Language of document : ECLI:EU:C:2024:101

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

30. Januar 2024(*)

„Rechtsmittel – Unionsmarke – Nichtigkeitsverfahren – Wortmarke tagesschau – Erklärung des teilweisen Verfalls – Vertretung durch einen Anwalt – Unabhängigkeitserfordernis“

In der Rechtssache C‑580/22 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 1. September 2022,

bonnanwalt Vermögens- und Beteiligungsgesellschaft mbH mit Sitz in Bonn (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt T. Wendt,

Rechtsmittelführerin,

andere Verfahrensbeteiligte:

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Hanf und D. Stoyanova-Valchanova als Bevollmächtigte,

Beklagter im ersten Rechtszug,

unterstützt durch:

Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und C. Urraca Caviedes als Bevollmächtigte,

Streithelferin im Rechtsmittelverfahren,


Bayerischer Rundfunk mit Sitz in München (Deutschland),

Hessischer Rundfunk mit Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland),

Mitteldeutscher Rundfunk mit Sitz in Leipzig (Deutschland),

Norddeutscher Rundfunk mit Sitz in Hamburg (Deutschland),

Rundfunk Berlin-Brandenburg mit Sitz in Berlin (Deutschland),

Saarländischer Rundfunk mit Sitz in Saarbrücken (Deutschland),

Südwestrundfunk mit Sitz in Mainz (Deutschland),

Westdeutscher Rundfunk Köln mit Sitz in Köln (Deutschland),

Radio Bremen mit Sitz in Bremen (Deutschland),

vertreten durch Rechtsanwältin B. Krause,

Streithelfer im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die bonnanwalt Vermögens- und Beteiligungsgesellschaft mbH die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Juni 2022, bonnanwalt/EUIPO – Bayerischer Rundfunk u. a. (tagesschau) (T‑83/20, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2022:369), mit dem ihre Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Zweiten Beschwerdekammer des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 12. Dezember 2019 (Sache R 1487/2019-2) zu einem Verfallsverfahren zwischen der bonnanwalt Vermögens- und Beteiligungsgesellschaft und den Streithelfern (im Folgenden: streitige Entscheidung) im ersten Rechtszug als unzulässig abgewiesen wurde.

 Rechtlicher Rahmen

2        Art. 19 Abs. 1 bis 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 Abs. 1 der Satzung auf das Gericht anwendbar ist, lautet:

„Die Mitgliedstaaten sowie die [Organe der Europäischen Union] werden vor dem Gerichtshof durch einen Bevollmächtigten vertreten, der für jede Sache bestellt wird; der Bevollmächtigte kann sich der Hilfe eines Beistands oder eines Anwalts bedienen.

Die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, die nicht Mitgliedstaaten sind, und die in jenem Abkommen genannte EFTA-Überwachungsbehörde werden in der gleichen Weise vertreten.

Die anderen Parteien müssen durch einen Anwalt vertreten sein.

Nur ein Anwalt, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum aufzutreten, kann vor dem Gerichtshof als Vertreter oder Beistand einer Partei auftreten.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

3        Am 15. November 2017 stellte die Rechtsmittelführerin beim EUIPO einen Antrag auf Erklärung des Verfalls der Unionswortmarke tagesschau, die am 27. September 2012 für Waren und Dienstleistungen der Klassen 9, 16, 21, 25, 26, 28, 38, 41 und 42 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung eingetragen worden war.

4        Der Antrag auf Erklärung des Verfalls wurde auf Art. 58 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) gestützt.

5        Am 15. Mai 2019 erklärte die Nichtigkeitsabteilung die angegriffene Marke für alle eingetragenen Waren und Dienstleistungen für verfallen, mit Ausnahme folgender Dienstleistungen der Klasse 41: „Produktion und Bereitstellung von Nachrichtensendungen und ‑beiträgen“.


6        Am 12. Juli 2019 legte die Rechtsmittelführerin beim EUIPO Beschwerde gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung ein, soweit der Verfallsantrag zurückgewiesen worden war.

