Language of document : ECLI:EU:T:2005:405

Rechtssache T-426/04

Tramarin Snc di Tramarin Andrea e Sergio

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Nichtigkeitsklage − Zulässigkeit − Staatliche Beihilfen − Aufforderung der Kommission zur Änderung eines angemeldeten Beihilfevorhabens − Mit Klage anfechtbare Handlung − Handlung, die Rechtswirkungen entfaltet − Klagefristen − Beginn − Abgekürzte Veröffentlichung im Amtsblatt − Website“

Leitsätze des Beschlusses

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlicher Rechtswirkung – Vorbereitende Handlungen – Ausschluss

(Artikel 230 EG)

2.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Phase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Verfahren einzuleiten – Möglichkeit, in der Vorprüfungsphase einen Dialog mit dem Mitgliedstaat zu führen, um Schwierigkeiten auszuräumen – Aufforderung zu einer Änderung des angemeldeten Vorhabens – Vorbereitende Maßnahme

(Artikel 88 Absätze 2 und 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 4 und 6)

3.      Nichtigkeitsklage – Fristen – Beginn – Zeitpunkt der Veröffentlichung – Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der Handlung – Subsidiarität – Handlungen, die nach ständiger Praxis des Organs im Amtsblatt veröffentlicht werden – Veröffentlichung – Begriff

(Artikel 230 Absatz 5 EG)

4.      Verfahren – Klagefristen – Ausschlusswirkung – Zufall oder höhere Gewalt – Entschuldbarer Irrtum

(Satzung des Gerichtshofes, Artikel 45 Absatz 2)

1.      Gegenstand einer Nichtigkeitsklage können nur solche Handlungen oder Entscheidungen sein, die verbindliche Rechtswirkungen entfalten, die die Interessen des Klägers dadurch beeinträchtigen können, dass sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise verändern. Bei Handlungen oder Entscheidungen, die in mehreren Phasen ausgearbeitet werden, u. a. nach Beendigung eines internen Verfahrens, sind nur diejenigen Maßnahmen anfechtbar, die den Standpunkt des Organs bei Beendigung des Verfahrens endgültig festlegen, nicht hingegen Zwischenmaßnahmen, die nur der Vorbereitung der endgültigen Entscheidung dienen.

(vgl. Randnr. 25)

2.      Die in Artikel 88 Absatz 3 EG vorgesehene und in Artikel 4 der Verordnung Nr. 659/1999 näher geregelte vorläufige Prüfung dient lediglich dazu, der Kommission eine ausreichende Überlegungs- und Untersuchungsfrist zu verschaffen, um ihr eine erste Meinungsbildung über die angemeldeten Beihilfevorhaben zu ermöglichen, damit sie, ohne dass eine eingehende Prüfung erforderlich wäre, feststellt, dass die Vorhaben mit dem Vertrag vereinbar sind, oder aber, dass ihr Inhalt in dieser Hinsicht Zweifel hervorruft.

Das in Artikel 88 Absatz 2 EG und Artikel 6 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene förmliche Prüfverfahren, in dem sich die Kommission vor Erlass ihrer Entscheidung vollständig über alle Umstände der Sache unterrichten kann, ist unerlässlich, sobald die Kommission bei der Beurteilung der Frage, ob ein Beihilfevorhaben mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, auf ernsthafte Schwierigkeiten stößt.

Auch wenn die Kommission in ihrer Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens gebunden ist, so hat sie doch ein bestimmtes Ermessen bei der Ermittlung und Prüfung der Umstände des Einzelfalls, um festzustellen, ob diese ernsthafte Schwierigkeiten aufwerfen. Nach dem Zweck des Artikels 88 Absatz 3 EG und ihrer Pflicht zur ordnungsmäßigen Verwaltung kann die Kommission insbesondere einen Dialog mit dem anmeldenden Staat oder mit Dritten führen, um etwaige Schwierigkeiten während des Vorverfahrens zu überwinden.

Eine Prüfung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 659/1999 ergibt, dass die Kommission zwar im förmlichen Prüfverfahren befugt ist, einen Mitgliedstaat unter Androhung der Feststellung der Unvereinbarkeit seines Beihilfevorhabens mit dem Gemeinsamen Markt zu einer bestimmten Änderung dieses Vorhabens zu veranlassen, dass sie aber während der Phase der vorläufigen Prüfung keine solche Befugnis hat und ihr außer der Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens nur die Möglichkeit bleibt, eine Entscheidung dahin gehend zu erlassen, dass sie keine Einwände erhebt.

Daher fällt ein Schreiben der Kommission an die nationalen Behörden im Rahmen des Vorverfahrens, in dem sie eine Schwierigkeit bei der Prüfung der Vereinbarkeit des vorgeschlagenen Vorhabens feststellt und die nationalen Behörden lediglich zur Rücknahme ihres Vorschlags im Rahmen einer frei getroffenen Entscheidung „auffordert“, in den Rahmen des erwähnten Dialogs und stellt keine Handlung dar, die verbindliche Rechtswirkungen entfaltet, sondern nur eine Maßnahme zur Vorbereitung der endgültigen Entscheidung der Kommission.

(vgl. Randnrn. 27-29, 30-36)

3.      Bereits aus dem Wortlaut des Artikels 230 Absatz 5 EG ergibt sich, dass das Kriterium des Zeitpunkts, zu dem der Kläger von der Handlung Kenntnis erlangt hat, als Beginn der Klagefrist subsidiären Charakter gegenüber dem Zeitpunkt der Bekanntgabe oder dem der Mitteilung hat.

In Ermangelung einer Bekanntgabe oder Mitteilung obliegt es demjenigen, der von der Existenz einer ihn betreffenden Handlung erfährt, binnen angemessener Frist deren vollständigen Wortlaut anzufordern, doch kann unter diesem Vorbehalt die Klagefrist erst zu dem Zeitpunkt beginnen, zu dem der betroffene Dritte eine so genaue Kenntnis vom Inhalt und von den Gründen der fraglichen Handlung hat, dass er sein Klagerecht ausüben kann. Geht es indessen um Handlungen, die nach einer ständigen Praxis des betreffenden Gemeinschaftsorgans im Amtsblatt bekannt gegeben werden, obwohl diese Bekanntgabe keine Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit ist, so ist das Kriterium des Zeitpunkts der Kenntnisnahme nicht anwendbar, sondern es ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe, der die Klagefrist in Lauf setzt. Unter solchen Umständen kann nämlich der betroffene Dritte mit der Bekanntgabe der fraglichen Handlung rechnen.

Die Tatsache, dass die Kommission Dritten einen vollständigen Zugang zum Wortlaut einer Entscheidung auf ihrer Website ermöglicht, ist, verbunden mit der Veröffentlichung einer Zusammenfassung im Amtsblatt, durch die der interessierte Personenkreis die fragliche Entscheidung identifizieren kann und auf diese Möglichkeit eines Zugangs per Internet hingewiesen wird, als eine Bekanntgabe im Sinne von Artikel 230 Absatz 5 EG anzusehen.

(vgl. Randnrn. 48-49, 53)

4.      Von der Anwendung der Gemeinschaftsregelungen über die Verfahrensfristen kann nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen abgewichen werden, nämlich bei Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes oder bei Vorliegen eines entschuldbaren Irrtums, da die strikte Anwendung dieser Vorschriften dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu vermeiden.

(vgl. Randnr. 60)