enthalten sind; die Klägerin kann diese Aussagen vor dem Unionsrichter bestreiten.

(vgl. Randnrn. 135 und 137 bis 139)

9.      Die Auswirkungen einer Vereinbarung oder einer abgestimmten Verhaltensweise brauchen nicht geprüft zu werden, wenn feststeht, dass sie einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgen. Die Verantwortlichkeit eines bestimmten Unternehmens für die Zuwiderhandlung ist ordnungsgemäß dargetan, wenn es an Treffen in Kenntnis ihres wettbewerbswidrigen Gegenstands teilnahm, auch wenn es anschließend die eine oder andere der dort vereinbarten Maßnahmen nicht durchgeführt hat.

(vgl. Randnrn. 252 und 253)

10.    Als Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte bedeutet das Recht auf Akteneinsicht in einem Verwaltungsverfahren zur Anwendung der Wettbewerbsregen, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit geben muss, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind.

Zu diesen Schriftstücken gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen.

Bezüglich belastender Schriftstücke stellt die unterbliebene Übermittlung nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar, wenn das betreffende Unternehmen dartut, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat und dass dieser Vorwurf nur durch Heranziehung des fraglichen Schriftstücks belegt werden kann. Das betroffene Unternehmen muss daher dartun, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in ihrer Entscheidung gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn dieses nicht übermittelte Schriftstück als Beweismittel ausgeschlossen werden müsste.

Wurde dagegen ein entlastendes Schriftstück nicht übermittelt, so muss das betroffene Unternehmen nur nachweisen, dass das Unterbleiben seiner Offenlegung den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission zu seinen Ungunsten beeinflussen konnte. Es genügt, dass das Unternehmen dartut, dass es die fraglichen entlastenden Schriftstücke zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können, und insbesondere nachweist, dass es Gesichtspunkte hätte geltend machen können, die nicht mit der im Stadium der Mitteilung der Beschwerdepunkte von der Kommission vorgenommenen Beurteilung übereinstimmten und daher, in welcher Weise auch immer, die in der Entscheidung vorgenommenen Beurteilungen hätten beeinflussen können.

(vgl. Randnrn. 262 bis 265)

11.    Im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens in einer Wettbewerbssache sind die Antworten der Unternehmen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht Teil der eigentlichen Ermittlungsakte. Da es sich um Schriftstücke handelt, die nicht Teil der zum Zeitpunkt der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte angelegten Akte sind, ist die Kommission somit nur dann verpflichtet, die genannten Antworten anderen betroffenen Unternehmen zugänglich zu machen, wenn sich erweist, dass sie neues be- oder entlastendes Material enthalten.

Was speziell entlastende Schriftstücke angeht, so ist die Kommission nicht verpflichtet, von sich aus Unterlagen zugänglich zu machen, die nicht in ihrer Ermittlungsakte enthalten sind und die sie nicht in der endgültigen Entscheidung gegen die betroffenen Parteien verwenden will. Da die Kommission grundsätzlich nicht verpflichtet ist, solche Dokumente von sich aus zu zugänglich zu machen, kann ein Unternehmen im Prinzip nicht geltend machen kann, ihm sei in den Antworten auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte enthaltenes entlastendes Material nicht mitgeteilt worden, sofern es im Verwaltungsverfahren keine Einsicht in diese Antworten beantragt hat.

Wenn das Vorbringen des klagenden Unternehmens dahin geht, dass es damit dartun möchte, die Kommission hätte feststellen müssen, dass die in Rede stehenden Antworten entlastendes Material enthalten hätten, und dieses somit von sich aus mitteilen müssen, liegt es im Rahmen eines solchen Vorbringens bei diesem Unternehmen, einen ersten Hinweis auf den Nutzen der betreffenden Antworten für seine Verteidigung zu liefern. Es muss insbesondere die in Rede stehenden etwaigen entlastenden Beweismittel benennen oder einen Hinweis liefern, der ihr Vorliegen und somit ihren Nutzen für das Verfahren glaubhaft macht.

Im Übrigen ist die Kommission verpflichtet, den betroffenen Unternehmen die Stellen der Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zugänglich zu machen, die irgendwelche erheblichen Angaben zu belastendem Material enthalten; sie ist nicht verpflichtet, auch andere Stellen dieser Antwort zugänglich zu machen, die keinen Bezug zu dem genannten Material aufweisen.

(vgl. Randnrn. 266, 267, 290, 292, 296 und 297)

12.    Die von der Kommission erstellte Akte muss zur Beachtung der Verteidigungsrechte alle im Rahmen der Untersuchung erlangten relevanten Unterlagen enthalten. Insbesondere darf die Kommission vom Verwaltungsverfahren zwar die Bestandteile ausschließen, die in keinem Zusammenhang mit den Sach- und Rechtsausführungen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte stehen und folglich für die Untersuchung irrelevant sind; es kann jedoch nicht allein Sache der Kommission sein, die für die Verteidigung des betroffenen Unternehmens nützlichen Schriftstücke zu bestimmen.

Die Kommission genügt diesen Anforderungen nicht, wenn sie ein Schriftstück von der Akte ausschließt, das eine Niederschrift der mündlichen Aussage eines Unternehmens über eine Zuwiderhandlung enthält, obwohl die schriftliche Aussage dieses Unternehmens zu dieser Zuwiderhandlung als relevanter Bestandteil der Untersuchung eingestuft worden ist.