7        Mit der streitigen Entscheidung hob die Beschwerdekammer die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung auf und erklärte den Verfall der angegriffenen Marke für alle in Rede stehenden Waren und Dienstleistungen mit Ausnahme der Dienstleistungen „Bereitstellung von Nachrichtensendungen und ‑beiträgen“ in Klasse 41.

 Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

8        Mit am 12. Februar 2020 eingegangener Klageschrift beantragte die Rechtsmittelführerin, die streitige Entscheidung insoweit aufzuheben, als die Beschwerdekammer den Antrag auf Erklärung des Verfalls der angegriffenen Marke für die Dienstleistungen „Bereitstellung von Nachrichtensendungen und ‑beiträgen“ in Klasse 41 des Abkommens von Nizza zurückgewiesen hat, und die angegriffene Marke für verfallen zu erklären.

9        Am 6. April 2020 erhob das EUIPO eine Einrede der Unzulässigkeit und machte geltend, dass die Rechtsmittelführerin nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 und 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ordnungsgemäß durch einen Anwalt vertreten gewesen sei. Das EUIPO stützte diese Einrede darauf, dass der Anwalt der Rechtsmittelführerin vor dem Gericht bei der Rechtsanwaltskanzlei angestellt gewesen sei, die von dem Geschäftsführer und gesetzlichen Vertreter der Rechtsmittelführerin geführt werde. In Anbetracht des Beschäftigungsverhältnisses, das ihn mit dem Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin verbinde, befinde sich ihr Anwalt in einem Subordinationsverhältnis zu der Rechtsmittelführerin. Dies führe zu einer Gefahr der Vermengung der eigenen Interessen der Rechtsmittelführerin mit den persönlichen Interessen ihres Vertreters, so dass er nicht die erforderliche Unabhängigkeit habe, seine wesentliche Funktion als Hilfsorgan der Rechtspflege in der geeignetsten Weise wahrzunehmen.

10      Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Gericht dieser Einrede der Unzulässigkeit stattgegeben und die Klage als unzulässig abgewiesen.

11      Es hat zunächst in den Rn. 25 und 26 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der Inhaber und Geschäftsführer der von der Rechtsmittelführerin beauftragten Rechtsanwaltskanzlei auch der gesetzliche Vertreter und Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin sei, und dass Rechtsanwalt Tilo Wendt, ein in dieser Kanzlei als angestellter Mitarbeiter tätiger Rechtsanwalt, mit der Vertretung der Rechtsmittelführerin durch den Geschäftsführer dieser Kanzlei, deren einziger Mitarbeiter er sei, beauftragt worden sei.

12      Sodann hat das Gericht in Rn. 28 des Beschlusses darauf hingewiesen, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit des mit der Vertretung einer privaten Partei vor einem Gericht der Union betrauten Rechtsanwalts gleichermaßen in einer Situation, in der dieser Anwalt von einer Organisationseinheit beschäftigt wird, die mit der von ihm vertretenen Partei verbunden ist, gelte.

13      Insoweit hat das Gericht in Rn. 30 des angefochtenen Beschlusses unter Berufung auf Rn. 80 des Urteils vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO (C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218), ausgeführt, dass nach den Verhältnissen des vertretenen Mandanten zu differenzieren sei, auch wenn eine Vermutung dahin bestehe, dass ein als Mitarbeiter in einer Kanzlei tätiger Anwalt grundsätzlich dem Unabhängigkeitserfordernis im Sinne von Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch dann genüge, wenn er seine Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsvertrags oder im Rahmen eines anderen Subordinationsverhältnisses ausübe.

14      Schließlich hat es in Rn. 31 des Beschlusses festgestellt, dass die vertretene Mandantin im vorliegenden Fall dieselbe natürliche Person zum Geschäftsführer habe, die auch Inhaber und Geschäftsführer der Rechtsanwaltskanzlei sei, in der der Anwalt der Rechtsmittelführerin tätig sei.

15      Es hat daraus in Rn. 32 des angefochtenen Beschlusses abgeleitet, dass in Anbetracht des Subordinationsverhältnisses innerhalb der Rechtsanwaltskanzlei, in der der Anwalt der Rechtsmittelführerin arbeite, davon auszugehen sei, dass der verantwortliche Inhaber dieser Kanzlei eine wirksame Kontrolle über diesen Anwalt ausüben könne, der zudem sein einziger Mitarbeiter sei.

16      In Rn. 33 des Beschlusses hat das Gericht entschieden, dass das Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Anwalt der Rechtsmittelführerin und dem verantwortlichen Inhaber der Rechtsanwaltskanzlei die Unabhängigkeit dieses Anwalts beeinflussen könne, und zwar selbst dann, wenn es sich bei dieser Kanzlei um eine von der Rechtsmittelführerin verschiedene rechtliche Organisationseinheit handele. Die Interessen dieser Kanzlei, deren Inhaber ebenfalls Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin sei, seien weitgehend mit denen der Rechtsmittelführerin identisch und es bestünde daher die Gefahr, dass die beruflichen Ansichten des Anwalts der Rechtsmittelführerin zumindest teilweise von seinem beruflichen Umfeld beeinflusst würden.

17      Insoweit hat es in Rn. 34 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der Umstand unerheblich sei, dass die Rechtsmittelführerin, anders als in dem durch das Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO (C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218) entschiedenen Fall, keine natürliche Person sei. Das Ziel, das damit verfolgt werde, dass sich die nicht in Art. 19 Abs. 1 und 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Parteien durch einen Anwalt vertreten lassen müssten, bestehe nicht nur darin, zu verhindern, dass Privatpersonen Rechtsstreitigkeiten selbst führten, ohne einen Vermittler einzuschalten, sondern auch zu gewährleisten, dass für juristische Personen ein Vertreter auftrete, der von der juristischen Person, die er vertrete, hinreichend unabhängig sei.

18      Unter diesen Umständen hat das Gericht unter Hinweis darauf, dass zwischen der Rechtsmittelführerin und ihrem Anwalt im vorliegenden Verfahren zwar formal kein Beschäftigungsverhältnis bestehe, in Rn. 35 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Verbindungen, die zwischen dem Anwalt in Anbetracht seiner Eigenschaft als angestellter Rechtsanwalt des gesetzlichen Vertreters der Rechtsmittelführerin und der Rechtsmittelführerin bestünden, die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts, wie sie von der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert werde, jedoch offenkundig beeinträchtigten.

 Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Beteiligten

19      Mit Rechtsmittelschrift, die am 1. September 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Rechtsmittelführerin das vorliegende Rechtsmittel gegen den angefochtenen Beschluss eingelegt.

20      Mit am selben Tag eingegangenem Schriftsatz hat sie gemäß Art. 170a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, ihr Rechtsmittel gemäß Art. 58a Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zuzulassen.

21      Mit Beschluss vom 30. Januar 2023, bonnanwalt/EUIPO (C‑580/22 P, EU:C:2023:126), wurde das Rechtsmittel zugelassen.

22      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Mai 2023 wurde die Europäische Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des EUIPO zugelassen.

23      Die Rechtsmittelführerin beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss aufzuheben;

–        die Unionsmarke Nr. 10 237 543 mit Wirkung ab dem 15. November 2017 auch hinsichtlich der Dienstleistungen „Bereitstellung von Nachrichtensendungen und ‑beiträgen“ für verfallen zu erklären;

–        den Inhaberinnen der Unionsmarke die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen;

–        hilfsweise, die Klage zum Gericht zur weiteren Verhandlung zurückzuverweisen.


24      Das EUIPO beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

25      Die Kommission und die Streithelfer im ersten Rechtszug beantragen ebenfalls, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.

 Zum Rechtsmittel

26      Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe.