Ein solcher Formfehler kann die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission aber nur dann beeinträchtigen, wenn er den Verfahrensablauf und den Inhalt der dieser Entscheidung zu Ungunsten des betroffenen Unternehmens beeinflussen konnte; dabei hat dieses darzutun, dass es das nicht zugänglich gemachte entlastende Schriftstück zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können, insbesondere dass es Gesichtspunkte hätte geltend machen können, die nicht mit der im Stadium der Mitteilung der Beschwerdepunkte von der Kommission vorgenommenen Beurteilung übereinstimmten und daher, in welcher Weise auch immer, die in der Entscheidung der Kommission vorgenommenen Beurteilungen hätten beeinflussen können.

(vgl. Randnrn. 306 bis 308)

13.    Die Obergrenze von 10 % des Umsatzes gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ist anhand des gesamten Umsatzes aller Gesellschaften zu ermitteln, aus denen die für die geahndete Zuwiderhandlung verantwortliche wirtschaftliche Einheit besteht. Wenn diese wirtschaftliche Einheit hingegen in der Zwischenzeit aufgelöst worden ist, hat jeder Adressat der Entscheidung Anspruch auf individuelle Anwendung der in Rede stehenden Obergrenze.

(vgl. Randnr. 324)

14.    Macht ein Unternehmen geltend, die Kommission hätte ihm wegen seiner passiven Mitwirkung bei einem Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln mildernde Umstände zubilligen müssen, hat die Tatsache, dass es sich im Verwaltungsverfahren nicht ausdrücklich auf seine passive Mitwirkung berufen hat, keinen Einfluss auf die Zulässigkeit seiner Rüge.

Zum einen sind die Unternehmen, an die eine Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet wird, nämlich nicht verpflichtet, eigens zu beantragen, dass ihnen mildernde Umstände zugebilligt werden. Zum anderen ist die Kommission, wenn eine Zuwiderhandlung von mehreren Unternehmen begangen worden ist, verpflichtet, die relative Schwere des Tatbeitrags jedes einzelnen von ihnen zu prüfen, um festzustellen, ob bei ihnen erschwerende oder mildernde Umstände vorliegen, insbesondere, wenn es sich um einen in der nicht abschließenden Liste in Nr. 3 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, genannten mildernden Umstand handelt.

(vgl. Randnrn. 329 und 330)

15.    Die ausschließlich passive Mitwirkung oder reines Mitläufertum eines Unternehmens bei der Zuwiderhandlung, sofern erwiesen, stellt nach Nr. 3 erster Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, einen mildernden Umstand dar, wobei diese passive Rolle bedeutet, dass sich das betreffende Unternehmen nicht hervorgetan haben darf, d. h. nicht aktiv an der Ausarbeitung der wettbewerbswidrigen Vereinbarung oder Vereinbarungen beteiligt war.

Bei den Gesichtspunkten, die die passive Mitwirkung eines Unternehmens an einem Kartell offenbaren können, kann berücksichtigt werden, dass es deutlich seltener als die gewöhnlichen Mitglieder des Kartells an den Treffen teilgenommen hat, dass es spät in den Markt, auf dem die Zuwiderhandlung stattgefunden hat, eingetreten ist, unabhängig davon, wie lange es an der Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, oder dass es entsprechende ausdrückliche Aussagen von Vertretern dritter an der Zuwiderhandlung beteiligter Unternehmen gibt. Zu berücksichtigen sind jedenfalls alle relevanten Umstände des Einzelfalls.

Die Kommission verfügt hinsichtlich der Berücksichtigung von mildernden Umständen über ein Ermessen.

Hat die Kommission in rechtlich hinreichender Weise dargetan, dass ein Unternehmen bei den meisten kollusiven Treffen, die Gegenstand der Entscheidung der Kommission sind, vertreten war oder darüber unterrichtet worden ist, entspricht die Tatsache, dass dieses Unternehmen an bestimmten Treffen nicht physisch teilgenommen hat, sondern darüber telefonisch unterrichtet worden ist, der heimlichen Natur des Ablaufs dieser Treffen und zeugt in keiner Weise von einer ausschließlich passiven Mitwirkung oder reinem Mitläufertum des Unternehmens.

(vgl. Randnrn. 331 bis 333 und 337)

16.    Nach Nr. 3 zweiter Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, kann die tatsächliche Nichtanwendung der Vereinbarungen über Verstöße einen mildernden Umstand darstellen, soweit das betreffende Unternehmen nachweist, dass es sich im Zeitraum seiner Teilnahme an den rechtswidrigen Vereinbarungen tatsächlich deren Durchführung entzog, indem es sich auf dem Markt wettbewerbskonform verhielt, oder dass es sich zumindest den Verpflichtungen zur Umsetzung dieses Kartells so eindeutig und nachdrücklich widersetzte, dass dadurch sogar dessen Funktionieren selbst gestört wurde.

Im Übrigen ist allein die Tatsache, dass sich ein Unternehmen, dessen Beteiligung an einer Absprache mit seinen Konkurrenten erwiesen ist, nicht in der mit ihnen vereinbarten Weise auf dem Markt verhalten hat, indem es eine mehr oder weniger unabhängige Marktpolitik verfolgt hat, nicht zwangsläufig als mildernder Umstand zu berücksichtigen. Es ist durchaus denkbar, dass dieses Unternehmen nur versucht hat, das Kartell zu seinem Vorteil auszunutzen.

(vgl. Randnrn. 345 und 346)