27      Der erste Rechtsmittelgrund, mit dem eine fehlerhafte Auslegung von Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union gerügt wird, besteht aus zwei Teilen. Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es Rn. 74 des Urteils vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO (C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218), weit ausgelegt habe, obwohl dort festgestellt worden sei, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Vertreter nicht privilegierter Parteien eng auszulegen sei, um die Fälle der Unzulässigkeit auf diejenigen Konstellationen zu beschränken, in denen der Anwalt offensichtlich nicht in der Lage sei, seiner Aufgabe der Verteidigung nachzukommen. Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe ignoriert, dass das in Art. 63 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 vorgesehene Verfallsverfahren einem Allgemeininteresse diene und dass dieses Interesse mit dem Interesse jedes potenziellen Vertreters übereinstimme, so dass ein Rechtsanwalt, der eine Person vertrete, die einen Antrag auf Erklärung des Verfalls gestellt habe, auch in seinem eigenen Interesse handele.

28      Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird gerügt, das Gericht habe gegen seine Verpflichtung aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen, der betroffenen Partei seine Absicht mitzuteilen, die Klage wegen fehlender unabhängiger Vertretung für unzulässig zu erklären, damit sie ihren Vertreter auswechseln könne.

 Vorbringen der Beteiligten

29      Im Rahmen des ersten Teils ihres ersten Rechtsmittelgrundes rügt die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe Rn. 74 des in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO (C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218), fehlerhaft angewandt.

30      Dieses Urteil, mit dem der Gerichtshof das Unabhängigkeitserfordernis, das das Unionsrecht Vertretern nicht privilegierter Parteien auferlege, ausgelegt habe, stelle zwei Voraussetzungen auf, um einen Vertretungsmangel festzustellen. Erstens müsse festgestellt werden, dass es dem Anwalt an der Fähigkeit oder Möglichkeit fehle, die Interessen seiner Mandanten bestmöglich zu vertreten. Zweitens müsse sich eine solche fehlende Fähigkeit offensichtlich aus den Akten ergeben.

31      Das Gericht habe aus dem schlichten Umstand, dass der mit der Vertretung der Rechtsmittelführerin betraute Anwalt Angestellter der dem Geschäftsführer und gesetzlichen Vertreter der Rechtsmittelführerin gehörenden Anwaltskanzlei sei, geschlossen, dass dieser Anwalt offensichtlich nicht in der Lage sei, die Interessen der Rechtsmittelführerin bestmöglich zu vertreten. Das Gericht habe damit mehrere offensichtliche Tatsachen und Umstände außer Acht gelassen, die auf die Frage Einfluss hätten, ob der betroffene Anwalt die Interessen der Rechtsmittelführerin bestmöglich schützen kann.

32      Nach Ansicht des EUIPO geht die Rechtsmittelführerin zu Unrecht davon aus, dass ein Anwalt grundsätzlich bereits aufgrund der ihm seines Berufs wegen obliegenden anwaltlichen Berufs- und Standesregeln hinreichend unabhängig sei. Das in Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union niedergelegte Erfordernis der Unabhängigkeit gelte für „Anwälte“, auf die sich diese Vorschrift ausschließlich beziehe, und die Anwaltseigenschaft verleihe nicht per se dem bestellten Vertreter eine hinreichende Unabhängigkeit im Sinne dieser Vorschrift.

33      Insbesondere schütze, wie Rn. 81 des Urteils vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO (C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218), zeige, die Anwaltseigenschaft per se den Anwalt nicht notwendigerweise gegen spezifische Beeinträchtigungen seiner Unabhängigkeit, die sich etwa aus arbeits- oder gesellschaftsrechtlichen Verpflichtungen des Anwalts gegenüber seinem Mandanten – bzw. einer tatsächlichen Kontrolle des Anwalts durch seinen Mandanten – ergeben könnten.

34      Der Gerichtshof habe zwar in seiner jüngeren Rechtsprechung und insbesondere im Urteil vom 14. Juli 2022, Universität Bremen/REA (C‑110/21 P, EU:C:2022:555, Rn. 48), klargestellt, dass das in Art. 19 Abs. 3 der Satzung aufgestellte Erfordernis der Unabhängigkeit des Anwalts vor allem im Licht des bestmöglichen Schutzes der Interessen des Mandanten zu beurteilen sei.

35      Allerdings bedeute dies jedoch nicht, dass für die Rechtsvertretung das Interesse der ordnungsgemäßen Rechtspflege irrelevant geworden sei oder dass der bestmögliche Schutz der Interessen des Mandanten notwendigerweise mit dem subjektiv gewünschten Ausgang des Rechtsstreits gleichzusetzen sei. Eine derartige Gleichstellung liefe im Übrigen auch Gefahr, einer sachgerechten und damit wirksamen Ausübung der Rechte der Partei zuwiderzulaufen.

36      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schließe das Bestehen einer – insbesondere als Folge eines aus einem Angestelltenverhältnis resultierenden Subordinationsverhältnisses – „tatsächlichen Kontrolle“ der Partei über den Anwalt die von Art. 19 Abs. 3 der Satzung geforderte hinreichende Unabhängigkeit aus.

37      In einem solchen Fall sei die Unabhängigkeit des Anwalts sowohl in seiner Entscheidung darüber beeinträchtigt, ob er die Partei vertrete, als auch darüber, wie diese Vertretung zu erfolgen habe, insbesondere wenn es darum gehe, die Befolgung bestimmter Anweisungen abzulehnen, wenn sie einschlägigen gesetzlichen oder standesrechtlichen Normen zuwiderliefen. Eine „tatsächliche Kontrolle“ der Partei über den Anwalt im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses innerhalb einer Organisationseinheit oder miteinander verbundenen Organisationseinheiten stelle eine Verbindung dar, die den Anwalt offensichtlich in seiner Fähigkeit beeinträchtige, seiner Aufgabe nachzukommen, und seine von Art. 19 Abs. 3 der Satzung geforderte Unabhängigkeit beeinträchtige.

38      Das Gericht habe zutreffend ausgeführt, dass der verantwortliche Inhaber der in Rede stehenden Rechtsanwaltskanzlei eine wirksame tatsächliche Kontrolle über den Anwalt der Rechtsmittelführerin ausüben könne. Letzterer werde von einer mit der Rechtsmittelführerin verbundenen Organisationseinheit beschäftigt, so dass die negative Dimension der Definition der „Unabhängigkeit“, die das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses voraussetze, fehle. Die Tatsache, dass die Rechtsmittelführerin eine juristische Person sei, ändere daran nichts.

39      Nach Ansicht der Streithelfer im ersten Rechtszug ist es zwingend erforderlich, dass zwischen der vertretenen Partei und einem Anwalt ein Verhältnis bestehe, das den Anwalt bei der Ausübung seiner Tätigkeit nicht offensichtlich beeinträchtige. Dies könne bei einem Rechtsanwalt, der eine Partei vertrete, deren Geschäftsführer der Inhaber der Rechtsanwaltskanzlei sei, deren einziger Angestellter dieser Rechtsanwalt sei, nicht der Fall sein. Als angestellter Rechtsanwalt sei der Anwalt, der die Rechtsmittelführerin vertrete, den Vorgaben und Weisungen des Kanzleiinhabers und Geschäftsführers der Rechtsmittelführerin unterworfen.

40      Nach Ansicht der Kommission kann in einer Dreiecksbeziehung zwischen der Rechtsmittelführerin, die die Mandantin sei, ihrem Anwalt und dem Inhaber/Partner der Rechtsanwaltskanzlei, in der der Anwalt beschäftigt sei, ein Subordinationsverhältnis zwischen dem Anwalt und dem Inhaber/Partner der Rechtsanwaltskanzlei als solches die Unabhängigkeit des Anwalts gegenüber der Mandantin nicht in Frage stellen.

41      Bei einer zu weitgehenden Interessenkollision zwischen dem Inhaber/Partner der Anwaltskanzlei und der Mandantin könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Inhaber/Partner der Anwaltskanzlei in einer Weise Einfluss auf den Anwalt ausübe, die es diesem nicht mehr erlaube, die Mandantin in Übereinstimmung mit seinen Berufs- und Standesregeln in der gebotenen Weise zu beraten und zu vertreten.

42      In einer solchen Dreiecksbeziehung komme es daher entscheidend auf die Art des Verhältnisses zwischen dem Inhaber/Partner der Rechtsanwaltskanzlei, in der der Anwalt beschäftigt sei, und der Mandantin an.

43      Der Einfluss des Geschäftsführers und gesetzlichen Vertreters der Mandantin, der gleichzeitig Inhaber/Partner der Rechtsanwaltskanzlei sei, in der der Anwalt beschäftigt sei, erscheine so weitgehend, dass ein solcher Fall demjenigen gleichgestellt werden müsse, in dem die Mandantin eine natürliche Person sei.

44      Das Gericht habe somit zu Recht entschieden, dass die Unabhängigkeit des Anwalts offenkundig beeinträchtigt sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

45      Was die Vertretung einer nicht in Art. 19 Abs. 1 und 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Partei vor den Unionsgerichten anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 Abs. 3 und 4 der Satzung, der nach deren Art. 56 auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, zwei unterschiedliche Voraussetzungen vorsieht, die kumulativ erfüllt sein müssen, nämlich erstens, dass sich die nicht in Art. 19 Abs. 1 und 2 der Satzung genannten Parteien durch einen Anwalt vertreten lassen müssen, und zweitens, dass nur ein Anwalt, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum aufzutreten, eine Partei vor den Unionsgerichten vertreten oder ihr vor diesen beistehen kann (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 28).

46      In Bezug auf die den Begriff „Anwalt“ betreffende erste Voraussetzung hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Begriff mangels eines Verweises in Art. 19 Abs. 3 seiner Satzung auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen ist und dabei nicht nur der Wortlaut dieser Vorschrift, sondern auch ihr Zusammenhang und ihr Ziel zu berücksichtigen sind (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Insoweit hat er darauf hingewiesen, dass aus Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervorgeht, dass eine „Partei“ im Sinne dieser Vorschrift unabhängig von ihrer Eigenschaft nicht selbst vor einem Unionsgericht auftreten darf, sondern sich eines Dritten bedienen muss (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Er hat klargestellt, dass es sich bei diesem Dritten nur um einen Anwalt handeln kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 62).

48      Dieses Erfordernis der Vertretung der in Art. 19 Abs. 1 und 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht genannten Parteien durch einen Anwalt steht im Einklang mit dem Ziel dieser Vertretung, das zum einen darin besteht, zu verhindern, dass Privatpersonen Rechtsstreitigkeiten selbst führen, ohne einen Vermittler einzuschalten, und zum anderen darin, zu gewährleisten, dass für juristische Personen ein Vertreter auftritt, der von der juristischen Person, die er vertritt, hinreichend unabhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das Ziel der in Art. 19 Abs. 3 und 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Vertretungsaufgabe eines Anwalts, die im Interesse einer geordneten Rechtspflege auszuüben ist, vor allem darin besteht, in völliger Unabhängigkeit und unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufs- und Standesregeln die Interessen des Mandanten bestmöglich zu schützen und zu verteidigen (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 64 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Unabhängigkeitserfordernis nicht nur negativ, d. h. durch das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten, sondern auch positiv, d. h. unter Bezugnahme auf die berufsständischen Pflichten des Anwalts, zu definieren ist (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

51      In Bezug auf die positive Definition dieses Unabhängigkeitserfordernisses hat der Gerichtshof ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Unabhängigkeit nicht als das Fehlen jeglicher Verbindung zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten zu verstehen ist, sondern lediglich dahin, dass es keine Verbindung geben darf, die offensichtlich die Fähigkeit des Anwalts beeinträchtigt, seiner Aufgabe nachzukommen, die darin besteht, seinen Mandanten durch den bestmöglichen Schutz seiner Interessen unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufs- und Standesregeln zu vertreten (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Um dem Ziel der in der anwaltlichen Vertretung bestehenden Aufgabe Rechnung zu tragen, ist das Unabhängigkeitserfordernis, das das Unionsrecht Vertretern nicht privilegierter Parteien auferlegt, so auszulegen, dass die Fälle, in denen sich eine Unzulässigkeit aus einem Vertretungsmangel ergibt, sich auf diejenigen Konstellationen beschränken, in denen der betroffene Anwalt offensichtlich nicht in der Lage ist, seiner Aufgabe nachzukommen, die darin besteht, seinen Mandanten durch den bestmöglichen Schutz von dessen Interessen zu vertreten, so dass sein Ausschluss von der Vertretung im Interesse des Mandanten erfolgen muss (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 74, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es vorbehaltlich der Einhaltung des Gesetzes, der nationalen Berufsregeln und der Standesregeln Sache der sich zusammenschließenden Rechtsanwälte ist, die Modalitäten ihrer Zusammenarbeit und ihre vertraglichen Beziehungen frei festzulegen. Es ist jedoch zu vermuten, dass ein als Mitarbeiter in einer Kanzlei tätiger Rechtsanwalt den gleichen Anforderungen an die Unabhängigkeit genügt wie ein Rechtsanwalt, der als Einzelanwalt oder als Partner in einer Kanzlei tätig ist (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 79, und Beschluss vom 21. April 2023, Kirimova/EUIPO, C‑306/22 P, EU:C:2023:338, Rn. 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Besteht aber eine Vermutung dahin, dass ein als Mitarbeiter in einer Kanzlei tätiger Anwalt grundsätzlich dem Unabhängigkeitserfordernis im Sinne von Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch dann genügt, wenn er seine Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsvertrags oder im Rahmen eines anderen Subordinationsverhältnisses ausübt, ist dennoch eine Differenzierung anhand der den vertretenen Mandanten betreffenden Konstellation vorzunehmen (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 80).

55      Während nämlich dann kein besonderes Problem hinsichtlich der Unabhängigkeit des Mitarbeiters besteht, wenn der Mandant eine natürliche oder juristische Person ist, die im Verhältnis zur Anwaltskanzlei, in der der betreffende Mitarbeiter tätig ist, ein Dritter ist, verhält es sich anders in einer Konstellation, in der der Mandant eine natürliche Person ist, die selbst einer der Partner und Gründungsmitglied der Anwaltskanzlei ist und deshalb eine tatsächliche Kontrolle über den Mitarbeiter ausüben kann. In der letztgenannten Konstellation ist davon auszugehen, dass die Verbindungen zwischen dem als Mitarbeiter tätigen Rechtsanwalt und dem Partner als Mandanten dergestalt sind, dass sie die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts offenkundig beeinträchtigen (Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 81).


56      Die Begründetheit des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ist im Licht der vorstehenden Erwägungen zu beurteilen.

57      Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Rn. 27 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass zwischen der Rechtsmittelführerin und ihrem Anwalt kein unmittelbares Beschäftigungsverhältnis bestehe. Es hat jedoch in den Rn. 32 und 33 dieses Beschlusses ausgeführt, dass angesichts des Umstands, dass der Anwalt der Rechtsmittelführerin der einzige Mitarbeiter der Anwaltskanzlei sei, deren Eigentümer und Geschäftsführer auch der gesetzliche Vertreter und Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin sei, zum einen der Eigentümer der Anwaltskanzlei eine wirksame Kontrolle über diesen Anwalt ausüben könne, und zum anderen das Beschäftigungsverhältnis zwischen diesem Anwalt und dem Eigentümer die Unabhängigkeit dieses Rechtsanwalts beeinflussen könne.

58      Es hat daraus in Rn. 33 des Beschlusses gefolgert, dass daher die Gefahr bestehe, dass die beruflichen Ansichten des Vertreters der Rechtsmittelführerin zumindest teilweise von seinem beruflichen Umfeld beeinflusst werden.

59      Damit hat das Gericht aber das Unabhängigkeitserfordernis, das das Unionsrecht den Vertretern nicht privilegierter Parteien auferlegt, fehlerhaft ausgelegt. Es hat nämlich, auch wenn es zutreffend auf das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses hingewiesen hat, festgestellt, dass die Vermutung der Unabhängigkeit von Rechtsanwälten allein deshalb widerlegt sei, weil im vorliegenden Fall ein Subordinationsverhältnis zwischen dem Vertreter, der angestellter Rechtsanwalt ist, und seinem Arbeitgeber, dem Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin, bestanden habe.

60      Damit hat es zu Unrecht die Situation der Rechtsmittelführerin, einer juristischen Person, die sich von der Anwaltskanzlei, in der ihr Vertreter als angestellter Rechtsanwalt tätig ist, formell unterscheidet, mit der einer natürlichen Person gleichgesetzt, die zugleich die Vorgesetzte und Mandantin dieses Vertreters ist.

61      Auch wenn die Rechtsmittelführerin als juristische Person zwangsläufig durch natürliche Personen handeln muss, kann nämlich die Zusammenarbeit ihres Anwalts mit dem gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer der Rechtsmittelführerin im Hinblick auf deren Vertretung vor Gericht im Rahmen der vorliegenden Rechtssache für sich allein und mangels konkreter Anhaltspunkte für die Abhängigkeit des betreffenden Anwalts keinen Gesichtspunkt darstellen, der geeignet ist, die Unabhängigkeit dieses Anwalts in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. Februar 2023, Fundacja Instytut na rzecz Kultury Prawnej Ordo Iuris/Parlament, C‑546/21 P, EU:C:2023:123, Rn. 42).


62      Im vorliegenden Fall liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass der Anwalt der Rechtsmittelführerin unter der bestimmenden Kontrolle der Person gehandelt hat, die sowohl Geschäftsführerin der Anwaltskanzlei, in der der Anwalt angestellt ist, als auch der mandatserteilenden juristischen Person ist, und dass die Verbindungen zwischen dem Anwalt der Rechtsmittelführerin und Letzterer daher geeignet waren, die Fähigkeit des Anwalts offensichtlich zu beeinträchtigen, seiner Aufgabe der Vertretung durch den bestmöglichen Schutz der Interessen der Rechtsmittelführerin nachzukommen. Daher kann die Vermutung der Unabhängigkeit des betreffenden Rechtsanwalts nicht als widerlegt angesehen werden.

63      Daraus folgt, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es in Rn. 35 des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass die Verbindungen, die zwischen dem Anwalt der Rechtsmittelführerin in Anbetracht seiner Eigenschaft als angestellter Rechtsanwalt des gesetzlichen Vertreters der Rechtsmittelführerin und der Rechtsmittelführerin bestünden, die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts, wie sie von der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert werde, offenkundig beeinträchtigten.

64      Folglich ist dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes stattzugeben und der angefochtene Beschluss aufzuheben, ohne dass der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und der zweite Rechtsmittelgrund geprüft zu werden brauchen.

 Zur Klage vor dem Gericht

65      Gemäß Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

66      Im vorliegenden Fall ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif, da das Gericht den Antrag auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung als unzulässig zurückgewiesen hat, ohne ihn in der Sache zu prüfen, so dass die Sache an das Gericht zurückzuverweisen ist.

 Kosten

67      Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Juni 2022, bonnanwalt/EUIPO – Bayerischer Rundfunk u. a. (tagesschau) (T83/20, EU:T:2022:369), wird aufgehoben.

2.      Die Rechtssache T83/20 wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

3.      Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Piçarra

Safjan

Jääskinen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. Januar 2024.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

N. Piçarra


*      Verfahrenssprache: Deutsch.